Der Greif richtete sich auf und rieb sich die Augen: darauf sah er der Königin nach, bis sie verschwunden war; dann schüttelte er sich. »Ein köstlicher Spaß!« sagte der Greif, halb zu sich selbst, halb zu Alice.
»Wasist ein Spaß?« fragte Alice.
»Sie,« sagte der Greif. »Es ist Alles ihre Einbildung, das: Niemand wird niemals nicht hingerichtet. Komm schnell.«
»Jeder sagte hier, komm schnell,« dachte Alice, indem sie ihm langsam nachging, »so viel bin ich in meinem Leben nicht hin und her kommandirt worden, nein, in meinem ganzen Leben nicht!«
Sie brauchten nicht weit zu gehen, als sie schon die falsche Schildkröte in der Entfernung sahen, wie sie einsam und traurig auf einem Felsenriffe saß; und als sie näher kamen, hörte Alice sie seufzen, als ob ihr das Herz brechen wollte. Sie bedauerte sie herzlich. »Was für einen Kummer hat sie?« fragte sie den Greifen, und der Greif antwortete, fast in denselben Worten wie zuvor: »Es ist Alles ihre Einbildung, das; sie hat keinen Kummer nicht. Komm schnell.«
Sie gingen also an die falsche Schildkröte heran, die sie mit thränenschweren Augen anblickte, aber nichts sagte.
»Die kleine Mamsell hier,« sprach der Greif, »sie sagt, sie möchte gern deine Geschichte wissen, sagt sie.«
»Ich will sie ihr erzählen,« sprach die falsche Schildkröte mit tiefer, hohler Stimme; »setzt euch beide her und sprecht kein Wort, bis ich fertig bin.«
Gut, sie setzten sich hin und Keiner sprach mehre Minuten lang. Alice dachte bei sich: »Ich begreife nicht, wie sie je fertig werden kann, wenn sie nicht anfängt.« Aber sie wartete geduldig.
»Einst,« sagte die falsche Schildkröte endlich mit einem tiefen Seufzer, »war ich eine wirkliche Schildkröte.«
Auf diese Worte folgte ein sehr langes Schweigen, nur hin und wieder unterbrochen durch den Ausruf des Greifen »Hjckrrh!« und durch das heftige Schluchzen der falschen Schildkröte. Alice wäre beinah aufgestandenund hätte gesagt: »Danke sehr für die interessante Geschichte!« aber sie konnte nicht umhin zu denken, daß doch noch etwas kommen müsse; daher blieb sie sitzen und sagte nichts.
»Als wir klein waren,« sprach die falsche Schildkröte endlich weiter, und zwar ruhiger, obgleich sie noch hin und wieder schluchzte, »gingen wir zur Schule in der See. Die Lehrerin war eine alte Schildkröte — wir nannten sie Mamsell Schalthier —«
»Warum nanntet ihr sie Mamsell Schalthier?« fragte Alice.
»Sieschalt hieroder sie schalt da alle Tage, darum,« sagte die falsche Schildkröte ärgerlich; »du bist wirklich sehr dumm.«
»Du solltest dich schämen, eine so dumme Frage zu thun,« setzte der Greif hinzu, und dann saßen beide und sahen schweigend die arme Alice an, die in die Erde hätte sinken mögen. Endlich sagte der Greif zu der falschen Schildkröte: »Fahr' zu, alte Kutsche! Laß uns nicht den ganzen Tag warten!« Und sie fuhr in folgenden Worten fort:
»Ja, wir gingen zur Schule, in der See, ob ihr es glaubt oder nicht —«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich es nicht glaubte,« unterbrach sie Alice.
»Ja, das hast du,« sagte die falsche Schildkröte.
»Halt' den Mund!« fügte der Greif hinzu, ehe Alice antworten konnte. Die falsche Schildkröte fuhr fort.
»Wir gingen in die allerbeste Schule; wir hatten vier und zwanzig Stunden regelmäßig jeden Tag.«
»Das haben wir auf dem Lande auch,« sagte Alice, »darauf brauchst du dir nicht so viel einzubilden.«
»Habt ihr auch Privatstunden außerdem?« fragte die falsche Schildkröte etwas kleinlaut.
»Ja,« sagte Alice, »Französisch und Klavier.«
»Und Wäsche?« sagte die falsche Schildkröte.
»Ich dächte gar!« sagte Alice entrüstet.
»Ah! dann gehst du in keine wirklich gute Schule,« sagte die falsche Schildkröte sehr beruhigt. »In unserer Schule stand immer am Ende der Rechnung, »Französisch, Klavierspielen, Wäsche — extra.«
»Das könnt ihr nicht sehr nöthig gehabt haben,« sagte Alice, »wenn ihr auf dem Grunde des Meeres wohntet.«
»Ich konnte keine Privatstunden bezahlen,« sagte diefalsche Schildkröte mit einem Seufzer. »Ich nahm nur den regelmäßigen Unterricht.«
»Und was war das?« fragte Alice.
»Legen und Treiben, natürlich, zu allererst,« erwiederte die falsche Schildkröte; »und dann die vier Abtheilungen vom Rechnen: Zusehen, Abziehen, Vervielfraßen und Stehlen.«
»Ich habe nie von Vervielfraßen gehört,« warf Alice ein. »Was ist das?«
Der Greif erhob beide Klauen voller Verwunderung. »Nie von Vervielfraßen gehört!« rief er aus. »Du weißt, was Verhungern ist? vermuthe ich.«
»Ja,« sagte Alice unsicher, »es heißt — nichts — essen — und davon — sterben.«
»Nun,« fuhr der Greif fort, »wenn du nicht verstehst, was Vervielfraßen ist, dann bist du ein Pinsel.«
Alice hatte allen Muth verloren, sich weiter danach zu erkundigen, und wandte sich daher an die falsche Schildkröte mit der Frage: »Was hattet ihr sonst noch zu lernen?«
»Nun, erstens Gewichte,« erwiederte die falsche Schildkröte, indem sie die Gegenstände an den Pfoten aufzählte,»Gewichte, alte und neue, mit Seeographie; dann Springen — der Springelehrer war ein alter Stockfisch, der ein Mal wöchentlich zu kommen pflegte, er lehrte uns Pfoten Reiben und Unarten, meerschwimmig Springen, Schillern und Imponiren.«
»Wie war denn das?« fragte Alice.
»Ich kann es dir nicht selbst zeigen,« sagte die falsche Schildkröte, »ich bin zu steif. Und der Greif hat es nicht gelernt.«
»Hatte keine Zeit,« sagte der Greif; »ich hatte aber Stunden bei dem Lehrer der alten Sprachen. Das war ein alterBarsch, ja, das war er.«
»Bei dem bin ich nicht gewesen,« sagte die falsche Schildkröte mit einem Seufzer, »er lehrte Zebräisch und Greifisch, sagten sie immer.«
»Das that er auch, das that er auch, und besonders Laßsein,« sagte der Greif, indem er ebenfalls seufzte, worauf beide Thiere sich das Gesicht mit den Pfoten bedeckten.
»Und wie viel Schüler wart ihr denn in einer Klasse?« sagte Alice, die schnell auf einen andern Gegenstand kommen wollte.
»Zehn den ersten Tag,« sagte die falsche Schildkröte, »neun den nächsten, und so fort.«
»Was für eine merkwürdige Einrichtung!« rief Alice aus.
»Das ist der Grund, warum man Lehrer hält, weil sie die Klasse von Tag zu Tag leeren.«
Dies war ein ganz neuer Gedanke für Alice, welchen sie gründlich überlegte, ehe sie wieder eine Bemerkung machte. »Den elften Tag müssen dann Alle frei gehabt haben?«
»Natürlich!« sagte die falsche Schildkröte.
»Und wie wurde es den zwölften Tag gemacht?« fuhr Alice eifrig fort.
»Das ist genug von Stunden,« unterbrach der Greif sehr bestimmt: »erzähle ihr jetzt etwas von den Spielen.«
Die falsche Schildkröte seufzte tief auf und wischte sich mit dem Rücken ihrer Pfote die Augen. Sie sah Alice an und versuchte zu sprechen, aber ein bis zwei Minuten lang erstickte lautes Schluchzen ihre Stimme. »Sieht aus, als ob sie einen Knochen in der Kehle hätt',« sagte der Greif und machte sich daran, sie zu schütteln und auf den Rücken zu klopfen. Endlich erhielt die falsche Schildkröte den Gebrauch ihrer Stimme wieder, und während Thränen ihre Wangen herabflossen, erzählte sie weiter.
»Vielleicht hast du nicht viel unter dem Wasser gelebt —« (»Nein,« sagte Alice) — »und vielleicht hast du nie die Bekanntschaft eines Hummers gemacht —« (Alice wollte eben sagen: »ich kostete einmal,« aber sie hielt schnell ein und sagte: »Nein, niemals«) — »du kannst dir also nicht vorstellen, wie reizend ein Hummerballet ist.«
»Nein, in der That nicht,« sagte Alice, »was für eine Art Tanz ist es?«
»Nun,« sagte der Greif, »erst stellt man sich in einer Reihe am Strand auf —«
»In zwei Reihen!« rief die falsche Schildkröte. »Seehunde, Schildkröten, Lachse, und so weiter; dann, wenn alle Seesterne aus dem Wege geräumt sind —«
»Was gewöhnlich einige Zeit dauert,« unterbrach der Greif.
»— geht man zwei Mal vorwärts —«
»Jeder einen Hummer zum Tanze führend!« rief der Greif.
»Natürlich,« sagte die falsche Schildkröte: »zwei Mal vorwärts, wieder paarweis gestellt —«
»— wechselt die Hummer, und geht in derselben Ordnung zurück,« fuhr der Greif fort.
»Dann, mußt du wissen,« fiel die falsche Schildkröte ein, »wirft man die —«
»Die Hummer!« schrie der Greif mit einem Luftsprunge.
»— so weit in's Meer, als man kann —«
»Schwimmt ihnen nach!« kreischte der Greif.
»Schlägt einen Purzelbaum im Wasser!« rief die falsche Schildkröte, indem sie unbändig umhersprang.
»Wechselt die Hummer wieder!« heulte der Greif mit erhobener Stimme.
»Zurück an's Land, und — das ist die ganze erste Figur,« sagte die falsche Schildkröte, indem ihre Stimme plötzlich sank; und beide Thiere, die bis dahin wie toll umhergesprungen waren, setzten sich sehr betrübt und still nieder und sahen Alice an.
»Es muß ein sehr hübscher Tanz sein,« sagte Alice ängstlich.
»Möchtest du eine kleine Probe sehen?« fragte die falsche Schildkröte.
»Sehr gern,« sagte Alice.
»Komm, laß uns die erste Figur versuchen!« sagte die falsche Schildkröte zum Greifen. »Wir können es ohne Hummer, glaube ich. Wer soll singen?«
»Oh, singe du!« sagte der Greif. »Ich habe die Worte vergessen.«
So fingen sie denn an, feierlich im Kreise um Alice zu tanzen; zuweilen traten sie ihr auf die Füße, wenn sie ihr zu nahe kamen; die falsche Schildkröte sang dazu, sehr langsam und traurig, Folgendes: —
Zu der Schnecke sprach ein Weißfisch: »Kannst du denn nicht schneller gehn?Siehst du denn nicht die Schildkröten und die Hummer alle stehn?Hinter uns da kommt ein Meerschwein, und es tritt mir auf den Schwanz;Und sie warten an dem Strande, daß wir kommen zu dem Tanz.Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem Tanz?Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem Tanz?«»Nein, du kannst es nicht ermessen, wie so herrlich es wird sein,Nehmen sie uns mit den Hummern, werfen uns in's Meer hinein!«Doch die Schnecke thät nicht trauen. »Das gefällt mir doch nicht ganz!Viel zu weit, zu weit! ich danke — gehe nicht mit euch zum Tanz!Nein, ich kann, ich mag, ich will nicht, kann nicht kommen zu dem Tanz!Nein, ich kann, ich mag, ich will nicht, mag nicht kommen zu dem Tanz!«Und der Weißfisch sprach dagegen: »'s kommt ja nicht drauf an, wie weit!Ist doch wohl ein andres Ufer, drüben auf der andern Seit'!Und noch viele schöne Küsten giebt es außer Engelland's;Nur nicht blöde, liebe Schnecke, komm' geschwind mit mir zum Tanz!Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem Tanz?Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst nicht kommen zu dem Tanz?«
Zu der Schnecke sprach ein Weißfisch: »Kannst du denn nicht schneller gehn?Siehst du denn nicht die Schildkröten und die Hummer alle stehn?Hinter uns da kommt ein Meerschwein, und es tritt mir auf den Schwanz;Und sie warten an dem Strande, daß wir kommen zu dem Tanz.Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem Tanz?Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem Tanz?«
»Nein, du kannst es nicht ermessen, wie so herrlich es wird sein,Nehmen sie uns mit den Hummern, werfen uns in's Meer hinein!«Doch die Schnecke thät nicht trauen. »Das gefällt mir doch nicht ganz!Viel zu weit, zu weit! ich danke — gehe nicht mit euch zum Tanz!Nein, ich kann, ich mag, ich will nicht, kann nicht kommen zu dem Tanz!Nein, ich kann, ich mag, ich will nicht, mag nicht kommen zu dem Tanz!«
Und der Weißfisch sprach dagegen: »'s kommt ja nicht drauf an, wie weit!Ist doch wohl ein andres Ufer, drüben auf der andern Seit'!Und noch viele schöne Küsten giebt es außer Engelland's;Nur nicht blöde, liebe Schnecke, komm' geschwind mit mir zum Tanz!Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem Tanz?Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst nicht kommen zu dem Tanz?«
»Danke sehr, es ist sehr, sehr interessant, diesem Tanze zuzusehen,« sagte Alice, obgleich sie sich freute,daß er endlich vorüber war; »und das komische Lied von dem Weißfisch gefällt mir so!«
»Oh, was die Weißfische anbelangt,« sagte die falsche Schildkröte, »die — du hast sie doch gesehen?«
»Ja,« sagte Alice, »ich habe sie oft gesehen, bei'm Mitt —« sie hielt schnell inne.
»Ich weiß nicht, wer Mitt sein mag,« sagte die falsche Schildkröte, »aber da du sie so oft gesehen hast, so weißt du natürlich, wie sie aussehen?«
»Ja, ich glaube,« sagte Alice nachdenklich, »sie haben den Schwanz im Maule, — und sind ganz mit geriebener Semmel bestreut.«
»Die geriebene Semmel ist ein Irrthum,« sagte die falsche Schildkröte; »sie würde in der See bald abgespült werden. Aber den Schwanz haben sie im Maule, und der Grund ist« — hier gähnte die falsche Schildkröte und machte die Augen zu. — »Sage ihr Alles das von dem Grunde,« sprach sie zum Greifen.
»Der Grund ist,« sagte der Greif, »daß sie durchaus im Hummerballet mittanzen wollten. So wurden sie denn in die See hinein geworfen. So mußten sie denn sehr weit fallen. So kamen ihnen denn die Schwänze indie Mäuler. So konnten sie sie denn nicht wieder heraus bekommen. So ist es.«
»Danke dir,« sagte Alice, »es ist sehr interessant. Ich habe nie so viel vom Weißfisch zu hören bekommen.«
»Ich kann dir noch mehr über ihn sagen, wenn du willst,« sagte der Greif, »weißt du, warum er Weißfisch heißt?«
»Ich habe darüber noch nicht nachgedacht,« sagte Alice. »Warum?«
»Darum eben,« sagte der Greif mit tiefer, feierlicher Stimme, »weil man so wenig von ihmweiß. Nun aber mußt du uns auch etwas von deinen Abenteuern erzählen.«
»Ich könnte euch meine Erlebnisse von heute früh an erzählen,« sagte Alice verschämt, »aber bis gestern zurück zu gehen, wäre ganz unnütz, weil ich da jemand Anderes war.«
»Erkläre das deutlich,« sagte die falsche Schildkröte.
»Nein, die Erlebnisse erst,« sagte der Greif in ungeduldigem Tone, »Erklärungen nehmen so schrecklich viel Zeit fort.«
Alice fing also an, ihnen ihre Abenteuer von da an zu erzählen, wo sie das weiße Kaninchen zuerst gesehen hatte. Im Anfange war sie etwas ängstlich,die beiden Thiere kamen ihr so nah, eins auf jeder Seite, und sperrten Augen und Mund soweitauf; aber nach und nach wurde sie dreister. Ihre Zuhörer waren ganz ruhig, bis sie an die Stelle kam, wo sie der Raupe 'Ihr seid alt, Vater Martin' hergesagt hatte, und wo lauter andere Worte gekommen waren, da holte die falsche Schildkröte tief Athem und sagte: »das ist sehr merkwürdig.«
»Es ist Alles so merkwürdig, wie nur möglich,« sagte der Greif.
»Es kam ganz verschieden!« wiederholte die falsche Schildkröte gedankenvoll. »Ich möchte sie wohl etwas hersagen hören. Sage ihr, daß sie anfangen soll.« Sie sah den Greifen an, als ob sie dächte, daß er einigen Einfluß auf Alice habe.
»Steh' auf und sage her: 'Preisend mit viel schönen Reden',« sagte der Greif.
»Wie die Geschöpfe alle Einen kommandiren und Gedichte aufsagen lassen!« dachte Alice, »dafür könnte ich auch lieber gleich in der Schule sein.« Sie stand jedoch auf und fing an, das Gedicht herzusagen; aber ihr Kopf war so voll von dem Hummerballet, daß sie kaum wußte, was sie sagte, und die Worte kamen sehr sonderbar: —
»Preisend mit viel schönen Kniffen seiner Scheeren Werth und Zahl,Stand der Hummer vor dem Spiegel in der schönen rothen Schal'!»Herrlich,« sprach der Fürst der Krebse, »steht mir dieser lange Bart!«Rückt die Füße mit der Nase auswärts, als er dieses sagt.«
»Preisend mit viel schönen Kniffen seiner Scheeren Werth und Zahl,Stand der Hummer vor dem Spiegel in der schönen rothen Schal'!»Herrlich,« sprach der Fürst der Krebse, »steht mir dieser lange Bart!«Rückt die Füße mit der Nase auswärts, als er dieses sagt.«
»Das ist anders, als ich's als Kind gesagt habe,« sagte der Greif.
»Ich habe es zwar noch niemals gehört,« sagte die falsche Schildkröte; »aber es klingt wie blühender Unsinn.«
Alice erwiederte nichts; sie setzte sich, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und überlegte, ob wohljewieder irgend etwas natürlich sein würde.
»Ich möchte es gern erklärt haben,« sagte die falsche Schildkröte.
»Sie kann's nicht erklären,« warf der Greif schnell ein. »Sage den nächsten Vers.«
»Aber das von den Füßen?« fragte die falsche Schildkröte wieder. »Wie kann er sie mit der Nase auswärts rücken?«
»Es ist die erste Position bei'm Tanzen,« sagte Alice; aber sie war über Alles dies entsetzlich verwirrt und hätte am liebsten aufgehört.
»Sage den nächsten Vers!« wiederholte der Greif ungeduldig, »er fängt an: 'Seht mein Land!'«
Alice wagte nicht, es abzuschlagen, obgleich sie überzeugt war, es würde Alles falsch kommen, sie fuhr also mit zitternder Stimme fort: —
»Seht mein Land und grüne Fluten,« sprach ein fetter Lachs vom Rhein;Goldne Schuppen meine Rüstung, und mit Austern trink' ich Wein.«
»Seht mein Land und grüne Fluten,« sprach ein fetter Lachs vom Rhein;Goldne Schuppen meine Rüstung, und mit Austern trink' ich Wein.«
»Wozu sollen wir das dumme Zeug mit anhören,« unterbrach sie die falsche Schildkröte, »wenn sie es nicht auch erklären kann? Es ist das verworrenste Zeug, das ich je gehört habe!«
»Ja, ich glaube auch, es ist besser du hörst auf,« sagte der Greif, und Alice gehorchte nur zu gern.
»Sollen wir noch eine Figur von dem Hummerballet versuchen?« fuhr der Greif fort. »Oder möchtest du lieber, daß die falsche Schildkröte dir ein Lied vorsingt?«
»Oh, ein Lied! bitte, wenn die falsche Schildkröte so gut sein will,« antwortete Alice mit solchem Eifer, daß der Greif etwas beleidigt sagte: »Hm! der Geschmack ist verschieden! Singe ihr vor 'Schildkrötensuppe', hörst du, alte Tante?«
Die falsche Schildkröte seufzte tief auf und fing an, mit halb von Schluchzen erstickter Stimme, so zu singen:—
»Schöne Suppe, so schwer und so grün,Dampfend in der heißen Terrin'!Wem nach einem so schönen GerichtWässerte denn der Mund wohl nicht?Kön'gin der Suppen, du schönste Supp'!Kön'gin der Suppen, du schönste Supp'!Wu — underschöne Su — uppe!Wu — underschöne Su — uppe!Kö — önigin der Su — uppen,Wunder-wunderschöne Supp'!Schöne Suppe, wer fragt noch nach Fisch,Wildpret oder was sonst auf dem Tisch?Alles lassen wir stehen zu pReisen allein die wunderschöne Supp',Preisen allein die wunderschöne Supp'!Wu — underschöne Su — uppe!Wu — underschöne Su — uppe!Kö — önigin der Su — uppen,Wunder-wunderschöne Supp'!
»Schöne Suppe, so schwer und so grün,Dampfend in der heißen Terrin'!Wem nach einem so schönen GerichtWässerte denn der Mund wohl nicht?Kön'gin der Suppen, du schönste Supp'!Kön'gin der Suppen, du schönste Supp'!Wu — underschöne Su — uppe!Wu — underschöne Su — uppe!Kö — önigin der Su — uppen,Wunder-wunderschöne Supp'!
Schöne Suppe, wer fragt noch nach Fisch,Wildpret oder was sonst auf dem Tisch?Alles lassen wir stehen zu pReisen allein die wunderschöne Supp',Preisen allein die wunderschöne Supp'!Wu — underschöne Su — uppe!Wu — underschöne Su — uppe!Kö — önigin der Su — uppen,Wunder-wunderschöne Supp'!
»Den Chor noch einmal!« rief der Greif, und die falsche Schildkröte hatte ihn eben wieder angefangen, als ein Ruf: »Das Verhör fängt an!« in der Ferne erscholl.
»Komm schnell!« rief der Greif, und Alice bei der Hand nehmend lief er fort, ohne auf das Ende des Gesanges zu warten.
»Was für ein Verhör?« keuchte Alice bei'm Rennen; aber der Greif antwortete nichts als: »Komm schnell!« und rannte weiter, während schwächer und schwächer, vom Winde getragen, die Worte ihnen folgten: —
»Kö — önigin der Su — uppen,Wunder-wunderschöne Supp'!«
»Kö — önigin der Su — uppen,Wunder-wunderschöne Supp'!«
Der König und die Königin der Herzen saßen auf ihrem Throne, als sie ankamen, und eine große Menge war um sie versammelt — allerlei kleine Vögel und Thiere, außerdem das ganze Pack Karten: der Bube stand vor ihnen, in Ketten, einen Soldaten an jeder Seite, um ihn zu bewachen; dicht bei dem Könige befand sich das weiße Kaninchen, eine Trompete in einer Hand, in der andern eine Pergamentrolle. Im Mittelpunkte des Gerichtshofes stand ein Tisch mit einer Schüssel voll Torten: sie sahen so appetitlich aus, daß der bloße Anblick Alice ganz hungrig darauf machte. — »Ich wünschte, sie machten schnell mit dem Verhör und reichten die Erfrischungen herum.« Aber dazu schien wenig Aussicht zu sein, so daß sie anfing, Alles genau in Augenschein zu nehmen, um sich die Zeit zu vertreiben.
Alice war noch nie in einem Gerichtshofe gewesen, aber sie hatte in ihren Büchern davon gelesen und bildete sich etwas Rechtes darauf ein, daß sie Alles, was sie dort sah, bei Namen zu nennen wußte. »Das ist der Richter,« sagte sie für sich, »wegen seiner großen Perrücke.«
Der Richter war übrigens der König, und er trug die Krone über der Perücke (seht euch das Titelbild an, wenn ihr wissen wollt, wie), es sah nicht aus, als sei es ihm bequem, und sicherlich stand es ihm nicht gut.
»Und jene zwölf kleinen Thiere da sind vermuthlich die Geschwornen,« dachte Alice. Sie wiederholte sich selbst dies Wort zwei bis drei Mal, weil sie so stolz darauf war; denn sie glaubte, und das mit Recht, daß wenig kleine Mädchen ihres Alters überhaupt etwas von diesen Sachen wissen würden.
Die zwölf Geschwornen schrieben alle sehr eifrig auf Schiefertafeln. »Was thun sie?« fragte Alice den Greifen in's Ohr. »Sie können ja noch nichts aufzuschreiben haben, ehe das Verhör beginnt.«
»Sie schreiben ihre Namen auf,« sagte ihr der Greif in's Ohr, »weil sie bange sind, sie zu vergessen, ehe das Verhör zu Ende ist.«
»Dumme Dinger!« fing Alice entrüstet ganz laut an; aber sie hielt augenblicklich inne, denn das weiße Kaninchen rief aus: »Ruhe im Saal!« und der König setzte seine Brille auf und blickte spähend umher, um zu sehen, wer da gesprochen habe.
Alice konnte ganz deutlich sehen, daß alle Geschworne »dumme Dinger!« auf ihre Tafeln schrieben, und sie merkte auch, daß Einer von ihnen nicht wußte, wie es geschrieben wird, und seinen Nachbar fragen mußte. »DieTafeln werden in einem schönen Zustande sein, wenn das Verhör vorüber ist!« dachte Alice.
Einer der Geschwornen hatte einen Tafelstein, der quiekste. Das konnte Alice natürlich nicht aushalten, sie ging auf die andere Seite des Saales, gelangte dicht hinter ihn und fand sehr bald eine Gelegenheit, den Tafelstein fortzunehmen. Sie hatte es so schnell gethan, daß der arme kleine Geschworne (es war Wabbel), durchaus nicht begreifen konnte, wo sein Griffel hingekommen war; nachdem er ihn also überall gesucht hatte, mußte er sich endlich entschließen, mit einemFinger zu schreiben, und das war von sehr geringem Nutzen, da es keine Spuren auf der Tafel zurückließ.
»Herold, verlies die Anklage!« sagte der König.
Da blies das weiße Kaninchen drei Mal in die Trompete, entfaltete darauf die Pergamentrolle und las wie folgt: —
»Coeur-Königin, sie buk Kuchen,Juchheisasah, juchhe!Coeur-Bube kam, die Kuchen nahm.Wo sind sie nun? O weh!«
»Coeur-Königin, sie buk Kuchen,Juchheisasah, juchhe!Coeur-Bube kam, die Kuchen nahm.Wo sind sie nun? O weh!«
»Gebt euer Urtheil ab!« sprach der König zu den Geschwornen.
»Noch nicht, noch nicht!« unterbrach ihn das Kaninchen schnell. »Da kommt noch Vielerlei erst.«
»Laßt den ersten Zeugen eintreten!« sagte der König, worauf das Kaninchen drei Mal in die Trompete blies und ausrief: »Erster Zeuge!«
Der erste Zeuge war der Hutmacher. Er kam herein, eine Tasse in einer Hand und in der andern ein Stück Butterbrot haltend. »Ich bitte um Verzeihung, Eure Majestät, daß ich das mitbringe; aber ich war nicht ganz fertig mit meinem Thee, als nach mir geschickt wurde.«
»Du hättest aber damit fertig sein sollen,« sagte der König. »Wann hast du damit angefangen?«
Der Hutmacher sah den Faselhasen an, der ihm in den Gerichtssaal gefolgt war, Arm in Arm mit dem Murmelthier. »Vierzehnten März, glaube ich war es,« sagte er.
»Funfzehnten,« sagte der Faselhase.
»Sechzehnten,« fügte das Murmelthier hinzu.
»Nehmt das zu Protokoll,« sagte der König zu den Geschwornen, und die Geschwornen schrieben eifrig diedrei Daten auf ihre Tafeln, addirten sie dann und machten die Summe zu Groschen und Pfennigen.
»Nimm deinen Hut ab,« sagte der König zum Hutmacher.
»Es ist nicht meiner,« sagte der Hutmacher.
»Gestohlen!« rief der König zu den Geschwornen gewendet aus, welche sogleich die Thatsache notirten.
»Ich halte sie zum Verkauf,« fügte der Hutmacher als Erklärung hinzu, »ich habe keinen eigenen. Ich bin ein Hutmacher.«
Da setzte sich die Königin die Brille auf und fing an, den Hutmacher scharf zu beobachten, was ihn sehr blaß und unruhig machte.
»Gieb du deine Aussage,« sprach der König, »und sei nicht ängstlich, oder ich lasse dich auf der Stelle hängen.«
Dies beruhigte den Zeugen augenscheinlich nicht; er stand abwechselnd auf dem linken und rechten Fuße, sah die Königin mit großem Unbehagen an, und in seiner Befangenheit biß er ein großes Stück aus seiner Theetasse statt aus seinem Butterbrot.
Gerade in diesem Augenblick spürte Alice eine seltsame Empfindung, die sie sich durchaus nicht erklärenkonnte, bis sie endlich merkte, was es war: sie fing wieder an zu wachsen, und sie wollte sogleich aufstehen und den Gerichtshof verlassen; aber nach weiterer Ueberlegung beschloß sie zu bleiben, wo sie war, so lange sie Platz genug hatte.
»Du brauchtest mich wirklich nicht so zu drängen,« sagte das Murmelthier, welches neben ihr saß. »Ich kann kaum athmen.«
»Ich kann nicht dafür,« sagte Alice bescheiden, »ich wachse.«
»Du hast kein Recht dazu, hier zu wachsen,« sagte das Murmelthier.
»Rede nicht solchen Unsinn,« sagte Alice dreister; »du weißt recht gut, daß du auch wächst.«
»Ja, aber ich wachse in vernünftigem Maßstabe,« sagte das Murmelthier, »nicht auf so lächerliche Art.« Dabei stand es verdrießlich auf und ging an die andere Seite des Saales.
Die ganze Zeit über hatte die Königin unablässig den Hutmacher angestarrt, und gerade als das Murmelthier durch den Saal ging, sprach sie zu einem der Gerichtsbeamten: »Bringe mir die Liste der Sänger imletzten Concerte!« worauf der unglückliche Hutmacher so zitterte, daß ihm beide Schuhe abflogen.
»Gieb deine Aussage,« wiederholte der König ärgerlich, »oder ich werde dich hinrichten lassen, ob du dich ängstigst oder nicht.«
»Ich bin ein armer Mann, Eure Majestät,« begann der Hutmacher mit zitternder Stimme, »und ich hatte eben erst meinen Thee angefangen — nicht länger als eine Woche ungefähr — und da die Butterbrote so dünn wurden — und es Teller und Töpfe in den Thee schneite.«
»Teller und Töpfe — was?« fragte der König.
»Es fing mit dem Thee an,« erwiederte der Hutmacher.
»Natürlich fangen Teller und Töpfe mit einem T an. Hältst du mich für einen Esel? Rede weiter!«
»Ich bin ein armer Mann,« fuhr der Hutmacher fort, »und seitdem schneite Alles — der Faselhase sagte nur —«
»Nein, ich hab's nicht gesagt!« unterbrach ihn der Faselhase schnell.
»Du hast's wohl gesagt!« rief der Hutmacher.
»Ich läugne es!« sagte der Faselhase.
»Er läugnet es!« sagte der König: »laßt den Theil der Aussage fort.«
»Gut, auf jeden Fall hat's das Murmelthier gesagt —« fuhr der Hutmacher fort, indem er sich ängstlich umsah, ob es auch läugnen würde; aber das Murmelthier läugnete nichts, denn es war fest eingeschlafen. »Dann,« sprach der Hutmacher weiter, »schnitt ich noch etwas Butterbrot —«
»Aberwashat das Murmelthier gesagt?« fragte einer der Geschwornen.
»Das ist mir ganz entfallen,« sagte der Hutmacher.
»Aber esmußdir wieder einfallen,« sagte der König, »sonst lasse ich dich köpfen.«
Der unglückliche Hutmacher ließ Tasse und Butterbrot fallen und ließ sich auf ein Knie nieder. »Ich bin ein armseliger Mann, Eure Majestät,« fing er an.
»Du bist einsehrarmseliger Redner,« sagte der König.
Hier klatschte eins der Meerschweinchen Beifall, was sofort von den Gerichtsdienern unterdrückt wurde. (Da dies ein etwas schweres Wort ist, so will ich beschreiben, wie es gemacht wurde. Es war ein großer Leinwandsack bei der Hand, mit Schnüren zum Zusammenziehen: da hinein wurde das Meerschweinchen gesteckt, den Kopf nach unten, und dann saßen sie darauf.)
»Es ist mir lieb, daß ich das gesehen habe,« dachte Alice, »ich habe so oft in der Zeitung am Ende eines Verhörs gelesen: 'Das Publikum fing an, Beifall zu klatschen, was aber sofort von den Gerichtsdienern unterdrückt wurde,' und ich konnte bis jetzt nie verstehen, was es bedeutete.«
»Wenn dies Alles ist, was du zu sagen weißt, so kannst du abtreten,« fuhr der König fort.
»Ich kann nichts mehr abtreten,« sagte der Hutmacher: »ich stehe so schon auf den Strümpfen.«
»Dann kannst duabwarten, bis du wieder gefragt wirst,« erwiederte der König.
Hier klatschte das zweite Meerschweinchen und wurde unterdrückt.
»Ha, nun sind die Meerschweinchen besorgt,« dachte Alice, »nun wird es besser vorwärts gehen.«
»Ich möchte lieber zu meinem Thee zurückgehen,« sagte der Hutmacher mit einem ängstlichen Blicke auf die Königin, welche die Liste der Sänger durchlas.
»Du kannst gehen,« sagte der König, worauf der Hutmacher eilig den Gerichtssaal verließ, ohne sich einmal Zeit zu nehmen, seine Schuhe anzuziehen.
»— und draußen schneidet ihm doch den Kopf ab,« fügte die Königin zu einem der Beamten gewandt hinzu; aber der Hutmacher war nicht mehr zu sehen, als der Beamte die Thür erreichte.
»Ruft den nächsten Zeugen!« sagte der König.
Der nächste Zeuge war die Köchin der Herzogin. Sie trug die Pfefferbüchse in der Hand, und Alice errieth, schon ehe sie in den Saal trat, wer es sei, weil alle Leute in der Nähe der Thür mit einem Male anfingen zu niesen.
»Gieb deine Aussage,« sagte der König.
»Ne!« antwortete die Köchin.
Der König sah ängstlich das weiße Kaninchen an, welches leise sprach: »Eure Majestät müssen diesen Zeugen einem Kreuzverhör unterwerfen.«
»Wohl, wenn ich muß, muß ich,« sagte der König trübsinnig, und nachdem er die Arme gekreuzt und die Augenbraunen so fest zusammengezogen hatte, daß seine Augen kaum mehr zu sehen waren, sagte er mit tiefer Stimme: »Wovon macht man kleine Kuchen?«
»Pfeffer, hauptsächlich,« sagte die Köchin.
»Syrup,« sagte eine schläfrige Stimme hinter ihr.
»Nehmt dieses Murmelthier fest!« heulte die Königin.»Köpft dieses Murmelthier! Schafft dieses Murmelthier aus dem Saale! Unterdrückt es! Kneift es! Brennt ihm den Bart ab!«
Einige Minuten lang war das ganze Gericht in Bewegung, um das Murmelthier fortzuschaffen; und als endlich Alles wieder zur Ruhe gekommen war, war die Köchin verschwunden.
»Schadet nichts!« sagte der König und sah aus, als falle ihm ein Stein vom Herzen. »Ruft den nächsten Zeugen.« Und zu der Königin gewandt, fügte er leise hinzu: »Wirklich, meine Liebe, du mußt das nächste Kreuzverhör übernehmen, meine Arme sind schon ganz lahm.«
Alice beobachtete das weiße Kaninchen, das die Liste durchsuchte, da sie sehr neugierig war, wer wohl der nächste Zeuge sein möchte, — »denn sie haben noch nicht viel Beweise,« sagte sie für sich. Denkt euch ihre Ueberraschung, als das weiße Kaninchen mit seiner höchsten Kopfstimme vorlas: »Alice!«
»Hier!« rief Alice, in der augenblicklichen Erregung ganz vergessend, wie sehr sie die letzten Minuten gewachsen war; sie sprang in solcher Eile auf, daß sie mit ihrem Rock das Pult vor sich umstieß, so daß alle Geschworne auf die Köpfe der darunter sitzenden Versammlung fielen. Da lagen sie unbehülflich umher und erinnerten sie sehr an ein Glas mit Goldfischen, das sie die Woche vorher aus Versehen umgestoßen hatte.
»Oh, ichbitteum Verzeihung,« rief sie mit sehr bestürztem Tone, und fing an, sie so schnell wie möglich aufzunehmen; denn der Unfall mit den Goldfischen lag ihr noch im Sinne, und sie hatte eine unbestimmte Art Vorstellung, als ob sie gleich gesammelt und wieder in ihr Pult gethan werden müßten, sonst würden sie sterben.
»Das Verhör kann nicht fortgesetzt werden,« sagte der König sehr ernst, »bis alle Geschworne wieder an ihrem rechten Platze sind —alle,« wiederholte er mit großem Nachdrucke, und sah dabei Alice fest an.
Alice sah sich nach dem Pulte um und bemerkte, daß sie in der Eile die Eidechse kopfunten hineingestellt hatte, und das arme kleine Ding bewegte den Schwanz trübselig hin und her, da es sich übrigens nicht rühren konnte. Sie zog es schnell wieder heraus und stellte es richtig hinein. »Es hat zwar nichts zu bedeuten,« sagte sie für sich, »ich glaube, es würde für das Verhör ganz eben so nützlich sein kopfoben wie kopfunten.«
Sobald sich die Geschwornen etwas von dem Schreck erholt hatten, umgeworfen worden zu sein, und nachdem ihre Tafeln und Tafelsteine gefunden und ihnen zurückgegeben worden waren, machten sie sich eifrig daran, die Geschichte ihres Unfalles aufzuschreiben, alle außer der Eidechse, welche zu angegriffen war, um etwas zu thun; sie saß nur mit offnem Maule da und starrte die Saaldecke an.
»Was weißt du von dieser Angelegenheit?« fragte der König Alice.
»Nichts!« sagte Alice.
»Durchaus nichts?« drang der König in sie.
»Durchaus nichts!« sagte Alice.
»Daß ist sehr wichtig,« sagte der König, indem er sich an die Geschwornen wandte. Sie wollten dies ebenauf ihre Tafeln schreiben, als das weiße Kaninchen ihn unterbrach. »Unwichtig, meinten Eure Majestät natürlich!« sagte es in sehr ehrfurchtsvollem Tone, wobei es ihn aber mit Stirnrunzeln und verdrießlichem Gesichte ansah.
»Unwichtig, natürlich, meinte ich,« bestätigte der König eilig, und fuhr mit halblauter Stimme für sich fort: »wichtig — unwichtig — unwichtig — wichtig —« als ob er versuchte, welches Wort am besten klänge.
Einige der Geschwornen schrieben auf »wichtig«, und einige »unwichtig.« Alice konnte dies sehen, da sie nahe genug war, um ihre Tafeln zu überblicken; »aber es kommt nicht das Geringste darauf an,« dachte sie bei sich.
In diesem Augenblick rief der König, der eifrig in seinem Notizbuch geschrieben hatte, plötzlich aus: »Still!« und las dann aus seinem Buche vor: »Zweiundvierzigstes Gesetz.Alle Personen, die mehr als eine Meile hoch sind, haben den Gerichtshof zu verlassen.
Alle sahen Alice an.
»Ichbinkeine Meile groß,« sagte Alice.
»Das bist du wohl,« sagte der König.
»Beinahe zwei Meilen groß,« fügte die Königin hinzu.
»Auf jeden Fall werde ich nicht fortgehen,« sagte Alice, »übrigens ist das kein regelmäßiges Gesetz; Sie haben es sich eben erst ausgedacht.«
»Es ist das älteste Gesetz in dem Buche,« sagte der König.
»Dann müßte es Nummer Eins sein,« sagte Alice.
Der König erbleichte und machte sein Notizbuch schnell zu. »Gebt euer Urtheil ab!« sagte er leise und mit zitternder Stimme zu den Geschwornen.
»Majestät halten zu Gnaden, es sind noch mehr Beweise aufzunehmen,« sagte das weiße Kaninchen, indem es eilig aufsprang; »dieses Papier ist soeben gefunden worden.«
»Was enthält es?« fragte die Königin.
»Ich habe es noch nicht geöffnet,« sagte das weiße Kaninchen, »aber es scheint ein Brief von dem Gefangenen an — an Jemand zu sein.«
»Ja, das wird es wohl sein,« sagte der König, »wenn es nicht an Niemand ist, was, wie bekannt nicht oft vorkommt.«
»An wen ist es adressirt?« fragte einer der Geschwornen.
»Es ist gar nicht adressirt,« sagte das weiße Kaninchen;»überhaupt steht auf derAußenseitegar nichts.« Es faltete bei diesen Worten das Papier auseinander und sprach weiter: »Es ist übrigens gar kein Brief, es sind Verse.«
»Sind sie in der Handschrift des Gefangenen?« fragte ein anderer Geschworner.
»Nein, das sind sie nicht,« sagte das weiße Kaninchen, »und das ist das Merkwürdigste dabei.« (Die Geschwornen sahen alle ganz verdutzt aus.)
»Er muß eines Andern Handschrift nachgeahmt haben,« sagte der König. (Die Gesichter der Geschwornen klärten sich auf.)
»Eure Majestät halten zu Gnaden,« sagte der Bube, »ich habe es nicht geschrieben, und Niemand kann beweisen, daß ich es geschrieben haben, es ist keine Unterschrift darunter.«
»Wenn du es nicht unterschrieben hast,« sagte der König, »so macht das die Sache nur schlimmer. Du mußt schlechte Absichten dabei gehabt haben, sonst hättest du wie ein ehrlicher Mann deinen Namen darunter gesetzt.«
Hierauf folgte allgemeines Beifallklatschen; es war der erste wirklich kluge Ausspruch, den der König an dem Tage gethan hatte.
»Dasbeweistseine Schuld,« sagte die Königin.
»Es beweist durchaus gar nichts!« sagte Alice, »Ihr wißt ja noch nicht einmal, worüber die Verse sind!«
»Lies sie!« sagte der König.
Das weiße Kaninchen setzte seine Brille auf. »Wo befehlen Eure Majestät, daß ich anfangen soll?« fragte es.
»Fange beim Anfang an,« sagte der König ernsthaft, »und lies bis du an's Ende kommst, dann halte an.«
Dies waren die Verse, welche das weiße Kaninchen vorlas: —