Achtzehntes Kapitel.Samarra, die Hauptstadt des Kalifen Mutawakkil.

Kerbelawagen.Achtzehntes Kapitel.Samarra, die Hauptstadt des Kalifen Mutawakkil.

Kerbelawagen.

Kerbelawagen.

Fast übersättigt mit Eindrücken überwältigender Art verließ ich am Abend des 18. Mais Babylon. Ein vierspänniger Kerbelawagen, die Postkutsche zwischen Bagdad und Hille, die besonders von persischen Pilgern nach Kerbela und Nedschef benutzt wird, brachte uns, den Herzog, Rittmeister Schölvinck und mich, in zehnstündiger nächtlicher Fahrt nach Bagdad zurück.

Diese Fahrt auf den mit Mänteln und Kissen notdürftig gepolsterten Holzbänken des hochrädrigen Marterkastens, dessen Federung auf ein volles Haus mit Sack und Pack berechnet war, mit uns dreien aber Ball spielte, wird uns wohl allen unvergeßlich sein. Wir saßen im Zickzack, um Raum für die Beine zu haben, und wechselten von Zeit zu Zeit unsere Plätze, um nicht immer auf derselben Stelle gestoßen und geschunden zu werden. An Unterhaltung war nicht zu denken, dennbei dem erbitterten Gerassel des trockenen Holzwagens, dem klappernden Getrappel der Pferdehufe auf dem ebenso trocknen wie harten Wege, der lange Strecken glatt wie Asphalt, dann wieder durch Reste von Kanaldämmen kaum fahrbar war, konnte man sich höchstens durch lautes Schreien verständigen. Nur Freund Schölvinck brachte es fertig, in diesem betäubenden Lärm regelrecht einzunicken, bis plötzlich sein großer Tropenhelm rasselnd vom Kopfe rutschte und er zu der beiden Zuschauer Belustigung jäh aus dem Schlaf aufschreckte. Dazu die unendliche Einsamkeit und die todbleiche Beleuchtung, als der Mond am Himmel stand. Beim Aufgang war er, infolge der durch Dunst und Staub getrübten Atmosphäre, dunkelgelbrot, fast hagebuttenfarbig, und zeigte eine merkwürdige elliptische Form, deren Längsachse dem Horizont parallel lief. Als er dann langsam emporstieg, brannte sein Licht immer klarer und beleuchtete schließlich wie ein Scheinwerfer die Kulissen des Weges: hier und da einen dürren Hügel, einen alten Kanaldamm vielleicht noch aus der Kalifenzeit, die graue Steppe und ab und zu einige Reisende, die mit Pferden, Eseln oder einer stolz einherschreitenden Kamelkarawane aus der Mondscheindämmerung auftauchten und wie Schatten vorüberzogen.

Rittmeister Schölvinck.

Rittmeister Schölvinck.

Gegen ½4 Uhr zeigte sich endlich ein schwaches Leuchten am östlichen Horizont und ward allmählich heller. Als wir eben über dieBrücke von Cher fuhren, sprühte der Horizont in Blitzen, und die Ebene loderte empor wie in einem Steppenbrand. Alles ringsum bekam Farbe, und die Strahlen der siegreich aufgehenden Sonne spielten auf den vergoldeten Kuppeln und Gebetstürmen von Kasimen. Die Grabmoschee stand in der weiten Wüste wie ein Märchenschloß aus schimmerndem Gold, und im satten Grün ihrer Palmen lag wieder die Stadt der Kalifen vor uns.

Bagdad prangte in vollem Flaggenschmuck, als wir ankamen. Der türkische Kriegsminister Enver Pascha wurde erwartet. Er kam wie ein Wirbelwind, von Kanonendonner begrüßt, und fuhr sogleich nach Kut-el-Amara weiter. Dann reiste er nach Chanikin und war am 25. Mai wieder in Bagdad, wo ich ihm im alten Hause des Feldmarschalls von der Goltz, das jetzt von seinem Nachfolger Halil Pascha bewohnt wurde, einen Besuch abstattete. Bald darauf reiste er mit seinem Stabschef, dem General Bronsart von Schellendorf, nach Samarra.

Auch meine Tage in Bagdad waren gezählt. Mein nächstes Reiseziel war Mosul mit den Ruinen von Ninive, und mit gewohnter Liebenswürdigkeit forderte mich der Herzog auf, mich seiner Karawane anzuschließen, die den gleichen Weg nehmen sollte. Da alles, was Fuhrwerk und Pferd hieß, militärisch beschlagnahmt war, erleichterte mir dieser glückliche Umstand meine Weiterreise ungemein.

Am 1. Juni brachen wir auf. Ein Belem setzte uns über den Tigris, und am Bahnhof verabschiedeten wir uns von den zahlreichen deutschen, türkischen und schwedischen Freunden, die sich dort versammelt hatten, von General Gleich und den Majoren Kiesling und Molière, vonDr.Hesse und Konsul Richarz, der am nächsten Tag auf „Sommerfrische“ in sein Särdab hinunterzuziehen gedachte. Dann brachte uns ein Salonwagen zunächst nach Kasimen, wo Halil Pascha, der neue Wali und der syrische Erzbischof von Bagdad den Herzog noch einmal begrüßten, und abends um 10 Uhr langten wir in Samarra an. Soweit war die Bagdadbahn fertig, als der Ausbruch des Krieges ihren Weiterbau unterbrach. Hier wurden unsre Pferde, Maulesel und Wagen ausgeladen, dazu das gewaltige Gepäck, und auf dem Hofe des Stationsgebäudes der Abendbrottisch gedeckt, um den wir uns zu fünf Mann versammelten: Herzog Adolf Friedrich, Rittmeister Schölvinck, RittmeisterBusse, der ehemalige Adjutant des Feldmarschalls, Konsul Schünemann aus Täbris und ich. Auf dem Dach des Bahnhofsgebäudes standen unsere Betten, und über Nacht wehte ein so herrlicher Nordwind, daß das Mückennetz überflüssig war und man zum Laken sogar noch einen Mantel brauchte. Auch über Tag hatten wir nicht über allzu große Hitze zu klagen gehabt und uns bei 33 Grad am Nachmittag wie in Mitteleuropa zur Sommerszeit gefühlt.

Der neue Wali von Bagdad.Der Herzog spricht mit Halil Pascha.⇒GRÖSSERES BILD

Der neue Wali von Bagdad.Der Herzog spricht mit Halil Pascha.⇒GRÖSSERES BILD

⇒GRÖSSERES BILD

Phot.: Schölvinck.Indisches Gefangenenzelt.

Phot.: Schölvinck.Indisches Gefangenenzelt.

Phot.: Schölvinck.

Am andern Morgen ordnete sich die Hauptabteilung der Karawane und brach unter Konsul Schünemanns Leitung, begleitet von den Ordonnanzen des Herzogs und meinem treuen Sale, direkt nach Tekrit auf. Wir übrigen wollten den Tag zur Besichtigung der alten Kalifenstadt Samarra verwenden, deren Ruinen auf dem linken Tigrisufer liegen.

Um 7 Uhr fuhren wir zum Strom hinunter und hielten an einem von einer Mauer umgebenen Hof, wo eine starke Abteilung englischer Gefangenen aus Kut-el-Amara lagerte; sie waren wie wir mit der Bahn von Bagdad gekommen, sammelten sich hier in dem ersten Gefangenendepot und sollten nun den langen Weg über Mosul und Nesibin nach Ras-el-Ain zu Fuß marschieren, um dann wieder mit der Bahn nach Konia und andern Städten Kleinasiens befördert zu werden.

Phot.: Schölvinck.Englische Gefangene.⇒GRÖSSERES BILD

Phot.: Schölvinck.Englische Gefangene.⇒GRÖSSERES BILD

Phot.: Schölvinck.

⇒GRÖSSERES BILD

Aus der Schar der englischen Offiziere, die sich am Eingang aufhielt, trat uns ein katholischer irischer Priester entgegen, den ich schon bei den Dominikanerschwestern in Bagdad getroffen hatte, ein älterer vornehmer Mann mit kurzgeschorenem, weißem Haar; er hatte eine angenehme, mitteilsame Art und betrachtete den Ernst seiner Lage mit stoischer Ruhe und sogar mit Humor. Über die Behandlung und Verpflegung seitens der Türken hatte er nicht im geringsten zu klagen, und daß diese ihren Gefangenen keinen erstklassigen Rückzug gewähren konnten, sah er vollkommen ein. Daß viele seiner Leidensgefährten auf dem Marsch von Kut-el-Amara nach Bagdad gestorben waren, schrieb er vor allem dem Mangel zu, der während der Belagerung geherrscht hatte. Aber er fürchtete sehr, daß manche englische Soldaten, die bereits kränkelten, der Anstrengung des Marsches bis Ras-el-Ain nicht gewachsen sein würden. Je zwei mußten ihr Gepäck auf einem Esel verteilen; dieses mußte daher auf das Allernotwendigste beschränkt werden.

Die meisten Offiziere lagen auf Decken und Mänteln am Boden, einige saßen auf kleinen Lederkoffern und rauchten Pfeife. Dieser las in einem Buche, jener schlief, das Taschentuch über das Gesicht gebreitet; ein dritter nähte sich einen Knopf an seinen Khakirock, während sich sein Kamerad das Rasiermesser schliff. Die in unserer Nähe lauschten unserm Gespräch mit dem Priester. Einer von ihnen war Arzt und sorgte für die Kranken, die unter einem provisorischen Schutzdach ruhten. Auf dem Hof saßen die indischen Diener der Ordonnanzen der Engländer um ein kleines Feuer herum, brieten Fische oder kochten Tee und Eier für ihre Herren. An der Mauer lagen indische Unteroffiziere in malerischen Gruppen.

Bei flüchtigem Zusehen hätte man glauben können, alle diese Männer könnten sich nicht mehr auf den Beinen halten; in Wirklichkeit waren sie, mit wenigen Ausnahmen, in bester Verfassung. Sie hatten nur eben nichts anderes zu tun, als sich hinzulegen und in den Himmel zu sehen. Besonders die Engländer waren kräftige, abgehärtete Männer mit wettergebräunten Gesichtern. Sie trugen ihr Geschick mit Gleichmutund sogen an ihren Pfeifen mit einer Ruhe, als ob sie zur Sommerfrische in Schottland wären.

Und doch waren jetzt Indiens stolze Herren keinen Deut mehr wert als ihre 300 Millionen Sklaven! Wer Indien kennt, kennt auch die Kluft, die dort zwischen Europäern und Weißen besteht. Durch seine Macht, seine Organisation, sein militärisches System („Militarismus“), seine überlegenen Waffen und sein herrisches Auftreten, nicht durch seine Intelligenz, hat England das große Indien zu unterjochen vermocht, hält es noch heute dessen Völker wie in einem Schraubstock. Der Engländer befiehlt, der Inder hat nur zu gehorchen; über 400 Millionen Mark jährlich müssen die Landeskinder für eine Armee zahlen, in der sie selbst niemals eine höhere Stelle bekleiden können und die nur zu ihrer Unterjochung da ist. Der frühere amerikanische Präsidentschaftskandidat Bryan hatte nur zu recht, als er kürzlich schrieb: „Verglichen mit dem Despotismus, der in Indien herrscht, ist der russische Zarismus ein Kinderspiel!“

Hier unter den Gefangenen waren sie nun alle gleich, und der eine konnte nicht mehr auf Kosten des andern üppig leben. Das erweckte in mir kein Mitleid. Ich beklagte aber die traurige Rolle, die der Christ jetzt in den Augen der Andersgläubigen spielte. Die Inder, mochten sie nun Hindus, Brahmanen, Buddhisten oder Mohammedaner sein, waren Zeugen der Erniedrigung ihrer früheren Herren, und soweit sie Mohammedaner waren, freuten sie sich wohl gar im Stillen, nicht mehr christlichen, sondern mohammedanischen Offizieren gehorchen zu müssen. Bei den Dardanellen und bei Kut-el-Amara waren die hochfahrenden Engländer von den Türken aufs Haupt geschlagen worden, und jetzt erfuhren sie von diesem Volk, dem sie während des Krieges stets mit Verachtung und Hohn begegnet waren, als Gefangene eine gute und rücksichtsvolle Behandlung! Hier waltete eine göttliche Nemesis, und es ist nun an den Engländern, daraus die nötige Lehre zu ziehen, die sie hoffentlich nicht mißverstehen werden. Auch die späteren Ereignisse in Mesopotamien haben an dem, was einmal geschehen ist, nichts ändern können. —

Am Ufer des Tigris lag eine endlose Reihe von Keleks. Das sind die berühmten Flöße, die aus einem Holzgerippe bestehen, das von einigenhundert mit Luft gefüllten Ziegenfellen getragen wird. Sie dienen als Frachtschiffe auf der Strecke von Mosul oder noch weiter flußaufwärts bis Samarra, von wo die Ladung mit der Eisenbahn nach Bagdad geht. In Samarra werden die Flöße auseinandergenommen, die Felle geöffnet und das zusammengepackte Material zu neuer Verwendung nach Mosul zurückbefördert.

Phot.: Schölvinck.Ein schattiges Gewölbe.

Phot.: Schölvinck.Ein schattiges Gewölbe.

Phot.: Schölvinck.

Auf uns wartete eine Guffa, die uns trotz des hohen Wellenganges halbwegs trocken am andern Ufer absetzte. Dort begann dann unsere Wanderung durch die Ruinen des alten Samarra, arabische Häuser mit schönen Einzelheiten, bis zu der gewaltigen Burg, in deren schattigen Gewölben wir vor der immer heißer brennenden Sonne Schutz fanden. Mittlerweile sandte uns der Platzkommandant einige Pferde, die uns zu der großen Moschee und dem mächtigen Turm ihres Minaretts brachten. Sein wendeltreppenartiger Aufgang war an mehreren Stellen eingestürzt, was die arabischen Pferdeburschen nicht hinderte, wie Katzen darauf herumzuklettern.

Phot.: Schölvinck.In den Ruinen von Samarra.⇒GRÖSSERES BILD

Phot.: Schölvinck.In den Ruinen von Samarra.⇒GRÖSSERES BILD

Phot.: Schölvinck.

⇒GRÖSSERES BILD

Die Zeit erlaubte uns nicht, dieser merkwürdigen alten Kalifenhauptstadt, die dank der Laune eines Herrschers gleichsam über Nacht emporwuchs, nach kaum fünfzig Jahren aber schon wieder verlassen wurde und verfiel, mehr als eine flüchtige Besichtigung zu widmen. Ich beschränke mich daher auf einige Andeutungen über die kurzlebige Geschichte der Stadt und verweise im übrigen auf dieSchriften[1]der beiden deutschen Archäologen Professor Sarre undDr.Herzfeld, die auf diesem Ruinenfeld mit so ausgezeichnetem Erfolge tätig gewesen sind.

[1]„Archäologische Reise im Euphrat- und Tigrisgebiet“ von F. Sarre und E. Herzfeld. Berlin, 1911. — „Erster vorläufiger Bericht über die Ausgrabungen von Samarra“ von Ernst Herzfeld. Mit einem Vorwort von Friedrich Sarre. Berlin, 1912. — „Mitteilung über die Arbeiten der zweiten Kampagne von Samarra“ von Ernst Herzfeld, und: „Die Kleinfunde von Samarra und ihre Ergebnisse für das islamische Kunstgewerbe des 9. Jahrhunderts“ von Friedrich Sarre; beide in: „Der Islam“, herausgegeben von C. H. Becker, Band V, Heft 2–3. Straßburg 1914.

[1]„Archäologische Reise im Euphrat- und Tigrisgebiet“ von F. Sarre und E. Herzfeld. Berlin, 1911. — „Erster vorläufiger Bericht über die Ausgrabungen von Samarra“ von Ernst Herzfeld. Mit einem Vorwort von Friedrich Sarre. Berlin, 1912. — „Mitteilung über die Arbeiten der zweiten Kampagne von Samarra“ von Ernst Herzfeld, und: „Die Kleinfunde von Samarra und ihre Ergebnisse für das islamische Kunstgewerbe des 9. Jahrhunderts“ von Friedrich Sarre; beide in: „Der Islam“, herausgegeben von C. H. Becker, Band V, Heft 2–3. Straßburg 1914.

[1]„Archäologische Reise im Euphrat- und Tigrisgebiet“ von F. Sarre und E. Herzfeld. Berlin, 1911. — „Erster vorläufiger Bericht über die Ausgrabungen von Samarra“ von Ernst Herzfeld. Mit einem Vorwort von Friedrich Sarre. Berlin, 1912. — „Mitteilung über die Arbeiten der zweiten Kampagne von Samarra“ von Ernst Herzfeld, und: „Die Kleinfunde von Samarra und ihre Ergebnisse für das islamische Kunstgewerbe des 9. Jahrhunderts“ von Friedrich Sarre; beide in: „Der Islam“, herausgegeben von C. H. Becker, Band V, Heft 2–3. Straßburg 1914.

Als Harun er-Raschids Sohn, der Kalif al-Mutasimbillah, infolge der Zwistigkeiten zwischen seiner türkischen und asiatischen Leibwache und der arabischen Bevölkerung sich in Bagdad nicht mehr sicher fühlte, beschloß er im Jahre 836 n. Chr. eine andere Hauptstadt zu gründen. Dazu wählte er einen Platz 130 Kilometer nördlicher am linken Ufer des Tigris, wo vordem nur unbedeutende Dörfer und einige christliche Klöster gestanden hatten. Schon zwei Jahre später bezog er seine neue Residenz und nannte sie Surra man ra’a („Wer sie sieht, der freut sich“). Hier starb er im Jahre 842.

Unter seinem Sohn und Nachfolger, Harun al-Wathik (842–847), wuchs Samarra zu einer Weltstadt heran, die aus allen Teilen des unermeßlichen Reiches, das sich von China bis nach Marokko erstreckte, Bürger und Kaufleute in Massen anlockte. Der eigentliche Erbauer Samarras ist aber Mutasims zweiter Sohn, Dschafar al-Mutawakkil (847–861). Zwei Drittel des bisher freigelegten Trümmerfeldes, das sich in 2 Kilometer Breite 33 Kilometer weit den Tigris entlang erstreckt und die größte Ruinenstätte der Erde ist, stammen aus seiner Zeit. Das ganze bebaute Gebiet Samarras, von dem nur einige Hauptteile ausgegraben sind, umfaßte etwa 200 Quadratkilometer! Die Ringbahn von Berlin schließt nur 90 ein! Die von Mutawakkil erbauten Paläste kosteten 204 Millionen Dirhem (Franken). Auch die große Moschee, das riesige Schloß Balkuwara im Süden des Gebietes und die sogenannte Nordstadt oder al-Mutawakkilije sind sein Werk.

Die große Moschee wurde von 846–852 gebaut und kostete 15 Millionen Dirhem. Die Mauern und Teile der Türwölbungen imMihrab, in der Gebetsnische, stehen noch heute. Das Ganze war ein Mauerviereck mit vier großen Hallen. In der Mitte des mit Ziegeln gepflasterten Hofes befand sich ein Springbrunnen in Form eines Monolithbeckens von vier Meter Durchmesser, der „die Tasse des Pharao“ hieß. Zahlreiche runde und achteckige Marmorsäulen, Kapitelle und Basen in Glockenform, Scherben von Glas und Gold in Mosaik, Freskomalereien, Stuckornamente, Holzschnitzereien, Öllampen, künstlerisch geformte Fenster und andre Überreste zeugen von der Pracht dieses Tempels. Malwije, das Minarett der Moschee, das sich auf einem Sockel von 32 Meter Seitenlänge erhebt, ist gewissermaßen ein Abkömmling des Turmes von Babel. Die ganze Grundfläche der Moschee betrug 250000 Quadratmeter; wenn der Kalif mit seinem Hofstaat hier seine Freitagsgebete verrichtete, konnten hunderttausend Andächtige bequem darin Platz finden!

Phot.: Schölvinck.Die große Moschee in Samarra.

Phot.: Schölvinck.Die große Moschee in Samarra.

Phot.: Schölvinck.

Der Palast des Kalifen umfaßte nicht weniger als 175 Hektar; 71 davon gehören zum Garten am Tigrisufer, der Pavillons, Hallen und große Wasserbecken umfaßte. Etwa 300 Arbeiter haben hier allein sieben Monate lang gegraben und 14000 Quadratmeter bloßgelegt; 32000 Kubikmeter Schutt wurden auf einer Feldbahn fortgeschafft. Große Teile des Palastgebietes ließen sich ohne völlige Ausgrabung bestimmen.

Phot.: Schölvinck.Linkes Tigrisufer bei Samarra.⇒GRÖSSERES BILD

Phot.: Schölvinck.Linkes Tigrisufer bei Samarra.⇒GRÖSSERES BILD

Phot.: Schölvinck.

⇒GRÖSSERES BILD

Die Privathäuser Samarras waren aus ungebrannten Lehmziegeln und einstöckig, hatten aber bis zu fünfzig Zimmer. Vornehme Gemächer waren geschmackvoll ausgestattet mit orientalischen Gipsornamenten, bei denen Herzfeld drei verschiedene Stilarten unterscheidet: die koptische, die irakische und die nordmesopotamische.

Kurde Selman Petto, 80 Jahre alt.

Kurde Selman Petto, 80 Jahre alt.

Bei dem Dorf Dur am Nordende von Samarra steht noch ein etwa ums Jahr 1000 erbautes, viertürmiges Mausoleum des Mohammed el-Duri, des ältesten Sohnes Musa al-Kasims. Al-Aschik ist der Name einer Burg und eines Mausoleums am rechten Tigrisufer, die nach Mutawakkils Zeit entstanden sind.

Die Kleinfunde aus Samarra, von denen Professor Sarre eine vorläufige Beschreibung gegeben hat, umfassen glasierte und unglasierte, bemalte und ornamentierte, ostasiatische und einheimische Keramik, Wand-, Glas- und Holzmalerei, Papyri, Teppiche, einige Gegenstände aus Metall und Münzen.

Der Kalif Mutawakkil fiel Ende 861 von der Hand seines Sohnes Mutasir, unter dessen Regierung die Auflösung des Reiches begann. Während der letzten zweiundzwanzig Jahre Samarras herrschten hier fünf Kalifen unter blutigen Fehden. Eine Provinz nach der andern fiel ab, und die türkischen Prätorianer wuchsen den Kalifen über den Kopf. Der letzte Kalif in Samarra verließ die Stadt im Jahre 883, zog erst ins südliche Irak und 891 nach Bagdad.

Samarra bestand also nur 45 Jahre (838–883) und verfiel dann schnell. Heute ist es eine kleine schiitische Stadt mit 2000 Einwohnern, einem türkischen Kaimakam, aber ohne Garnison.

Eine Forschungsreise, die Sarre und Herzfeld 1907/08 in Syrien und Mesopotamien unternahmen, gab Veranlassung zu den deutschen Ausgrabungen, die 1911 und 1912 stattfanden. Im Zusammenhang damit nahm der Hauptmann Ludloff vom Generalstab eine Karte des ganzen Gebiets im Maßstab 1 : 25000 auf. Die Ergebnisse der Ausgrabungen und der topographischen Arbeiten bestätigen in allen Punkten die Glaubwürdigkeit der arabischen Geschichtsschreiber Tabari und Baladhuri und die Genauigkeit der Schilderungen des Geographen Jakubi. Die Gottesdienste und Feste, Palastrevolutionen und Volksaufstände, die Triumphzüge und Hinrichtungen, Mordszenen und Begräbnisse, kurz alles, was die alten Chroniken berichten, kann nun wieder, wie Herzfeld sagt, auf seinen wirklichen Schauplatz verlegt werden.

Das heutige Samarra ist eines der großen schiitischen Wallfahrtsorte wie Nedschef, Kerbela, Kasimen und Meschhed in Persien, die alle den Europäern unzugänglich sind. Die schiitische Sekte entstand aus dem dritthalbjahrhundertlangen Streit der omaijadischen und abbassidischen Kalifen mit den Aliden, die direkt vom Propheten herstammen, ist also fast ebenso alt wie der Islam. Der Schiitismus ist die herrschende Religion in Persien und hat als Gegensatz zum arabischen Element politische Bedeutung. Alljährlich unternehmen etwa hunderttausend seinerBekenner eine Pilgerfahrt nach den zwei Wallfahrtsstätten Samarras. Die eine ist das Mausoleum, unter dessen goldener Kuppel der zehnte und elfte Imam ruhen neben Alis Schwester, Gemahlin und Mutter. Dieses Heiligtum stammt aus neuerer Zeit. Die Kuppel wurde erst 1908 vollendet. Ihre Goldbekleidung, die schon aus weiter Ferne wie eine kleine Sonne leuchtet, ist, wie eine Inschrift über dem Tor verrät, ein Geschenk des Schahs Nasreddin von Persien und hat 30000 türkische Pfund, also über eine halbe Million Mark, gekostet.

Das andere Heiligtum mit einer blauen Fayencekuppel ist eine unterirdische Krypta, in der der zwölfte Imam, der Mahdi, der „Herrscher der Zeit“, der Messias der Schiiten, im Alter von vier Jahren verschwand. Sie wurde vom Kalifen Nasir im Jahre 1210 gebaut. Andere Teile des Heiligengrabs stammen aber aus neuerer Zeit.

Wir ritten auch in die kleine Stadt hinein, um uns wenigstens eine Vorstellung von der Lage der beiden Heiligtümer zu verschaffen und sie von außen zu betrachten. Man bewachte uns dabei scharf, damit wir nicht etwa das verbotene Gebiet betraten. Wir konnten daher nur von der Schwelle aus einen Blick in den Hof des Mausoleums werfen und kehrten dann durch die ärmlichen Basare und das Stadttor, das in einer hohen, von einer indischen Prinzessin zum Schutz gegen raubgierige Beduinen errichteten Mauer liegt, zu unserm Lager am Bahnhofsgebäude zurück.


Back to IndexNext