Gleich morgens um acht Uhr, sobald er das Bett verlassen hatte, über die Wendeltreppe hinter der kleinen Pforte ins Souterrain hinabgestiegen war, ein Bad genommen und seinen Schlafrock wieder angelegt hatte, begann Konsul Buddenbrook sich mit öffentlichen Dingen zu beschäftigen. Dann nämlich erschien, mit seinen roten Händen und seinem intelligenten Gesicht, mit einem Topfe warmen Wassers, den er sich aus der Küche geholt, und den übrigen Utensilien, Herr Wenzel, Barbier und Mitglied der Bürgerschaft, in der Badestube, und während der Konsul sich, zurückgebeugten Hauptes, in einem großen Lehnstuhle niederließ und Herr Wenzel Schaum zu schlagen begann, entspann sich fast immer einGespräch, das, mit Nachtruhe und Witterung beginnend, alsbald zu Ereignissen in der großen Welt überging, sich hierauf mit intim städtischen Angelegenheiten beschäftigte und mit ganz eng geschäftlichen und familiären Gegenständen zu schließen pflegte … Dies alles zog die Prozedur sehr in die Länge, denn immer, wenn der Konsul sprach, mußte Herr Wenzel das Messer von seinem Gesicht entfernen.
»Wohl geruht, Herr Konsul?«
»Danke, Wenzel. Gutes Wetter heute?«
»Frost und ein bißchen Schneenebel, Herr Konsul. Vor der Jacobikirche haben die Jungens schon wieder 'ne Schleisterbahn, zehn Meter lang, daß ich beinah' hingeschlagen wär', als ich vom Bürgermeister kam. Hol' sie der Düwel …«
»Schon Zeitungen gesehen?«
»Die Anzeigen und die Hamburger Nachrichten, ja. Nichts als Orsinibomben … Schauderhaft. Auf dem Weg in die Oper … Eine nette Gesellschaft da drüben …«
»Na, es hat nichts zu bedeuten, denke ich. Mit dem Volke hat das nichts zu tun, und der Effekt ist nun bloß, daß die Polizei und der Druck auf die Presse und all das verdoppelt wird. Er ist auf seiner Hut … Ja, es ist eine ewige Unruhe, das muß wahr sein, denn er ist immer auf Unternehmungen angewiesen, um sich zu halten. Aber meinen Respekt hat er – ganz einerlei. MitdenTraditionen kann man wenigstens kein Dujack sein, wie Mamsell Jungmann sagt, und das mit der Bäckereikasse und den billigen Brotpreisen zum Beispiel hat mir wahrhaftig imponiert. Er tut ohne Zweifel eine Menge fürs Volk …«
»Ja, das sagte HerrKistenmakervorhin auch schon.«
»Stephan? Wir sprachen gestern darüber.«
»Und mit Friedrich Wilhelm von Preußen, das steht schlimm, Herr Konsul, das wird nichts mehr. Man sagt schon, daß der Prinz endgültig Regent werden soll …«
»Oh, darauf muß man gespannt sein. Er hat sich schon jetzt als ein liberaler Kopf gezeigt, dieser Wilhelm, und steht sicher der Konstitution nicht mit dem geheimen Ekel seines Bruders gegenüber … Es ist doch am Ende nur der Gram, der ihn aufreibt, den armen Mann … Was Neues aus Kopenhagen?«
»Gar nichts, Herr Konsul. Sie wollen nicht. Da hat der Bund gut erklären, daß die Gesamtverfassung für Holstein und Lauenburg rechtswidrig ist … Sie sind da oben ganz einfach nicht dafür zu haben, sie aufzuheben …«
»Ja, es ist ganz unerhört, Wenzel. Sie fordern den Bundestag ja zur Exekution heraus, und wenn er ein bißchen alerter wäre … Ach ja, diese Dänen! Ich erinnere mich lebhaft, wie ich mich schon als ganz kleiner Junge beständig über einen Gesangvers ärgerte, der anfing: ›Gib mir, gib allen denen, die sich von Herzen sehnen …‹ wobei ich ›denen‹ im Geiste immer mit ›ä‹ schrieb und nicht begriff, daß der Herrgott auch den Dänen irgend etwas geben sollte …«
»Sehen Sie sich mit der spröden Stelle vor, Wenzel, Sie lachen … Nun, und jetzt wieder mit unserer direkten Hamburger Eisenbahn! Das hat schon diplomatische Kämpfe gekostet und wird noch welche kosten, bis sie in Kopenhagen die Konzession geben …«
»Ja, Herr Konsul, und das Dumme ist, daß die Altona-Kieler Eisenbahngesellschaft und genau besehen ganz Holstein dagegen ist; das sagte Bürgermeister Doktor Överdieck vorhin auch schon. Sie haben eine verfluchte Angst für den Aufschwung von Kiel …«
»Versteht sich, Wenzel. Solche neue Verbindung zwischen Ost- und Nordsee … Und Sie sollen sehn, die Altona-Kieler wird nicht aufhören, zu intriguieren. Sie sind imstande, eine Konkurrenzbahn zu bauen: Ostholsteinisch, Neumünster-Neustadt, ja, das ist nicht ausgeschlossen. Aber wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, und direkte Fahrt nach Hamburg müssen wir haben.«
»Herr Konsul nehmen sich der Sache warm an.«
»Tja … soweit das in meinen Kräften steht, und soweit mein bißchen Einfluß reicht … Ich interessiere mich für unsere Eisenbahnpolitik, und das ist Tradition bei uns, denn mein Vater hat schon seit 51 dem Vorstand der Büchener Bahn angehört, und daran liegt es denn auch wohl, daß ich mit meinen zweiunddreißig Jahren hineingewählt bin; meine Verdienste sind ja noch nicht beträchtlich …«
»Oh, Herr Konsul; nach Herrn Konsuls Rede damals in der Bürgerschaft …«
»Ja, damit habe ich wohl etwas Eindruck gemacht, und der gute Wille ist jedenfalls vorhanden. Ich kann nur dankbar sein, wissen Sie, daß mein Vater, Großvater und Urgroßvater mir die Wege geebnet haben, und daß viel von dem Vertrauen und dem Ansehen, das sie sich in der Stadt erworben haben, ohne weiteres auf mich übertragen wird, denn sonst könnte ich mich gar nicht so regen … Was hat zum Beispiel nach 48 und zu Anfang dieses Jahrzehnts mein Vater nicht alles für die Reformation unseres Postwesens getan! Denken Sie mal, Wenzel, wie er in der Bürgerschaft gemahnt hat, die Hamburger Diligencen mit der Post zu vereinigen, und wie eranno50 beim Senate, der damals ganz unverantwortlich langsam war, mit immer neuen Anträgen zum Anschluß an den deutsch-österreichischen Postverein getrieben hat … Wenn wir jetzt einen niedrigen Portosatz für Briefe haben und die Kreuzbandsendungen und die Freimarken und Briefkasten und die telegraphischen Verbindungen mit Berlin und Travemünde, er ist nicht der Letzte, dem wir dafür zu danken haben, und wenn er und ein paar andere Leute den Senat nicht immer wieder gedrängt hätten, so wären wir wohl ewig hinter der dänischen und der Thurn- und Taxischen Post zurückgeblieben. Nun, und wenn ich jetzt in solchen Sachen meine Meinung sage, so hört man darauf …«
»Das weiß Gott, Herr Konsul, da sagen Herr Konsul ein wahres Wort. Und was die Hamburger Bahn betrifft: Das ist keine drei Tage her, daß Bürgermeister Doktor Överdieck zu mir gesagt hat: ›Wenn wir erst so weit sind, daß wir in Hamburg ein geeignetes Terrain für den Bahnhof ankaufen können, dann schicken wir Konsul Buddenbrook mit; Konsul Buddenbrook ist bei solchen Verhandlungen besser zu gebrauchen als mancher Jurist‹ … Das waren seine Worte …«
»Na, das ist mir sehr schmeichelhaft, Wenzel. Aber geben Sie da überm Kinn noch ein bißchen Schaum; das muß da noch sauberer werden.«
»Ja, kurz und gut, wir müssen uns regen! Nichts gegen Överdieck, aber er ist eben bei Jahren, und wenn ich Bürgermeister wäre, so ginge alles ein wenig schneller, meine ich. Ich kann nicht sagen, welche Genugtuung ich empfinde, daß nun die Arbeiten für dieGasbeleuchtung begonnen haben und endlich die fatalen Öllampen mit ihren Ketten verschwinden; ich darf mir gestehen, daß ich auch nicht ganz unbeteiligt an diesem Erfolge bin … Ach, was gibt es nicht noch alles zu tun! Denn, Wenzel, die Zeiten ändern sich, und wir haben eine Menge von Verpflichtungen gegen die neue Zeit. Wenn ich an meine erste Jugend denke … Sie wissen besser, als ich, wie es damals bei uns aussah. Die Straßen ohne Trottoirs und zwischen den Pflastersteinen fußhoher Graswuchs und die Häuser mit Vorbauten und Beischlägen und Bänken … Und unsere Bauten aus dem Mittelalter waren durch Anbauten verhäßlicht und bröckelten nur so herunter, denn die einzelnen Leute hatten wohl Geld, und niemand hungerte; aber der Staat hatte gar nichts, und alles wurstelte so weiter, wie mein Schwager Permaneder sagt, und an Reparaturen war nicht zu denken. Das waren ganz behäbige und glückliche Generationen damals, und der Intimus meines Großvaters, wissen Sie, der gute Jean Jacques Hoffstede, spazierte umher und übersetzte kleine unanständige Gedichte aus dem Französischen … aber beständig so weiter konnte es nicht gehen; es hat sich vieles geändert und wird sich noch immer mehr ändern müssen … Wir haben nicht mehr 37000 Einwohner, sondern schon über 50, wie Sie wissen, und der Charakter der Stadt ändert sich. Da haben wir Neubauten, und die Vorstädte, die sich ausdehnen, und gute Straßen und können die Denkmäler aus unserer großen Zeit restaurieren. Aber das ist am Ende bloß äußerlich. Das meiste vom Wichtigsten steht noch aus, mein lieber Wenzel; und nun bin ich wieder bei demceterum censeomeines seligen Vaters angelangt: der Zollverein, Wenzel, wir müssen in den Zollverein, das sollte gar keine Frage mehr sein, und Sie müssen mir alle helfen, wenn ich dafür kämpfe … Als Kaufmann, glauben Sie mir, weiß ich da besser Bescheid als unsere Diplomaten, und die Angst, an Selbständigkeit und Freiheit einzubüßen, ist lächerlich in diesem Falle. Das Inland, die Mecklenburg und Schleswig-Holstein, würde sich uns erschließen, und das ist um so wünschenswerter, als wir den Verkehr mit dem Norden nicht mehr so vollständig beherrschen wie früher … genug … bitte, dasHandtuch,Wenzel«, schloß der Konsul, und wenn dannnoch über den augenblicklichen Kurs des Roggens ein Wort gesagt worden war, der auf 55 Taler stehe und noch immer verflucht zum Fallen inkliniere, wenn vielleicht noch eine Bemerkung über irgendein Familienereignis in der Stadt gefallen war, so verschwand Herr Wenzel durch das Souterrain, um auf der Straße sein blankes Schaumgefäß aufs Pflaster zu entleeren, und der Konsul stieg über die Wendeltreppe ins Schlafzimmer hinauf, wo er Gerda, die unterdessen erwacht war, auf die Stirn küßte und sich ankleidete.
Diese kleinen Morgengespräche mit dem aufgeweckten Barbier bildeten die Einleitung zu den lebhaftesten und tätigsten Tagen, über und über ausgefüllt mit Denken, Reden, Handeln, Schreiben, Berechnen, Hin- und Widergehen … Dank seinen Reisen, seinen Kenntnissen, seinen Interessen war Thomas Buddenbrook in seiner Umgebung der am wenigsten bürgerlich beschränkte Kopf, und sicherlich war er der erste, die Enge und Kleinheit der Verhältnisse zu empfinden, in denen er sich bewegte. Aber draußen in seinem weiteren Vaterlande war auf den Aufschwung des öffentlichen Lebens, den die Revolutionsjahre gebracht hatten, eine Periode der Erschlaffung, des Stillstandes und der Umkehr gefolgt, zu öde, um einen lebendigen Sinn zu beschäftigen, und so besaß er denn Geist genug, um den Spruch von der bloß symbolischen Bedeutung alles menschlichen Tuns zu seiner Lieblingswahrheit zu machen und alles, was an Wollen, Können, Enthusiasmus und aktivem Schwung sein eigen war, in den Dienst des kleinen Gemeinwesens zu stellen, in dessen Bezirk sein Name zu den ersten gehörte – sowie in den Dienst dieses Namens und des Firmenschildes, das er ererbt … Geist genug, seinen Ehrgeiz, es im kleinen zu Größe und Macht zu bringen, gleichzeitig zu belächeln und ernst zu nehmen.
Kaum hatte er, von Anton bedient, im Speisezimmer das Frühstück genommen, so machte er Straßentoilette und begab sich in sein Kontor an der Mengstraße. Er verweilte dort nicht viel länger als eine Stunde. Er schrieb zwei oder drei dringende Briefe und Telegramme, erteilte diese oder jene Weisung, gab gleichsam dem großen Triebrade des Geschäftes einen kleinen Stoß und überließ danndie Überwachung des Fortganges dem bedächtigen Seitenblick des Herrn Marcus.
Er zeigte sich und sprach in Sitzungen und Versammlungen, verweilte an der Börse unter den gotischen Arkaden am Marktplatz, tat Inspektionsgänge an den Hafen, in die Speicher, verhandelte als Reeder mit Kapitänen … und es folgten, unterbrochen nur durch ein flüchtiges Frühstück mit der alten Konsulin und das Mittagessen mit Gerda, nach welchem er eine halbe Stunde auf dem Diwan mit einer Zigarre und der Zeitung verbrachte, bis in den Abend hinein eine Menge von Arbeiten: handelte es sich nun um sein eigenes Geschäft oder um Zoll, Steuer, Bau, Eisenbahn, Post, Armenpflege; auch in Gebiete, die ihm eigentlich fernlagen und in der Regel den »Gelehrten« zustanden, verschaffte er sich Einsicht, und besonders in Finanzangelegenheiten bewies er rasch eine glänzende Begabung …
Er hütete sich, das gesellige Leben zu vernachlässigen. Zwar ließ in dieser Beziehung seine Pünktlichkeit zu wünschen übrig, und beständig erst in der letzten Sekunde, wenn seine Gattin, in großer Toilette, und der Wagen unten schon eine halbe Stunde gewartet hatten, erschien er mit einem »Pardon, Gerda; Geschäfte …« um sich hastig in den Frack zu werfen. Aber an Ort und Stelle, bei Diners, Bällen und Abendgesellschaften verstand er es doch, ein lebhaftes Interesse an den Tag zu legen, sich als liebenswürdigen Causeur zu zeigen … und er und seine Gattin standen den anderen reichen Häusern an Repräsentation nicht nach; seine Küche, sein Keller galten für »tip-top«, er war als verbindlicher, aufmerksamer und umsichtiger Gastgeber geschätzt, und der Witz seiner Toaste erhob sich über das Durchschnittsniveau. Stille Abende aber verbrachte er in Gerdas Gesellschaft, indem er rauchend ihrem Geigenspiel lauschte oder ein Buch mit ihr las, deutsche, französische und russische Erzählungen, die sie auswählte …
So arbeitete er und zwang den Erfolg, denn sein Ansehen wuchs in der Stadt, und trotz der Kapitalsentziehungen durch Christians Etablierung und Tonys zweite Heirat hatte die Firma vortreffliche Jahre. Bei alledem aber gab es manches, was für Stunden seinenMut lähmte, die Elastizität seines Geistes beeinträchtigte, seine Stimmung trübte.
Da war Christian in Hamburg, dessen Sozius, Herr Burmeester, im Frühling dieses Jahres 58 ganz plötzlich einem Schlaganfalle erlag. Seine Erben entzogen der Firma das Kapital des Verstorbenen, und der Konsul widerriet es seinem Bruder dringend, sie mit seinen eigenen Mitteln fortzuführen, denn er wisse wohl, wie schwer es sei, ein größer zugeschnittenes Geschäft mit plötzlich stark vermindertem Kapital zu halten. Aber Christian drang auf die Fortdauer seiner Selbständigkeit, er übernahm Aktiva und Passiva von H. C. F. Burmeester & Comp. … und Unannehmlichkeiten standen zu befürchten.
Da war ferner des Konsuls Schwester Klara in Riga … Daß ihre Ehe mit dem Pastor Tiburtius ohne Kindersegen geblieben war, mochte hingehen, denn Klara Buddenbrook hatte sich niemals Kinder gewünscht und besaß ohne Zweifel höchst wenig mütterliches Talent. Aber ihre Gesundheit ließ, ihren und ihres Mannes Briefen zufolge, allzuviel zu wünschen übrig, und die Gehirnschmerzen, an denen sie schon als junges Mädchen gelitten, traten, so hieß es, neuerdings periodisch in fast unerträglichem Grade auf.
Das war beunruhigend. Eine dritte Sorge aber bestand darin, daß auch hier, an Ort und Stelle selbst, für das Fortleben des Familiennamens noch immer keine Sicherheit gegeben war. Gerda behandelte diese Frage mit einem souveränen Gleichmut, der einer degoutierten Ablehnung äußerst nahe kam. Thomas verschwieg seinen Kummer. Die alte Konsulin aber nahm die Sache in die Hand und zog Grabow beiseite. »Doktor, unter uns, da muß endlich etwas geschehen, nicht wahr? Ein bißchen Bergluft in Kreuth und ein bißchen Seeluft in Glücksburg oder Travemünde scheint da nicht anzuschlagen. Was meinen Sie …« Und Grabow, weil sein angenehmes Rezept: »Strenge Diät; ein wenig Taube, ein wenig Franzbrot« in diesem Falle doch wohl wieder einmal nicht energisch genug eingegriffen haben würde, verordnete Pyrmont und Schlangenbad …
Das waren drei Bedenken. Und Tony? – Arme Tony!
Achtes Kapitel
Sie schrieb: »Und wenn ich ›Frikadellen‹ sage, so begreift sie es nicht, denn es heißt hier ›Pflanzerln‹; und wenn sie ›Karfiol‹ sagt, so findet sich wohl nicht so leicht ein Christenmensch, der darauf verfällt, daß sie Blumenkohl meint; und wenn ich sage: ›Bratkartoffeln‹, so schreit sie so lange ›Wahs!‹, bis ich ›Geröhste Kartoffeln‹ sage, denn so heißt es hier, und mit ›Wahs‹ meint sie ›Wie beliebt‹. Und das ist nun schon die zweite, denn die erste Person, welche Kathi hieß, habe ich mir erlaubt, aus dem Hause zu schicken, weil sie immer gleich grob wurde; oder wenigstens schien es mir so, denn ich kann mich auch geirrt haben, wie ich nachträglich einsehe, denn man weiß hier nicht recht, ob die Leute eigentlich grob oder freundlich reden. Diese jetzige, welche Babette heißt, was Babett auszusprechen ist, hat übrigens ein recht angenehmes Exterieur und schon etwas ganz Südliches, wie es hier manche gibt, mit schwarzem Haar und schwarzen Augen und Zähnen, um die man sie beneiden könnte. Auch sie ist willig und bereitet unter meiner Anleitung manches von unseren heimatlichen Gerichten, so gestern zum Beispiel Sauerampfer mit Korinthen, aber davon habe ich großen Kummer gehabt, denn Permaneder nahm mir dies Gemüse so übel (obgleich er die Korinthen mit der Gabel herauspickte), daß er den ganzen Nachmittag nicht mit mir sprach, sondern nur murrte, und kann ich sagen, Mutter, daß das Leben nicht immer leicht ist.«
Allein, es waren nicht nur die »Pflanzerln« und der Sauerampfer, die ihr das Leben verbitterten … Gleich in den Flitterwochen hatte ein Schlag sie getroffen, ein Unvorhergesehenes, Ungeahntes, Unfaßliches war über sie hereingebrochen, ein Ereignis, das ihr alle Freudigkeit genommen hatte und das sie nicht zu verwinden vermochte. Dieses Ereignis war folgendes.
Erst als das Ehepaar Permaneder bereits einige Wochen in München lebte, hatte Konsul Buddenbrook die testamentarisch fixierte Mitgift seiner Schwester, das heißt 51000 Mark Kurant, flüssig machen können, und diese Summe war hierauf, in Gulden umgesetzt vollkommen richtig in Herrn Permaneders Händegelangt. Herr Permaneder hatte sie sicher und nicht ungünstig deponiert. Was er aber dann, ohne Zögern und Erröten, seiner Gattin gesagt hatte, war dies: »Tonerl« – er nannte sie Tonerl – »Tonerl, mir war's gnua. Mehr brauchen mer nimmer. I hab' mi allweil g'schunden, und jetzt will i mei Ruh, Himmi Sakrament. Mer vermieten's Parterre und die zwoate Etasch, und dahier hamer a guate Wohnung und können a Schweinshaxen essen und brauchen uns net allweil gar so nobi z'sammrichten und aufdrahn … und am Abend hab' i 's Hofbräuhaus. I bin ka Prozen net und mag net allweil a Göld z'ammscharrn; i mag mei G'müatlichkeit! Von morgen ab mach' i Schluß und werd' Privatier!«
»Permaneder!« hatte sie ausgerufen, und zwar zum ersten Male mit dem ganz besonderen Kehllaut, mit dem sie Herrn Grünlichs Namen zu nennen pflegte. Er aber hatte nur geantwortet: »A geh, sei stad!« und dann hatte ein Streit sich entsponnen, wie er, so früh, so ernst und heftig, das Glück einer Ehe für alle Zeit erschüttern muß … Er war Sieger geblieben. Ihr leidenschaftlicher Widerstand war an seinem Drang nach »G'müatlichkeit« gescheitert, das Ende war gewesen, daß Herr Permaneder sein in dem Hopfengeschäft steckendes Kapital liquidiert hatte, so daß nun Herr Noppe seinerseits das »Komp.« auf seiner Karte blau durchstreichen konnte … und wie die Mehrzahl seiner Freunde, mit denen er abends am Stammtische im Hofbräuhause Karten spielte und seine regelmäßigen drei Liter trank, beschränkte Tonys Gatte nun seine Tätigkeit auf Mietesteigern als Hausbesitzer und ein bescheidenes und friedliches Kuponschneiden.
Der Konsulin war dies ganz einfach mitgeteilt worden. In den Briefen aber, die Frau Permaneder darüber an ihren Bruder geschrieben hatte, war der Schmerz zu erkennen gewesen, den sie empfand … arme Tony! ihre schlimmsten Befürchtungen waren weitaus übertroffen worden. Sie hatte zuvor gewußt, daß Herr Permaneder nichts von der »Regsamkeit« besaß, von der ihr erster Gatte zu viel an den Tag gelegt hatte; daß er aber so gänzlich die Erwartungen zuschanden machen werde, die sie noch am Vorabend ihrer Verlobung gegen Mamsell Jungmann ausgesprochen hatte, daß er so völlig die Verpflichtungen verkennen werde, die er übernahm,indem er eine Buddenbrook ehelichte, das hatte sie nicht geahnt …
Es mußte verwunden werden, und ihre Familie zu Hause ersah aus ihren Briefen, wie sie resignierte. Ziemlich einförmig lebte sie mit ihrem Manne und Erika, welche die Schule besuchte, dahin, besorgte ihren Hausstand, verkehrte freundschaftlich mit den Leuten, die für das Parterre und den ersten Stock sich als Mieter gefunden hatten, sowie mit der Familie Niederpaur am Marienplatz und berichtete dann und wann von Hoftheaterbesuchen, die sie mit ihrer Freundin Eva vornahm, denn Herr Permaneder liebte dergleichen nicht, und es erwies sich, daß er, der in seinem »liaben« München mehr als vierzig Jahre alt geworden war, noch niemals das Innere der Pinakothek erblickt hatte.
Die Tage gingen … Die rechte Freude aber an ihrem neuen Leben war für Tony dahin, seit Herr Permaneder sich sofort nach dem Empfang ihrer Mitgift zur Ruhe gesetzt hatte. Die Hoffnung fehlte. Niemals würde sie einen Erfolg, einen Aufschwung nach Hause berichten können. So wie es jetzt war, sorglos aber beschränkt und so herzlich wenig »vornehm«, so sollte es unabänderlich bleiben bis an ihr Lebensende. Das lastete auf ihr. Und aus ihren Briefen ging ganz deutlich hervor, daß gerade diese nicht sehr gehobene Stimmung ihr die Eingewöhnung in die süddeutschen Verhältnisse erschwerte. Es ging ja im einzelnen. Sie lernte es, sich mit den Dienstmädchen und Lieferanten zu verständigen, »Pflanzerln« statt »Frikadellen« zu sagen und ihrem Manne keine Fruchtsuppe mehr vorzusetzen, nachdem er dergleichen als »a G'schlamp, a z'widres« bezeichnet hatte. Aber im großen ganzen blieb sie stets eine Fremde in ihrer neuen Heimat, denn die Empfindung, daß eine geborene Buddenbrook zu sein hier unten durchaus nichts Bemerkenswertes war, bedeutete eine beständige, eine unaufhörliche Demütigung für sie, und wenn sie brieflich erzählte, irgendein Maurersmann habe sie, in der einen Hand einen Maßkrug und in der anderen einen Radi am Schwanze, auf der Straße angeredet und gesagt: »I bitt', wiea spät is', Frau Nachborin?«, so war trotz aller Scherzhaftigkeit ein sehr starker Unterton von Entrüstung fühlbar, und man konnte überzeugt sein, daß sie den Kopf zurückgelegt und den Mannweder einer Antwort noch eines Blickes gewürdigt hatte … Übrigens war es nicht diese Formlosigkeit und dieser geringe Sinn für Distanz allein, was ihr fremd und unsympathisch blieb: Sie drang nicht tief in das Münchener Leben und Treiben ein, aber es umgab sie doch die Münchener Luft, die Luft einer großen Stadt, voller Künstler und Bürger, die nichts taten, eine ein wenig demoralisierte Luft, die mit Humor einzuatmen ihre Stimmung ihr oft verwehrte.
Die Tage gingen … Dann aber schien doch ein Glück kommen zu wollen, und zwar dasjenige, welches man in der »Breiten Straße« und der »Mengstraße« vergeblich ersehnte, denn nicht lange nach dem Neujahrstage 1859 ward die Hoffnung zur Gewißheit, daß Tony zum zweiten Male Mutter werden sollte.
Die Freude zitterte nun gleichsam in ihren Briefen, die so voll von übermütigen, kindlichen und gewichtigen Redewendungen waren, wie lange nicht mehr. Die Konsulin, welche, abgesehen von ihren Sommerfahrten, die sich übrigens mehr und mehr auf den Ostseestrand beschränkten, das Reisen nicht mehr liebte, bedauerte, ihrer Tochter in dieser Zeit fernbleiben zu müssen und versicherte sie nur schriftlich des göttlichen Beistandes; Tom aber sowohl wie Gerda meldeten sich zur Taufe an, und Tonys Kopf war erfüllt von Plänen in betreff einesvornehmenEmpfanges … Arme Tony! Dieser Empfang sollte sich unendlich traurig gestalten, und diese Taufe, die ihr als ein entzückendes kleines Fest mit Blumen, Konfekt und Schokolade vor Augen geschwebt hatte, sollte überhaupt nicht stattfinden, – denn das Kind, ein kleines Mädchen, sollte nur ins Leben treten, um nach einer armen Viertelstunde, während welcher der Arzt sich vergeblich bemühte, den unfähigen kleinen Organismus in Gang zu halten, dem Dasein schon nicht mehr anzugehören …
Konsul Buddenbrook und seine Gattin fanden, als sie in München eintrafen, Tony selbst nicht außer Gefahr. Weit schwerer als das erstemal lag sie danieder, und während mehrerer Tage verweigerte ihr Magen, an dessen nervöser Schwäche sie schon vorher hie und da gelitten hatte, die Annahme fast jeder Nahrung. Indessen, sie genas, und die Buddenbrooks konnten in dieser Beziehung beruhigt abreisen, – wenn auch andererseits nicht ohneNachdenklichkeit, denn es hatte sich ihnen allzu deutlich gezeigt und besonders der Beobachtung des Konsuls war es nicht entgangen, daß nicht einmal das gemeinsame Leid imstande gewesen war, die beiden Gatten einander erheblich zu nähern.
Nichts gegen Herrn Permaneders gutes Herz … Er war aufrichtig erschüttert gewesen, dicke Tränen waren angesichts seines leblosen Kindes aus den verquollenen Äuglein über die zu aufgetriebenen Wangen in den ausgefransten Schnauzbart geflossen, und er hatte mehrere Male mit schwerem Seufzen hervorgebracht: »Es is halt a Kreiz! A Kreiz is'! O mei!« Aber seine »G'müatlichkeit« hatte nach Tonys Begriffen nicht lange genug darunter gelitten, seine Abendstunden im Hofbräuhaus hatten ihn bald darüber hinweggebracht, und mit dem bequemen, gutmütigen, ein bißchen mürrischen und ein bißchen stumpfsinnigen Fatalismus, der in seinem »Es is halt a Kreiz!« enthalten war, »wurstelte« er fort.
Tonys Briefe aber verloren von nun an nicht mehr den Ton von Hoffnungslosigkeit und selbst von Anklage … »Ach, Mutter«, schrieb sie, »was kommt auch alles auf mich herab! Erst Grünlich und der Bankerott und dann Permaneder als Privatier und dann das tote Kind. Womit habe ich soviel Unglück verdient!«
Der Konsul, zu Hause, wenn er solche Äußerungen las, konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, denn trotz alles Schmerzes, der in den Zeilen steckte, verspürte er einen Unterton von beinahe drolligem Stolz, und er wußte, daß Tony Buddenbrook als Madame Grünlich sowohl wie als Madame Permaneder immer ein Kind blieb, daß sie alle ihre sehr erwachsenen Erlebnisse fast ungläubig, dann aber mit kindlichem Ernst, kindlicher Wichtigkeit und – vor allem – kindlicher Widerstandsfähigkeit erlebte.
Sie begriff nicht, womit sie Leid verdient habe; denn, obgleich sie sich über die große Frömmigkeit ihrer Mutter mokierte, war sie selbst so voll davon, daß sie an Verdienst und Gerechtigkeit auf Erden inbrünstig glaubte … arme Tony! Der Tod ihres zweiten Kindes war weder der letzte noch der härteste Schlag, der sie treffen sollte …
Als das Jahr 1859 sich zu Ende neigte, geschah etwas Fürchterliches …
Neuntes Kapitel
Es war ein Tag gegen Ende des Novembers, ein kalter Herbsttag mit dunstigem Himmel, der beinahe schon Schnee versprach, und wallendem Nebel, den hie und da die Sonne durchdrang, einer von den Tagen, an denen in der Hafenstadt der scharfe Nordost mit einem tückischen Pfeifen um die massigen Ecken der Kirchen sauste und eine Lungenentzündung wohlfeil zu haben war.
Als gegen Mittag Konsul Thomas Buddenbrook ins »Frühstückszimmer« trat, fand er seine Mutter, die Brille auf der Nase, am Tische über ein Papier gebeugt.
»Tom«, sagte sie, indem sie ihn anblickte und das Papier mit beiden Händen beiseitehielt, als zögere sie, es ihm zu zeigen … »Erschrick nicht … Etwas Unangenehmes … Ich begreife nicht … Es ist aus Berlin … Es muß etwas geschehen sein …«
»Bitte!« sagte er kurz. Er verfärbte sich, und einen Augenblick traten die Muskeln an seinen Schläfen hervor, denn er biß die Zähne zusammen. Er streckte mit einer äußerst entschiedenen Bewegung die Hand aus, als wollte er sagen: »Nur schnell, bitte, das Unangenehme, nur keine Vorbereitungen!«
Stehend las er die Zeilen auf dem Papier, indem er eine seiner hellen Brauen emporzog und langsam die lange Spitze seines Schnurrbartes durch die Finger zog. Es war ein Telegramm und lautete: »Erschreckt nicht. Komme umgehend mit Erika. Alles ist zu Ende. Eure unglückliche Antonie.«
»Umgehend … umgehend«, sagte er gereizt und sah die Konsulin mit schnellem Kopfschütteln an. »Was heißt umgehend …«
»Das ist nur so eine Redensart, Tom, das hat nichts zu bedeuten. Sie meint: ›Sogleich‹ oder etwas Ähnliches …«
»Und aus Berlin? Was tut sie in Berlin? Wie kommt sie nach Berlin?«
»Ich weiß es nicht, Tom, ich begreife es noch nicht; die Depesche ist vor zehn Minuten gekommen. Aber es muß etwas geschehen sein, und wir müssen abwarten, was es ist. Gott wird geben, daß alles sich zum Guten wendet. Setze dich, mein Sohn, und iß.«
Er nahm Platz und schenkte sich mechanisch Porter in das dicke, hohe Glas.
»Alles ist zu Ende«, wiederholte er. »Und dann ›Antonie‹. – Kindereien …«
Dann aß und trank er schweigend.
Nach einer Weile wagte die Konsulin zu bemerken: »Sollte es etwas mit Permaneder sein, Tom?«
Er zuckte nur die Achseln, ohne aufzusehen.
Beim Weggehen, den Türgriff in der Hand, sagte er: »Ja, Mutter, wir müssen sie erwarten. Da sie dir vermutlich nicht spät in der Nacht ins Haus fallen will, wird es wohl morgen im Laufe des Tages sein. Daß man mich benachrichtigt, bitte …«
*
Die Konsulin wartete von Stunde zu Stunde. Sie ruhte höchst ungenügend in der Nacht, klingelte nach Ida Jungmann, die jetzt neben ihr im hintersten Zimmer des Zwischengeschosses schlief, ließ sich Zuckerwasser bereiten und saß sogar während längerer Zeit mit einer Handarbeit aufrecht im Bett. Auch der nächste Vormittag verstrich in ängstlicher Spannung. Beim zweiten Frühstück erklärte der Konsul, daß Tony, wenn sie käme, nur drei Uhr dreiunddreißig Minuten nachmittags von Büchen eintreffen könne. Um diese Zeit saß die Konsulin im »Landschaftszimmer« am Fenster und versuchte, in einem Buche zu lesen, auf dessen schwarzem Lederdeckel ein in Gold gepreßter Palmzweig zu sehen war.
Es war ein Tag wie gestern: Kälte, Dunst und Wind; hinter dem blanken Schmiedeeisengitter knisterte der Ofen. Die alte Dame erbebte und blickte hinaus, sobald Wagenräder vernehmbar wurden. Und dann, um vier Uhr, als sie eben nicht achtgegeben und beinahe ihrer Tochter vergessen hatte, entstand eine Bewegung unten im Hause … Sie wandte hastig den Oberkörper zum Fenster, sie wischte mit dem Spitzentuch den tropfenden Beschlag von der Scheibe: in der Tat, eine Droschke hielt drunten, und schon kam man die Treppe herauf!
Sie erfaßte mit den Händen die Armlehnen des Stuhles, um aufzustehen; aber sie besann sich eines Besseren, ließ sich wiederzurücksinken und drehte nur mit beinahe abwehrendem Ausdruck den Kopf ihrer Tochter entgegen, die, während Erika Grünlich an Ida Jungmanns Hand bei der Glastür stehenblieb, mit schnellen und fast stürzenden Schritten durch das Zimmer kam.
Frau Permaneder trug einen pelzbesetzten Überwurf und einen länglichen Filzhut mit Schleier. Sie sah sehr bleich und angegriffen aus, ihre Augen waren gerötet, und ihre Oberlippe bebte wie früher, wenn Tony als Kind geweint hatte. Sie erhob die Arme, ließ sie wieder sinken und glitt alsdann bei ihrer Mutter auf die Knie nieder, indem sie das Gesicht in den Kleiderfalten der alten Dame verbarg und bitterlich aufschluchzte. Dies alles machte den Eindruck, als sei sie in dieser Weise geraden Weges von München in einem Atem dahergestürmt – und da lag sie nun, am Ziele ihrer Flucht, erschöpft und gerettet. Die Konsulin schwieg einen Augenblick.
»Tony!« sagte sie dann mit zärtlichem Vorwurf, zog vorsichtig die große Nadel hervor, die Frau Permaneders Hut an ihrer Frisur befestigte, legte den Hut auf die Fensterbank und streichelte liebevoll und beruhigend mit beiden Händen das starke, aschblonde Haar ihrer Tochter …
»Was ist, mein Kind … Was ist geschehen?«
Aber man mußte sich mit Geduld waffnen, denn es dauerte noch ziemlich lange, bis dieser Frage eine Antwort zuteil wurde.
»Mutter«, brachte Frau Permaneder hervor … »Mama!« Allein dabei blieb es.
Die Konsulin erhob den Kopf nach der Glastür, und während sie mit einem Arm ihre Tochter umfing, streckte sie die freie Hand ihrer Enkelin entgegen, die dort, einen Zeigefinger am Munde, verlegen stand.
»Komm, Kind; komm her und sage guten Tag. Du bist groß geworden und siehst frisch und wohl aus, wofür wir Gott danken wollen. Wie alt bist du nun, Erika?«
»Dreizehn, Großmama …«
»Tausend! Eine Dame …«
Und über Tonys Kopf hinweg küßte sie das kleine Mädchen, worauf sie fortfuhr: »Geh' nun mit Ida hinauf, mein Kind, wir werden bald essen. Aber jetzt hat Mama mit mir zu reden, weißt du.«
Sie blieben allein.
»Nun, meine liebe Tony? Willst du nicht aufhören zu weinen? Wenn Gott uns eine Prüfung schickt, so sollen wir sie mit Fassung ertragen. Nimm dein Kreuz auf dich, heißt es … Aber hast du vielleicht den Wunsch, ebenfalls erst hinaufzugehen, ein wenig zu ruhen und dich zu erfrischen und dann zu mir herunterzukommen? Unsere gute Jungmann hat dein Zimmer vorbereitet … Ich danke dir für dein Telegramm. Es hat uns recht sehr erschreckt …« Sie unterbrach sich, denn Laute drangen bebend und gedämpft aus ihren Kleiderfalten hervor: »Er ist ein verworfener Mensch … ein verworfener Mensch ist er … ein verworfener …«
Über dieses starke Wort kam Frau Permaneder nicht hinweg. Es schien sie völlig zu beherrschen. Sie preßte ihr Gesicht dabei fester in den Schoß der Konsulin und machte neben dem Stuhle sogar eine Faust.
»Solltest du etwa deinen Mann damit meinen, mein Kind?« fragte die alte Dame nach einer Pause. »Ich sollte nicht auf diesen Gedanken kommen, ich weiß es; aber es bleibt mir nichts anderes zu denken übrig, Tony. Hat Permaneder dir Leid zugefügt? Hast du dich über ihn zu beklagen?«
»Babett …!« stieß Frau Permaneder hervor … »Babett …!«
»Babette?« wiederholte die Konsulin fragend … Dann lehnte sie sich zurück und ließ ihre hellen Augen durchs Fenster schweifen. Sie wußte nun, um was es sich handelte. Eine Pause trat ein, die dann und wann von Tonys allmählich seltener werdendem Schluchzen unterbrochen ward.
»Tony«, sagte die Konsulin nach einer Weile, »ich sehe nun, daß dir in der Tat ein Kummer zugefügt worden ist … daß dir Grund zur Klage gegeben wurde … Aber war es nötig, diese Klage so stürmisch zu äußern? War diese Reise von München hierher notwendig, zusammen mit Erika, so daß es für weniger verständige Leute als ich und du beinahe den Anschein haben könnte, als wolltest du niemals zu deinem Manne zurückkehren …?«
»Das will ich auch nicht!… Nie …!« rief Frau Permaneder, indem sie mit einem Ruck den Kopf erhob, ihrer Mutter aus weinenden Augen ganz wild ins Gesicht blickte und dann ebenso plötzlichihr Antlitz wieder in den Kleiderfalten verbarg. Die Konsulin überhörte diesen Ausruf.
»– Nun aber«, setzte sie mit erhöhter Stimme ein und wandte langsam ihren Kopf von einer Seite zur anderen … »nun aber, da du hier bist, ist es gut so. Denn nun wirst du dein Herz erleichtern können und wirst mir alles erzählen, und dann wollen wir sehen, wie mit Liebe, Nachsicht und Bedacht der Schaden zu korrigieren ist.«
»Nie!« sagte Tony noch einmal. »Nie!« Aber dann erzählte sie, und obgleich man nicht jedes Wort verstand, denn sie sprach in den faltigen Tuchrock der Konsulin hinein, und ihr Bericht war explosiv und von Ausrufen der äußersten Entrüstung zerrissen, so ward doch klar, daß ganz einfach folgender Sachverhalt bestand.
Um die Mitternacht zwischen dem 24. und 25. des laufenden Monats war Madame Permaneder, die während des Tages an Störungen der Magennerven gelitten und sehr spät Ruhe gefunden hatte, aus einem leichten Schlummer geweckt worden. Ein anhaltendes Geräusch dort vorn an der Treppe war schuld daran gewesen, ein schlecht unterdrückter, geheimnisvoller Lärm, in dem man das Knarren der Stufen, ein hustendes Gekicher, gepreßte Worte der Abwehr und ganz sonderbare knurrende und ächzende Laute unterschied … Nicht einen Augenblick konnte man über das Wesen dieses Geräusches im Zweifel sein. Frau Permaneder hatte nicht sobald, mit noch schlaftrunkenen Sinnen, etwas davon aufgefangen, als sie es auch schon begriffen, als sie auch schon das Blut hatte aus ihren Wangen weichen fühlen und zum Herzen strömen, das sich zusammengezogen und mit schweren, beklemmenden Schlägen fortgearbeitet hatte. Während einer langen, grausamen Minute hatte sie wie betäubt, wie gelähmt in den Kissen gelegen; dann aber, als dieses schamlose Geräusch nicht verstummte, hatte sie mit bebenden Händen Licht gemacht, hatte voll Verzweiflung, Grimm und Abscheu das Bett verlassen, hatte die Tür aufgerissen und war in Pantoffeln, das Licht in der Hand, nach vorn bis in die Nähe der Treppe geeilt: jener schnurgeraden »Himmelsleiter«, die von der Haustür direkt in das erste Stockwerk heraufführte. Und dort, auf den oberen Stufen eben dieser Himmelsleiter, hatte sichihr das Bild in voller Körperlichkeit dargeboten, das sie drinnen im Schlafzimmer, beim Lauschen auf das unzweideutige Geräusch, mit Augen, die das Entsetzen erweiterte, schon im Geiste hatte erblicken müssen … Es war eine Balgerei gewesen, ein unerlaubter und unsittlicher Ringkampf zwischen der Köchin Babette und Herrn Permaneder. Das Mädchen, ein Schlüsselbund und ebenfalls eine Kerze in der Hand, denn sie mußte so spät noch irgendwo im Hause beschäftigt gewesen sein, hatte sich hin und her gewunden und den Hausherrn abzuwehren gestrebt, der seinerseits, den Hut auf dem Hinterkopfe, sie umschlungen gehalten und beständig versucht hatte, seinen Seehundsschnauzbart in ihr Gesicht zu drücken, was ihm hie und da auch gelungen war … Bei Antoniens Erscheinen hatte Babette etwas wie »Jessas, Maria und Joseph!« hervorgestoßen, »Jessas, Maria und Joseph!« hatte Herr Permaneder wiederholt, hatte sie fahren lassen – und während das Mädchen im selben Augenblick auf geschickte Weise spurlos verschwunden gewesen war, hatte er mit hängenden Armen, hängendem Kopfe und hängendem Schnauzbart vor seiner Gattin gestanden und irgend etwas ausgemacht Unsinniges wie: »Is dös a Hetz!… Es is halt a Kreiz!« gestammelt … Sie war nicht mehr dagewesen, als er die Augen aufzuschlagen gewagt hatte; drinnen im Schlafzimmer hatte er sie gefunden: in halb sitzender, halb liegender Haltung, auf dem Bette, wie sie unter verzweifeltem Schluchzen immer wieder das Wort »Schande« wiederholt hatte. Er war, in schlaffer Haltung an die Tür gelehnt, stehengeblieben, hatte eine ruckartige Schulterbewegung nach vorn gemacht, als erteilte er ihr einen aufmunternden Rippenstoß, und hatte gesagt: »Sei stad! A, geh, sei stad, Tonerl! Schau, der Ramsauer Franzl hat halt sei Namenstag g'feiert heit abend … Wir san alle a weng schwar …« Aber der stark alkoholische Geruch, den er im Zimmer verbreitet, hatte ihre Exaltation zum Gipfel gebracht. Sie hatte nicht mehr geschluchzt, sie war nicht länger hinfällig und schwach gewesen, ihr Temperament hatte sie emporgerissen, und mit der Maßlosigkeit der Verzweiflung hatte sie ihm laut ihren ganzen Ekel, ihren ganzen Abscheu, ihre fundamentale Verachtung seines ganzen Seins und Wesens ins Gesicht geschleudert … Herr Permaneder war nichtstillgeblieben. Sein Kopf war heiß gewesen, denn er hatte seinem Freunde Ramsauer zu Ehren nicht nur viele »Maß«, sondern auch »Schampaninger« getrunken; er hatte geantwortet, wild geantwortet, ein Streit hatte sich entsponnen, weit schrecklicher als derjenige bei Herrn Permaneders Rückzug in den Ruhestand, Frau Antonie hatte ihre Kleider zusammengerafft, um sich ins Wohnzimmer zurückzuziehen … Da aber war, zum Schlusse, ein Wort ihr nachgeklungen, ein Wort seinerseits, ein Wort, das sie nicht wiederholen würde, das über ihre Lippen niemals kommen würde, ein Wort … ein Wort …
Dies alles war der hauptsächlichste Inhalt der Geständnisse, die Madame Permaneder in die Kleiderfalten ihrer Mutter hinein verlauten ließ. Über das »Wort« aber, dieses »Wort«, das sie in jener fürchterlichen Nacht bis in ihr Innerstes hinein hatte erstarren lassen, kam sie nicht hinweg, sie wiederholte es nicht, oh, bei Gott, sie wiederholte es nicht, beteuerte sie, obgleich die Konsulin durchaus nicht in sie drang, sondern nur, kaum merklich, langsam und nachdenklich mit dem Kopfe nickte, während sie auf Tonys schönes, aschblondes Haar herniedersah.
»Ja, ja«, sagte sie, »da habe ich traurige Dinge hören müssen, Tony. Und ich verstehe alles ganz gut, meine arme kleine Dirn, denn ich bin nicht bloß deine Mama, sondern auch eine Frau wie du … Ich sehe nun, wie sehr berechtigt dein Schmerz ist, wie völlig dein Mann während eines Augenblickes der Schwäche vergessen hat, was er dir schuldet …«
»Während eines Augenblickes?!« rief Tony. Sie sprang auf. Sie trat zwei Schritte zurück und trocknete fieberhaft ihre Augen. »Während eines Augenblickes, Mama?!… Was er mir und unserem Namen schuldig ist, das hat er vergessen … das hat er nicht gewußt von Anfang an! Ein Mann, der sich mit der Mitgift seiner Frau ganz einfach zur Ruhe setzt! Ein Mann ohne Ehrgeiz, ohne Streben, ohne Ziele! Ein Mann, der statt des Blutes einen dickflüssigen Malz- und Hopfenbrei in den Adern hat … ja, davon bin ich überzeugt!… der sich dann noch zu solchen Niedrigkeiten herbeiläßt, wie dies mit der Babett, und, wenn man ihm seine Nichtswürdigkeit vorhält, mit einem Worte antwortet … einem Worte …«
Sie war wieder bei dem Worte angelangt, diesem Worte, das sie nicht wiederholte. Plötzlich aber tat sie einen Schritt vorwärts und sagte mit unvermittelt ruhiger und sanft interessierter Stimme: »Wie allerliebst. Woher ist das, Mama?«
Sie wies mit dem Kinn auf einen kleinen Behälter, einen rohrgeflochtenen Korb, einen zierlichen kleinen Ständer, mit Atlasschleifen geschmückt, in dem die Konsulin seit einiger Zeit ihre Handarbeit zu bewahren pflegte.
»Ich habe ihn mir zugelegt«, antwortete die alte Dame; »ich hatte ihn nötig.«
»Vornehm!« … sagte Tony, indem sie das Gestell mit seitwärts geneigtem Kopfe betrachtete. Auch die Konsulin ließ ihre Augen auf dem Gegenstande ruhen, aber ohne ihn zu sehen, in tiefen Gedanken.
»Nun, meine liebe Tony«, sagte sie endlich, indem sie ihrer Tochter noch einmal die Hände entgegenstreckte, »wie die Dinge auch liegen mögen: du bist da, und so sei mir denn aufs herzlichste willkommen, mein Kind. Mit ruhigerem Gemüte wird sich alles besprechen lassen … Lege ab, in deinem Zimmer, mach' es dir bequem … Ida!?« rief sie mit erhobener Stimme in den Eßsaal hinein. »Daß Kuverts aufgelegt werden für Madame Permaneder und Erika, Liebe!«
Tony hatte sich gleich nach Tische in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, denn während des Essens war ihr durch die Konsulin die Vermutung bestätigt worden, daß Thomas um ihre Ankunft wisse … und sie schien auf das Zusammentreffen mit ihm nicht sonderlich begierig zu sein.
Um sechs Uhr nachmittags kam der Konsul herauf. Er begab sich ins Landschaftszimmer, woselbst er eine lange Unterredung mit seiner Mutter hatte.
»Und wie ist sie?« fragte er. »Wie benimmt sie sich?«
»Ach, Tom, ich fürchte, sie ist unversöhnlich … Mein Gott, sie ist so sehr gereizt … Und dann dieses Wort … wenn ich nur das Wort wüßte, das er gesagt hat …«
»Ich gehe zu ihr.«
»Tu' das, Tom. Aber klopfe leise, daß sie nicht erschrickt, und bleibe ruhig, hörst du? Ihre Nerven sind in Unordnung … Sie hat fast nichts gegessen … Es ist ihr Magen, weißt du … Sprich mit Ruhe zu ihr.«
Rasch, mit gewohnheitsmäßiger Eile immer eine Stufe überspringend, stieg er die Treppe zur zweiten Etage empor, indem er sinnend an seinem Schnurrbart drehte. Aber schon während er pochte, hellte sein Gesicht sich auf, denn er war entschlossen, die Angelegenheit so lange wie nur möglich mit Humor zu behandeln.
Er öffnete auf ein leidend klingendes Herein und fand Frau Permaneder vollständig angekleidet auf dem Bette liegend, dessen Vorhänge zurückgeschlagen waren, das Plumeau hinter dem Rücken, ein Fläschchen mit Magentropfen neben sich auf dem Nachttischchen. Sie wandte sich ein wenig, stützte den Kopf auf die Hand und sah ihm mit einem schmollenden Lächeln entgegen. Er verbeugte sich sehr tief, indem er mit ausgebreiteten Händen eine feierliche Geste beschrieb.
»Gnädige Frau …! Was verschafft uns die Ehre, diese Haupt- und Residenzstädterin …«
»Gib mir einen Kuß, Tom«, sagte sie und richtete sich auf, um ihm ihre Wange darzubieten und sich dann wieder zurücksinken zu lassen. »Guten Tag, mein guter Junge! Du bist ganz unverändert, wie ich sehe, seit euren Münchener Tagen!«
»Na, darüber kannst du hier bei geschlossenen Rouleaus wohl kein Urteil haben, meine Teure. Und jedenfalls hättest du mir das Kompliment nicht vor der Nase wegnehmen dürfen, denn es gebührt natürlich dir …«
Er hatte, während er ihre Hand in der seinen hielt, einen Stuhl herbeigezogen und sich zu ihr gesetzt.
»Wie schon so oft ausgesprochen: du und Klothilde …«
»Pfui, Tom!… Wie geht es Thilda?«
»Gut, versteht sich! Madame Krauseminz sorgt für sie und daß sie nicht hungert. Was aber nicht hindert, daß Thilda hier Donnerstags ganz ausnehmend schlingt, als wäre es für die nächste Woche im voraus …«
Sie lachte so herzlich wie seit langer Zeit nicht mehr, brach dann aber mit einem Seufzer ab und fragte: »Und was machen die Geschäfte?«
»Tja … man schlägt sich durch. Man muß zufrieden sein …«
»Oh, Gott sei Dank, daßhierwenigstens alles steht, wie es stehen soll! Ach, ich bin gar nicht aufgelegt, vergnügt zu schwatzen …«
»Schade. Den Humor soll man sich,quand même, bewahren.«
»Nein, damit ist es aus, Tom. – Du weißt alles?«
»Du weißt alles …!« wiederholte er, ließ ihre Hand fahren und setzte mit einem Ruck seinen Stuhl ein Stück rückwärts. »Heiliger Gott, wie das klingt! ›Alles!‹ Was liegt alles in diesem ›alles‹ begraben! ›Ich senkt' auch meine Liebe und meinen Schmerz hinein‹, wie? Nein, höre mal …«
Sie schwieg. Sie streifte ihn mit einem tief erstaunten und tief gekränkten Blick.
»Ja, dies Gesicht habe ich erwartet«, sagte er, »denn ohne dieses Gesicht wärest du ja nicht hier. Aber erlaube mir, meine gute Tony, daß ich die Sache um ebensoviel zu leicht nehme, als du sie zu schwer nimmst, und du wirst sehen, daß wir uns vorteilhaft ergänzen …«
»Zu schwer, Thomas, zu schwer …?«
»Ja; Herrgott, spielen wir doch nicht Tragödie! Reden wir ein bißchen bescheiden und nicht mit ›Alles ist zu Ende‹ und ›Eure unglückliche Antonie‹! Versteh' mich recht, Tony; du weißt gut, daß ich der erste bin, der sich so herzlich über dein Kommen freut. Ich habe schon lange gewünscht, du möchtest einmal zu Besuch kommen, ohne deinen Mann, daß wir wieder einmal so ganzen famillebeieinander sitzen könnten. Aber, daß dujetztkommst undsokommst, pardon, das ist eine Dummheit, mein Kind!… Ja … laß mich zu Ende sprechen! – Permaneder hat sich reichlich mangelhaft betragen, das muß wahr sein, und das werde auch ich ihm zu verstehen geben, sei überzeugt …«
»Wieer sich betragen hat, Thomas«, unterbrach sie ihn, indem sie sich aufrichtete und eine Hand auf ihre Brust legte, »das habe ich ihm schon zu verstehen gegeben und nicht nur ›zu verstehengegeben‹, will ich dir sagen. Weitere Auseinandersetzungen mit dem Manne halte ich, meinem Taktgefühle nach, für vollkommen unangebracht!« Damit ließ sie sich wieder zurückfallen und blickte streng und unbewegt zur Decke empor.
Er neigte sich, wie unter dem Gewichte ihrer Worte, und dabei blickte er lächelnd auf seine Knie nieder.
»Na, so werde ich ihm denn alsokeinengroben Brief schreiben: ganz wie du befiehlst. Zuletzt ist es ja deine Angelegenheit, und es genügt durchaus, daß du selbst ihm den Kopf zurechtsetzest; als seine Frau bist du berufen dazu. Bei Lichte besehen, sind ihm ja übrigens die mildernden Umstände nicht abzusprechen. Ein Freund hat Namenstag gefeiert, er kommt in festlicher Stimmung, in etwas zu guter Laune nach Hause und läßt sich einen kleinen Übergriff, einen kleinen unziemlichen Seitensprung zuschulden kommen …«
»Thomas«, sagte sie, »ich verstehe dich nicht. Ich verstehe nicht den Ton, in dem du redest! Du … Ein Mann von deinen Grundsätzen … Aber du hast ihn nicht gesehen! Wie er sie anfaßte in seiner Betrunkenheit, wie er aussah …«
»Komisch genug, wie ich mir denken kann. Aber das ist es ja, Tony: du nimmst die Sache nicht komisch genug, und daran ist natürlich dein Magen schuld. Du hast deinen Mann auf einer Schwäche ertappt, du hast ihn ein wenig lächerlich gesehen … aber das sollte dich nicht so fürchterlich empören, sondern dich eher ein bißchen amüsieren und ihn dir menschlich noch näher bringen … Ich will dir eines sagen: du konntest sein Betragen natürlich nicht ohne weiteres mit Lächeln und Stillschweigen billigen, bewahre. Du bist abgereist: das war eine Demonstration, etwas lebhaft vielleicht, vielleicht eine zu strenge Strafe – denn wie betrübt er in diesem Augenblick dasitzt, das möchte ich nicht sehen – aber immerhin gerecht. Meine Bitte geht nur dahin, du möchtest die Dinge etwas weniger entrüstet und wenig mehr vom politischen Standpunkte aus betrachten … wir reden ja unter uns. Ich muß dir einmal andeuten, daß es doch in einer Ehe keineswegs gleichgültig ist, auf welcher Seite sich das … moralische Übergewicht befindet … versteh' mich, Tony! Dein Mann hat sich eine Blöße gegeben, darüber besteht kein Zweifel. Er hat sichkompromittiert, sich ein bißchen lächerlich gemacht … lächerlich gerade darum, weil sein Vergehen so harmlos, so wenig ernsthaft zu nehmen ist … Kurz, seine Würde ist nicht mehr unantastbar, eine gewisse Überlegenheit ist jetzt entschieden auf deiner Seite, und gesetzt, daß du sie geschickt zu nutzen verstehst, so ist dein Glück gewiß. Wenn du nun in … sagen wir vierzehn Tagen – ja, bitte, so lange muß ich dichmindestensfür uns in Anspruch nehmen! – in vierzehn Tagen nach München zurückkehrst, so wirst du sehen …«
»Ich werde nicht nach München zurückkehren, Thomas.«
»Wie beliebt?« fragte er, indem er sein Gesicht verzog, eine Hand ans Ohr legte und sich vorwärts beugte …
Sie lag auf dem Rücken, den Hinterkopf fest in die Kissen gedrückt, so daß das Kinn mit einer gewissen Strenge vorgeschoben schien. »Niemals«, sagte sie; worauf sie lang und geräuschvoll ausatmete und sich räusperte: langsam und ausdrücklich – ein trockenes Räuspern, das anfing, bei ihr zur nervösen Gewohnheit zu werden und wahrscheinlich mit ihrem Magenleiden zusammenhing. – Eine Pause trat ein.
»Tony«, sagte er plötzlich, indem er aufstand und seine Hand fest auf die Lehne des Empirestuhles niedersinken ließ, »du machst mir keinen Skandal!…«
Ein Seitenblick belehrte sie, daß er bleich war, und daß die Muskeln an seinen Schläfen arbeiteten. Ihre Lage war nicht länger haltbar. Auch sie geriet in Bewegung, und, um die Furcht zu verbergen, die sie vor ihm empfand, ward sie laut und zornig. Sie schnellte empor, sie ließ die Füße vom Bette hinuntergleiten, und mit hitzigen Wangen, zusammengezogenen Brauen und raschen Kopf- und Handbewegungen fing sie an: »Skandal, Thomas …?! Du magst mir befehlen, keinen Skandal zu machen, wenn man mich mit Schande bedeckt, mir ganz einfach ins Gesicht speit?! Ist das eines Bruders würdig?… Ja, diese Frage mußt du mir gefälligst erlauben! Rücksicht und Takt sind gute Sachen, bewahre! Aber es gibt eine Grenze im Leben, Tom – und ich kenne das Leben, so gut wie du – wo die Angst vor dem Skandale anfängt, Feigheit zu heißen, ja! Und ich wundere mich, daß ich dir das sagen muß, die ich bloß eine Gans und ein dummes Ding bin … Ja,das bin ich und verstehe es gut, wenn Permaneder mich nie geliebt hat, denn ich bin alt und ein häßliches Weib, das mag sein, und Babett ist sicherlich hübscher. Aber das enthob ihn nicht der Rücksicht, die er meiner Herkunft und meiner Erziehung und meinem Empfinden schuldete! Du hast nicht gesehen, Tom, in welcher Weise er diese Rücksicht vergaß, und wer es nicht gesehen hat, der weiß gar nichts, denn erzählen läßt es sich nicht, wie widerlich er war in seinem Zustande … Und du hast das Wort nicht gehört, das er mir, mir, deiner Schwester, nachgerufen hat, als ich meine Sachen nahm und das Zimmer verließ, um im Wohnzimmer auf dem Sofa zu schlafen … Ja! da habe ich hinter mir aus seinem Munde ein Wort anhören müssen … ein Wort … ein Wort …! … Kurz, Thomas, dies Wort war es ganz eigentlich, daß du es weißt, was mich veranlaßt,gezwungenhat, während der ganzen Nacht zu packen und in aller Frühe Erika zu wecken und davonzugehen, denn bei einem Manne, in dessen Nähe ich solcher Worte gewärtig sein muß, konnte ich nicht bleiben, und zu einem solchen Manne werde ich, wie gesagt, niemals zurückkehren … oder ich müßte verkommen und könnte mich nicht mehr achten und hätte keinen Halt mehr im Leben!«
»Willst du nun die Güte haben, mir dieses gottverdammte Wort mitzuteilen, ja oder nein?«
»Niemals, Thomas! Niemals werde ich es mit meinen Lippen wiederholen! Ich weiß, was ich mir und dir in diesen Räumen schuldig bin …«
»Dann ist nicht mit dir zu reden!«
»Das mag sein; und ich wollte, wir redeten auch gar nicht mehr darüber …«
»Was willst du tun? Willst du dich scheiden lassen?«
»Das will ich, Tom. Das ist mein fester Entschluß. Das ist die Handlungsweise, die ich mir selbst und meinem Kinde und euch allen schuldig bin.«
»Na, das ist also Unsinn«, sagte er gelassen, drehte sich auf dem Absatze um und ging von ihr fort, als ob damit überhaupt das Ganze erledigt sei. »Zum Scheidenlassen gehören zwei, mein Kind; und daß Permaneder sich so ohne weiteres mit Vergnügendazu bereit finden wird, der Gedanke ist doch wohl bloß belustigend …«
»Oh, das laß meine Sorge sein«, sagte sie, ohne sich einschüchtern zu lassen. »Du meinst, daß er sich widersetzen wird, und zwar wegen meiner 17000 Taler Kurant; aber Grünlich hat auch nicht gewollt, und man hat ihn gezwungen, da gibt es Mittel, und ich gehe zu Doktor Gieseke; das ist Christians Freund, und der wird mir beistehen … Gewiß, es war etwas anderes damals, ich weiß, was du sagen willst. Damals war es ›Unfähigkeit des Mannes, seine Familie zu ernähren‹ ja! Du siehst übrigens, daß ich sehr wohl Bescheid weiß in diesen Dingen, während du wahrhaftig tust, als wäre es das erstemal im Leben, daß ich mich scheiden lasse!… Aber das ist ganz gleich, Tom. Vielleicht geht es nicht an und ist unmöglich – das mag sein; du kannst gern recht haben. Aber das ändert nichts. Das ändert nichts an meinen Entschlüssen. Dann mag er die Groschen behalten – es gibt höhere Dinge im Leben! Aber mich sieht er niemals wieder.«
Und darauf räusperte sie sich. Sie hatte das Bett verlassen, hatte sich in dem Armsessel niedergelassen, einen Ellenbogen auf die Seitenlehne gestemmt und das Kinn so fest in die Hand vergraben, daß vier gekrümmte Finger die Unterlippe gepackt hielten. So, den Oberkörper seitwärts gewandt, blickte sie mit erregten und geröteten Augen starr durchs Fenster hinaus.
Der Konsul schritt im Zimmer auf und ab, seufzte, schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. Schließlich blieb er mit gerungenen Händen vor ihr stehen.
»Du bist ja ein Kindskopf, Tony!« sagte er verzagt und flehend. »Jedes Wort, das du sprichst, ist ja eine Kinderei! Willst du dich nun nicht, wenn ich dich bitte, dazu bequemen, die Dinge während eines einzigen Augenblicks wie ein Erwachsener anzusehen?! Merkst du denn nicht, daß du dich benimmst, als hättest du etwas Ernstes und Schweres erlebt, als hätte dein Mann dich grausam betrogen, dich vor aller Welt mit Schmach überhäuft!? Aber so bedenke doch nur, daß ja nichts geschehen ist! Daß von diesem albernen Vorkommnis auf eurer Himmelsleiter in der Kaufingerstraße ja keines Menschen Seele etwas weiß! Daß du deiner und unserer Würdedurchaus keinen Abbruch tust, wenn du in aller Ruhe und höchstens mit einer etwas mokanten Miene zu Permaneder zurückkehrst … im Gegenteil! daß du unserer Würde erst schadest, indem du dasnichttust, denn erst dadurch machst du etwas aus dieser Bagatelle, erst dadurch erregst du Skandal …«
Sie ließ rasch ihr Kinn los und sah ihm ins Gesicht.
»Jetzt sei still, Thomas! Jetzt bin ich an der Reihe! Jetzt höre zu! Wie? ist nur das Schande und Skandal im Leben, was laut wird und unter die Leute kommt? Ach nein! Der heimliche Skandal, der im stillen an einem zehrt und die Selbstachtung wegfrißt, der ist viel schlimmer! Sind wir Buddenbrooks Leute, die nach außen hin ›tip-top‹ sein wollen, wie ihr hier immer sagt, und zwischen unseren vier Wänden dafür Demütigungen hinunterwürgen? Tom, ich muß mich wundern über dich! Stelle dir Vater vor, wie er sich heute verhalten würde, und dann urteile in seinem Sinne! Nein, Sauberkeit und Offenheit muß herrschen … Du kannst täglich aller Welt deine Bücher zeigen und sagen: Da … Anders darf es mit keinem von uns sein. Ich weiß, wie Gott mich gemacht hat. Ich fürchte mich gar nicht! Laß Julchen Möllendorpf nur an mir vorübergehen und mich nicht grüßen! Und laß Pfiffi Buddenbrook nur Donnerstags hier sitzen und sich vor Schadenfreude schütteln und sagen: ›Nun, das ist ja leider schon das zweitemal, aber es hatnatürlichbeide Male an den Männern gelegen!‹ Ich bin so unsäglich erhaben darüber, Thomas! Ich weiß, daß ich getan habe, was ich für gut hielt. Aber aus Angst vor Julchen Möllendorpf und Pfiffi Buddenbrook Beleidigungen hinunterzuschlucken und mich in einem ungebildeten Bierdialekt beschimpfen zu lassen … aus Angst vor ihnen bei einem Manne, in einer Stadt auszuhalten, wo ich mich an solche Worte, an solche Szenen, wie die auf der Himmelsleiter, gewöhnen müßte, wo ich mich und meine Herkunft und meine Erziehung und alles in mir ganz und gar verleugnen lernen müßte, nur um glücklich und zufrieden zu erscheinen, – das nenneichunwürdig, das nenneichskandalös, will ich dir sagen …!«
Sie brach ab, warf das Kinn wieder in die Hand und starrte erregt auf die Fensterscheiben. Er stand vor ihr, auf ein Bein gestützt,die Hände in den Hosentaschen, und ließ seine Augen auf ihr ruhen, ohne sie zu sehen, in Gedanken, und indem er langsam den Kopf hin und her bewegte.
»Tony«, sagte er, »du machst mir nichtsweis. Ich habe es schon vorher gewußt, aber in deinen letzten Worten hast du dich verraten. Es ist gar nicht der Mann. Es ist die Stadt. Es ist gar nicht diese Albernheit auf der Himmelsleiter. Es ist das Ganze überhaupt. Du hast dich nicht akklimatisieren können. Sei aufrichtig.«
»Da hast du recht, Thomas!« rief sie. Sie sprang sogar empor dabei und wies ihm mit ausgestreckter Hand gerade ins Gesicht hinein. Ihr Gesicht war rot. Sie blieb in einer kriegerischen Haltung stehen, mit der einen Hand den Stuhl erfaßt, gestikulierte mit der anderen und hielt eine Rede, eine leidenschaftlich bewegte Rede, die unaufhaltsam hervorsprudelte. Der Konsul betrachtete sie tief erstaunt. Kaum, daß sie sich Zeit ließ, Atem zu schöpfen, so brausten und brodelten schon wieder neue Worte hervor. Ja, sie fand Worte, sie drückte alles aus, was sich während dieser Jahre an Widerwillen in ihr gesammelt hatte: ein bißchen ungeordnet und verworren, aber sie drückte es aus. Es war eine Explosion, ein Ausbruch voll verzweifelter Ehrlichkeit … Hier entlud sich etwas, gegen das es keine Widerrede gab, etwas Elementares, worüber nicht mehr zu streiten war …
»Da hast du recht, Thomas! Das sage du nur noch einmal! Ha, ich bemerke dir ausdrücklich, daß ich kein dummes Ding mehr bin und weiß, was ich vom Leben zu halten habe. Ich erstarre nicht mehr, wenn ich erfahre, daß es nicht immer ganz säuberlich zugeht darin. Ich habe Leute wie Tränen-Trieschke gekannt und bin mit Grünlich verheiratet gewesen und kenne unsere Suitiers hier in der Stadt. Ich bin keine Unschuld vom Lande, will ich dir sagen, und die Sache mit Babett an und für sich und aus dem Zusammenhang genommen, hätte mich nicht auf und davon gejagt, das glaube mir! Sondern die Sache ist die, Thomas, daß es das Maß voll gemacht hat … und dazu gehörte nicht viel, denn es war eigentlich schon voll … schon lange voll … schon lange voll! Ein Nichts hätte es überfließen lassen und nun gar dies! Nun gar die Erkenntnis, daß ich mich nicht einmal in diesem Punkte aufPermaneder verlassen konnte! Das hat allem die Krone aufgesetzt! Das hat dem Faß den Boden ausgeschlagen! Das hat meinen Entschluß, von München auf und davon zu gehen, mit einem Schlage zur Reife gebracht, und der war lange, lange im Reifen begriffen gewesen, Tom, denn ich kann dort unten nicht leben, bei Gott und seinen heiligen Heerscharen, ich kann es nicht!Wieunglücklich ich gewesen bin, du weißt es nicht, Thomas, denn auch, als du zu Besuch kamst, habe ich nichts merken lassen, nein, denn ich bin eine Frau von Takt, die andere nicht mit Klagen belästigt und ihr Herz nicht an jedem Wochentage auf der Zunge trägt, und habe immer zur Verschlossenheit geneigt. Aber ich habe gelitten, Tom, gelitten mit allem, was in mir ist, und sozusagen mit meiner ganzen Persönlichkeit. Wie eine Pflanze, um mich dieses Bildes zu bedienen, wie eine Blume, die in fremdes Erdreich verpflanzt worden … obgleich du den Vergleich wohl unpassend findest, denn ich bin ein häßliches Weib … aber in fremderes Erdreich konnte ich nicht kommen, und lieber ginge ich in die Türkei! Oh, wir sollten niemals fortgehen, wir hier oben! Wir sollten an unserer Seebucht bleiben und uns redlich nähren … Ihr habt euch zuweilen über meine Vorliebe für den Adel mokiert … ja, ich habe in diesen Jahren oft an einige Worte gedacht, die mir vor längerer Zeit einmal jemand gesagt hat, ein gescheuter Mensch. ›Sie haben Sympathie für die Adligen …‹ sagte er, ›soll ich Ihnen sagen, warum? Weil Sie selbst eine Adlige sind! Ihr Vater ist ein großer Herr und Sie sind eine Prinzeß. Ein Abgrund trennt Sie von uns anderen, die wir nicht zu Ihrem Kreise von herrschenden Familien gehören …‹ Ja, Tom, wir fühlen uns als Adel und fühlen einen Abstand und wir sollten nirgend zu leben versuchen, wo man nichts von uns weiß und uns nicht einzuschätzen versteht, denn wir werden nichts als Demütigungen davon haben, und man wird uns lächerlich hochmütig finden. Ja, – alle haben mich lächerlich hochmütig gefunden. Man hat es mir nicht gesagt, aber gefühlt habe ich es zu jeder Stunde und auch darunter habe ich gelitten. Ha! In einem Lande, wo man Torte mit dem Messer ißt, und wo die Prinzen falsches Deutsch reden, und wo es als eine verliebte Handlungsweise auffällt, wenn ein Herr einer Dameden Fächer aufhebt, in einem solchen Lande ist es leicht, hochmütig zu scheinen, Tom! Akklimatisieren? Nein, bei Leuten ohne Würde, Moral, Ehrgeiz, Vornehmheit und Strenge, bei unsoignierten, unhöflichen und saloppen Leuten, bei Leuten, die zu gleicher Zeit träge und leichtsinnig, dickblütig und oberflächlich sind … bei solchen Leuten kann ich mich nicht akklimatisieren und würde es niemals können, so wahr ich deine Schwester bin! Eva Ewers hat es gekonnt … gut! Aber eine Ewers ist noch keine Buddenbrook, und dann hat sie ihren Mann, der zu etwas nütze ist im Leben. Wie aber habe ich es gehabt? Denke nach, Thomas, fang' von vorne an und erinnere dich! Ich bin von hier, aus diesem Hause, wo es etwas gilt, wo man sich regt und Ziele hat, dorthin gekommen, zu Permaneder, der sich mit meiner Mitgift zur Ruhe gesetzt hat … ha, es war echt, es war wahrhaftig kennzeichnend, aber das war auch das einzig Erfreuliche daran. Was weiter? Ein Kind soll kommen! Wie habe ich mich gefreut! Es hätte mir alles entgolten! Was geschieht? Es stirbt. Es ist tot. Das war nicht Permaneders Schuld, behüte, nein. Er hatte getan, was er konnte, und ist sogar zwei bis drei Tage nicht ins Wirtshaus gegangen, bewahre! Aber es gehörte doch dazu, Thomas. Es machte mich nicht glücklicher, kannst du dir denken. Ich habe ausgehalten und nicht gemurrt. Ich bin allein und unverstanden und als hochmütig verschrien umhergegangen und habe mir gesagt: Du hast ihm dein Jawort fürs Leben erteilt. Er ist ein bißchen plump und träge und hat deine Hoffnungen getäuscht; aber er meint es gut, und sein Herz ist rein. Und dann habe ich dies erleben müssen und ihn in diesem widerlichen Augenblick gesehen. Dann habe ich erfahren: so gut versteht er mich und um so viel besser weiß er mich zu respektieren als die anderen, daß er mir ein Wort nachruft, ein Wort, das keiner deiner Speicherarbeiter einem Hunde zuwerfen würde! Und da habe ich gesehen, daß nichts mich hielt, und daß es eine Schande gewesen wäre, zu bleiben. Und als ich hier vom Bahnhof die Holstenstraße herauffuhr, ging der Träger Nielsen vorüber und nahm tief seinen Zylinder ab, und ich habe wiedergegrüßt: durchaus nicht hochmütig, sondern wie Vater die Leute grüßte … so … mit der Hand. Und jetzt bin ich hier. Und du kannst zwei Dutzend Arbeitspferdeanspannen, Tom: nach München bekömmst du mich nicht wieder. Und morgen gehe ich zu Gieseke! –«
Dies war die Rede, die Tony hielt, worauf sie sich ziemlich erschöpft in den Stuhl zurücksinken ließ, das Kinn in die Hand vergrub und auf die Fensterscheiben starrte.
Ganz erschrocken, benommen, beinahe erschüttert stand der Konsul vor ihr und schwieg. Dann atmete er auf, erhob die Arme bis zur Höhe der Schultern und ließ sie auf die Oberschenkel hinabfallen.
»Ja, da ist nichts zu machen!« sagte er leise, drehte sich still auf dem Absatz um und ging zur Tür.
Sie sah ihm mit demselben Ausdruck nach, mit dem sie ihn empfangen hatte: leidend und schmollend.
»Tom?« fragte sie. »Bist du mir böse?«
Er hielt den ovalen Türgriff in der einen und machte eine müde Bewegung der Abwehr mit der anderen Hand. »Ach nein. Keineswegs.«
Sie streckte die Hand nach ihm aus und legte den Kopf auf die Schulter.
»Komm her, Tom … Deine Schwester hat es nicht sehr gut im Leben. Alles kommt auf sie herab … Und sie hat in diesem Augenblick wohl niemanden, der zu ihr steht …«
Er kehrte zurück und nahm ihre Hand: von der Seite, einigermaßen gleichgültig und matt, ohne sie anzusehen.
Plötzlich begann ihre Oberlippe zu zittern …
»Du mußt nun allein arbeiten«, sagte sie. »Mit Christian, das ist wohl nichts Rechtes, und ich bin nun fertig … ich habe abgewirtschaftet … ich kann nichts mehr ausrichten … ja, ihr müßt mir nun schon das Gnadenbrot geben, mir unnützem Weibe. Ich hätte nicht gedacht, daß es mir so gänzlich mißlingen würde, dir ein wenig zur Seite zu stehen, Tom! Nun mußt du ganz allein zusehen, daß wir Buddenbrooks den Platz behaupten … Und Gott sei mit dir.«
Es rollten zwei Tränen, große, helle Kindertränen über ihre Wangen hinunter, deren Haut anfing, kleine Unebenheiten zu zeigen.