Tolstoi und seine jüngere Tochter Alexandra
Man hat den ergreifenden Aufruf an die Frauen, mit dem „Was sollen wir denn tun?†abschließt, nicht genügend beachtet. Tolstoi hat keine Sympathie für die moderne Frauenbewegung152. Aber für die, die er „die mütterliche Frau†nennt, für die, die den wahren Sinn des Lebens kennt, hat er Worte ehrfurchtsvoller Anbetung. Er hält eine herrliche Lobrede auf ihre Schmerzen und ihre Freuden, auf die Schwangerschaft und auf die Mutterschaft, diese schrecklichen Leiden, diese ruhelosen Jahre, auf diese erschöpfende Arbeit in aller Stille, für die man von niemand eine Belohnungerwartet, auf diese Glückseligkeit, die die Seele überflutet, wenn der Schmerz endet, wenn das Gebot erfüllt ist. Er entwirft das Bild der tapferen Ehefrau, die für ihren Mann eine Stütze und kein Hindernis ist. Sie weiß, daß „nur das blinde unbelohnte Opfer für das Leben der anderen des Menschen Berufung istâ€.
„Eine solche Frau wird nicht nur ihren Mann bei einer verkehrten und trügerischen Arbeit, die bloß den Zweck hat, aus der Arbeit anderer Genuß zu ziehen, nicht ermutigen, sondern sie wird diese Tätigkeit, die ein Verderb für ihre Kinder wäre, mit Entsetzen und Abscheu betrachten. Sie wird von ihrem Gefährten die echte Arbeit verlangen, die Tatkraft erfordert und die Gefahr nicht scheut... Sie weiß, daß die Kinder, die kommende Generation, das Heiligste sind, was dem Menschen anvertraut ist, und daß sie lebt, um mit ihrem ganzen Sein diesem geheiligten Werk zu dienen. Sie wird in ihren Kindern und in ihrem Ehegatten die Kraft zum Opfern zur Entfaltung bringen... Solche Frauen beherrschen die Männer und dienen ihnen als Leitstern... O, ihr mütterlichen Frauen! In euren Händen ruht das Heil der Welt!â€153
Das ist der Ruf eines Flehenden, der noch hofft... Wird er kein Gehör finden?...
Einige Jahre später war der letzte Hoffnungsstrahl erloschen:
„Sie glauben es vielleicht nicht; aber Sie können sichnicht vorstellen, wie vereinsamt ich bin, bis zu welchem Grad mein wirkliches Ich von meiner ganzen Umgebung mißachtet wird.â€154
Wenn die ihm Nahestehenden die Bedeutung seines moralischen Umschwungs schon so verkannten, dann konnte man von den anderen weder mehr Einfühlung noch mehr Achtung erwarten. Als Tolstoi besonderen Wert darauf gelegt hatte, sich mit Turgenjew zu versöhnen, mehr aus dem Geiste christlicher Demut heraus, als weil sich etwas in seinen Empfindungen ihm gegenüber geändert hatte155, äußerte Turgenjew spöttisch: „Ich beklage Tolstoi sehr, im übrigen aber muß jeder, wie der Franzose sagt, seine Flöhe nach seiner Manier fangen.â€156
Ein paar Jahre später, angesichts des Todes, schrieb er an Tolstoi jenen bekannten Brief, in dem er seinen „Freund, den großen Schriftsteller der russischen Erdeâ€, anfleht, „zur Literatur zurückzukehrenâ€.
Alle europäischen Künstler schlossen sich dieser Besorgnis und der Bitte des sterbenden Turgenjew an. Eugen Melchior de Vogüé nahm am Ende der Studie, die er 1886 Tolstoi widmete, ein Bildnis des Schriftstellers im Bauernkittel, die Schusterahle in der Hand, zum Vorwand, um einen beredten Appell an ihn zu richten:
„Schöpfer von Meisterwerken, dies ist nicht dein Werkzeug!... Unser Werkzeug ist die Feder; unserFeld die Menschenseele, die es auch zu schützen und zu nähren gilt. Laß dir jenen Schrei eines russischen Bauern — des ersten Druckers von Moskau —, den man wieder an den Pflug zurückschicken wollte, ins Gedächtnis rufen: ‚Es ist nicht meines Amtes, Getreide zu säen, sondern die geistigen Saatkörner in der Welt zu verbreiten’.â€
Als ob Tolstoi je daran gedacht hätte, seine Rolle als Sämann der Gedankensaat aufzugeben. In der Einleitung zu „Mein Glaube†schrieb er: „Ich glaube, daß mein Leben, mein Verstand, mein Licht mir geschenkt wurde, ausschließlich um die Menschen zu erleuchten. Ich glaube, daß meine Kenntnis der Wahrheit eine Begabung ist, die mir zu diesem Zweck verliehen wurde, daß diese Begabung ein Feuer ist, das nur Feuer ist, solange es brennt. Ich glaube, daß der einzige Sinn meines Lebens der ist, in diesem Lichte, das in mir ist, zu leben, und es hoch vor den Menschen einherzutragen, auf daß sie es sehen.â€157
Aber dieses Licht, dieses Feuer, „das nur Feuer ist, solange es brenntâ€, versetzte die meisten Künstler in Unruhe. Die Klügsten sahen voraus, daß ihre Kunst Gefahr lief, die Beute des Brandes zu werden. Sie taten, als glaubten sie, die ganze Kunst sei bedroht, und Tolstoi zerbräche wie Prospero für immer seinen Zauberstab der schöpferischen Phantasie.
Nichts ist weniger wahr gewesen; und ich gedenke darzutun, daß Tolstoi, weit davon entfernt, die Kunst zu zerstören, Kräfte in sich entfaltet hat, die brachlagen, und daß sein religiöser Glaube seinen künstlerischen Genius erneuert und nicht zerstört hat.
Es ist seltsam, daß, wenn man von Tolstois Gedanken über Wissenschaft und Kunst spricht, man gewöhnlich das bedeutsamste der Bücher, in dem diese Gedanken zum Ausdruck gebracht sind, „Was sollen wir denn tun?†(1884-1886), außer acht läßt. In ihm nimmt Tolstoi zum erstenmal den Kampf gegen Wissenschaft und Kunst auf; und nie wieder hat irgendeiner der folgenden Kämpfe diesen ersten Waffengang an Heftigkeit übertroffen. Man wundert sich, daß bei den jüngsten Angriffen, die man bei uns gegen die Selbstgefälligkeit der Wissenschaft und der Intellektuellen unternommen hat, niemand daran gedacht hat, auf jenes Werk zurückzukommen. Es bildet die furchtbarste Anklagerede, die je gegen „die Eunuchen der Wissenschaft†und die „Freibeuter der Kunst†gehalten wurde, gegen diese Kasten des Geistes, die, nachdem sie die alten herrschenden Kasten — Kirche, Staat und Heer — abgeschafft oder unterjocht, sich an deren Stelle gesetzt haben und, ohne den Menschen nützen zu wollen oder zu können, verlangen, daß man sie bewundere, und daß man ihnen blind diene, die einen schamlosen Glauben an die Wissenschaft um der Wissenschaft willen und an die Kunst um der Kunst willen als Dogma aufstellen, — eine lügnerische Maske, hinter der sich ihre persönliche Rechtfertigung zu verbergen sucht, die Verteidigung ihrer ungeheueren Selbstsucht und ihrer Nichtigkeit.
„Sagt mir nicht etwa,†fährt Tolstoi fort, „daß ich Kunst und Wissenschaft verwerfe. Ich verwerfe sie nicht nur nicht, sondern in ihrem Namen will ich die Tempelschänder verjagen.â€
„Wissenschaft und Kunst sind so notwendig wie Brot und Wasser, sogar noch notwendiger... Die wahre Wissenschaft ist die Wissenschaft von der wahren Güte in allen Menschen. Die wahre Kunst ist der Ausdruck der Kenntnis von der wahren Güte in allen Menschen.â€
Und er verherrlicht die, welche, „seit Menschen sind, auf Harfen und Zimbeln, durch Wort und Bild ihren Kampf gegen die Doppelzüngigkeit zum Ausdruck gebracht haben; er verherrlicht ihre Leiden in diesem Kampf, ihre Hoffnung auf den Sieg des Guten, ihre Verzweiflung über den Sieg des Bösen und ihre Begeisterung beim prophetischen Schauen in die Zukunftâ€.
Dann entwirft er das Bild des wahren Künstlers in Worten, die von schmerzerfülltem und schwärmerischem Feuer durchglüht sind:
„Die Betätigung von Wissenschaft und Kunst ist nur fruchtbringend, wenn sie sich kein Recht herausnimmt und nur Pflichten kennt. Nur weil ihre Betätigung dieser Art ist, weil ihr Wesen das Opfer ist, verehrt die Menschheit sie. Die Menschen, die berufen sind, den anderen durch Geistesarbeit zu dienen, leiden immer in der Ausübung dieser Arbeit; denn die geistige Welt gebärt nur in Schmerzen und Qualen. Opfern und leiden, das istdas Los des Denkers und Künstlers; denn sein Ziel ist das Wohl der Menschen. Die Menschen sind unglücklich, sie leiden, sie sterben; man hat nicht Zeit zum Müßiggang und Vergnügen. Der Denker oder der Künstler verirrt sich nie in olympische Höhen, wie wir zu glauben gewohnt sind; er ist immer in Bedrängnis und Erregung. Er soll entscheiden und sagen, was dem Menschen Heil bringt, was ihn vom Leiden erlöst, und er hat es noch nicht entschieden, er hat es noch nicht gesagt; und morgen wird es vielleicht zu spät sein, und er wird sterben... Nicht der ist Denker und Künstler, der in einem Institut ausgebildet wird, in dem man Künstler und Gelehrte heranbildet (um die Wahrheit zu sagen, man bildet dort Vernichter von Kunst und Wissenschaft heran), nicht der ist es, der Diplome und eine Anstellung bekommt, sondern der ist es, der glücklich wäre, nicht zu denken und nichtdemAusdruck zu verleihen, was ihm in die Seele gesenkt wurde, der sich dem aber nicht entziehen kann; denn zwei unsichtbare Mächte treiben ihn dazu: sein innerer Drang und seine Menschenliebe. Es gibt keine satten, genießerischen, selbstzufriedenen Künstler.â€158
Diese herrlichen Zeilen, die ein tragisches Licht auf Tolstois Genie werfen, waren geschrieben unter dem augenblicklichen Einfluß des Kummers, den der Anblick des Elends in Moskau in ihm hervorrief, und in der Ãœberzeugung, daß Kunst und Wissenschaft Mitverschworene des ganzen bestehenden Systems gesellschaftlicher Ungleichheit und heuchlerischer Gewalttätigkeit seien. — Diese Ãœberzeugung sollte er nie verlieren. Aber der Eindruck von seinem ersten Zusammentreffen mit dem Weltelend mußte sich allmählich abschwächen; die Wunde hört auf zu bluten159; und in keinem seiner späteren Bücher findet man das von Schmerz und rächendem Zorn erfüllte Beben, das dieses Buch durchzittert: nirgends dieses erhabene Glaubensbekenntnis des Künstlers, der mit seinem Herzblut schafft, diese Begeisterung für Opfer und Leid, „die des Denkers Los sindâ€, diese Verachtung der olympischen Kunst Goethescher Art. Die Arbeiten, in denen er später die Kritik der Kunst wieder aufnimmt, behandeln die Frage vom literarischen und weniger vom gefühlsmäßigen Standpunkt aus; das Problem der Kunst wird darin gesondert von jenem menschlichen Elend behandelt, an das Tolstoi nicht denken kann, ohne außer sich zu geraten, wie an dem Abend nach seinem Besuch im Nachtasyl, wo er bei seiner Heimkehr verzweiflungsvoll weint und schluchzt.
Man könnte nicht behaupten, daß jene lehrhaften Werke jemals kalt seien. Kalt zu sein ist ihm überhaupt unmöglich. Bis an sein Lebensende bleibt er derselbe, der einst an Fet schrieb:
„Wenn man seine Gestalten, selbst die unwesentlichsten, nicht liebt, muß man sie derart schlechtmachen,daß es dem Himmel heiß wird, oder sich über sie lustig machen, bis einem der Bauch platzt.â€160
Tolstoi im Jahre 1909
In seinen Schriften über die Kunst läßt er sich nichts davon entgehen. Die negative Seite — Beleidigungen und beißender Spott — ist darin so stark, daß nur sie Eindruck auf die Künstler gemacht hat. Er traf damit ihren Aberglauben und ihre Empfindlichkeit zu heftig, als daß sie nicht in dem Feind ihrer Kunst den Feind jeglicher Kunst überhaupt gesehen hätten. Aber immer geht die Kritik bei Tolstoi Hand in Hand mit Besserungsvorschlägen. Er reißt niemals nieder, um niederzureißen, sondern um wiederaufzurichten. Und in seiner Bescheidenheit behauptet er sogar, nichts Neues aufzubauen; er verteidigt die Kunst, die immer war und immer sein wird, gegen die falschen Künstler, die sie ausbeuten und herabwürdigen:
„Die echte Wissenschaft und die echte Kunst haben immer bestanden und werden immer bestehen; es ist unmöglich und nutzlos, sie in Abrede zu stellenâ€, schrieb er mir im Jahre 1887 in einem Brief, zehn Jahre bevor seine berühmte Abhandlung über die Kunst161erschien. „Das ganze Ãœbel von heute kommt daher, daß die sogenannten zivilisierten Leute, denen die Gelehrten und Künstler zur Seite stehen, eine privilegierte Kaste sind, wie die Priester. Und diese Kaste hat alle Fehler einer jeden Kaste. Sie erniedrigt und entwürdigt das Prinzip, in dessen Namen sie sich bildet. Das, was man beiuns Wissenschaft und Kunst nennt, ist nichts als ein grenzenloserHumbug, ein großer Aberglaube, auf den wir gewöhnlich hereinfallen, sobald wir uns von dem alten Kirchenaberglauben freigemacht haben. Will man den Weg, den man zu beschreiten hat, klar vor sich sehen, so muß man beim Anfang anfangen, — man muß die Kapuze, die wohl wärmt, aber die Augen verdeckt, abnehmen. — Die Versuchung ist groß. Wir werden auf einer gewissen Höhe geboren, oder wir schwingen uns zu ihr auf; und wir finden uns unter den Bevorzugten, den Priestern der Zivilisation, derKultur, wie die Deutschen sagen. Wir bedürfen, wie die brahmanischen oder katholischen Priester, großer Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, um die Grundsätze, die uns diese vorteilhafte Stellung sichern, anzuzweifeln. Aber ein ernster Mensch, den das Problem des Lebens beschäftigt, kann nicht zögern. Um zum klaren Schauen durchzudringen, müssen wir uns von dem Aberglauben freimachen, wo immer er sich findet, selbst wenn er uns Vorteile brächte. Das ist eine conditio sine qua non... Nicht abergläubisch sein. Sich in die Gemütsverfassung eines Kindes oder eines Cartesius versetzen...â€
Diesen modernen Kunstaberglauben, in dem sich gewisse Kreise gefallen, „diesen Mordshumbugâ€, deckt Tolstoi in seinem Buche „Was ist Kunst?†auf. Schonungslos zeigt er das Lächerliche daran, die Armseligkeit, die Heuchelei, die vollständige Verderbnis. Er machtreinen Tisch mit allem. Er bringt zu dieser Zerstörungsarbeit die Freude eines Kindes mit, das seine Spielsachen entzweischlägt. Dieser ganze kritische Teil ist oft voller Humor, aber auch voller Ungerechtigkeit: dafür ist es eine Kampfschrift. Tolstoi bedient sich jeder Waffe und haut darauf los, ohne achtzugeben, wen er trifft. So kommt es recht häufig vor — wie in allen Schlachten —, daß er Leute verwundet, die er hätte verteidigen müssen, z. B. Ibsen oder Beethoven. Das ist der Nachteil seiner Heftigkeit, die ihm nicht genügend Zeit zur Ãœberlegung läßt, bevor es zum Handeln kommt, seiner blinden Leidenschaft, die ihn oft die Schwäche seiner Gründe nicht erkennen läßt, und — sagen wir es offen — es ist auch die Folge seiner unzureichenden künstlerischen Kultur.
Was kann er, abgesehen von seinem literarischen Wissen, schließlich von der zeitgenössischen Kunst kennen? Was hat dieser Landedelmann, der drei Viertel seines Lebens in seinem moskowitischen Dorf zubrachte, der seit 1860 nicht mehr nach Europa gekommen ist, von Malerei sehen, was hat er von europäischer Musik hören können? Und was hat er sonst, die Schulen ausgenommen, die allem ihn interessierten, gesehen? Die Malerei beurteilt er nach dem Hörensagen, nennt als „Dekadente†Puvis, Manet, Monet, Böcklin, Stuck und Klinger bunt durcheinander, bewundert in bestem Glauben Jules Breton und Lhermitte wegen ihrer guten Gesinnung, verachtet Michelangelo und erwähnt unter den Malern, diesich in das Seelenleben ihrer Modelle zu vertiefen wußten, nicht einmal Rembrandt. — Für die Musik hat er ein viel feineres Verständnis162, aber er kennt sie kaum: er kommt über seine Kindheitseindrücke nicht hinaus, hält sich an jene, die schon um 1840 zu den Klassikern gehörten, und hat (außer Tschaikowsky, dessen Musik ihn zum Weinen bringt) seitdem nichts kennengelernt; er wirft im Grunde Brahms und Richard Strauß in einen Topf, erteilt Beethoven eine Lektion163und glaubt nach einer einzigen „Siegfriedâ€-Aufführung, die er nicht einmal von Anfang an und nur bis zur Mitte des zweiten Aktes gehört hat, genug von Wagner zu kennen, um über ihn zu urteilen164. — In der Literatur weiß er selbstverständlich etwas besser Bescheid. Und doch, aus welch sonderbarer Verirrung mag er es gerade vermeiden, die russischen Schriftsteller, die er gut kennt, zu beurteilen, während er es sich angelegen sein läßt, fremde Dichter abzuurteilen, deren Wesensart von der seinen grundverschieden ist, und in deren Büchern er nur mit überlegener Nachlässigkeit blättert!165
Sein unbekümmertes Selbstvertrauen wächst noch mit dem Alter. Schließlich kommt er so weit, ein Buch zu schreiben, um zu beweisen, daß Shakespeare „kein Künstler†war.
„Er konnte weiß Gott was gewesen sein, aber ein Künstler war er nicht!â€166
Diese Sicherheit muß man bewundern. Tolstoischwankt nicht. Er untersucht nichts. Sein ist die Wahrheit. Er sagt ohne weiteres:
„Die Neunte Symphonie ist ein Werk, das die Menschen entzweit.â€
Oder:
„Außer der berühmten Air für Violine von Bach, dem Nocturno in Es-Dur von Chopin und etwa zehn ausgewählten Stücken von Haydn, Mozart, Weber, Beethoven und Chopin, und selbst diesen nicht ganz, kann alles übrige zurückgewiesen und mißachtet werden als eine Kunst, die die Menschen entzweit.â€
Oder:
„Ich werde beweisen, daß Shakespeare selbst nicht als Schriftsteller vierter Ordnung betrachtet werden kann. Und als Charakterzeichner ist er gleich Null.â€
Daß die übrige Menschheit anderer Ansicht ist, kann ihn nicht beirren; im Gegenteil.
„Meine Meinungâ€, schreibt er stolz, „weicht vollständig von der ab, die sich über Shakespeare in der ganzen europäischen Welt gebildet hat.â€
In seiner Angst vor der Lüge wittert er sie überall; und je mehr eine Idee allgemein verbreitet ist, um so mehr sträubt er sich gegen sie; er mißtraut ihr, er vermutet in ihr, wie er über den Ruhm Shakespeares urteilt, „einen jener seuchenartig auftretenden Einflüsse, denen die Menschen immer unterliegen. Wie die Kreuzzüge des Mittelalters, der Hexenglaube, dasSuchen nach dem Stein der Weisen, die Tulpennarrheit. Die Menschen sehen erst die Verrücktheit dieser Einflüsse, wenn sie sich von ihnen freigemacht haben. Mit der Entwicklung der Presse sind diese Seuchen ganz außerordentlich geworden.†— Und als Typus nennt er die allerletzte dieser ansteckenden Krankheiten, die Dreyfusaffäre, von der er, der Feind aller Ungerechtigkeiten, der Verteidiger aller Unterdrückten, mit einer geradezu verächtlichen Gleichgültigkeit spricht167. Ein gar bezeichnendes Beispiel dafür, wohin ihn seine Verachtung der Lüge und jene instinktive Abneigung gegen die „moralischen Seuchenâ€, deren er sich selbst beschuldigt, ohne sie bekämpfen zu können, führen konnte. Eine Umkehrung menschlicher Tugenden, eine unbegreifliche Verblendung führt diesen Kenner der Seelen, diesen Erwecker der leidenschaftlichen Kräfte dazu, den „König Lear†als „albernes Werk†und die stolze Cordelia als „Geschöpf ohne jeden Charakter†zu kennzeichnen168.
Man beachte, daß er sehr wohl gewisse tatsächliche Fehler bei Shakespeare sieht, die wir einzugestehen nicht aufrichtig genug sind: so die gekünstelte Art der dichterischen Sprache, die unterschiedslos allen Personen verliehen wird, die Rhetorik, gleichgültig ob es sich um Leidenschaft, Heldentum oder die einfachsten Vorkommnisse handelt. Und ich begreife vollkommen, daß ein Tolstoi, der von allen Schriftstellernam wenigsten Literat war, keine Neigung verspürte zu der Kunst dessen, der der genialste unter den Literaten gewesen ist. Aber weshalb seine Zeit verlieren, mit Reden über das, was man nicht zu verstehen vermag, und welchen Wert können Urteile über eine Welt haben, die uns verschlossen bleibt?
Keinen Wert, wenn wir darin den Schlüssel zu diesen fremden Welten suchen. Einen unschätzbaren Wert, wenn wir von ihnen den Schlüssel zur Kunst Tolstois fordern. Von einem schöpferischen Genie verlangt man keine kritische Objektivität. Wenn ein Wagner, ein Tolstoi von Beethoven oder von Shakespeare sprechen, so sprechen sie nicht von Beethoven oder von Shakespeare, sondern von sich selbst: sie stellen ihr Ideal auf. Sie bemühen sich nicht einmal, uns darüber zu täuschen. Um Shakespeare zu beurteilen, versucht Tolstoi nicht, sich „objektiv†zu geben. Vielmehr macht er Shakespeare seine objektive Kunst zum Vorwurf. Der Maler von „Krieg und Friedenâ€, der Meister der unpersönlichen Kunst, kann gar nicht genug Verachtung aufbringen für jene deutschen Kritiker, die im Anschluß an Goethe „Shakespeare erfanden†und „die Theorie, daß die Kunst objektiv sein muß, das heißt, daß sie die Menschen ungeachtet jedes sittlichen Wertes darstellen muß, — was die Verneinung des religiösen Wesens der Kunst bedeutetâ€.
So verkündet Tolstoi seine künstlerischen Urteile voneiner hohen Glaubenswarte herab. In seinen Kritiken darf man keinen persönlichen Hintergedanken suchen. Er stellt sich nicht als Beispiel hin; er ist ebenso unerbittlich gegen seine Werke, wie gegen die der anderen169. Was will er also, und was bedeutet für die Kunst das religiöse Ideal, das er aufstellt?
Dieses Ideal ist wundervoll. Das Wort „religiöse Kunst†kann leicht über den Umfang des Begriffes täuschen. Weit davon entfernt, die Kunst einzuengen, erweitert Tolstoi sie vielmehr. „Die Kunstâ€, sagt er, „ist überall.â€
„Die Kunst durchdringt unser ganzes Leben; was wir Kunst nennen, Theater, Konzerte, Bücher und Ausstellungen, das ist nur der kleinste Teil davon. Unser Leben ist erfüllt von künstlerischen Offenbarungen aller Arten, von den Kinderspielen an bis zu den religiösen Gebräuchen. Die Kunst und die Rede sind die beiden Organe des menschlichen Fortschrittes. Die eine verbindet die Herzen und die andere die Gedanken. Wenn eine von beiden verfälscht ist, so ist die Gesellschaft krank. Die Kunst von heute ist verfälscht.â€
Seit der Renaissance kann man nicht mehr von der Kunst der christlichen Nationen sprechen. Die Klassen haben sich gespalten. Die Reichen, die Bevorzugten haben sich angemaßt, das Monopol auf die Kunst für sich in Anspruch zu nehmen; und ihr Vergnügen haben sie zum Kriterium der Schönheit gemacht. Indem sichdie Kunst von den Armen entfernte, ist sie selbst verarmt.
„Die Gefühle, welche die bewegen, die nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten, sind weit weniger mannigfaltig als die Gefühle der Arbeitenden. Nur deren drei beherrschen unsere heutige Gesellschaft: der Hochmut, die Sinnlichkeit und der Lebensüberdruß. Diese drei Gefühle und ihre Verästelungen bilden fast ausschließlich den Gegenstand der Kunst der Reichen.â€
Tolstoi beim Tee mit den Bauern im Jahre 1909
Sie verseucht die Welt, sie verdirbt das Volk, sie begünstigt den sexuellen Niedergang, sie ist das schlimmste Hindernis für die Verwirklichung menschlichen Glückes geworden. Sie ist außerdem ohne wirkliche Schönheit, ohne Natürlichkeit, ohne Aufrichtigkeit, — eine gezierte, gemachte Gehirnkunst.
Dieser Ästhetenlüge, diesem Zeitvertreib der Reichen gegenüber wollen wir die lebendige Kunst aufrichten, die menschliche Kunst, die die Menschen aller Klassen und aller Nationen eint. Die Vergangenheit liefert uns dafür ruhmreiche Vorbilder.
„Immer hat die Mehrheit der Menschen das, was wir als erhabenste Kunst ansehen, verstanden und geliebt: die Schöpfungsgeschichte, die Gleichnisse des Evangeliums, die Legenden, die Märchen, die Volkslieder.â€
Die größte Kunst ist jene, die das religiöse Gewissen der Zeit widerspiegelt. Darunter darf man aber nicht eine Lehre der Kirche verstehen. „Jede Gemeinschafthat einen religiösen Lebensbegriff: nämlich das Ideal vom größten Glück, das diese Gemeinschaft erstrebt.†Alle haben dafür ein mehr oder weniger klares Gefühl; einige Vorkämpfer bringen es deutlich zum Ausdruck.
„Ein religiöses Gewissen besteht immer. Es ist das Bett, in dem der Strom dahinfließt.â€
Das religiöse Gewissen unserer Zeit ist das Streben nach einem Glück, das durch die Verbrüderung der Menschen verwirklicht wird. Es gibt keine wahre Kunst außer der, die auf dieses Ziel hinarbeitet. Die höchststehende Kunst erreicht dies unmittelbar durch die Macht der Liebe. Aber es gibt noch eine andere, die bei derselben Aufgabe mitwirkt, indem sie alles, was sich der Verbrüderung entgegenstellt, mit den Waffen der Entrüstung und der Verachtung bekämpft. Dahin gehören die Romane von Dickens und Dostojewski, „Die Elenden†von Victor Hugo, die Bilder von Millet. Selbst ohne diese Höhen zu erreichen, bringt jede Kunst, die das tägliche Leben mitfühlend und wahr darstellt, die Menschen einander näher, z. B. der „Don Quichotte†und die Theaterstücke von Molière. Es ist richtig, daß die letztere Kunstgattung gewöhnlich an ihrem zu peinlich genauen Realismus und an Erfindungsarmut leidet, „wenn man sie mit den alten Vorbildern, z. B. der erhabenen Josephsgeschichte, vergleichtâ€. Die übertriebene Genauigkeit in der Wiedergabe der Einzelheitenschadet den Werken, und sie können deshalb nicht Allgemeingut werden.
„Die modernen Werke werden durch einen Realismus verdorben, den man richtiger Kunstprovinzialismus nennen sollte.â€
So verdammt Tolstoi ohne Zögern die Grundzüge seines eigenen Schaffens. Was liegt ihm daran, sich ganz für die Zukunft einzusetzen — auf die Gefahr hin, daß von ihm selbst nichts mehr übrigbleibt?
„Die künftige Kunst wird nicht die gegenwärtige fortsetzen, sie wird sich auf anderen Grundlagen aufbauen. Sie wird nicht mehr Eigentum einer einzelnen Klasse sein. Die Kunst ist kein Geschäft, sie ist der Ausdruck echten Empfindens. Der Künstler kann nur dann echt empfinden, wenn er sich nicht absondert, wenn er das natürliche Leben eines Menschen führt. Deshalb ist auch ein in gesicherten Verhältnissen Lebender zum Schaffen am schlechtesten in der Lage.â€
In Zukunft „werden alle begabten Menschen Künstler sein könnenâ€. Die künstlerische Betätigung wird jedem zugänglich sein „dadurch, daß man in den Volksschulen den Unterricht in Musik und Malerei einführt, der jedem Kind gleichzeitig mit den ersten grammatischen Grundbegriffen erteilt wirdâ€. Außerdem wird die Kunst kein so kompliziertes Verfahren mehr notwendig machen wie heute; sie wird sich der Einfachheit, der Klarheit und der Bündigkeit nähern, die das Merkmal der klassischen unverbildeten Kunst, der Kunst Homers, sind170. Wie schön wird es sein, allgemein gültige Gefühle mit reinen Linien in diese Kunst zu übertragen! Eine Erzählung oder ein Lied für Millionen von Menschen verfassen, ein Bild für sie zeichnen, ist viel wichtiger — und schwieriger —, als einen Roman oder eine Symphonie schreiben. Es ist ein ungeheuer großes und fast unbetretenes Gebiet. Dank solchen Werken werden die Menschen das Glück brüderlicher Vereinigung kennenlernen.
„Die Kunst muß die Gewalt unterdrücken, und nur sie kann es. Ihre Sendung ist, das Reich Gottes erstehen zu lassen, will sagen das Reich der Liebe.â€171
Wer von uns möchte sich nicht diese hochherzigen Worte zu eigen machen? Und wer sieht nicht, bei aller Phantastik und Naivität, das Lebendige und Fruchtbringende in Tolstois Gedanken! Ja, unsere Kunst als Ganzes ist nur der Ausdruck einer Klasse, die sich wiederum von einer Nation zur anderen in kleine, einander feindliche Stämme scheidet. In Europa gibt es nicht einen Künstler, der die Vereinigung der Parteien und Rassen verwirklicht. Der universellste in unserer Zeit war gerade Tolstoi selbst. In ihm haben wir Menschen aller Völker und aller Klassen einander geliebt. Und wer, wie wir, die hehre Freude dieser großen Liebe gekostet hat, wird sich nicht mehr mit den kümmerlichen Abfällen von der großen Menschenseele begnügen können, die uns die Kunst der europäischen Literaturkreise darbietet.
Die schönste Theorie hat erst Wert durch die Werke, in denen sie sich erfüllt. Bei Tolstoi sind Theorie und Schaffen, wie Glauben und Handeln, stets im Einklang. Zur selben Zeit, da er an seiner „Kritik der Kunst†arbeitete, gab er Musterbeispiele der neuen Kunst, wie er sie wollte, — der zwei Kunstformen, der einen erhabeneren und der anderen weniger reinen, aber beide „religiös†im menschlichsten Sinn, — der einen, die an der Einigung der Menschen durch Liebe arbeitet, und der anderen, welche die der Liebe feindliche Welt bekämpft. Er schrieb folgende Meisterwerke: „Der Tod des Iwan Iljitsch†(1884-1886), „Volkserzählungen†(1881 bis 1886), „Die Macht der Finsternis†(1886), „Die Kreuzersonate†(1889) und „Der Herr und sein Knecht†(1895)172. Als Gipfel und zugleich Grenzstein dieser künstlerischen Periode ragt wie ein Dom mit zwei Türmen, deren einer die ewige Liebe, deren anderer den Haß der Welt versinnbildlicht, die „Auferstehung†(1899) empor.
Alle diese Werke unterscheiden sich von den vorhergehenden durch neue künstlerische Ansichten. Tolstoi hatte nicht nur seine Meinung über den Gegenstand der Kunst, sondern auch über ihre Form geändert. Beim Lesen von „Was ist Kunst?†oder dem Buch über Shakespeare ist man erstaunt über die Richtlinien, die er für den Geschmack und die Ausdrucksweise gibt. Die meisten stehen in Widerspruch zu seinen früheren größeren Werken. „Klarheit, Einfachheit, Bündigkeit†lesenwir in „Was ist Kunst?â€. Mißachtung der stofflichen Wirkung. Verdammung des kleinlichen Realismus. — Und im „Shakespeareâ€: das ganz klassische Ideal von Vollkommenheit und Maß. „Ohne Gefühl für Maß kann kein Künstler bestehen.†— Und wenn auch der alte Mann seine geniale Art zu analysieren und sein angeborenes Ungestüm, die sich in mancher Hinsicht sogar noch mehr als früher offenbaren, gänzlich verleugnet, so hat sich doch seine Kunst wesentlich verändert durch die kräftiger betonte Klarheit der Zeichnung, durch die psychologische Straffung, durch die Geschlossenheit des inneren Dramas, das in sich selbst zusammengezogen ist wie ein zum Losspringen bereites Raubtier173, durch das allumfassende Gefühl, das von flüchtigen Einzelheiten eines lokal gefärbten Realismus befreit ist, und endlich durch die bilderreiche, saftstrotzende Sprache, die Erdgeruch ausströmt.
Seine Liebe zum Volk hatte ihn seit langem an der Schönheit der volkstümlichen Sprache Geschmack finden lassen. Als Kind war er mit Geschichten umherziehender Erzähler eingelullt worden. Als reifem Mann und berühmtem Schriftsteller bereitete es ihm einen künstlerischen Genuß, mit seinen Bauern zu plaudern.
„Von diesen Leutenâ€, sagte er später zu Paul Boyer, „kann man nur lernen. Als ich früher mit ihnen oder mit jenen Wanderburschen, die, den Rucksack auf der Schulter, unser Land durchziehen, plauderte, schriebich mir sorgfältig diejenigen ihrer Ausdrücke auf, die ich zum erstenmal hörte, gute, gediegene, altrussische Ausdrücke, die oft aus unserer modernen literarischen Sprache verschwunden sind... Ja, der Geist der Sprache ist in diesen Menschen lebendig...â€
Er mußte umso empfänglicher dafür sein, als sein Geist nicht von Literatur beschwert war174. Dadurch, daß er fern von Städten unter Bauern lebte, hatte er sich ein wenig die Denkart des Volkes angeeignet. Er hatte von ihnen die langsame Redeweise, die klügelnde Überlegung, die Schritt um Schritt geht, um dann mit plötzlichem Ruck Halt zu machen, die Neigung, einen Gedanken, den man für unbedingt richtig hält, unendlich oft, ohne sich beirren zu lassen, mit denselben Worten zu wiederholen.
Aber das waren eher die Mängel als die Vorzüge. Erst mit der Zeit bekam er das richtige Verständnis für den verborgenen Sinn der Volkssprache, ihre Bildhaftigkeit, ihre poetische Derbheit, ihre Fülle legendärer Weisheit. Mit „Krieg und Frieden†hatte er sich zum erstenmal ihrem Einfluß unterworfen. Im März 1872 schrieb er an Strakow:
„Ich habe meine Rede- und Schreibweise geändert. Die Volkssprache hat Töne, um all das auszudrücken, was ein Dichter zu sagen hat, und ich liebe sie sehr. Sie ist der beste dichterische Gradmesser. Will man etwas zu stark, übertrieben oder verkehrt ausdrücken, so erträgt es die Sprache nicht. Unsere literarische Sprache dagegen hat kein Knochengerüst, man kann sie nach jeder Richtung hin- und herzerren, und es sieht immer noch alles nach Literatur aus.â€175
Das Volk war ihm nicht nur für seine Ausdrucksweise vorbildlich, er verdankte ihm auch mancherlei dichterische Eingebungen. Im Jahre 1877 kam ein Bylinenerzähler nach Jasnaja Poljana, und Tolstoi schrieb etliche seiner Geschichten auf. Unter anderen die Legende: „Wovon die Menschen leben†und „Drei Greiseâ€, die, wie man weiß, zwei der schönsten Geschichten in den „Volkserzählungen†bilden, die Tolstoi einige Jahre später veröffentlichte176.
Diese „Volkserzählungen†sind ein in der modernen Kunst einzigartiges Werk. Ein über aller Kunst stehendes Werk; denn wer denkt, wenn er es liest, an Literatur? Der Geist des Evangeliums, die reine Liebe aller Menschenbrüder eint sich mit der lächelnden Einfalt der Volksweisheit. Einfachheit, Klarheit, unaussprechliche Herzensgüte — und jenes übernatürliche Licht, das für Augenblicke das Bild so natürlich überflutet, umgibt die im Mittelpunkt der Handlung stehende Gestalt des alten Jelissej177mit einem Heiligenschein, oder schwebt durch die Bude des Schusters Martin, der durch seine Fensterluke zu ebener Erde die Füße der Leute vorübermarschieren sieht, und den der Herr besucht in Gestalt der Armen, denen der gute Schuhflicker schongeholfen hat178. Oft mischt sich in diesen Erzählungen den frommen Gleichnissen ein gewisser Duft von orientalischen Märchen bei, von den Märchen aus „Tausend und eine Nachtâ€, die Tolstoi seit seiner Kinderzeit liebte179. Manchmal auch trübt sich das phantastische Licht und gibt einer der Erzählungen eine unheimliche Größe. So z. B. der Geschichte vom Muschik Pachom180, dem Mann, der sich zu Tode rennt, um möglichst viel Land zu bekommen, so viel Land, als er in einem Tage durchlaufen kann, und der tot zusammenbricht, als er am Ziel anlangt.
„Auf dem Hügel saß der Dorfälteste am Boden und sah ihn laufen und er hielt sich mit beiden Händen den Bauch vor Lachen. Und Pachom stürzte. — ‚Ah! Bravo! du Schelm, du hast viel Land ergattert.’ Der Älteste stand auf, schmiß Pachoms Knecht eine Schaufel hin mit den Worten: ‚Da, scharr ihn ein.’ Der Knecht blieb allein zurück. Er schaufelte ein Grab für Pachom, so lang, wie dieser vom Kopf bis zu den Füßen maß, genau drei Arschin — und dann begrub er ihn.â€
Fast alle diese Geschichten enthalten unter ihrer dichterischen Hülle dieselbe religiöse Moral des Verzichtes und der Vergebung:
„Bittet für die, so euch beleidigen.â€
„Widerstrebet nicht dem Bösen.â€
„Die Rache ist mein, spricht der Herr.â€
Und überall und immer als Höchstes die Liebe.
Tolstoi in seinem Arbeitszimmer
Tolstoi, der den Grund zu einer Kunst für alle Menschen legen wollte, hat beim ersten Versuch etwas Universelles geschaffen. Das Werk hat in der ganzen Welt einen bleibenden Erfolg erzielt; denn es ist frei von allen vergänglichen Kunstbegriffen; es hat Ewigkeitswert.
„Die Macht der Finsternis†erhebt sich nicht bis zu dieser erhabenen Herzenseinfalt; sie macht gar keinen Anspruch darauf: es ist die andere Schneide des Schwertes. Auf der einen Seite der Traum von der göttlichen Liebe, auf der anderen die furchtbare Wirklichkeit. Beim Lesen dieses Dramas kann man beurteilen, ob Tolstoi bei seinem Glauben und seiner Liebe für das Volk es je vermocht hätte, das Volk auf Kosten der Wahrheit zu idealisieren!
So unbeholfen er auch in den meisten seiner dramatischen Versuche gewesen ist181, hier gelangt Tolstoi zur Meisterschaft. Die Charaktere und die Handlung sind mit leichter Sicherheit hingestellt; der „schöne Nikitaâ€, Anisja, in ihrer ungestümen sinnlichen Leidenschaft, Mutter Matrona, die mit zynischer Gutmütigkeit dem Ehebruch ihres Sohnes Vorschub leistet, und der alte stotternde Akim, — der verkörperte Gott in einem armseligen Leib. — Dann das Sinken Nikitas, der aus Schwäche, ohne schlecht zu sein, sich in Sünde verstrickt und immer tiefer in Verbrechen gerät, trotzdem er sich mit Gewalt dagegen wehrt; seine Mutter und seine Frau ziehen ihn hinein...
„Die Männer sind nicht viel wert. Aber erst die Weiber! Sie sind wie die wilden Tiere! Nichts fürchten sie... Solche Weibsbilder gibt's hierzulande viele Millionen, und alle sind sie blind wie die Maulwürfe, — wissen nicht das geringste, nicht das geringste!... Der Mann, der lernt immerhin etwas in der Schenke oder schließlich im Gefängnis oder in der Kaserne. Aber so'n Weibsbild! Sie sieht nichts und hört nichts. So lebt sie und so stirbt sie... Die Weiber sind wie blinde junge Hunde, die mit der Nase im Straßendreck hinkriechen. Das einzige, was sie können, sind ihre dummen Lieder: La la la-la la la... Aber was La la la, das wissen sie nicht.â€182
Dann die schreckliche Szene von der Ermordung des neugeborenen Kindes. Nikita will nicht töten. Anisja, die seinetwegen ihren Gatten umgebracht hat und deren Nerven seitdem von dem Verbrechen gefoltert werden, wird wild, rasend, droht ihn preiszugeben und schreit:
„Jetzt bin ich wenigstens nicht mehr allein. Jetzt soll er auch ein Mörder sein. Er soll wissen, wie's tut!â€
Nikita zerdrückt das Kind zwischen zwei Brettern. Mitten in seinem Verbrechen flieht er entsetzt und droht, Anisja und seine Mutter zu töten. Schluchzend fleht er:
„Mütterchen, ich kann nicht mehr!â€
Er glaubt, das zermalmte Kind schreien zu hören.
„Wohin soll ich mich retten?...â€
Das ist eine shakespearesche Szene. — Weniger wild, aber noch quälender ist die Variante des 4. Aktes, das Zwiegespräch zwischen dem kleinen Mädchen und dem alten Knecht, die nachts allein im alten Haus das Verbrechen, das draußen begangen wird, halb hören und halb erraten.
Schließlich die freiwillige Sühne. Nikita kommt mit seinem Vater, dem alten Akim, ohne Schuhe zu einer Hochzeitsfeier. Er kniet nieder, bittet jeden um Verzeihung und klagt sich aller Verbrechen an. Der alte Akim ermutigt ihn, betrachtet ihn mit verzückt schmerzlichem Lächeln und sagt:
„Das ist Gottes Werk!â€
Was dem Drama einen besonderen Reiz künstlerischer Art gibt, ist seine Bauernsprache.
„Ich habe das ganze Vokabularium, das ich mir in Notizbüchern angelegt hatte, ausgeräubert, um ‚Die Macht der Finsternis’ zu schreibenâ€, äußerte Tolstoi Paul Boyer gegenüber.
Diese verblüffenden Bilder, die der lyrischen und zum Spott neigenden russischen Volksseele entstammen, sind von einem Schwung und einer Kraft, neben denen alle literarischen Bilder blaß erscheinen. Tolstoi ergötzt sich an ihnen; man fühlt, daß der Dichter Tolstoi beim Schreiben seines Dramas ein Vergnügendarin findet, diese Ausdrücke und Gedanken aufzuzeichnen, deren Komik ihm keineswegs entgeht183, während der Apostel Tolstoi in Betrübnis gerät über die Finsternis der Seele.
Während Tolstoi das Volk beobachtete und sein Dunkel durch einen Lichtstrahl von oben etwas zu erhellen versuchte, widmete er dem noch weit tieferen Dunkel der reichen und bürgerlichen Klassen zwei Romane voll tragödienhafter Handlung. Man fühlt, daß zu jener Zeit die dramatische Form sein künstlerisches Denken beherrscht. „Der Tod des Iwan Iljitsch†und die „Kreuzersonate†sind alle beide richtige, auf das knappste Maß zusammengedrängte Seelendramen; und in der „Kreuzersonate†erzählt der Held des Dramas selbst das Drama.
„Der Tod des Iwan Iljitsch†(1884-86) ist eines der russischen Werke, die das französische Publikum ganz besonders erschüttert haben. Ich erwähnte zu Beginn dieses Buches, daß ich Zeuge davon gewesen bin, wie bürgerliche Leser aus der französischen Provinz, die sonst der Kunst ganz fremd gegenüberzustehen schienen, von dieser Geschichte tief ergriffen waren. Das dürfte sich dadurch erklären, daß das Werk mit verblüffender Echtheit einen Typus jener Durchschnittsmenschen hinstellt, jener gewissenhaften Beamten, die ohne Religion, bar jeden Ideals und beinahe jeden Gedankens, in ihrer Amtstätigkeit, in ihrem einförmigen Alltagsleben aufgehen bis zur Todesstunde, wo sie mit Entsetzen bemerken, daß sie gar nicht gelebt haben. Iwan Iljitsch ist der Vertreter jener europäischen Bürgerklasse um das Jahr 1880, in der man Zola liest, sich die Sarah Bernhardt ansieht und, ohne irgendeinen Glauben zu haben, nicht einmal ungläubig ist: denn man gibt sich gar nicht die Mühe zu glauben oder nicht zu glauben, — man denkt einfach nicht darüber nach.
Mit der Unerbittlichkeit einer bald strengen, bald fast komischen Anklage gegen die Welt und vornehmlich gegen die Ehe eröffnet „Der Tod des Iwan Iljitsch†eine Reihe neuer Werke; er ist Vorbote der noch krasseren Bilder der „Kreuzersonate†und der „Auferstehungâ€. Beklagenswerte und lächerliche Leere dieses Lebens (wie es deren tausende und abertausende gibt) mit seinem unnatürlichen Ehrgeiz, seinen armseligen Befriedigungen der Eigenliebe, die dabei kaum Vergnügen machen, — „immerhin noch mehr als den Abend allein mit seiner Frau zu verbringen†—, beruflichem Ärger, verbitternden Zurücksetzungen und dem einzigen Glück: einer Whistpartie. Und dieses lächerliche Leben büßt Iwan aus einer noch lächerlicheren Veranlassung ein: eines Tages, als er einen Vorhang am Salonfenster anbringen will, stürzt er von der Leiter. Lügnerisches Leben. Lügnerische Krankheit. Lügnerischer Arzt,der, selbst gesund, nur an sich selber denkt. Lügnerische Familie, die es vor der Krankheit ekelt. Lügnerische Frau, die Hingebung heuchelt und sich dabei schon zurechtlegt, wie sie nach dem Tod ihres Mannes leben wird. Lüge ringsum, der sich allein die Wahrheit eines mitfühlenden Dieners entgegenstellt, der dem Sterbenden seinen Zustand nicht zu verbergen sucht und ihm brüderlich hilft. Iwan Iljitsch beweint „voll unendlichen Mitleids mit sich selbst†seine Vereinsamung und die Selbstsucht der Menschen. Er leidet entsetzlich bis zu dem Tage, an dem er merkt, daß sein vergangenes Leben eine Lüge war und daß er diese Lüge wieder gutmachen kann. Allsobald wird alles licht, — eine Stunde vor seinem Tod. Er denkt nicht mehr an sich, er denkt an die Seinen, er erbarmt sich ihrer; ermußsterben und sie von seiner Person befreien.
„Wo bist du, Schmerz? — Da ist er wieder... Recht so, dauere nur fort. — Und der Tod? Wo ist der?... — Er fand ihn nicht mehr. An Stelle des Todes sah er nur einen Lichtstrahl. — ‚Es ist zu Ende’, sagte irgendwer. — Er hörte diese Worte und wiederholte sie für sich. — ‚Es gibt keinen Tod mehr’, sagte er sich.â€
Selbst dieser Lichtstrahl zeigt sich in der „Kreuzersonate†nicht mehr. Es ist ein Werk voller Wildheit; es stürzt sich auf die Gesellschaft wie ein verwundetes Tier, das sich für ausgestandene Qualen rächt. Man darfnicht vergessen, daß es sich um das Bekenntnis eines Menschentieres handelt, das getötet hat und von dem Giftstoff der Eifersucht verseucht ist. Tolstoi verbirgt sich hinter seiner Gestalt. Und zweifellos findet man seine Ideen, nur im Ton verstärkt, in seinen wütenden Schmähungen gegen die allgemeine Heuchelei wieder: die Heuchelei in der Frauenerziehung, in der Liebe, in der Ehe — jener „häuslichen Prostitution†—, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, unter den Ärzten, — „jenen Anstiftern zu Verbrechenâ€. Aber sein Held reizt ihn zu einer Brutalität in der Ausdrucksweise, zu einem Ungestüm fleischlicher Bilder, — allen Begierden eines ausschweifenden Körpers, — und als Gegenwirkung die ganze Wut der Askese, die haßerfüllte Furcht vor den Leidenschaften, die Verfluchung des Lebens, gleich der eines mittelalterlichen Mönches, den die Sinnlichkeit verzehrt. Als er sein Buch geschrieben hatte, war Tolstoi selbst erschreckt darüber:
„Ich hatte keineswegs erwartet,†sagt er in seinem Nachwort zur „Kreuzersonateâ€, „daß eine unerbittliche Logik mich beim Schreiben dieses Werkes dahin führen würde, wohin ich gelangt bin. Meine eigenen Schlußfolgerungen haben mich zuerst erschreckt, und ich war versucht, sie zu verwerfen; aber es ist mir unmöglich gewesen, die Stimme der Vernunft und des Gewissens zu überhören.â€
Tatsächlich nahm er in etwas gemilderter Form diewilden Schreie des Mörders Posdnischeff gegen Liebe und Ehe wieder auf:
„Wer die Frau — vor allem seine Frau — mit Sinnlichkeit ansieht, bricht schon die Ehe mit ihr.
Wenn die Leidenschaften geschwunden sein werden, dann wird die Menschheit keine Existenzberechtigung mehr haben; dann hat sie das Gesetz erfüllt. Die Vereinigung der Wesen wird vollkommen sein.â€