XXXII

Letzte Rose, wie magst du so einsam hier blühn?Deine freundlichen Schwestern sind längst, schon längst dahin,Keine Blü — üte . . . .

Letzte Rose, wie magst du so einsam hier blühn?

Deine freundlichen Schwestern sind längst, schon längst dahin,

Keine Blü — üte . . . .

Sie saßen alle im Kreise und lauschten.

„Weiter!“

Und ich lies die Finger auf der Flöte tanzen und blies:

Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht,Pflücket die Rose, eh’ sie verblüht . . .

Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht,

Pflücket die Rose, eh’ sie verblüht . . .

Ich schloß mit einem wunderbaren Triller und hiermit war mein Repertoir erschöpft.

„Wie schön er spielt!“

„Du wirst doch nicht schon aufhören? Vorwärts!“

„Ihr wollt also noch mehr hören? Gut.“

Ich klopfte die Flöte aus und setzte sie wieder an den Mund.

Und abermals sang meine kleine Flöte:

Letzte Rose, wie magst du so einsam hier blühn —

Letzte Rose, wie magst du so einsam hier blühn —

Und hierauf:

Freut euch des Lebens, solange noch das Lämpchen glüht — —

Freut euch des Lebens, solange noch das Lämpchen glüht — —

Wiederum schloß ich mit einem wunderbaren Triller, den ich leise ausklingen ließ, und das Konzert war zu Ende.

Sie saßen im Kreise und nickten.

„Schön hast du gespielt, heute!“

Nur Yann sagte nichts.

Der Himmel wurde tiefblau und die Nacht kam. Alle verkrochen sich, nur Mathieu hockte wie ein regungsloser Schatten am Steuer. Ich lag auf dem Verdeck, das sich voll Wärme gesogen hatte, die Arme unter dem Kopf verschränkt und lauschte auf all die kleinen Geräusche, die am Boot pickten und klopften. Stiff im Süden blinkte und Creach stach mit gleißenden Dolchen nach uns. Dort schlief Yvonne. Im Norden kroch ein grüner Funke: ein Dampfer, der in den Kanal hineinfuhr. Haarscharf zeichneten sich die Taue über mir vom Himmel ab. Die Sterneblitzten und flimmerten. Wie ein Regen fällt — dachte ich.

Da kam der Mond herauf. Glühend rot und übermäßig groß stand er am Horizont und all die kleinen Wellen schauerten ihm entgegen. Er stieg, erhaben und würdig, ohne jedoch Scheu oder Furcht einzuflößen. Er wurde zitronengelb, und als er höher stieg, silberweiß und gleißend. Die Taue warfen haarscharfe Schatten über das Deck, die sich zuweilen leicht schwangen und ineinander flossen. Mit dem Mond war eine kleine, schmale Wolke heraufgekommen. Sie hatte sich über den ganzen Himmel ausgebreitet und schimmerte weiß wie frischgefallener lockerer Schnee. Aber so schnell wie Schnee schmilzt, so schnell zerging sie und im Augenblick war der Himmel wieder klar. Dann erschien am Himmelsrand unter dem Mond ein Rudel kleiner Wolken, wie die Kundschafter eines Heeres, die kamen um auszulugen. Sie schwenkten und verschwanden wieder, das Heer kam nicht herauf. Überall züngelten kleine Rauchwölkchen auf den kleinen Wellen, als ob das Meer zu brennen anfinge. Sie wurden dichter und auf dem Meer schwamm eine Insel von Dunst, wie auf einer Wiese im Herbst. Und plötzlich erhob sich die Nebelinsel und schwebte langsam in die Höhe: das — Meer hatte eine Wolke geboren.

„Wir werden Nebel bekommen,“ sagte Mathieu, wie eine Stimme aus dem Meer.

Und wieder lag ich und gab acht auf all die merkwürdigen Dinge, die ringsum vor sich gingen.

Das Meer wurde dunstig und grau, als sei der Mond plötzlich untergegangen. Stiffs Feuer in der Ferne sah aus wie ein entzündetes rotes Auge, das sich nur mühsam unter Schmerzen öffnete und augenblicklich wieder schloß. Am Horizont aber huschten fahlschimmernde Lichthiebe, das war Creach.

Ein Schatten tauchte aus der Luke und ich hörte nackte Füße auf dem Deck. Ich schloß die Augen.

„He!“ flüsterte Yann und kauerte sich knackend neben mir nieder.

Ich rührte mich nicht. Ich hatte ja gewußt, daß sein Besuch mir galt.

„He!“ Yann rüttelte mich und ich schlug die Augen auf. Eine Weile sah mich Yann an, dann sagte er: „Reise ab!“

Ich öffnete vor Erstaunen den Mund, ich entgegnete nichts.

„Reise ab!“ wiederholte Yann.

Ich lächelte. Yanns Augen waren wie dunkle glänzende Löcher. Selbst jetzt im Halbdunkel konnte ich bemerken, daß sie blutunterlaufen waren. Kognaknebel strömten aus seinem Mund.

„Yann,“ sagte ich, „du bist verrückt. Gehe schlafen, mein Freund!“

„Daß du es weißt,“ fuhr Yann fort, „mit unserer Freundschaft ist es aus. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun.“

Er sprach die Wahrheit, ich hörte es an seiner Stimme. Ich richtete mich auf.

„Yann?“

Yann knurrte. „Rosseherre hat mir alles gesagt. Gestern nacht. Heute früh war ich bei dir, aber du warst fort. Deshalb kam ich aufs Meer heraus. Ja, sie hat mir gestanden, daß sie bei dir war — in einer schwachen Stunde, ich war in Brest, da kam sie zu dir und klopfte und du kamst heraus. Sie lief davon, aber du holtest sie ein und trugst sie auf den Armen ins Haus.“

Ich erstaunte immer mehr. Meine Gelenke wurden ganz schwach. „Sie hat es dir also gesagt, Yann?“

„Ja, alles. Und ich habe sie geschlagen, bei Gott, furchtbar schlug ich sie. Ich war außer mir. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte sie totgeschlagen. Aber sie gab keinen Laut von sich, deshalb hörte ich auf.“

Pause.

Eine Sternschnuppe glitt über den Himmel. Auch da draußen war nicht alles in Ordnung. Ich dachte nach. Wie sollte ich Rosseherre je verstehen? Sie hattesich Yann ausgeliefert — nur um ihn gegen mich aufzureizen. Aus keinem andern Grund.

„Das ist alles, was ich dir sagen wollte,“ flüsterte Yann von neuem. „Du hast mich betrogen. Einer ist nun zuviel auf der Insel. Reise ab, sage ich dir!“

„Und wenn ich nicht reise?“ fragte ich nach einer Weile.

Yann schwieg. Dann lachte er leise und heiser. „Reise!“ flüsterte er. „Du bist mein Freund gewesen und deshalb sage ich dir: reise! Ich bin toll, hörst du? Reise mit dem nächsten Boot!“

Das war unsere ganze Unterredung. Ich lag und dachte lange nach, über Nacht war alles anders geworden. Ich hatte Yann verloren und wir waren doch so gute Kameraden, wie? Lebe wohl, Yann! Ob ich aber reisen würde oder nicht, das war wohl meine Sache. Da überrieselte es mich kalt. O ja, Yann war ein Bursche, dem man manches zutrauen konnte. Ich lachte leise vor mich hin. Mochte er in Gottes Namen tun, was er wollte. Er sollte sehen, wie er mit diesem Anfall von Eifersucht fertig würde — gute Nacht!

Ich schlief, tief und gesund. Gegen Mitternacht erwachte ich bei einem Pfeifen, das über mich hinging. Es donnerte fern, Blitze irrten am Horizont wie fein verzweigtes Geäder aus Feuer und beleuchtetendie Ränder schwerer Wolkenmassen über uns. Das Segel knatterte wie Salven und wir trieben rasch dahin.

„Nimm dich in acht, daß du nicht über Bord gehst!“ rief Mathieu lachend. Er hatte immer noch Wache.

Wie konnte ich denn über Bord gehen, da ich so nahe an der Reling lag! Es begann zu regnen und ich zog einen Segelfetzen über mich; der Regen floß über mein Gesicht, er war lauwarm. Die Blitze blendeten durch meine Lider hindurch und leuchteten rings durch mein Gehirn. Ich schlief wieder.

Als ich bei einem Gefühl der Übelkeit erwachte, war es Morgen. Der „Kirchturm“ rollte, drückte sich in die Wogen und stieg. Die beiden kleinen Nachen im Schlepptau folgten ihm hastig und mit ängstlichen Sprüngen, wie zwei junge Hunde der Mutter. Das Meer war grau und ein grauer, feiner Regen fegte schräg darüber hin. Wir waren von einem kreisrunden Wall von Rauch eingeschlossen und konnten keine zweihundert Meter weit sehen.

An Deck waren sie geschäftig.

„Wohin fahren wir?“

„Nach England. Es wird schlimme See geben, L’honneur! Trinke deinen Kaffee drunten.“

Wohlan, nach England! Ich kletterte in die Kajütehinab, es gab hier keine Treppe, man mußte einen Klimmzug machen und seine Beine geschickt durch die Luke schwingen. Ich trat auf Fleisch. Das war Yann, der sich auf dem Boden zusammengeringelt hatte und schlief. Poupoul lehnte mit dem Rücken gegen ihn und streckte die Pfoten in die Höhe. Nur Petitjean saß auf der schmalen Holzbank und trank aus dem Blechtopf.

„Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen, der kleine Kapitän!“ flüsterte er, nachdem wir uns guten Morgen gesagt hatten. „Was hat er doch?“ Petitjean schob mir den Blechtopf hin. Ich trank rasch, denn hier unten gefiel es mir nicht.

Die Kajüte war winzig, eine Kiste, in der man nicht aufrecht stehen konnte. In der Ecke stand eine kleine bunte Madonnenstatue und an die Wand war in verschnörkelten Buchstaben gemalt: Dieu protège le Clocher du village et son équipage. Darunter hatte L’honneur geschrieben: Gott beschütze die Trunkenbolde.

Nun, ich hatte genug und turnte an Deck. Ein Dreimaster ritt durch den Dunst, erdrückt von seinen fünfzig schweren Segeln. Er profitierte vom Wind.

Ja, es gab schlimme See. Die raschen Wasserhügel bedeckten sich mit den bekannten weißen Schnüren und die Schaumkronen brachen nicht mehr über, sondernstiegen gezackt in die Höhe und der Wind zerriß sie wie Fahnen. In unseren Seilen tremulierte der Wind in den höchsten Lagen. Die toten Fische rutschten über das triefende Deck und der mousse, blaß und krank, sammelte sie in einen Korb. Dampfer tuteten, heulten und winselten da draußen und zuweilen erschien der trübe Schatten eines Dampfers innerhalb unseres Rauchwalls, um rasch wieder zu verschwinden.

Da geschah etwas ganz Außerordentliches, L’honneur am Steuer wandte sich plötzlich ab und begann zu spucken.

„L’honneur!“ schrien wir alle und lachten laut.

L’honneur wandte uns das grüne Gesicht zu. „Ha! O, Hölle, das ist mir seit sechs Jahren nicht mehr passiert, L’honneur!“

Der Schiffsjunge aber lag flach auf dem Deck, die Arme links und rechts ausgestreckt und bei jeder Bewegung des „Kirchturms“ wackelte sein Lausbubengesicht hin und her. Er sah wie tot aus.

Auch ich hatte Unglück. Eine Schaufel Spritzwasser war ausgerechnet in meine linke Hosentasche gestürzt und hatte mir den Tabak durchnäßt. Also mußte ich hinunter in die Kajüte, Kohlen anfachen, den Tabak trocknen. Yann war eben aufgestanden. Er saß auf der Bank, den Blechtopf in den Händen, und sah mich mit leeren. Augen an.

„Morgen, Yann!“

Yann schwieg.

Dann hörten wir einen großen Dampfer tuten. Er brüllte hinter unserem Rauchwall, der mit uns wanderte, so schnell wir auch fuhren, bald schrumpfte und bald sich weitete. Wir legten die Ohren über die Reling und sprachen kein Wort. Das surrende Tuten kam näher, aber es war unmöglich die Richtung zu bestimmen. Plötzlich aber warf sich Mathieu gegen das Steuer und brüllte: Changez les voiles! Wir heulten zur Antwort und gingen an die Arbeit. Mathieu hatte zuerst den Bug des Dampfers gesehen und wagte es nicht ihn zu kreuzen. Der Dampfer zog vorüber. Er hatte vier braune Schornsteine und vier Maste und ein dreistöckiges langes Verdeckgebäude. Ein Lloyddampfer. Die Sturzseen schlugen über sein Vorderdeck, aber er lag vollkommen ruhig. Die Brücke war mit Segeltuch abgedeckt und keine Seele war an Bord zu sehen. Wie tot sah er aus, nur seine Schornsteine qualmten. Aber horch! Horch doch! — Musik! Wir sahen einander an und lächelten. Diese Lumpen saßen bei der Tafel und die Kapelle konzertierte! Er durchdrang den Rauchwall und verschwand. Wir schnupperten in der Luft. Das war sein Rauch. „L’honneur!“

Gegen fünf Uhr drehte sich der Wind um einigeStriche und raste nun wie ein Orkan daher. Wir aber waren guter Dinge.

Petitjean und Yann lagen am Steuer, die Sturmkappen tief über die nassen, zerzausten Gesichter gezogen und sangen ein bretonisches Lied. Sie brüllten, daß ihnen die Augen aus dem Kopf traten.

Die See sah wenig ermutigend aus. Von allen Seiten stürmte sie gegen uns an. Wir waren verloren in den Wogen wie die Laus im Gesäusel der Blätter.

Ich kauerte mich in einen Winkel, zog die Knie an und blies mit aller Kraft in meine Flöte. Der Sturm riß in meinen Haaren und verbog mir die Nase im Gesicht.

Freut eu—ich des Lebens . . .

Freut eu—ich des Lebens . . .

Meine Finger wurden schwach. „Hehe — die Flöte geht nicht mehr —!“

Und wieder brüllten die Steuerleute.

„Du vielgeliebtes Mädchen am fernen, fernen Strand —“

Ich hörte sie in weiter Ferne, das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich fühlte, wie ich bleicher und bleicher wurde, aber ich biß die Zähne zusammen: ich werde mich nicht ergeben —! Der kalte Schweiß brach mir aus den Schläfen, das Meer floß in einem grauen Strudel zusammen, der steiler und steiler wurde.

Gesichter tauchten aus dem kreisenden Strudel auf, es wimmelte von ekelhaften Fratzen und Larven unter mir im Meer. Hände griffen nach mir. Da erhielt ich einen Schlag in die Magengtube, daß es mir dunkel vor den Augen wurde. Eiserne Finger schraubten sich um meine Schläfen. Aber dann — während mich ein Dutzend Hände an den Haaren festhielt — schob sich ein schleimiger, spinnenbeiniger Finger durch meine Zähne in den Mund, den Schlund hinab, bis zum Magen. O, hoho! Ich schüttelte mich. Da zerrten die Hände an meinen Haaren, daß sie meterlang wurden — ich war steif und kraftlos am ganzen Körper — und die Hände zerrten mich über Bord. Sie rissen mich in die Tiefe und schleiften mich an den Haaren durch das nachtschwarze Meer. Blitzschnell, meilenweit. Plötzlich ließen sie mich fahren und mein Schädel krachte gegen den Grund. Ich rang nach Luft und stieg kreiselnd empor. Sollte es denn kein Ende haben — noch eine Sekunde und ich kann nicht mehr. Da — ich war oben und schöpfte Luft. Ich war immer noch an Bord des „Kirchturms“ und hörte die Steuerleute wieder brüllen.

„Hehe!“ rief mich Mathieu an. „Wie geht es?“

„Vorzüglich,“ schrie ich und sah ihm mit verglasten Augen ins Gesicht.

Am dritten Tage erreichten wir gegen Abend wieder die Insel.

Yann sah mich bedeutungsvoll an, als wir an Land gingen.

„Höre, Yann,“ sagte ich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter, „du mußt dir diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen. Ich reise nicht. Ich reise, wann es mir gefällt.“

„Du reist also nicht? Morgen geht der Kommissionär hinüber.“

„Nein.“

Yann senkte den Nacken. „Du bist ein toter Mann!“ sagte er nach einer Weile. Ganz leise sagte er es.

„Ah, Yann, du wirst schon vernünftiger werden, ich kenne dich ja. Gute Nacht!“

Yann ging ohne mich anzusehen, ohne Gruß.

Der „Kommissionär“ fuhr. Ich sah ihn durch die Bai kreuzen. Ich lachte. Nein, mein Freund, ich habe noch eine Menge vor auf der Insel! Heute ist Mittwoch und Amorik, der Einäugige, hat Dienst.

In der tiefen Stille der Nacht erklang nur ein dumpfer Schritt. Das Meer wusch, aber ich hörte es nicht mehr. Mein Schritt war es.

Ich pochte an ein Fenster.

„Ich bin es, Yvonne. Da bin ich wieder! Ja, wir wurden vom Unwetter verschlagen.“

Ich küßte Yvonnes warmen Hals. Sie preßte meinen Kopf darauf und mein Mund versank darin.

Dann erzählte sie mir flüsternd, daß sie um mich gebangt hatte in diesen Tagen.

Über uns drehte sich die gleißende Windmühle und versprengte Lichtreflexe kreisten glitzernd über den schwarzen Boden. Wir aber standen ganz im Dunkeln. Es fiel! Was ist das? Es klang so weich. Es regnete weiche Geräusche, Flattern.

„Das sind die Vögel!“

O ja, es waren die Vögel, die aus dem Norden kamen und ins Licht rannten.

„Yvonne?“

Selbst im Dunkeln sah ich die Grübchen in Yvonnes Wangen. Sie lächelte.

„Du weißt, was du mir versprochen hast?“

„Ich weiß es.“

„Und du wirst heute herauskommen?“

Yvonne nahm meine Hand in ihre heißen Hände und preßte sie. Sie zitterte.

„Nicht heute,“ flüsterte sie, „nicht heute. Morgen, übermorgen —“

Da fiel etwas Weiches auf meine Schulter. Ein Vogel. Ich erschrak und küßte Yvonne, daß mich die Lippen schmerzten.

„Ich denke an dich, Yvonne,“ flüsterte ich, „ich bin auf dem Meere und denke an dich. Ich kann dich nicht vergessen. Komm, Yvonne!“

Yvonne schüttelte den Kopf. „Übermorgen —“

Das Blut rauschte in meinem Kopf.

„Und übermorgen —?“ sagte ich laut.

„Um Gottes willen, sprich nicht so laut!“

Ich hielt mich am Gesims fest und schwang mich hinauf. Yvonne wich zurück. Ich stand in der finstern Stube.

„Jesus,“ flüsterte Yvonne.

„Wenn du nicht herauskommst —!“ sagte ich und zog sie an mich. Yvonne bebte und küßte mich auf die Wange —

Ich ging. Ich ging über die Heide. Ich nahm die Mütze ab um meinen heißen Kopf zu kühlen.

„Ja, Yvonne,“ sagte ich, „wie lange wolltest du mich noch warten lassen? Wie lange, haha!“

In der Heide tauchten Gruppen von weißen Zelten auf: das waren die bleichen Giebel der Hütten im Schein von Creachs Feuer. Mitten unter ihnen stand ein hohes, spitzes Zelt, die Kirche. Ich ging am Meer entlang, nach Hause.

Das Meer dampfte, es war still und die Welle klopfte in den Felsen. Tock—tock—tock. Ich pfiff vor mich hin. Creachs Lichthiebe jagten Dunstkegel vor sich her. Als ich nahe bei Poupons Schlucht war, begann mein Herz zu pochen, und ich hörte auf zu pfeifen. Es war so still hier und die Welle klopfte eigentümlich. Ich blieb stehen. Creachs Lichthiebe fegten über die Heide und über Poupons Schlucht wallte ein haushohes Gespenst. Das war der Nebel, der aus der Schlucht stieg. Ich wartete bis der Lichtkegel wiederkehrte: immer noch stand das riesengroße Gespenst in der Nacht und winkte mir mit weißen Armen.

Ein Gefühl des Schwindels überfiel mich. Es ging dort turmhoch hinab ins weiße Nichts.

Ich möchte einen Menschen bitten mir zu sagen, weshalb ich gerade in diesem Augenblick und geradean dieser Stelle den Schritt anhielt? Und weshalb mir gerade jetzt der Gedanke durch den Kopf schoß, daß es dort turmhoch hinab ging?

Poupoul zog die Luft ein und schlug kurz an. Stand jemand in der Heide?

„Ruhe, Poupoul!“

Creachs Licht kehrte wieder und beleuchtete den Pfad. Niemand. Nur ein Haufen ausgeschichteter Tang lag am Wege.

Da aber begann Poupoul rasend zu kläffen. Seine Augen sahen grünschillernd zu mir empor.

Ich lachte leise vor mich hin. Vielleicht war — Yann in der Nähe? „Yann, Yann!“ rief ich. „Bist du hier?“ Und ich lachte dazu, um ihm zu zeigen, daß ich keine Angst hätte, im Falle er hier wäre. Aber mein Rücken war eisig kalt, als sei mein Rock hinten aufgeschlitzt.

Ich schritt auf den Tanghaufen am Wege zu: ja, da stand Yann! Wirklich, da stand er —

„Guten Abend, Yann!“ sagte ich. „Was tust du hier so spät in der Nacht, mein Sohn?“

Yann entgegnete nichts, Poupoul hatte ihn nun erkannt und kroch ihm wedelnd um die Füße. Aber Yann regte sich nicht. Er stand und sah mich an. Es waren Yanns Augen und doch waren sie fremd. Sie brannten düster von dummer Wut und bäurischemTrotz. Er rührte sich nicht, er sagte nichts, er stand und sah mich an und seine Augen wurden immer größer.

In diesem Augenblick kam mir Yann höchst lächerlich vor. Wenn er hier auf mich gelauert hatte, weshalb regte er sich nicht? Sollte ich in Poupons Schlucht verschwinden ohne eine Spur im Rasen zu hinterlassen? Yann, Yann, heraus mit dir! Zeige, wer du bist. Du wirst mich ja nicht umsonst bekommen, aber vielleicht billig. Hoho, wie lächerlich er war!

„Wolltest du dir die Pfeife anzünden, Yann?“ sagte ich und lachte ihm ins Gesicht. Sein dummer Trotz und das alberne Anstarren machte mich zornig. War das eine Art mit mir zu verkehren?

Aber Yann regte sich nicht. Seine Augen waren nun wie große glühende Löcher.

„Wenn du die Sprache verloren hast, Yann, dann gute Nacht!“ sagte ich spöttisch um ihn zu reizen. „Ich werde jeden Abend diesen Weg gehen, verstehst du mich, jeden Abend. Ich schwöre es dir. Und jeden Abend werde ich genau an dieser Stelle ein wenig warten. Au revoir et merci, merci!“

Ich ging. Ganz langsam wandte ich Yann den Rücken zu, wartete noch ein wenig und dann ging ich. Aber Yann rührte sich nicht. Ich lachte, immer noch erregt und zornig.

Sollte er in Gottes Namen sehen, wie er aus diesem Wahnsinn herausfand, in den ihn ein kleines Mädchen und der Schnaps hineinjagten. Das war nicht meine Sache. Er ist ein Narr, Poupoul, und wir lassen uns nichts vorschreiben. Die Winterstürme werden über die Insel rasen und wir wollen sie hören. Es wird Schnee und Eis hageln und das wollen wir spüren, hörst du, Kamerad, wir wollen über die Heide gehen, wenn sie gefroren ist. Und unser großes Feuer wird prasseln und uns durch und durch blenden und die großen glitzernden Höhlen in unserer Seele beleuchten, die wir noch nicht kennen. Siehst du, wie wir mit gelben Augen ins Feuer starren und um uns heult der Wind seinen großen Gesang?

Yann, Yann!

Am Morgen fand ich einen Brief unter der Türe. „Hüte dich!“ stand darin.

Yann hatte nicht einmal seine Schrift verstellt. Wie unvorsichtig, wenn man den Brief später bei mir fände? Ich zerriß ihn in kleine Stückchen und streute sie in den Wind. Dann aber begann ich nachzudenken.

Nein, Yann, es ist genug! Du sollst wieder Ruhe haben. Ich will zu Rosseherre gehen und mit ihr reden, und ich will zu dir gehen und deine Versöhnung erbitten.

Yann wird sich ja tot trinken und wir sind trotz alledem Freunde.

Das war — wann war es? Vor drei Tagen. Heute aber ist alles anders. Ich habe nicht mit Rosseherre und Yann gesprochen, vielleicht hätte ich es doch tun sollen.

Schon gestern begann es, aber ich verstand nicht. Wer sollte auch so etwas denken?

Gestern machte ich mich auf den Weg zu Noel um mit ihm wegen eines Bootes zu verhandeln, das er mir zum Kauf angeboten hatte. Ich kam an Jean Louis’ Hütte vorbei. Soll ich hineingehen, dachte ich. Warum? Du hast ja Zeit. Und ich ging nicht hinein.

„Da sind Sie also wegen der belle femme?“ sagte der rote Noel und setzte mir wie gewöhnlich sein Konzert von Schnäpsen vor. „He, Françoise, Antoinette — man muß Poupoul zu Fressen geben! Ihr Hund frißt aus dem Zwetschgensack, haha, schadet nichts. Ein hübsches Boot, die belle femme! Sie haben sich also entschlossen?“

„Ja, ich habe mich entschlossen.“

„Sie wollen es also machen wie die andern?“

„Weshalb nicht?“

„Nun, Sie wissen ich bin Fischhändler, ich verpflichte mich Ihnen alle Fische abzunehmen.“

„Schön.“

„He, Antoinette, Maria — man muß den Schuppen im Hafen aufsperren!“

Ich verhielt mich etwas bei Noel, ich hatte nichts zu versäumen. Der verrückte Gaston kam auf seinen geknickten Knien hereingesegelt und lud mich zu einem Glas Wein ein. Dazu aßen wir Käse, und den spendierte ich. Dann kam der Dorflump.

„Herr,“ sagte er, „geben Sie mir einen Franken und ich will Ihnen eine äußerst wichtige Mitteilung machen!“

„Pack dich!“ sagte ich. „Eine Tracht Prügel, wenn du willst!“ Der Dorflump grinste und entfloh.

Wir sahen uns die belle femme im Schuppen an.

Niemand hatte einen Bootsschuppen, nur Noel. Unter den bloßliegenden Pfählen wateten Buben umher und drehten die Steine um. Sie ergriffen die kleinen Krabben, die sich davonmachen wollten, an den Scheren, und den jungen Aalen, die sie fingen, schnitten sie sofort die Kehle durch.

Ich klopfte die belle femme ab. Sie war breit gebaut.

„Sie ist das schnellste Boot auf der Insel!“ sagte Noel.

Bann und Kedril hatten mir schon früher gesagt, daß die belle femme ein ausgezeichnetes Boot wäre. Siegefiel mir. Steuerbord mußte ein Steven neu eingesetzt werden, sonst war alles in Ordnung.

Wir einigten uns nach einigem Hinundherreden über den Preis. Ich unterbot Noels Offerte so unverschämt, daß ihn fast der Schlag rührte. Nun, ich werde dir nicht meine Louisdors in den Rachen werfen, Inselkönig.

In einer Gasse traf ich wieder den Dorflumpen. Er hatte mir aufgelauert.

„Herr!“ flüsterte er geheimnisvoll. „Geben Sie mir doch einen Franken, ich werde Ihnen eine wichtige Mitteilung machen.“

Ich lachte. So frech, zerlumpt und schmutzig sah er aus.

„Nimm dich in acht, Schmutzfink!“ rief ich und hob den Arm. Der Dorflump nahm die Mütze in die Hand und lief was er konnte.

Zu Hause vermißte ich Poupoul. Nun erst fiel mir auf, daß ich ihn, seit wir Noels Bar verlassen hatten, nicht mehr gesehen hatte.

Ich pfiff und blickte über die Heide. Aber der rasche dunkle Knäuel tauchte nirgends auf. Poupoul streunte. Er kam den ganzen Nachmittag nicht, erst spät abends kläffte er vor der Türe. Haha, alter Vagabund! In einer elenden Verfassung kehrte Poupoul von seinen Abenteuern zurück. Er hinkte undblutete an mehreren Stellen zugleich. Seine Nase war zerschnitten und am rechten Hinterfuß hatte er eine schreckliche klaffende Wunde. Am Hals aber hing ein Stück von einem durchgebissenen Strick.

„Hoho, Poupoul, was haben sie mit dir angestellt? Haben sie dich festgebunden und du bist durch ein Fenster gesprungen?“

Poupoul winselte und sah mich beschämt an. So schlimm war es ihm noch nie ergangen.

Ich wusch seine Wunden aus, verband sie, und nun lag Poupoul auf der linken Seite, die Pfoten von sich gestreckt und zitterte an allen Gliedern. Am andern Morgen machte er einen Versuch aufzustehen. Aber er brach winselnd zusammen. Ich trug ihn vors Haus in die Sonne und stellte Wasser vor ihn hin.

„Morgen ist es schon wieder gut, Poupoul, bleibe hübsch liegen, adieu!“

Poupoul klopfte mit dem Schwanz, legte den Kopf flach auf den Boden und bereitete sich geduldig auf ein langes Warten vor.

Ich sprach im Dorf mit dem Zimmermann, dann ging ich quer über die Insel nach Stiff und arbeitete den Nachmittag über bei Herrn Boucher. Als ich zurückkehrte war die Sonne im Begriff unterzugehen.

Ich fand Poupoul in genau derselben Lage vor der Türe, wie ich ihn verlassen hatte.

„Hallo, Poupoul!“

Aber er regte sich nicht. Er lag, die bandagierten Pfoten von sich gestreckt, und der Wind spielte in seinen Haaren. Ich kauerte mich nieder und ein paar Fliegen summten auf. Ich berührte Poupoul — er war steif und hart. Poupoul war tot.

„Bist du gestorben, mein Hund, und ich bin nicht bei dir gewesen?“ fragte ich leise.

„Bist du gestorben, mein Hund!“ rief ich.

Ja, Poupoul war tot.

Ich stand auf und sah über das Meer.

Vielleicht hätte ich ihn retten können, wenn ich dagewesen wäre? Wie merkwürdig, er war an diesen unscheinbaren Wunden gestorben.

Ich ging ein paar Schritte, um meinen Schmerz zu vergehen, dann kehrte ich zurück. Ich setzte mich auf den Stein vor der Türe und sah Poupoul an. Der Wind fegte und jammerte hoch in der Luft. Das Meer wogte wie Feuer. Zwischen den mächtigen Schollen treibender schwarzer und glühender Schlacke züngelten die hellen Flammen empor. Das Meer brannte bis zum Grunde. Eine breite purpurne Lohe wälzte sich vom Horizont her übers Meer, der Himmel war bedeckt mit Qualm, rot vom Widerschein, und spiegeltegespenstisch die Feuersbrunst da unten wider. Auf dem brennenden Meere zog ein großer Ostasienfahrer und zerschmolz. Seine Verdecke zerrannen, die Maste und Rahen tropften herab und sein dicker Kamin wurde rings vom Feuer zerfressen. Eine dicke, pechschwarze Rauchwolke stieg aus ihm empor —

Ich saß und sah Poupoul an. Meine Augen wurden trocken in den Höhlen.

„Poupoul, mein Kamerad!“ sagte ich und kniete nieder und küßte ihn zwischen die Augen.

Da machte ich die Entdeckung, daß er eine dünne Schnur um den Hals hatte, und meine Hände wurden ganz schwach. Es war eine Schnur, wie man sie zum Fischen benützt, es war eine Schlinge —

Man hatte Poupoul ermordet!

Ich erhob mich und erbebte vor Schmerz und Wut.

„So seid ihr! Das seid ihr!“ schrie ich und schwang die Fäuste gegen das Dorf. Da erblaßte ich.

„Yann! Yann!“

Warum hast du mir das angetan, Yann! Weil Poupoul dich neulich verriet, du Wegelagerer? Deshalb? Yann, weshalb hast du nicht mir die Schlinge über den Kopf geworfen, ich hätte mich wehren können, aber dieser da —

Poupoul hatte ja wohl noch die Hand geleckt, die ihm die Schlinge um den Hals legte, hatte gebelltund gewedelt vor Vergnügen, weil jemand zu ihm herauskam, da er so allein dalag.

Ich ging ins Dorf. Wo ich dich auch finde, Yann, ich werde dich an den Schultern packen und zu Boden schleudern, ich werde dich an der Kehle fassen und dir mit der Faust das Gesicht zerschlagen, bis du still bist, hüte dich, ich komme!

„Ist Yann an Bord!“ fragte ich, steif und blaß.

„Nein, Yann ist an Land.“

„Wo ist er?“

Sie lachten. Wie sollten sie wissen, wo er sei?

„Jean Louis, guten Abend, ist Yann nicht bei dir?“

„Yann, hühü — nein, mein Freund.“

„Chikel, hast du Yann gesehen?“

„Nein!“

Yann, Yann, wo hältst du dich verborgen? Heraus mit dir!

Es wurde dunkel. Das Dorf lag friedlich da mit seinen spärlichen Lichtern. Der Lichtkegel Creachs fegte heran und die Silhouette der Dächer hob sich scharf und schwarz davon ab, dann versank alles in Dunst und Nebel, Häuser, Lichter, und der Lichthieb flog über mich hin und blendete mich. Und wieder lag das dunkle Dorf friedlich mit seinen blinzelnden Lichtern da.

Ich kehrte wieder nach Sturmvilla zurück. Fliegen summten über Poupouls Leichnam. Ich nahm ihnauf den Arm und trug ihn hinab zum Meer. „Du hast ja immer auf dem Meer gelebt, Poupoul,“ sagte ich. Poupoul war steif, als ob er ausgestopft wäre. „Lebe wohl, mein Kamerad!“

Poupoul trieb. Er schwamm langsam hinaus, dann aber kam er in einen Strudel und verschwand. Eine Welle schoß heran und als ihr Gischt zerstoben war, lag Poupoul wieder vor mir.

„Nun, lebe wohl, Poupoul, es muß ja doch sein!“

Merkwürdig! Ich versuchte es an drei, vier Stellen, immer wieder kam Poupoul zu mir zurück.

Da nahm ich ihn wieder auf den Arm, triefend naß wie er war, und trug ihn quer über die Insel. Er war schwer und ich keuchte.

Im Osten waren Meer und Himmel blauschwarz, im Westen kupferrot. Eine kleine braune Mondsichel stand über der Insel und der Wind fegte.

Wo die Klippen senkrecht abfallen, warf ich Poupoul ins Meer. Ich sah wie er auffiel, ich hörte es. Nun konnte er nicht mehr zurückkommen. Er rollte an den Klippen entlang, dann packte ihn der Strom und er verschwand.

Ich begleitete ihn auf seiner Fahrt, bis ich zur Markonistation kam. Hier trat ich ein.

„Nehmen Sie Platz,“ sagte Herr Boucher liebenswürdig, „wie sehen Sie aus?“

„Danke,“ erwiderte ich, „ich will stehen, mein Hund ist gestorben.“

„So so, Ihr Hund ist gestorben?“

„Ja!“

Ich ging wieder. Ich setzte mich auf einen Stein und blickte hinaus aufs Meer. Pechschwarz lag es unter dem schwarzvioletten Nordhimmel, schrecklich leer und öde. Dort draußen reiste Poupoul und die Wogen spielten mit ihm.

Ich kam erst spät nach Hause. Ein paar Stunden hatte ich bei Poupons Schlucht auf Yann gewartet. Er war nicht gekommen.

In meiner Hütte war es einsam. Der Regen prasselte über das Dach und tropfte durch die Risse und ich dachte an Poupoul.

„Erinnerst du dich, mein Freund, wie wir uns kennen lernten? Das war drüben an der Küste. Du hieltst mich mit deinen scharfen Zähnen am Bein fest, ohne zu beißen. Das gefiel mir! Erinnerst du dich, wie ich deine Treue prüfte und mich beim Schwimmen stellte, als ob ich ertränke — du aber hast nicht gezögert und sprangst augenblicklich ein Stockwerk hoch ins Meer um mir beizustehen.“

Tip — tiptip — der Regen tropfte und telegraphierte wirre sinnlose Worte, hinter denen eine schreckliche Bedeutung zu lauern schien. Der Wind fegte draußen— und horch: kläffte nicht ein Hund in der Heide? Ich richtete mich auf. Schreie waren draußen in der Nacht, Schreie einer mörderischen Lust und das schrille Lachen Gemarterter. Das Blut gerann in meinen Adern und ganze Teile meines Körpers waren wie gelähmt.

Nein, hier gefiel es mir nicht. Ich ging hinaus und legte mich unter einem Felsen schlafen.

Es kamen ein paar elende Tage.

Der Wind fegte und fegte. Er kam aus einem Wolkenloch im Nordwesten und fuhr dahin, eisig kalt und dicht über dem Boden.

Zu Hause gefiel es mir nicht. Ich trieb mich im Dorf umher, ich telegraphierte mit Herrn Boucher, ich war überall. Ich konnte diese namenlose Schändlichkeit nicht verwinden! Yann war ja im Grunde seines Herzens ein guter Bursche, das wußte ich. Wie hatte er es nur tun können? Sprich, Yann! Aber schließlich — was war ihm mit seiner naiven Roheit ein Hund?

Der Wind fuhr kalt und heulend dahin und die Insel war nichts als ein öder seelenloser Schutthaufen, auf den das Meer von allen Seiten mit Äxten und Spitzhacken einschlug, um ihn aus dem Weg zu räumen. Ich fror.

Ich sah hinaus übers Meer. Es winkte und lockte, daß es mir fast den Atem benahm. Was willst du? was willst du von mir —?

Weit draußen zog ein Dreimaster mit nassen, schweren Segeln. Ich sah ihm nach. Die Sonne des Äquators wird auf sie herabbrennen und die Haare werden ihnen anklebenam Pech des Decks, wenn sie schlafen. Der tropische Regen wird fallen und sie werden bis an die Knie im lauwarmen Wasser waten. Sie werden in der Windstille festliegen und tausendmal am Tage den Horizont absuchen. Sie werden singend im Kreise gehen und die schweren Segel in die Höhe winden und vor dem Sturme fliegen. Sie werden den Albatros fangen mit der Angel und der große, plumpe Vogel wird vor all den lachenden braunen Gesichtern hilflos auf dem Deck stehen —

Ich stand auf.

Plötzlich stand der Dreimaster draußen in hellen Flammen. Aber in Wirklichkeit brannte nicht er, sondern mein Herz hatte sich plötzlich entzündet und Feuer in meine Augen geschleudert. Ich spürte einen Schmerz, als ob meine Brust in zwei Stücke zerrisse. Weißt du, was das ist?! Das war die Sehnsucht nach da draußen!

Laß uns gehen! Laß uns in die Wälder gehen, die kein Ende haben und rauschen, laß uns zu den Schneefeldern im Norden gehen, wo keine Sonne ist — einerlei, in die Hölle, wenn du willst — aber laß uns zuneuen Dingengehen!

Und ich stieß einen Schrei aus, der weit über das Meer klang.

„Hören Sie, Noel, ich möchte den Kauf der belle femme rückgängig machen.“

„Sie wollen die belle femme nicht nehmen?“

„Nein, ich reise.“

„Sie reisen?“

„Ja. Ich bin gerne bereit Ihnen eine Entschädigung zu zahlen.“

„O, so nötig habe ich das Geld ja nicht, wie? Wenn Sie reisen wollen, was sollen Sie da mit der belle femme anfangen, nicht wahr?“

Aber ich reiste nicht von heute auf morgen ab. Yann sollte nicht auf den Gedanken kommen, daß ich aus Furcht vor ihm die Insel verließ. O nein! Wir waren uns ja nun gegenseitig manches schuldig und ich liebe klare Rechnung.

Vier Nächte lang hockte ich über Poupons Schlucht und wartete auf Yann. Da saß ich und fror. Der Wind fegte, Creachs Lichtblitze flogen über mich hin. Ich rauchte die Pfeife und hielt die Hand darüber, damit der Wind nicht den Tabak aus der Pfeife reißen konnte. So wärmte ich mich auch.

Habe ich dir nicht geschworen, daß ich jeden Abend hier sein werde, Yann? Wo bleibst du so lange, heran, Yann — hier bin ich —

Die Stunden gingen. Houhuuho — heulte der Wind und eine Stimme flog in der Höhe dahin: hiihiii — Zuweilen tutete eine Felsenspalte. Auf dem Meer draußen zog ein Postdampfer, wie ein Feenschloßsah er aus mit seinen vielen Lichtern. Ich saß und wartete.

Sobald aber etwas in der Heide scharrte und kratzte, stellten sich die Haare auf meinen Poren in die Höhe. Drohende Stimmen waren im Wind und ich lauschte mit verhaltenem Atem. Plötzlich kam ein schreckliches weißes Gespenst auf mich zu galoppiert. Ich schwöre, daß ich mich in diesem Augenblicke aufblähte wie ein Stachelschwein und das weiße Gespenst mit den Blicken durchbohrte. Es war ein Stück Papier und schadete mir weiter nicht. Zuweilen pochte und hallte es unter mir. Die Schlucht roch wie ein alter Brunnen, faul und morsch, und es klatschte und schabte da drunten, als ob sich ein schwerer, nasser Körper hin und her schiebe. Ein kalter Hauch traf mich — da war er! Das war Poupon, der Mörder, er zog an meinen Füßen, bohrte den Finger durch das Loch meines rechten Schuhes und schnaufte. Dann ließ er sich wieder klatschend hinabgleiten.

Obgleich ich aus einer Sensation in die andere fiel und meine Haut Fischschuppen bekam, blieb ich ruhig sitzen. Ich würde mich auch vorerst nicht rühren, wenn Yann kam. Ich würde taubstumm sein, einen taubstummen Pfeifenraucher sollte er hier vorfinden, der über Poupons Schlucht in philosophische Betrachtungen versunken war. Yann sollte Gelegenheithaben seine Schuld, einzukassieren. Dann aber — nun dann kam die Reihe an mich!

Zuweilen zog ich meine kleine Flöte aus der Tasche und blies ein Lied oder einen Triller.

Yann? Hörst du nicht, Yann?

Einmal schlief ich sogar ein. Aber da wurde ich durch einen Kanonenschuß geweckt und erwachte. Meine Pfeife war hinunter gefallen. Nun, ich bin nicht der Mann, der nur eine Pfeife hat, ich habe Pfeifen in jeder Tasche. Also steckte ich eine andere Pfeife in Brand.

Yann?

Ich wartete stets vier, fünf Stunden. Ob es zu meiner Ehrenrettung genügt, weiß ich nicht. Mir genügte es.

Yann aber kam nicht.

„Lebe wohl, Kedril, Pilot Nummer Eins! Wo ist Jean Louis? Lebt alle, alle wohl!“

Die Fischer umringten mich und rieben ihre stacheligen Wangen an mein Gesicht. Wir küßten uns. „Daß du fort von uns gehst —!“ sagten sie und schüttelten die Köpfe. Ihre Hände waren hart wie Holz. Aber ihre Augen waren treu und herzlich. Kedril ließ es sich nicht nehmen mich zum „Kommissionär“ hinüberzurudern. Ich schenkte ihm eine Pfeife zum Andenken.

Die Matrosen zogen den Anker auf.

Da kam vom „Arbeiter“ ein Nachen herüber und Yann stieg an Bord des „Kommissionärs“. Ich stand am Heck und sah ihn herankommen. Ich fühlte wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, meine Hände in den Manteltaschen krampften sich zusammen. Ich begann langsam zu wachsen —! Aber als mich Yann ansah, überkam mich eine heiße Mattigkeit. Yanns blaue Kinderaugen nämlich schimmerten voller Liebe. Es waren Yanns, alte Augen, so wie sie früher waren, und sie entwaffneten mich augenblicklich. Yann trat auf mich zu. Er sah schmutzig aus, auf der Stirn hatte er eine schreckliche, blutige Schramme und das Weiße seiner Augen war immer noch blutunterlaufen.

„Du fährst!“ sagte er lächelnd und deutete mit den Blicken auf das kleine Paket, das ich unter dem Arm hatte.

Ich erwiderte nichts. Ich sah ihn an.

Yann wartete eine Weile und sah mir forschend in die Augen, dann begann er von neuem: „Du denkst vielleicht, ich hätte Poupoul umgebracht? Nein, ich war es nicht. Rosseherre tat es.“

Ich öffnete den Mund. „Rosseherre —?“

„Ja. Ich sagte ihr: Poupoul hat mich verraten, er bellte. Darauf sagte sie: so, sein Hund hat dich verraten. Sonst sagte sie nichts. Aber zwei Tage später sagte sie zu mir: nun kann dich Poupoul nicht mehr verraten, Yann.“

Ich sah Yann an und ein verächtliches Lächeln kam auf meine Lippen. Ich lächelte über mich. Sie ist ein Kind, diese Rosseherre. O, jawohl, meine Herrschaften, hier sehen Sie einen Menschenkenner erster Güte vor sich! Ich werde eine Tournee unternehmen und mich mit einem Ring an der Nase und einem Pfahl im Hirnkasten gegen Entree sehen lassen!

Zu Yann aber sagte ich mit einem vorwurfsvollen Blick: „Yann, ich wartete jede Nacht bei Poupons Schlucht. Weshalb kamst du nicht?“

Yann sah mich erstaunt an. „Es ging ja keinBoot hinüber,“ antwortete er, „wie konntest du da reisen?“

Ich lachte laut auf. Ich lachte über mich. Also ganz grundlos waren mir die Haare zu Berg gestanden — Yann war es gar nicht in den Sinn gekommen mir einen Besuch abzustatten. Genug! Fort!

„Die letzten Tage waren die Hölle!“ fuhr Yann fort und seine blutunterlaufenen Augen sprühten und die Adern an seinem Hals schwollen an. „Dieses Frauenzimmer machte mich verrückt. Hörst du? Toll! Ich glaube, sie ist besessen und hat mich behext. Das glaube ich! Neulich, in der Nacht — da konnte ich es nicht tun. Du hast gepfiffen, du gingst so arglos dahin. Deshalb. Nun, du reist, es ist gut. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Und wir sind ja doch Freunde, wie? Wenn sie auch bei dir war, was liegt daran? Lebe wohl, mon très cher ami.“

Yann streckte mir die Hand hin und seine Augen schimmerten feucht. Ich ergriff seine Hand und wir sahen einander lange in die Augen. Wir hatten uns gequält, recht und schlecht, wie Menschen es tun müssen, die einander näherkommen.

Dann griff Yann in die Tasche und zog die goldene Uhr mit dem Springdeckel heraus.

„Ein Glas mußt du dir einsetzen lassen,“ sagte er, „nimm doch! So nimm doch!“

Ich lächelte. Nein, niemals werde ich diese Menschen verstehen. Die Uhr aber nahm ich nicht.

„Ich will nichts besitzen, was mehr als zehn Franken wert ist, verstehst du, Yann?“ sagte ich. „Etwas anderes vielleicht?“

Yann suchte in den Taschen und gab mir sein feststehendes Messer.

„Ja, das kann ich brauchen, danke!“ Ich griff in meinen Rock und zog die kleine Flöte heraus. Ich gab sie Yann.

„Merci!“ sagte er. „Wieviele schöne Stunden — nun, lebe wohl! Vergiß mich nicht!“

Ich schüttelte den Kopf und drückte Yann nochmals die Hand.

Das Segel stieg.

Der „Kommissionär“ galoppierte durch die Bai. Wir hatten mehr Wind als nötig war. Um das „Kamel“ spielten schwarze kleine Enten und tauchten und überschlugen sich. Die Möwen saßen auf den Klippen und ihre Köpfe blendeten so weiß wie frisch mit Ölfarbe gestrichene Knöpfe. An den Riffen saugte und atmete das Meer.

Wir durchquerten den Strom und der „Kommissionär“ ging auf den andern Bug über.

Dann passierten wir die versteckte Klippenreihe, wo ich so oft mit dem Meerkönig gefischt hatte. DasMeer donnerte und die Gischtschleier stoben in die Höhe. Da sah ich ein kleines wohlbekanntes Segel, das in der schweren See pendelte. Es kam auf uns zu. „Jean Louis!“

Aber es war nicht der kleine Meerkönig, der im Boot saß. Eine weiße Haube tauchte unter dem Segel auf.

„Rosseherre — ho! ho!“ schrien die Matrosen.

Das Boot segelte dicht an uns heran. Rosseherre saß mit gebeugtem Rücken am Steuer, die Augen auf ihren Weg geheftet, die niedere Stirn in hundert kleine Falten gerunzelt. Sie sah nicht auf.

Eine Woge hob das Boot in die Höhe und trug es fort. Im Nu war das kleine pendelnde Segel unsern Blicken entschwunden.

„Dieser Satan! Seht an!“ schrien die Matrosen und lachten.

Warum? Warum kamst du heraus aufs Meer? —

Wie eine hohe violette Felsenburg mit zwei dünnen Türmen liegt die Insel im Meer. Möwen umschwirren uns und von den fernen Klippen her dringt ein feines feilendes Geschrei.

Die hohe Felsenburg wird blau und sinkt ins Meer. Nun ist nichts mehr zu sehen, nur Creachs dicker Kopf schwimmt am Horizont.

Da spürte ich einen Schlag im Herzen. Yvonne!Gott stehe mir bei, ich hatte all die Tage nicht mehr an sie gedacht, ich hatte sie vollkommen vergessen.

Sonderbar ist der Mensch.

Nun, Yvonne wird bald einen anderen Geliebten finden.

— — — — — — — —

An der Küste drüben traf ich Mathieu, L’honneur und Petitjean. Gott sei Dank, sie waren da. Ich glaube, ich hatte Tränen in den Augen, als ich sie sah.

„Da bin ich!“

„Ah, da bist du!“

Wir zechten bis spät in die Nacht. Dann nahmen wir Abschied. Ha, was ist das? Das Meer war schwarz und schwarz war der Himmel. Am Horizont aber atmete ein Blinkfeuer, weiß, weiß, rot, und eine Lichtwindmühle warf ihre Flügel in die Höhe. Das waren Stiff und Creach.

„Lebt wohl, Kameraden! Und wenn ihr hinüberkommt nach Ösa, grüßt mir Amorik und seine Tochter, Yann und Jean Louis! Und vergeßt mir nicht Rosseherre zu grüßen! Grüßt alle, alle!“

Zwei Tage später betrat ich in Cherbourg den großen Zwanzigtausendtonnen-Dampfer. Die Sirene tutete, die Kapelle spielte auf dem Promenadedeck, en route!

Ich war in jämmerlicher seelischer Verfassung. Gleich am Anfang passierte mir das Mißgeschick den Obersteward durch meine Stimme zu beleidigen. Ja, glauben Sie, verehrtester Herr, daß ich erst drei rohe Eier trinke, bevor ich es wage mich einer so hochstehenden Persönlichkeit zu nähern? Ich nahm den Mann ins Auge. Wie sollte ich es anstellen, diesen Gesandtschaftsattaché um eine anständige Kabine zu bitten? Glatt geleckt von der Zunge der Kultur stand er vor mir. Er kam mir schrecklich bekannt vor. Ich bertillonierte seinen Schädel. Ja, ich hatte ihn schon gesehen. Tausendmal und allerorts. Es war das europäische Gesicht! Nichts anderes.

Ich sprach kein Wort mehr. Ich nahm ein Fünffrankenstück und ließ es in seine europäische Hand gleiten. Er verstand augenblicklich und verbeugte sich: mögen der Herr getrost die heilige Ruhe dieses eleganten Dampfkarussells durch seine Stimme entweihen —

In der Kabine prüfte ich den Teppich mit den Fingern und auch den Treppenbelag untersuchte ich verstohlen: Gummi! Yann, wo sind wir? Elektrische Brennscheren, Dampfheizung, Blumenladen, Druckerei, Hotel à la Riz, he, ich war von der Peripherie der Zivilisation direkt ins kochende Zentrum gesprungen. Der Dampfer war still wie eine Kirche, nur da unddort hörte man einen fürchterlichen Brüllhusten: das war ich.

Ich stieg hinauf aufs Sonnendeck und lächelte verächtlich: ihr kleinstes Rettungsboot war größer als das größte Boot, das wir auf der Insel hatten. Es wehte. Nordwestnord, Windstärke acht, grobe See! Aber der Koloß regte sich nicht. Er fuhr achtzehn Knoten in der Stunde und doch schien er vollkommen still zu stehen und nur die schmalen Korridore wanderten. Das Meer lag tief unten, unscheinbar und nichtig. Wir waren Durchreisende, nichts sonst. Es wurde Abend und die Feuer des Kanals zuckten und wirbelten. Eine elende Fischerbarke zog an uns vorbei. Sie schlingerte und schlug aus und stieg.

„Hallo!“ schrie ich und schwenkte die Mütze.

Aber sie beachteten mich gar nicht.

Und nun überkam mich die Erkenntnis, die nackte, schreckliche Erkenntnis:ich gehörte nicht mehr dazu!Die Wogen, der Wind, das ganze große Meer —ich gehörte nicht mehr dazu—

Ich ging in den Rauchsalon, legte mich in einen Klubsessel und nahm einen Whisky und noch einen. Dann kaufte ich die ganze Flasche. Unsere zwei Gestirne glühten jetzt über der schwarzen Insel im lauten Meer —

Warum? Warum kamst du heraus aufs Meer?

Da lauschte ich: hörst du die Maschinen pumpen? Durch die Vibration hindurch, durch all die Stockwerke und Korridore, hindurch, hörst du das große Stahlherz pochen? Das war Europas Herz, Europas, woher ich kam! Und plötzlich strömte die ruhige Kraft der Maschinen, die da drunten unter mir sangen, in mich über und erfüllte mich mit Stärke und unermeßlicher Zuversicht. Ich goß mein Glas voll und summte mir ein Lied.

„Sei ruhig, mein Herz,“ sagte ich zu meinem Herzen, „die Jagdgründe des Lebens sind groß. Du wirst sie alle wiederfinden, Yann, Yvonne, Rosseherre und Jean Louis, alle! Und auch Poupoul wirst du wiederfinden, nichts ist unersetzlich!“

In der Nacht aber erwachte ich plötzlich. Der Dampfer knarrte wie Leder knarrt. Ich lauschte. Da draußen war der Wind, das Meer, es waren Stimmen da draußen und ich verstand sie. Mein Herz krampfte sich zusammen.

„Lebt wohl, ihr Geliebten,“ sagte ich und lauschte auf die Stimmen, „lebt wohl, ich komme wieder!“

Ende


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