VII.

„Ja, ja — — so bin ich!“ schrie er.

Es folgte jetzt eine Szene, von der man nicht weiß, ob sie sich wirklich abgespielt hat. Sie zerrten sich, spieen sich an, er riß sie an den Haaren im Zimmer herum, sie riß ihm die Fetzen vom Leibe, er fühlte ihren Mund in Wollust zittern — — — — — — ihren heißen, süßen Mund. Er sah das Zittern, aber er wußte nicht, ob etwas war. Er wurde stumpf und sank ermattet in sich zusammen.

Anderntags schrieb sie:

„Ich danke dir vieles, vielleicht alles, meinen Körper kann ich dir nicht geben. Nie! Mich ekelt. Daß du es weißt . . . . .“

Wieder einen Tag später schrieb sie:

„Schicke mir durch den P. etwas Reisegeld, ich muß nach Haus fahren.“

Ihre Seele war frei, sie fühlte: ein Tempel. Es war ihr, als ob sie etwas unendlich Zartes und Heiliges behütete. Erregt schritt sie im Zimmer auf und ab oder lief weit hinaus vor das Tor der Stadt. Sie fühlte dieses Glücksgefühl dumpf und in süßer Ungewißheit emporwachsen. Und immer wiederholte sie sich: Nur nicht denken.

Die Leute entsetzten sich, als sie durch die Straßen zum Bahnhof ging. Alle hielten sie für betrunken. Sie lehnte sich zum Coupefenster hinaus, und alles war verklärt. Die Leute, die rauchgeschwärzte Halle. Die Trains donnerten in die Halle, Lokomotiven kreischten und pfiffen. Es waren ihr himmlische Fanfaren. Dann setzte sich der Zug in Bewegung.

Jemand rief:

„Also leb wohl und grüß mir . . . . .“

Aber das galt ihr nicht.

Einige Tage später erhielt sie von Werner ein Schreiben:

Wenn Sie sich vielleicht auch meiner nicht mehr erinnern, so erlaube ich mir doch, Ihnen zu sagen, daß ich die Lösung Ihrer Verbindung für eine sehr glückliche halte. R. ist zu sehr ein Mann mit festen Plänen und Zielen, einer, der weiß, was er will. Es ist gleichgültig, ob er etwas für sich allein tut oder dabei für andere noch mit zu tun meint, es bleibt immer die eine Selbstliebe. Es gibt Männer, die das Weib als Spiegel ihrer selbst, als Bank zum Ausruhen, als Kissen in der Dämmerstunde benutzen.

Sie brauchen ja selbst einen, an dem sie sich ausruhen wollen. Ich weiß nicht, ob es ein Wurstl oder ein k. k. Staatsrat sein muß, aber das weiß ich, daß es einer sein muß, der Ihnen die Ruhe gibt, indem er Ihre Seele ständig in Atem hält.

Sehen Sie den Mann, den Menschen, den Sie so inbrünstig suchen. Was tut er? Er sieht das Weib und greift danach. Wie ein Knabe, der nach dem Falter hascht. Er greift danach, nach jedem, das ihm in den Weg kommt, und sieht dann ein graues etwas, zerbrochene Flügel, und wischt sich die Hand ab. Das Weib ist der Stieglitz, den man ins Bauer sperrt, das zitternde Körperchen, das alle Sehnsucht löst, und das sich so entzückend sträubt, wenn man ihm Futter geben will. Das ist das Weib, das wir lieben. Und das Weib ist die Pest, die sich ins Blut setzt und alles Leben aufsaugt und verdorren läßt. Das ist das Weib, das wir hassen müssen. Wo sind sie, die Gezeichneten und Auserwählten, die auch dann in himmlischen Wonnen lächeln. Wir zittern manchmal voll Ahnungen und Erkenntnissen, voll Dämmerungen und Schummrigkeiten und hören in der Ferne den Ruf. Aber das Mitleid macht uns dreckig, das verfluchte Mitleid, das uns blind und zu eitlen Trotteln macht.

Viele sitzen und stellen das Weib vor sich hin, wie ein Petschaft und grübeln. Und merken nicht, daß es längst in ihnen ist und fault. Sie sehen nicht, daß das Weib unsere Versöhnung mit Gott ist und unsere Strafe, der lächelnde Tod, der uns einlullt. Aber für Sie ist der Mann Taumel und Straßenkot, Wurstl und Staatsrat — — — — sie las nicht mehr weiter.

Sie dachte, er ist doch ein verrückter Kerl, und fuhr zu ihm.

Sie traf ihn inmitten betrunkener Bürger.

Sie folgte ihm von Schänke zu Schänke, saß die Nächte mit ihm zusammen und wich nicht von seiner Seite. Wenn er stöhnend umsank, war sie glücklich, ihn stützen zu dürfen, oder sie steckte ihm den Finger in den Mund, um ihm beim Speien behülflich zu sein. Voll innerer Seligkeit fühlte sie: Endlich habe ich dich gefunden.

Er dachte: Wie mag es nur sein mit dem Mitleid. Verflucht — — — — daß ich mir auch noch ein Weib aufgeladen.

Er diskutierte mit ihr über die Psyche des Weibes und zergliederte Einzelheiten. Dann sagte er:

„Du solltest dir etwas Geld verdienen.“

Er teilte alles mit ihr, und seine Kasse war knapp.

Sie sah ihn erstaunt an und schwieg.

„Wir werden dann schon sehen, wo wir dich unterbringen.“

Ihr Lächeln wurde höhnisch. Es war die Entscheidung, als sie sagte:

„Ich finde schon immer noch einen. Aber ich glaubte, du wärest mehr —“ Peinvolle Minuten des Schweigens vergingen.

Wann ist man eigentlich verpflichtet, dachte er sich, und im Grunde genommen . . . ich kenne das Leben nicht . . . .

„Sprich nicht so . . . du . . .“ bat er und rang mit seinem Mitleid.

Sie zitterte beglückt unter seinen hilfesuchenden Blicken.

Jetzt kommt meine Feigheit, fühlte er.

Dann nahm er ihre Hand und sah die Tränen aufsteigen.

Dann küßten sie sich.

Ihre Körper blieben kalt, und eine fast unüberwindliche Scham trat zwischen sie. Einmal sagte sie:

„Ich will dich herausreißen aus diesem Leben.“

Er lächelte. Es war eine Willenlosigkeit in ihm, die ihn erschreckte.

„Ja, ich bin ein Verurteilter,“ erwiderte er.

Sie schwieg, aber in ihrem Blick lag soviel Hingebung und kindliche Bitte, daß er weich wurde.

„Du solltest in einem Palaste wohnen, oder nein, in einer Hütte und wissen, daß dir ein Palast gehört.“

Es klang lächerlich, aber er mußte etwas sagen und schwieg jetzt beschämt.

„Ich will doch nur immer um dich sein“ . . . es war fast ein Vorwurf.

Das Leben kam ihr zu Hilfe. Er war arm und schlug sich mühselig durch. Hunger und die Angst vor dem Morgen trieb sie enger zusammen. Sie drängte ihn, eine bescheidene Stellung anzunehmen. Sie selbst traf Anstalten, wieder zu ihrem Direktor zurückzukehren, er sollte mitkommen.

Sein allmähliches Unterliegen genoß er wie eine unaussprechliche Seligkeit. Er fühlte im Innersten eine Fülle aufsteigen, die seine Zweifel nicht mehr zu durchdringen vermochten. Das Äußere wurde leicht und frei, seine Freunde suchte er nicht mehr auf.

In ihre Küsse mischte sich unmerklich Sehnsucht und quälte.

Er erschrak, aber das stündliche Auf und Nieder seiner Stimmungen ließ Überlegungen nicht aufkommen. Sie schrieb ihm:

Wie der Nordwind braust durch der Eichen Zweige und Wipfel, so will ich mich einwühlen in das Geäst deiner Seele und bei dir sein Tag und Nacht. Denn du bist meine Heimat. Oder sie erinnerte sich: Weiß denn die Nachtigall warum sie singt ihr süßes Lied?

Plötzlich war die Sehnsucht Herr über sie geworden. In ihren Küssen stand das Blut gegen sie auf und zwang sie.

Im Taumel vergaßen sie sich und alles, was sie über ihre Liebe geschworen hatten.

Noch einmal wurde er aus dem Rausch zurückgerissen. Er sah eine Vision . . . wie ein Stab zerbrochen wurde . . . . . aber er fühlte: Weiter!

Sie fürchteten sich und zitterten. Er schritt kopfschüttelnd durch die nächtlichen Straßen und dachte: Wer bin ich — — — wie ist alles gekommen . . . gerade ich . . . Er tappte im dunklen. Im Geiste sah er turmhohe Felswände aufstehen, die ihn zu erdrücken drohten, und sah tausend Wege zu sich und neue Möglichkeiten. Aber er rührte nicht daran. Dann setzte er seinen Weg fort und erinnerte sich: „Ja, ich will dich lieben . . . .“

Was ist das Leben? — so grübelte er — Dämmerschlaf, Minuten des Erwachens, eine Sekunde der Erkenntnis oder nur der so kurze Rausch des Erkennens? Der Rest ist Verwesung — — Was ist das Leben?

Sie verkauften alles, was sie nicht unbedingt nötig hatten und logierten sich in einem kleinen Ausflugsort unweit der Stadt ein.

Es ging in den Monat März. Draußen wechselten sich Regen und Schneegestöber ab. Der Sturm rüttelte. Manchmal kam ein Sonnenstrahl, daß alles glitzerte. In die graue Ebene leuchtete erstes Grün.

Oft stapften sie Hand in Hand durch das Tal, an einem Flüßchen entlang, dessen Eisdecke rostbraun war, und ihre Füße wurden von dem Boden, der sich in Klumpen daran gehängt hatte, schwer.

Oder sie standen an den Ufern des Weihers und lauschten dem Krachen des Eises, das sich bäumte, oder zeigten sich die erste Lerche, die zum Himmel stieg. Oder sie gingen durch den Wald und folgten trunkenen Blicks den Wolken, die am Horizont dahinschossen.

Und immer war Hoffnung und gedämpfter Jubel um sie.

Sie saßen in der niedrigen, rauchgeschwärzten Wirtsstube und herzten und drückten sich, daß die Brust sich in tiefem Seufzer hob, und die Augen glänzten.

Ein Musiksprechapparat krähte, Tänze und Märsche und auch einen Chorus — (Teure Heimat . . . . .)

Sie sprachen mit der Wirtin, dem Wirt, den Mädchen und dem Haushälter lang und breit. Sie fühlten sich zugehörig.

Dann sprachen sie von ihrem Leben und dem Gewesenen. Sie sahen sich in die Augen und verschwiegen sich nichts. Es lag ein Schleier über dem Durchlebten und jeder fühlte:

„Was tut es. Wenn ich bei dir bin . . .“

Aber eines Tages packte ihn ein Anfall und drohte ihn zu zerbrechen. Ein schleichendes Gift fühlte er in sich und er sah fern seine Mutter. Sie schrie nach ihm und weinte. Ihre Arme reichten bis zu ihm, und ihr Gesicht war gramverzerrt. Die weißen Haare flatterten und wurden Pfeile.

Die andere verstand nichts von seiner Vision, aber sie fürchtete sich, wenn er jetzt im Hause herumschlich, gedrückt, wie von Zentnerlasten. Sie glaubte, sie müsse ihn wiedergewinnen, wurde abweisend und versuchte seine Kälte noch zu übertrumpfen. Er aber dachte: Warum streichelt sie mich nicht — — und rief im Innersten: Hilf mir und sei gut!

Sie verstand ihn nicht und hörte nicht auf sein Flehen.

Sie warf ihm Worte hin, schneidend, brutal, voll Abgründe. Um ihn zu sich zu reizen. Mit der Hoffnung, die Liebe durchbrechen zu lassen. Da ballten sich die Fäuste. Er schlug sie ins Gesicht, daß sie auf die Diele aufplumpste. Mit Füßen trat er sie. „So!“ — — er wischte sich den Schaum vom Mund, „so . . . hier hast du . . .“

Er fühlte alles verloren, empfand einen beißenden Schmerz im Kopf, ein quälendes Würgen, das ihn betäubte.

Dann aber stieg es in ihm auf, hüpfend und prickelnd und wurde stärker, wie Schellengeläute, und tanzte. Eine sieghafte göttliche Heiterkeit kehrte ein. Er sah sich verzerrt, die Fäuste geballt, und lachte, lachte laut auf.

Sie lag noch am Boden, in sich zusammengeduckt, regungslos. Sie sah ihn groß an und wurde ganz verschüchtert.

Dann fühlte sie, wie er sie in seine Arme nahm und sie herzte und küßte.

Sein Lachen war wie süße Musik. Da lächelte sie auch und flüsterte:

„Hab mich doch lieb . . . .“

So ketteten sie sich immer fester.

Manchmal dachte sie: Wo ist meine Kraft hin, und wird’s sich auch lohnen . . . aber sie schmiegte sich schnell an ihn und wies alle Gedanken von sich.

Sie nannte sich Rehchen oder Kätzchen oder Osterhase, so hatte er sie getauft.

Sie hüpfte wie ein Hase im Zimmer herum, wackelte mit den Ohren, kuschte sich, spielte Männchen und kroch zu seinen Füßen und sah zu ihm auf, lange, voller Demut.

Aber es kamen Tage, wo sie an die Zukunft denken mußten, trotzdem sie sich dagegen verschworen hatten, und dann gestanden sie sich, daß sie nur noch drei Tage wohnen bleiben konnten.

Da fühlte jeder: Wir gehören uns nur noch drei Tage und drei Nächte . . . . und dann werden wir weiter sehen, dachten sie. Und jeder machte ein entschlossenes Gesicht.

Sie schlossen sich in ihr Zimmer ein und liebten sich. Immer wieder fielen sie sich um den Hals und liebten sich. Sie aßen und tranken nichts, und wenn eins sich an den Tisch setzte und eine lebte Zeile schreiben wollte, flugs sprang das andere hinzu und küßte und drängte so lange, bis alles im Taumel wieder unterging.

Sie fürchteten sich allein, und jeder floh das Erwachen.

Doch am Mittag des zweiten Tages wachten sie auf, und ihre Blicke trafen sich. Lange maßen sie sich wie zwei Fechter, die gegeneinander schreiten.

Er senkte den Kopf und schien zu allem entschlossen.

Da hängte sie sich an ihn und sprudelte hervor, sie hätte bereits einen Plan, und es würde vorderhand gehen, und zählte alle Einzelheiten auf.

Er hätte aufjauchzen mögen, aber er fühlte: ich muß überlegen sein.

So streichelte er sie und küßte sie auf die Stirn.

Dann sahen sie sich wieder an, und dann tanzten sie und jubelten, und das Glück war losgelöst und frei.

Noch denselben Abend gingen sie nach der Stadt, einen weiten steinigen Weg.

Harte Arbeit empfing sie. Tagtäglich mühten sie sich, aber es langte nicht. Sie schrieben Adressen, gaben Stunden, spielten des Nachts in Kaschemmen, aber es langte nicht. Er suchte wieder häufiger Bekannte auf und traf auf einen Schauspieler, der sich Sören nannte. Dieser empfahl ihn für einen Posten bei irgendeiner Gesellschaft. Er schleppte ihn in Familien, wo er zu Mittag aß und auch kleine Geldunterstützungen bekam.

Sören machte Geschäfte als Bücherreisender, seine Frau wurde durch einen Freund, mit dem sie ein Verhältnis hatte, zur Hebamme ausgebildet. Er führte sich ein, indem er aus einer Gesellschaft den Verschüchtertsten herausgriff und ihn als den einzigsten Menschen begrüßte. Er vertraute ihm seine geistige Einöde und Verlassenheit an und verkaufte ihm dann seine Lexiken.

Diesem Sören schloß sich Werner an.

In einer Aufwallung mitleidsvollen Verstehens führte er ihn zu ihr, er solle noch einen anderen Menschen kennen lernen.

Sören sah und himmelte. Er murmelte nur wie im Rausch oder rollte mit den Augen. Er führte beide ins Café und unterstützte sie auch sonst.

Er blieb jetzt fast immer um sie.

Werner war stolz und kam sich wie ein König vor, der aus der Fülle seiner Schätze verteilt. Sie bangte und zitterte.

Sören hatte sich bereits fest eingenistet.

Eines Tages sagte er zu Werner:

„Eine wahre Liebe hat Raum für drei. Ich will die Brosamen nehmen, die von eurem Tische fallen.“

„Du lieber Freund . . .“ und er schüttelte ihm die Hand.

Dann küßten sie sich und waren gerührt. Es ist etwas Schönes um die Freundschaft, dachte Werner.

Man muß die Feste im Sturm nehmen, dachte der andere.

Sie saßen die Nächte wieder in den Kneipen und tranken. Jeden Tag kam Sören mit einem neuen Tragödienstoff und schwärmte von Anregungen und Entwürfen.

Einmal, als Werner schon sehr betrunken war, ließ Sören sie holen und bat sie zu kommen.

Sie kam und sah die Blumen auf dem Tisch und die vielen Flaschen und wurde traurig. Da flüsterte ihr Sören ins Ohr:

„Wir wollen in ein Café gehen und ihn hier sitzen lassen.“

Sie sah ihn erschreckt an. Verneinte.

Da bedrängte er sie: Es handelte sich um Werners Interesse. Der würde dann nachkommen, und vieles ähnliche.

So gingen sie heimlich, wie Diebe.

Werner sah alles und trank.

Erst drängte es sich ihm auf: Wie dumm, wenn sie stark bliebe. Ich würde doch nicht glauben . . . Stunden vergingen in qualvoller Dämmerung. Dann aber wieder trieb es ihn, und er suchte sie im Geiste zu umklammern. Die Bilder an den Wänden sprachen zu ihm und die Blumen, die Flaschen, und alle hatten ihre Stimme.

Sie sprach zu Sören: „Wo mag er nur bleiben. Holen Sie ihn her.“

Sie fürchtete sich.

„Sprich nur das eine Wort, und ich gehe sofort zu meiner Frau. Ein Wort. Heute abend ist alles perfekt. Siehst du denn nicht, daß er immer betrunken ist? Meine Frau weiß, daß sie mir nicht gehören kann. Noch heute abend . . .“

„Holen Sie Werner!“ und sie entwand sich ihm. Hoffnungslosigkeit bemächtigte sich ihrer. Werner! Werner! Er konnte ihre Schmerzensschreie nicht hören. Er saß unbeweglich und eisig und trank. Er träumte von weißem Flieder und roten Rosen, die er zu einem Strauß wand, und den er ihr zu Füßen legen müßte. Blitzhell durchzuckten ihn einige Gedanken, aber er kroch immer wieder in sich zusammen. Er dachte schließlich: Wozu etwas abwenden, was ich verursacht. Verurteilt. Dem Henker ausgeliefert.

Da kam Sören und stotterte, er wolle ihn nach Haus begleiten. Er bat und drängte, aber Werner ging nicht. Da ging der andere wieder fort.

Er sprach zu ihr: „Ich habe ihn nach Haus gebracht.“

Sie dankte ihm und sagte: „Wir wollen Freunde bleiben.“

Dann verließ sie ihn. Sie dachte: Vielleicht, wenn es ein anderer wäre . . .

Er raste und tobte.

Es war eine Nacht, in der drei Menschen sich zerfleischten.

Anderentags sandte ihr Werner in aller Frühe weiße Rosen und einen Zettel: Weiß denn die Nachtigall usw.

Er war mit der Hoffnung eingeschlafen: Wenn ich ihm jetzt zuvorkomme . . .

Sie weinte Freudentränen, es war, als ob sie ihn wiedergefunden hätte. Eine Last, die sie bedrückt hatte, wich von ihr. Nun kann ich dir wieder ganz gehören, fühlte sie.

Sie dachte aber auch: Ob er mich wirklich liebt, da er mich so leicht aufgab? . . . Und es blieb eine Mißstimmung in ihr zurück.

Ihr Ärger wuchs von Tag zu Tag, und als ihr Sören schrieb: Ich muß eine Aussprache herbeiführen, antwortete sie: Komm, Werner und ich erwarten dich.

Es geht also doch zum Henker, dachte Werner.

In einem Café trafen sie sich.

Jeder schien entschlossen den Platz zu behaupten. Sie maßen sich mit feindseligen Blicken. Sören fing an:

„Es ist feig von dir, jetzt davon zu laufen.“

Und Werner: „Gemein von dir, meine Freundschaft zu mißbrauchen.“

„Du bist ja noch ein Kind,“ warf der andere verächtlich hin.

Werner schwieg. Sie rührte sich nicht. Du mußt kämpfen, dachte sie, und sah auf Sören.

„Einen Menschen braucht sie. Du, ein heruntergekommener Student, bietest nichts und kannst’s auch nicht.“

„Aber ich werde sie mir noch erringen . .“ Es klang ganz eingeschüchtert.

„Ich dagegen brauche sie für meine Kunst. Zeige, was du leistest, und dann wage es, sie von mir zurückzufordern.“

Werner schwieg. Ja, so wird es wohl sein, fühlte er.

Eine Furcht, die in ihr aufstieg, wich. Es war belustigend.

Ich suche mir doch meine Menschen selbst, dachte sie, aber sie schwieg.

Stockend entrang es sich den Lippen Werners: „Du hattest doch gesagt, du wolltest bei mir bleiben.“

Da lachte sie laut auf, wie ein Peitschenhieb war ihr Lachen.

Aber es wurde gequält und verstummte und Mitleid ergriff sie.

Sie fühlte sich selbst getroffen, und dachte, ein zu dummer Kerl . . . Die Unterhaltung wurde erregt. Sören schrie. Die Kellner standen um sie herum. Die Gäste reckten die Hälse. Dann gingen sie. Auf der Straße setzten sie ihre Reden fort.

Werner fühlte einen Zusammenbruch, ein Ende. Bitterkeit stieg in ihm auf. Er riß sich los.

„Siehst du, da geht er hin,“ sagte Sören und triumphierte.

Sie antwortete ihm nicht. Wenn er wirklich ginge, dachte sie, und voll bitterer Reue lief sie ihm nach.

„Ich erwarte dich in . . .“ hörte sie noch hinter sich herrufen.

Wenn er wirklich ginge . . .

Qualvolle Angst jagte sie durch die Straßen, durch die Schänken.

Sie fand ihn nicht. Stundenlang hockte sie vor seiner Tür.

Da kam er, schleppend, voll dumpfer Gefühle eines neuen Anfangs. Er ging kopfschüttelnd an ihr vorbei. Sie zwängte sich ins Zimmer. Sie flehte und beschwor ihn. Sie fiel vor ihm nieder, heulte auf.

Er ging im Zimmer schweigend auf und ab. Sie fühlte: der andere . . . Sie hing sich an ihn. Er stieß sie zurück.

Da warf sie mit einem Fluch die Tür hinter sich zu. Sekundenlang stand sie draußen wie gebannt. Dann jagte sie die Treppe hinunter. Er nach und holte sie unten ein.

Lange sahen sie sich an und fanden sich nicht. Und immer wieder trafen sich ihre Blicke, und jeder fing den brodelnden Zorn in geballten Fäusten ein. Da lächelte er, und sie schmiegte sich an ihn.

„Du . . . glaub mir doch . . .“

Und später flüsterte sie:

„Weißt du denn nicht, daß ich immer bei dir bin . . .“

Es ging mehr und mehr bergab. Die paar Pfennige, die er verdiente, reichten zu ihrem Unterhalte nicht aus. Sie bewohnten ein kleines möbliertes Zimmer, mitten im Lärm der Stadt.

Eines Tages sagte sie zu ihm: „Man sollte wieder als Modell gehen.“

Er wehrte ab. Sie erwiderte höhnisch: „Oder vielleicht zum Theater? Aber ich muß erst Garderobe — — — machen.“

Sie verschaffte sich Empfehlungen und ging zu Leuten, die er kannte.

Er redete sich ein, es wäre von diesen aus Gefälligkeit, und das beruhigte ihn.

Als er sie das erstemal hinbrachte, hielt er sie an der Haustür zurück und sah sie lange an. Dann war sie ohne ein Wort im Hausflur verschwunden. Er hätte das Haus aus seinen Fugen reißen mögen. Sie arbeitete drei Stunden vormittags und drei Stunden nachmittags. Er brachte sie hin und holte sie ab. Schließlich wurde ihr Kommen immer unregelmäßiger, und er stellte seine Gänge ein. Ab und zu ging er mit hinauf und trank den Tee, den sie übriggelassen hatten.

Er sah immer eine Fliege, die sich auf ihren Körper setzte, und immer den Mann, der sie mit einem Wedel verscheuchte.

Einmal sah er, wie das dreijährige Töchterchen des Malers zu ihren Füßen spielte und dann mit den belillten Händen den Körper betatschte.

Die „gnädige Frau“ rief aus einer Türspalte im Hintergrunde mit flötender Stimme das „ungezogene Kindchen“ zurück.

Da ging er nicht mehr mit zu den Malern.

Er dachte manchmal: Was nun? — — was hab’ ich überhaupt mit dem Weib zu schaffen . .

Sein Verdienst hörte fast ganz auf. Er trieb sich wieder in Kaschemmen herum und brandschatzte alte Bekannte.

Wenn er spät nachts ins Zimmer kam, von Zweifeln müde und betrunken, tastete er mit zitternden Händen, ob ihr Körper schweißig ist . . . .

Sie sprachen wenig zusammen. Manchmal erzählte sie ihm Atelierwitze oder weinte: „Tu ich denn nicht alles nur für dich?“

Er hatte sich daran gewöhnt, gleichgültige Worte vor sich hinzumurmeln.

„Was hast du denn? — Ich bin dir wohl zu dreckig geworden.“

Haß keimte in ihren Worten.

Einer von seinen Leuten sprach von ihm: „Schade. Er ist an dem Weibe hörig geworden.“ Und einer seiner Freunde sagte: „Wenn ich wollte, hätte ich sie nehmen können. Man könnte ihm vielleicht einen Dienst erweisen . .“

Aber es waren eben keine Freunde.

Er selbst fühlte: Wie feig, daß ich sie damals nicht gehen ließ. Ich hätte aushalten sollen. Acht Tage vielleicht.

An einem leuchtenden Herbsttage raffte er sich auf. Blitzhelle Gedanken hatten ihn durchzuckt. Er schrieb an Verwandte und Studienfreunde, Briefe um Protektion, Bettelbriefe. Es gelang ihm auch wirklich, eine Position irgendwo zu bekommen. Es ging wieder vorwärts.

Ihr Leben änderte sich. Sie saß jetzt wieder zu Haus und wartete auf ihn. Sie gingen dann noch ein Stück in die hereinbrechende Nacht und weideten sich daran, tausend Kleinigkeiten durchzusprechen. Oder sie holte ihn ab, und sie fuhren weit hinaus vor die Stadt und schmiedeten Zukunftspläne. Man muß sich zwingen, dachte er.

Aber eine zuckende, flackernde Unruhe wich nicht mehr von ihm.

Sein Mißtrauen quälte sie, und sie wurde scheu.

Einmal kam ein Paket an sie. Ein Kostüm, ohne Brief, ohne Karte.

Sie war erstaunt und verlegen. Ein älterer Herr hätte sie angesprochen und bis ins Haus verfolgt.

Er rang mit sich und schwieg. Sie beschwor ihn und weinte.

Schließlich dachte er auch: Ihre Kleider sind heruntergerissen, es wird ganz praktisch sein.

In der Nacht umkrallte er plötzlich die Gurgel.

„Du — — — ich werde dich erwürgen! Was ist’s mit dem Kostüm?“

Es wurde ein Skandal. Sie schlugen sich. Worte fielen, von der Straße aufgelesen, und ihre Erinnerung bespieen sie.

Die Hausbewohner liefen zusammen. Den nächsten Tag warf sie der Wirt raus. Aber es war, als ob ein Gewitter die Luft gereinigt hätte.

Eines Tages schmiegte sie sich an ihn:

„Gib mir ein Kind . . . ich will ein Kind von dir . . . .“

Sie kaufte sich eine Puppe und einen kleinen Bären und trug sie im Zimmer herum. Gib mir ein Kind . . . . so waren ihre Träume.

Sie wanderten Hand in Hand durch die Straßen der Stadt und sahen die Leute nicht. Die Gedanken waren frei und leicht, ein sieghaftes Lächeln schwebte über ihnen. Es war wie das Glück. Mit seiner Stellung kamen auch wieder Freunde und Bekannte in sein Haus, und sie blieben sich gute Kameraden.

Oft dachte er über seine Liebe nach.

Was ist überhaupt die Liebe? Vielleicht eine Ordnung, ein Geschäft oder ein Fehltritt, sicher eine Seligkeit ohne Glück.

Oft sagte er, wenn sie schmeichelte: „Ich liebe dich, aber laß mich allein.“ (Wenn sie die Haare sich waschen wollte!)

Manchmal dachte er: Nein, ich liebe sie nicht, aber ich kann sie nicht missen. Manchmal wiederum kam ihm der Ekel, wenn er sie essen sah, so wie sich das Kind vor den Eltern graut . . .

„Was ist überhaupt die Liebe?“

Dann streichelte er ihre Wangen, und sie bedeckte seine Hände mit heißen Küssen.

Oft saß er in der dunkelsten Ecke einer Weinstube und grübelte. Da sah er die Maler, den Athleten, den Kapellmeister, den Kaufmann, den Studenten, den Schauspieler, den Herrn v. B., ein langer Zug, an sich vorbeiziehn. Oh, wer so glücklich ist, dabei zu sein, dachte er.

Er kroch förmlich in sich zusammen und wurde alt.

Es bleibt etwas für mich zu tun, fühlte er, aber ich weiß nichts Näheres, vielleicht eine Mission . . . .

Im Grunde genommen wurde ihm das gleichgültig. Er träumte:

Sie ist müde in der Erfüllung und ruhig. Wie aber die, die in der Sehnsucht altern? Er ging wieder unter die Bürger und trank.

Einmal hielt er in der Trunkenheit den johlenden Bürgern folgende Rede: Man muß einen Aufruf erlassen. Zur Befreiung eurer Töchter. Gegen die Ladenschwengel und Referendare. Gegen Einjährige und sonstiges Gesindel . . . .

Da war ihm eine Vision. Er sah den Studenten als Amtsrichter, dickbäuchig, beim Frühschoppen. Man witzelt über Weiber. Der Dickbauch lächelt in sein Glas. Voll leiser Erinnerung. Überlegen. Interessant. Dann nimmt er einen Schluck, sieht sich verstohlen im Kreise um und seufzt erleichtert auf. Im Hafen . . . . der Hund!

Werner starrt in den Qualm, stürzt hinaus. Der Lärm tost hinter ihm drein. Von qualvoller Angst gehetzt, jagt er durch die Straßen.

„Uh jeh! Wenn jetzt der D., der Kujon, bei meiner Frau liegt,“ denkt er und jagt weiter. Nach Haus.

Sie sieht ihn vorwurfsvoll an: „Ich sage dir’s schon, wenn ich gehe.“

Er fühlt: Um Gotteswillen, vielleicht schon Ruine . . .

In den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts wurde Herzog Nikolaus von Oppeln zu einem Bankett des schlesischen Adels nach Breslau geladen.

Der Küfer im Schlosse zu Oppeln rollte die Fässer aus dem Keller. Nikolaus nahm mit seinen Kumpanen den Abschiedstrunk.

Frau Bertha saß am Erkerfenster und weinte.

Gewiß, Nikolaus war wieder in Gnaden aufgenommen, nachdem man ihn jahrelang bei diesem Bankett übergangen hatte. Allerdings war erst vor Wochen der Sohn und Stammhalter ertrunken.

Auf Frau Berthas Geheiß hatte der Vogt die Bauern prügeln lassen. Nikolaus liebte das nicht. Man wußte eigentlich nicht, warum und sprach dies und jenes. Diesmal kam er zu spät, um es noch zu verhindern. Er hatte getobt und die Fäuste gegen Frau Bertha geballt und nachher noch manches in sich hinein gebrummt, daß sie im Innersten erschrak. Dann hatte er die heulenden Bauern mit in den Keller genommen und ein tolles Gelage begonnen. Der Kleine spielte gerade am Weiher, als am nächsten Morgen die Bauern nach Hause schwankten. Man hat niemals erfahren, ob sie nur täppische Reverenzen gemacht und mit ihm Späße getrieben, daß er erschrecken mußte und verängstigt wurde und in den Weiher fiel, oder vielleicht einer aus Übermut Hand an ihn legte und dann vergaß, oder gar eine Verschwörung bestand, das alles hat man nicht erfahren.

Nikolaus wurde zu Frau Bertha hart wie Stein.

Der kleine Nikolaus wurde nachts verscharrt, während die Fürstlichkeiten und Bischöfe, die auf die Kunde von dem Unglücksfall herbeigeeilt waren, den Rausch, der ihnen beim Empfang verabreicht wurde, ausschliefen.

Man fand es zwar absonderlich, aber es wunderte nicht weiter, denn man dachte und mutmaßte so und so.

Jedenfalls wurde er wieder eingeladen. Was tat’s, daß er mit den Bauern zusammensteckte und soff. Es standen ernste Zeiten bevor, und auch Frau Bertha hatte heimlich manches Brieflein ausgesandt und teilnehmende Vettern geworben.

Aber ihre Güter blieben unbestellt. Die Pächter warfen die Boten, die den Zins fordern sollten, vor die Tür. Die Prügelmaschine verstaubte. Nikolaus wollte seine Bauern frei. Grund genug, daß Frau Bertha weinte.

Am dritten Tage ritt Nikolaus mit seinen Kumpanen nach Breslau. Als die Schloßbrücke hinter ihm aufgezogen wurde, war es ihm, als sollte er sich umwenden und sprechen oder hinaufwinken oder noch schnell einen Vertrauten gewinnen oder ein ganz klein wenig Anordnungen treffen, aber das Etwas, das aufblitzte und anschwoll und ihn zu zerreißen drohte, zerbarst in dem Rattern und Knirschen der Zugketten.

Es stak im Innersten, was er vor sich hermurmelte.

Es war ein tierischer Laut und wie ein Fluch, so daß auch die anderen begeistert fluchten und lachten.

Die Keller und Schenken in Breslau wurden zu klein. Die Bürger stritten sich mit den Pfaffen, und die Pfaffen mit den Felljuden, die gerade Markttag hatten.

Unter all diesem Volk saßen Nikolaus und seine Gesellen und soffen.

Manch fürstlicher Vetter ritt über den Markt und stieg am Stadthaus ab. Schuster und Schneider liefen zum Empfang geschäftig in Ratsfräcken hin und her.

Nikolaus sparte nicht mit Witz und Schimpf. Das Gejohle seiner Gesellen schwoll gegen die Maskerade, daß die Bürger still wurden. Als der Abend hereinbrach, lagen die Meisterlein unter dem Tisch. Die Weiber keiften.

Dann läuteten alle Glocken, und Fanfaren ertönten.

Nikolaus erhob sich und seufzte schwer.

Die Fanfaren schrieen ihn an und rüttelten.

Aus dem Rülpsen seiner Gesellen sprach jetzt eine leise milde Stimme zu ihm. Er krampfte die Faust zusammen, Sturm war in ihm. Er wollte schreien, brüllen und sah irr um sich. Es schrie jemand in ihm — wie ein Fährmann, dann klang es wie geborstenes Metall.

Nikolaus schritt langsam über den Markt und die Treppe zum Bankettsaal hinauf. Den Kopf hielt er gesenkt. Wie zum Stoß. Die breiten Schultern zitterten.

Man beachtete ihn drinnen nicht sonderlich.

Er fühlte sich bedrückt, gefesselt und tat mit in feinen Manieren. Stunden verflossen. Der Wein und die mancherlei Reden taten das ihrige.

Nikolaus blieb schweigsam. Kaum daß überhaupt jemand ihm Anrede gab.

Es wurde wie bei jedem Bankett. Welche fingen mit rauhen Späßen an, wieder welche sprachen von Weibern. Es gab wohl auch Püffe und Maulschellen, und man vertrug sich dann wieder.

Nikolaus blieb schweigsam. Man hatte ihn zwar geladen, aber man beachtete ihn nicht.

Er hätte wohl gern mitreden mögen, und er wunderte sich, daß sie dasselbe taten, was sie bei ihm so verachteten. Er hatte auch jene Weiber besessen, die sie lästerten, die heiligen und die Weiber der Bürgermeister und Schöffen. Er liebte sie noch alle und bewahrte es wie etwas Kostbares, so daß er nie davon sprach.

Er sehnte sich fort. Er dachte, wie er sich doch besser von mancherlei trennen sollte, er dachte an sein Haus, still liegen und in die Sonne schauen. Seine Gedanken verwirrten sich. Er fühlte, daß er die Heilkraft der Ruhe nicht finden würde. Der Ruf von Haus war so trübe und vergiftet und viel zu schwach.

Sie wurden lärmender.

Es war ihm, als ob sie alle von ihm sprachen. Als ob sie ihn um seine Streiche beneideten.

Der Fürstbischof meckerte etwas und alle lachten.

Nikolaus schien es, als starrten sie ihn an, daß jeder etwas Besonderes von ihm wüßte und er jedem mit dem Becher Bescheid trinken müßte.

Er sah sich wie an den Schandpfahl geschlossen.

Plötzlich sprang er auf, daß seine Tischnachbarn vom Sessel fielen.

Er bahnte sich unter dem Gelächter der übrigen zu dem Fürstbischof einen Weg und schlug ihm in das vor Lachen verkrampfte Gesicht.

Es wurde ganz still im Saal.

Nikolaus duckte sich, als ob er unter einer Last zusammenbrechen müßte.

Er faßte blitzschnell die Eminenz und schritt durch den Saal zur Tür.

Und er warf den zitternden Pfaffen die Treppe hinunter, daß das Volk unten aufschrie.

Dann stieg er langsam die Stufen hinab, schritt durch die Volksmenge und hinüber in seine Herberge.

Seine Stimme bebte, als er seine Leute zu sich rief.

Die Humpen wurden wieder gefüllt. Man hörte aus dem Geschrei der draußen stehenden Menge, wie die Stadtwache aufzog.

Nikolaus saß schweigend und trank.

So will ich mich selbst vertrinken, dachte er und fühlte dumpf, wie eine Woge seine Erinnerungen und Träume hinwegspülte.

Später kamen Frau Berthas Brüder.

„Wir wollen dich vor der Wut des Pfaffengesindels schützen,“ sagten sie. „Füge dich in unsere Anordnungen.“

Dann legten sie ihn in Fesseln.

Viele Boten kamen ins Oppelner Schloß. Schließlich ritten auch Frau Berthas Vettern über die Brücke.

Im Schloßhof saßen die Bauern und soffen.

Es gab ein großes Gelächter, als die Kunde von Breslau offenbar wurde. Frau Bertha sparte nicht.

Manchmal dachte sie: Vielleicht haben sie einen bestimmten Plan, sie hassen ihn alle.

Dann aber wieder: Aber es wird ihm eine gute Lehre sein. Dieser Saufbold! Kein Bauer will arbeiten.

Und auch: Was mag geschehen? Schließlich ein freier Herzog und Späße . . . Aber dann lachte sie wieder laut auf. Wie er nur aussehen mag. Der Bär. In Ketten. Vielleicht ganz hilflos. Mit suchenden Blicken. Hin und ihm helfen. Das Tor öffnen und knurren: Na komm, diesmal noch . . . und sie sah lange dann starr vor sich hin.

Frau Bertha empfing die Gäste mit Hohn im Blick.

Gestern hätte man ihn nach Neiße geschafft. Vielleicht werde dort ein Gericht sein.

Sie hatten würdevolle Mienen.

Dann wieder schüttelten sie sich vor Lachen.

Die Frau sagte spitz: „Ihr werdet den Spaß zu bezahlen haben, wie ich ihn kenne.“

Sie beeilten sich mit Gegenreden. Es läge doch anders und nur ihrem Einfluß sei es zu danken und vor Jahren hätten sie schon gewarnt. Die Verdächtigungen als Lutherischer, ernste Verwicklungen, die Bauern, die Steuern . . . Überhaupt der Adel sei gegen ihn, und wenn schließlich nicht die Frau wäre und die Familie . . .

Sie liefen wie aufgescheuchte Vögel hin und her, traten von einem Bein aufs andere und verbeugten sich.

Frau Bertha ließ Wein auffahren.

„Soll man nun eingreifen oder dem Scherz seinen Lauf lassen?“

Da lachten sie wieder und tranken sich bedeutsam Bescheid.

Aber Frau Bertha ließ nicht locker.

Es schade dem Ansehen und auch nur eine Sekunde Ernüchterung wäre der Tod.

Gewiß, und es sei für alles gesorgt.

Dann redete der eine bedächtig von Gerüchten, die ihm zu Ohren gekommen wären, ehelichen Zwisten und Frau Berthas traurigem Los und dem abnehmenden Wohlstand. Seine Stimme wurde butterweich. Der andere half mit in Klagetönen. Es waren zwei Stimmen, die sich gegenseitig immer wieder wie Wettläufer überholten und sich scheu nacheinander umblickten.

Frau Bertha sah durch ihre Reden hindurch und hörte sich sprechen: Was wollt ihr von mir, warum quält ihr mich.

Und sie antworten: Laß ab von ihm. Acht Jahre sind es her, daß wir ebenso sprachen. Der oder Jener. Willst du uns wieder ziehen lassen?

Es war, als ob sie schreien müßte: „Hinaus — — oh ihr — — — — Er und du oder du — — — — haha.“

Heben sie nicht die Finger und grinsen?

Frau Bertha fuhr sich über die Stirn und schwieg.

Sie fühlte dumpf, wie etwas Geheimnisvolles, Schleichendes sie einspann. Sie werden Geld verlangen, vielleicht alles Land. Soll ich ihn aufgeben? Sie erschauerte.

Der Liegnitzer sprach von ihrer Kindheit. Sie hatte ihm ein ganz klein wenig Liebe gegeben, damals. Sie war allein, und er war stattlich, voller Pläne. Es sah alles damals so viel und groß aus. Aber jetzt — — — nein. Und war schon Nikolaus für sie verloren, nicht denen da opfern. Nie.

Ihre Miene wurde zornig. Sie sah das Ende ihrer Reden. Sie erkannte geifernde Schwätzer, denen sie selbst nur zu oft Gehör geschenkt hatte. Wie hatte sie dagegen ihn manchmal getroffen und im Innersten erschüttert.

Es zuckte in ihr, krampfte sich, schrie.

Plötzlich fühlte sie, wie sie zum Schlag ausholten, sie sah es näher kommen — — — — nur nicht hören — — — die Bestätigung, die Besiegelung, die Schuld.

Sie sank mit einem Aufschrei zu Boden.

Die Vettern sahen sich betroffen an.

Gurgelndes Stöhnen, leidenschaftliche Anklagen fielen auf sie ein. Hilferufe.

Einige alte Weiber liefen zitternd herbei. Sie hielten sich scheu in einer Ecke des Zimmers und glotzten die beiden an. Die Vettern lächelten gequält.

Der eine dachte: die ist hart wie Stein, und schaute den anderen sonderbar von der Seite an.

Der Liegnitzer recke sich und fühlte: Also dann das nächste Mal. Vielleicht ein Brieflein?

Sie gingen auf den Zehenspitzen hinaus.

Als sie wieder über die Brücke ritten, dachte der eine, ob ich ihr doch noch einen Boten sende, entweder — oder. Der andere aber besah sich alles Land und sprach bei sich: Man sollte den Herzog retten, und er machte sich eine Rechnung.

Frau Bertha stand im Schloßhof und lachte seit langer Zeit wieder aus tiefstem Herzen.

Ich werde offen mit ihm reden, dachte sie, ein neues Leben wird beginnen. Nicht mehr er, wir. Gegen die anderen.

Tanz und Spiel gingen bis zum Morgen.

Um den Weiher stellten sich die besoffenen Bauern und schwuren, nach Breslau zu ziehen und ihren Herzog zu befreien.

Ihr wieherndes Gelächter ließ ab und zu Frau Bertha erschreckt im Schlafe auffahren.

Zwischen Obst- und Gemüsegärten liegt die bischöfliche Residenz Neiße.

Um viele runde und eckige Kirchtürme lebt ein Volk von Krämern.

Dorthin wurde Nikolaus gebracht.

Man hatte sich eigentlich nicht mehr sonderlich um ihn gekümmert. Der Adel wollte nicht mithineingezogen werden, der Fürstbischof fürchtete ein zu großes Aufsehen, vielleicht auch eine Einmischung fremder Fürsten, es wäre ihm sogar lieb gewesen, man hätte den Herzog überhaupt nicht festgehalten. Er wußte, daß jetzt etwas getan werden müsse. Die Scherereien würden kein Ende nehmen. Schließlich stand auch sein Ansehen auf dem Spiel. Das Volk wollte sich in Forderungen und Rachegelüsten nicht genugtun.

Er übergab seinem Kabinett die Angelegenheit zu weiterer Verfolgung und reiste irgendwohin.

Den Kämmerern war die Sache sehr unbequem. Sie schoben den Herzog nach Neiße ab. Die hätten den Vorfall dort ordnungsmäßig zu regeln.

Der Rat der Stadt war in arger Bedrängnis. Der Bürgermeister las das Schreiben, das die Ankunft des Gefangenen ankündigte und schüttelte den Kopf. Es kam ihm dunkel zu Bewußtsein, daß man etwas Besonderes von ihm verlange.

Bald war es den Schustern und Schneidern und sonstigen Leuten bekannt. Eine furchtbare Aufregung kam in die Stadt. Alles lief hin und her. Die Fleischer schlugen Wurstbuden auf, die Bäcker boten frische Semmeln und Brezeln aus, die Komödianten bauten die bereits abgerissenen Zelte wieder auf. Ratsherren liefen mit hochroten Köpfen umher und erzählten einander im Flüstertone, daß etwas ganz Außerordentliches bevorstehe. Der Bürgermeister fieberte. Seine Frau, die lange Jahre bei Pfaffen gedient hatte, besaß mancherlei Erfahrung in Sitten und Rechten. Sie verstand sich darauf, daß der Herzog noch am gleichen Tage hingerichtet werden müßte. Der Bürgermeister schwitzte.

Die Schöffen drängten, sogleich das Gericht abzuhalten. Der und jener hatte keine Zeit, die Weiber kneiften am Portal des Rathauses, fahrende Musikanten spielten zum Tanz auf. Es war ein Volksfest, das dem Herzog bei seinem Einzug in die Stadt entgegenflutete.

Der Weg bis Neiße hatte ihn weidlich belustigt. Die Komödie war köstlich und dieser Empfang . . .

Er lachte, daß es von einem Tor bis zum anderen schallte.

Das Volk johlte und jubelte auf den Straßen.

Es lag so gar kein Unwillen und Haß darin, so daß Nikolaus nachdenklich wurde.

Was hat dieses Volk, dachte er, sie sind Kinder, die ein Spielzeug zerbrechen, warum lachen sie . . .

Er wurde vor den Rat geführt.

Jemand las einen langen Schriftsatz vor.

Er hörte nichts.

Schuster und Schneider sprachen auf ihn ein. Der Bürgermeister schlug auf den Tisch und brüllte.

Der Herzog gähnte.

Er sah, wie sie mit wichtigen Mienen Schriftstücke aufsetzten, berieten, abstimmten, die Köpfe schüttelten. Draußen schrie alles durcheinander.

Der Bürgermeister verbeugte sich gegen den Herzog und begann wieder etwas vorzulesen.

Nikolaus versetzte ihm einen Fußtritt.

Ein Schöffe nach dem anderen schlich sich hinaus.

Nikolaus schrie auf. Er hatte den Bürgermeister gefaßt und schleuderte ihn gegen die Wand.

Sie waren für eine Sekunde allein im Saal.

Dann kamen Schergen und schleppten den Herzog in das Turmverlies. Sie griffen roh zu.

Nikolaus blieb stumm. Seine Miene wurde eisenhart.

Vor der Bürgermeisterei lief alles Volk zusammen. Man hörte das Weib keifen. Teller flogen auf die Diele. Es war ein Gehaste, als ob drinnen ein Toter wäre. Der Bürgermeister hatte sich in die Hosen geschissen.

Die Stadt wurde still.

Der Raum, in den man den Herzog gebracht hatte, war niedrig und fast ohne Licht. Ein schmales Fenster ging auf eine Seitengasse.

Nikolaus schlief. Vielleicht zwei Tage, und es war wie eine Stunde. Er hatte schwere Träume und eine Vision, daß er auffuhr und erwachte.

Nikolaus . . . ., schrie es, und dann leiser: Nikolaus . . . . Es fing sich in den Gängen und Gewölben, es kam immer leiser wieder zurück, und doch wie ein Boot, das auf einem schwarzen Strom vorüberschaukelte.

Er brüllte. Wie ein verendendes Tier, nein: ruckweise und dann immer wieder in der Tiefe versinkend.

Dann wurde er wieder ganz still.

Er fühlte: Ich setze mich ins Unrecht damit. Nicht betteln. Was fällt denen ein? He . . . .

Niemand antwortete.

Heee . . . . er tastete sich an den Wänden zum Fenster und zerschlug das Glas. Heee . . .

Niemand antwortete.

Wartet . . . . er knurrte einen wilden Fluch.

Der Raum war dunkel und niedrig.

Er fühlte: die Brust wird zerspringen — — — oh, wer rief doch? Sie kam wieder. Die ihn quälte, marterte, ihm das Blut aus dem Herzen trieb.

Nicht du . . . . er brüllte wieder auf.

Dann lauschte er und hörte sagen: „Was tu ich dir, Nikolaus, hörst du, was . . .“

„Hee . . . du . . . ich hasse dich . . . du willst mich am Boden sehen . . . oh . . du hast gesiegt.“

Er sank in sich zusammen.

Wieder rief die Stimme: Nikolaus . . bin ich dir nicht gefolgt, ich war doch bei dir, du Meines . . du . .

„Hahahaha . . . .“ Wie Stahl schlug das Lachen gegen die Wände. Aber es sprach weiter: Und siehst du, ich mußte dich quälen, so lieb hatte ich dich, denn das Kind, vielleicht stand es zwischen uns . . . .

„Hör auf,“ er keuchte, „ich habe dich nicht verstanden.“

Es war totenstill im Raum.

„Du hast dich seit jenem Tag gegen mich gewendet, mich gehetzt, verjagt mit deinem Haß, und du hättest mich streicheln sollen, vielleicht kannst du das, spielen sollen wie früher, noch mehr Kind sein, gutmachen alles . . . .“

Es war als ob etwas schrill anschlüge: Nein, das hattest du, gerade du . . . es schien sich zu zwingen . . . und warum kamst du nicht mehr, ich wartete Tag um Tag . . .

„Nein, ich . . . ich . . . ich.“ Er wurde unruhig. „Was wollen die, hee . . . was ist?“

Wieder schlief er ein.

Der Raum war dunkel und niedrig.

Von allen Ecken wisperte es: Nikolaus . . . Nikolaus . . .

Er fuhr auf. Als ob er eine Last abschüttelte.

Er seufzte: „Komm, laß gut sein. Ich war Schuld und wenn auch . . . nur ich, denn du vielleicht warst bei mir, auch so.“

Er schlug gegen die Wand: „Teufel . . . meinetwegen, ich lüge.“

„Warum gingst du fort, weiter und weiter . .“

Er schrie: „Nein, nein, nicht ich . . .“

Seine Stimme schien sich wo anklammern zu wollen.

Dann wurde er ruhig und lächelte.

Komm zu mir, dachte er, ich will dich streicheln, ist es auch meine Schuld . .

Er schlief wieder ein.

Doch bald schrie er auf, er krallte sich in die Mauer ein.

„Du hast mich zu Boden getreten, du . .“

Er besänftigte sich: Wer hilft mir, eigentlich wer und wozu?

Er lachte grimmig. Heee . . . .

Niemand antwortete.

Habe ich etwas getan, dachte er, und was? Heee . . . .

Er lauschte.

Dann flehte er: Sprich wieder . . . Zwar kennst du mich nicht. Und trotziger: Nein, du — — du nicht und ihr alle nicht.

Er lachte und ballte die Fäuste. Wie gegen Erinnerungen. Stunden verflossen. Vielleicht waren es Tage.

Kinder standen in der Gasse. Der Herzog brüllte und lachte und stöhnte. Es klang immer wie eine Erlösung nach einem verzweifelten Kampf.

Das kann eine schlimme Sache werden, dachten die Krämer und kratzen sich am Kopf. Am nächsten Morgen tupfte der Böttcher Kunze sich seinen Brummschädel und dachte: diesmal geht es noch. Der Mützenmacher Glatzel erhob sich gähnend aus einem Winkel. Der Bürgermeister kroch zu seinem Weibe und dachte: bald wird wieder Ruhe sein. Und so weiter.

Um diese Stunde schlichen Fleischergesellen zum Herzog und schlugen ihm den Kopf ab.

Man weiß nicht, ob er sich gewehrt oder gelacht oder geseufzt oder sonst irgendetwas getan und gesagt hat.

Viel ist nicht mehr zu sagen.

Ein Gesindel von Geschichts- und Geschichtenschreibern ist an die Arbeit gegangen. Manche sind genauer . . und viele haben damit recht. Was tut’s.

Mancherlei ist vom tollen Nikolaus im Umlauf.

In Neiße liegen darüber Aktenbündel, und ein verrostetes Schwert wird gezeigt, vielleicht auch ein Bild, wie Nikolaus auf dem Marktplatz enthauptet wird. Vielleicht hat dabei auch ein Glöcklein geläutet. Das muß spaßhaft gewesen sein.

Vielleicht wird erzählt, daß Frau Bertha mit Roß und Reisigen wutschnaubend in Neiße eingezogen ist oder auch wehklagend. (Mit Roß und Reisigen.) Sicherlich sind auch Boten gekommen, vielleicht kam einer gesprengt mit verhängtem Zügel durch das Stadttor um die Morgenstunde und hat geschrieen: Haaalt . . haltet ein . . . Aber aber . . . . Vielleicht ist mit dem Bürgermeister noch etwas geschehen. Das kommt vor.

Aber man wird verstehen, daß das alles nichts zu sagen hat.


Back to IndexNext