The Project Gutenberg eBook ofDer Ewige JudeThis ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online atwww.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.Title: Der Ewige JudeAuthor: August VermeylenIllustrator: Frans MasereelTranslator: Anton KippenbergRelease date: December 20, 2014 [eBook #47711]Language: GermanCredits: Produced by Jens Sadowski*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER EWIGE JUDE ***
This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online atwww.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.
Title: Der Ewige JudeAuthor: August VermeylenIllustrator: Frans MasereelTranslator: Anton KippenbergRelease date: December 20, 2014 [eBook #47711]Language: GermanCredits: Produced by Jens Sadowski
Title: Der Ewige Jude
Author: August VermeylenIllustrator: Frans MasereelTranslator: Anton Kippenberg
Author: August Vermeylen
Illustrator: Frans Masereel
Translator: Anton Kippenberg
Release date: December 20, 2014 [eBook #47711]
Language: German
Credits: Produced by Jens Sadowski
*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER EWIGE JUDE ***
August VermeylenDer Ewige JudeAus dem Flämischen übertragen vonAnton Kippenberg*Mit zwölf Holzschnitten von Frans MasereelLeipzig • im Insel-Verlag1921
August Vermeylen
Aus dem Flämischen übertragen vonAnton Kippenberg*
Mit zwölf Holzschnitten von Frans Masereel
Leipzig • im Insel-Verlag1921
Zu der Zeit, da unser Herr und Heiland noch unter den Menschen predigte, lebte in einem armseligen Keller zu Jerusalem ein Schuhflicker, mit Namen Ahasverus. Er war im selben Jahre geboren wie Christus und war ein strammer, hochgewachsener Kerl von einem Juden, mit knochigem Gesicht und ein paar hellen, kecken Augen, in denen eine Flamme stak.
Er liebte es, mit beiden Füßen fest auf der Erde zu stehn, und was nicht gerade war, das nannte er krumm, ob er gleich wenig vom Reden hielt: jeder geht doch seinen eigenen Gang, dachte er, und der Tod ist aller Welt gegeben.
Dieser Ahasverus fühlte sich nicht glücklich.
In ihm war etwas, das ihm keine Ruhe ließ, da drinnen brannte etwas, womit er nirgend hin wußte; er war wie einer, der sich in seinem Bette hin und her wälzt und keinen Schlaf finden kann.
Vom frühen Morgen bis zum späten Abend saß er gebückt in seinem Keller, schnitt sein Leder, zog den Pechdraht, flickte Absätze, hämmerte auf Hacken und Sohle und schuftete, daß es bis zu den Nachbarn hin rauchte, aber niemals hörte er das süße Zischen von Butter in der Pfanne. Tagaus,tagein: es war immer so gewesen und würde immer so bleiben: er konnte nicht mehr heraus, das Leben hatte ihn beim Wickel und stieß ihn vorwärts.
Wohin? Dem Ende zu.
Warum? Darum.
Er sah die Kinder zur Welt kommen, jämmerliche, wehrlose Würmlein, er sah die Menschen sterben, jung und alt, alles ohne Zweck. Er sah, wie die Kleinen von den Großen aufgefressen wurden; er sah die ausgehungerten Schlucker aus seiner Gasse zu Hunden werden, die sich um einen Knochen rissen; er sah unschuldige kleine Geschöpfe leiden wie Märtyrer. Und er hätte über all dies ungereimte Zeug lachen mögen, denn er konnte nicht einmal weinen, er würgte alles in sich hinein, und es lastete ein Stein auf seinem Herzen.
Oft saß er lange grübelnd auf seinem niedrigen Schusterschemel, und seine Gedanken liefen im Kreise herum, wie ein Pudel, der nach seinem Schwanze schnappt. Er stand auf, setzte sich wieder hin und blickte umher in seinem dumpfigen Keller, als röche es da nach dem Grabe. Und bisweilen stieg dann ein wilder Drang in ihm auf, verbissen klopfte er auf den alten Stiefel, der zwischen seinen Knieen eingeklemmt war, klopfte wie der Neck auf eine Seele, und in ihm rief eine dumpfe, drohende Stimme: Es muß ein Ende haben, es muß ein Ende haben! Und sein scharfes Auge flackerte. Aber das Morgen glich dem Heute und das Übermorgen dem Gestern, und Ahasverus, das braucht nicht gesagt zu werden, lebte nur so weiter, nach der Menschen alter Gewohnheit. Und die Tage gingen hin, einer nach dem andern, als ob es niemals einen Ahasverus gegeben hätte.
Tastete sich ein Kunde, gebückt, sein Trepplein hinunter, so wartete er, bis der zu sprechen anfing, und gab ihm wortkarg Bescheid. Wenn ich nur endlich seine Hacken sähe, um allein zu bleiben, dachte er; — allein mit der düsteren Glut, die in ihm loderte. Was konnten die armen Teufel ihm erzählen, es sei denn von ihrem elenden Leben, demselben Leben, wie das seine war! Mit Kindern hätte er wohl einmal spaßen mögen, aber die fürchteten sich vor seinem Lachen und kamen nicht gern in diese unheimliche Höhle.
Wenn seine Einsamkeit ihm allzu öde wurde, dann lief er ziellos die schmutzigen Gassen entlang mit ihrem Armeleutegeruch, durchs Gedränge der sich herumbalgenden Rotznasen, der Gemüseweiber, die neben ihren Karren humpelten, der Juden, die überall, vor den Kellern, auf den Türstufen, in Löchern unter den Freitreppen, beim Schachern und Krakeelen waren. Aber er betrachtete mit Groll den elenden Kuddelmuddel und fühlte sich darin noch einsamer denn je.
Manchmal war es ihm, als ob er nureinDing zu finden brauchte, nur ein Wort, um glücklich zu sein, — doch kein Mensch in der Welt wußte ihm dies Wort zu sagen. Er hätte seine Arme ausstrecken mögen, um das volle Leben einmal tüchtig anzupacken, aber er fühlte wohl, daß, was er auch tun mochte, die schreckliche Leere seines Herzens nicht füllen konnte, daß niemals Happen und Brocken seinen Hunger befriedigen würden, daß er immer weiter streben würde, frei, freier als die Lerche, als die Winde, als der Tod, und daß alles Wünschen darum nutzlos war, alles nutzlos.
Und so saß er gefangen in seiner Verdammnis, wie in einem Keller ohne Tür oder Luftschacht.
Und doch, hatte das Leben auch keinen Reiz für ihn, kam er sich auch oft gänzlich ausgelaufen vor, es steckte im Tiefsten seines Herzens, so tief, daß er selbst es nicht sah, etwas, woran kein Teufel rühren konnte. „Sie werden mich nicht kriegen“, sprach er bei sich selbst und lachte höhnisch und biß die Zähne zusammen und hielt sich steif. Denn das will ich euch nur sagen: er war ein Mann vom Kopf bis zu den Füßen, kein Seelchen von Zucker und Honig, kein Faselhans oder Flausenmacher, sondern ein knorriger Kerl auseinemStück mit ein paar sehnigen Arbeitshänden, einem klaren Kopf und einem Brustkasten, den man anpacken konnte.
Nun war es, müßt ihr wissen, damals eine harte Zeit, und das Volk hatte viel zu leiden: das Korn, aufgehäuft auf den Böden der Reichen, kostete ein schweres Stück Geld, und alles Fett auf der Suppe wurde abgeschöpft durch Auflagen und Fronden, durch große und kleine Zehnten, die kein Ende nahmen. Daß gemurrt wurde, könnt ihr euch denken: mansteckte die Köpfe zusammen und räsonierte hier und dort, an Ecken und Kanten. Wenn die Walker und die Weber am Sonntag getrunken hatten, gab es Radau in ihrem Bezirk, und dann bebten die Patrizier und die Blutsauger des Volkes in ihren verriegelten Häusern. Ahasverus verzog die Mundwinkel und zuckte die Achseln, denn es war ihm bisweilen, als ob er die ganze Menschheit für ein Butterbrot hätte verkaufen können. Doch sah er mit heimlichem Vergnügen, daß bei Volkszählung und Steuererhebung immer mehr geknurrt wurde. „Vielleicht werden sie doch noch einmal Menschen werden!“ dachte er. Aber wenn dann die geharnischten Hellebardiere zu Pferd mit ihren roh lachenden Gesichtern auf dem Markt erschienen, war niemand, der noch zu mucksen wagte.
Der Kram könnte vielleicht doch einen besseren Dreh bekommen, dünkte ihn, als er zum erstenmal Jesus den Nazarener sah.
Er hatte schon seit einiger Zeit davon gehört, wie dieser Fremdling zum Ärger aller Priester und Wucherer die Kleinen um sich scharte und sie mitriß mit seinem inwendig brennenden Wort; und alle glaubten ihm, wenn er prophezeite, daß sie glücklich sein würden und daß einst die Güte auf Erden herrschen würde.
„Faxen!“ hatte Ahasverus konstatiert und war sogleich wieder in seine Höhle gekrochen.
Aber ein andermal hatte er vernommen, wie der Nazarener die Tische der Wechsler im Tempel umgestürzt und all ihre durcheinanderkollernden Geldscheiben über das klingende Pflaster geschüttet hatte, wo sie darnach grapschten, gebückt unter seiner geflochtenen Geißel; und wie er sie mit Sack und Pack zum Tempel hinausgefenstert hatte, mitsamt den Taubenzüchtern, die dort Tauben für die Opfer verkauften. An diesem Tag hatte Ahasverus geschwiegen.
Und etwas später hatte er ihn selbst gesehen. Es war gegen Abend, außerhalb der Stadtmauern, wo zwischen ärmlichen Gärtchen und Plätzen voll Aschengrus, Schutt und Topfscherben die Seiler arbeiten und die Ziegelbrenner. Ein ganzer Schweif war ihm aus Galiläa gefolgt, Tölpel, die wegen ihres bäurischen Aussehens in den Straßen von Jerusalem von den Gassenjungen verhöhnt wurden, rote, wetterharte Fischer, hungrigeLümmel mit dämlichen Augen und bärtige Weinbauern mit harten Köpfen: sie standen um ihren Meister herum und nickten „ja“ zu allem, was er sagte. Die Seiler hatten ihre Bahn verlassen und die Ziegelbrenner ihren Ofen; die Arbeiter, die aus der Stadt heimkehrten, ihr Gerät auf der Schulter, blieben stehn und guckten, und da waren auch Galiläer aus Jerusalem, allerhand Tagediebe, verlauste Krüppel und ein paar Freudenmädchen, inmitten zahlreicher Kinderbrut.
Die Hände in den Taschen und mit den Ellbogen stoßend, schob Ahasverus durch dies Gedränge, immer noch mißtrauisch: „Wir wollen uns diesen Kerl nun mal ansehn . . .“
Er sah ihn, — er sah die erhaben-ernste Erscheinung mit dem schmalen Gesicht, dem etwas bitteren Zug um den Mund und den Augen voll Liebe. Und plötzlich schwieg alles in ihm, er lauschte gespannt, und die Stimme drang in sein Herz; es war, als hätte eine mächtige Hand sich auf ihn gelegt.
Ja, da stand ein Mann! und sein Wort kam auf Ahasverus zu wie eine einfache, nackte Wahrheit. Ja aber, ja aber, wir wollen mal sehn . . . Und Ahasverus sträubte sich dagegen, denn viel begriff er nicht, wie er wohl gewünscht hätte, abereineswurde ihm doch sogleich klar: daß der ganze Kram von unten nach oben gekehrt werden sollte; von dem großen Tempel, der sich da hinten wie ein Ungeheuer von Weiß und Gold in den Himmel hineinwölbte, würde kein Stein auf dem andern gelassen werden . . . „Wähnet nicht, daß ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf die Erde; ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Und Jesu Blick fiel starr auf Ahasverus, der ihn schweigend ansah und plötzlich, er wußte nicht warum, ein tolles Jauchzen spürte in der verstopften Kehle.
Später schämte er sich dessen, und es schien ihm fast, als ob der Nazarener ihn verzauberte. Denn als er vor ihm stand, wurde er gleichsam ein anderes Wesen, er fühlte, daß er ein Mensch war, und daß es noch andere Menschen gab gleich ihm selbst, und daß das Leben einen Sinn hatte und alle Dinge vielleicht so einfach waren. Aber was hoffte er denn eigentlich? Er wußte es nicht. Und zu Hause nagte und knabberte er nochmehr an all seinem Zweifel, und er haßte dann diesen Jesus, der die stumme Glut da drinnen in seiner Brust aufgeschürt hatte, denn nun konnte seine Seele nicht mehr schlafen.
Wußte der Galiläer selbst wohl, was er wollte? Warum schwatzte er von Vergebung und Liebe, wenn er die Macht brechen wollte? Und wie würde er es anfangen, den Hungrigen und Beladenen den ersten Platz an der Tafel zu geben? Wie würde er nun die Menschen ändern? Lag sein Neues Reich in den Wolken, oder wollte er König von Jerusalem werden, und würde dann alle Tage Sonntag und alle Sonntag Kirmes sein? Er sagte wohl: Eure Rede sei ja, ja, nein, nein! Aber warum dann all diese Gleichnisse und diese Bildersprache, woraus kein Mensch klug wurde? Er war am Ende doch nur ein Träumer! . . . Und warum saß er stundenlang im Tempel, zu tifteln über das Gesetz und die Propheten mit den heuchlerischen Pharisäern, „diesen übertünchten Gräbern“, er hatte es selbst erkannt, „die auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine und alles Unflats“? Seine Apostel, einfältige Tröpfe, die überallhin mitliefen, vermochten selbst nicht viel davon aufzuschnappen. Warum entschloß er sich nicht einmal, mit einigen handfesten Genossen die Fäuste aus dem Ärmel zu recken? Aber wenn die Köpfe warm wurden und da etwas zu rumoren anfing, dann wandelte er in aller Gemütsruhe nach Bethanien zu den Schwestern des Lazarus! Nein, auch das gefiel Ahasverus nicht: es war immer zu viel Weibervolk um ihn herum.
O, könnte er doch einmal all diese verrückten Mädchen und diese Lumpenkerle, diese Schwätzer und Tagediebe von dem Manne wegjagen und irgendwo allein mit ihm sitzen, am Abend, und seine Hand in die eigene nehmen und in seine seltsamen, stillen Augen blicken und ihn fragen, was er tun sollte! Denn er konnte sie nicht vergessen, diese sanfte Stimme, die durch begehrende Lippen aus der Tiefe klang, dies entschlossene Gesicht, diesen Blick, der an jenem Tag auf ihn gefallen war und worin er gelesen hatte, ja, deutlich gelesen, daß auch in Jesus etwas brannte, wie in ihm selbst, etwas, womit er nirgendhin wußte . . .
Aber sein ganzes Wesen umgab solch ein Hauch inbrünstiger Trauer,wenn er seinen Blick schweifen ließ über sein hoffendes Volk und weiter zu den hohen Zinnen von Jerusalem, daß Ahasverus nicht wagte, ihn anzureden.
Er blieb in einer kleinen Entfernung schweigend stehen, und oft, wenn er lange nach ihm hinsah, hatte er das Vorgefühl eines großen Glückes, wobei es ihn immer wieder quälte, daß dieses Glück so gar nicht zu greifen war. Aber das wußte er doch: daß da ein Mann war so wie er selbst, ein Mann, der ihn verstehen würde, der ihn retten konnte; und wenn der endlich einmal, wie er versprochen, das Schwert über die fahle Verderbtheit der Welt zückte, ja, dann würde er, Ahasverus, wild in den Kampf fliegen, so dicht wie möglich an seiner Seite, und fechten, daß es krachen sollte, unverdrossen und heiter und triumphierend bis in den Tod, — bis in den nutzlosen Tod, denn wofür gekämpft würde, er wußte es nicht zu sagen: der Himmel würde immer der Himmel sein, so hoch über unserm Haupt, und die Erde an ihrer Stelle bleiben, mit Waschlappen von Menschen darauf, — aber um endlich doch aus seinem Kellerloch und seinem dumpfigen Leben in die Höhe zu springen und sich einen Weg zu hauen nach etwas anderem, was es auch sein mochte, nach dem Ungereimten, dem Sinnlos-Tollen, und docheinenAugenblick über dem zerstörten Leben tanzen zu dürfen in einem gewaltigen Rausch von Verzweiflung, wobei die Welt bersten und vergehn mochte . . .
Doch Jesus predigte nur immerfort und zankte sich weiter mit den Priestern; und da Ahasverus seit einiger Zeit mehr hinter ihm hergelaufen war, als sich um seine Arbeit gekümmert, und sich tüchtig in Schulden gestürzt hatte, so erschien in seinem Keller, am Donnerstag vor Ostern, ein dicker, untersetzter, buntbeturbanter und stolzgefiederter Wicht von einem Gerichtsdiener, der ihm verkündete: daß man in der nächsten Woche sein armseliges Gerümpel verkaufen und ihm nicht einmal einen Nagel lassen würde, um sich damit zu kratzen.
Ahasverus hatte nicht übel Lust, diesen ganzen Hanswurst mal mit dem Gehirn gegen die Wand zu klatschen. Aber etwas war zerbrochen in ihm: er rührte sich nicht und schwieg und schwieg und blickte um sich wie ein Tier, das den Tod sieht. Er fühlte die Faust wieder, die ihn beimNacken gepackt hielt, er saß gefangen in seinem Verhängnis, er konnte nicht mehr heraus. Er lag da, weggespült, willenlos, halb zusammengesunken, in einem schmierigen Winkel. Läg er doch nur sechs Fuß tief unter der Erde! Wenn man kaputt ist, so ists aus, dachte er; die Menschen sind ebenso schwach gegen das Böse wie gegen das Gute, sie sind weder die Hölle noch den Himmel wert. Aber das Nichts, das Nichts, — das schien ihm noch fürchterlicher als selbst der Höllenbrand . . .
Die Glut fraß wieder in ihm und wußte nicht, wo sie herausschlagen sollte; er fühlte, wie eine tödliche Lähmung ihn beschlich, und eine wilde Raserei schäumte in seinem zerschlagenen Kopf, — umsonst! umsonst! Stunden entglitten, eine nach der andern, und er saß noch da, als schon das Dunkel alles umhüllt hatte. Ihn fror, seine Zähne klapperten. O kämpfen! kämpfen! Wogegen, das war ihm einerlei . . . Er konnte doch so nicht dahinfahren, er hätte auf einmal untergehn mögen in einer alles zermalmenden Tat, aber er vermochte nicht mehr zu denken, die ganze Welt schien ihm leer, so grausig still . . . Er legte sich endlich auf seinen Strohsack, und die Stunden gingen wieder über ihn hin, alles verflüchtigte sich, versank . . .
Wie war Jesus hereingekommen? Ahasverus lachte, ein albernes, klangloses Lachen, als er in dem bleichen Antlitz die Augen fiebrig glänzen sah. Es war wie an jenem Tag, am Stadttor. „Ich hab noch ein Messer,“ sagte Ahasverus, „das sollen sie mir nicht wegnehmen . . .“ Sie liefen auf die Straße, eingezwängt in ein hastiges Gedränge von Kerlen mit Keulen und Beilen und von Schmiedehämmern, die mächtige Schultern trugen. Von überallher, aus allen Gäßchen, kam Menschen- und Pferdegetrappel, ein jeder hatte die unausgesprochene Botschaft verstanden. Ahasverus lief, um vorne zu sein, und da stand er mit Jesus oben am Tempel, gegen die goldene Kuppel, so nahe bei der matt-schimmernden Milchstraße, daß er die roten Sternbüschel fast hätte pflücken können wie Früchte. Über Jerusalem blinkte, hoch am Himmel, ein Komet, unbeweglich in der wimmelnden Nacht, wie ein blutiges Schwert. Ah! ah! da begannen die Häuser der Wucherer in der Ferne zu brennen mit lustigem Knistern, und die Flammen flackerten und tanzten so toll in die schweflige Luft hinein . . .Aber sieh da, unten, im Dunkel, war ein surrendes Meer von bleichen Gesichtern, das sich über den ganzen Großen Markt heranwälzte gegen die Treppen und Portale. Wütend rammten die Sturmböcke; nun wird der ganze Kram einstürzen, dachte Ahasverus, denn das Marmorpflaster bebte unter seinen Füßen. Aber das schien ihm auch ganz natürlich; er war seiner Sache sicher: er würde mit wilder Freude in die Tiefe donnern oder sich vielleicht an die Sterne festklammern . . . Nun war das Volk hereingebraust wie durch Schleusen, er hörte das Kreischen vergewaltigter Frauen und ein langgedehntes, rasendes Gebrüll, dann und wann vermischt mit Trommelgewirbel und dem sinnlosen Schrillen einer Flöte, das da war wie das silberne Stimmlein eines Kindes auf einem Schlachtfeld. All dieser Lärm machte Ahasverus trunken, und es tat ihm wohl, den warmen Raubtiergeruch dieses stiebenden Gedränges einzuschnauben. Auf einmal stieg der todesbange, bloße Kopf des Gerichtsdieners über die Zinne empor; er wollte hinauf, denn von unten schrieen Tausende von Mündern Mord und Brand zu ihm hin, und seine Klauen in die Rinne gekrampft, flehte er um Gnade. Doch Ahasverus drückte mit seinen beiden Tatzen auf diesen verschimmelten Käsekopf und sah dann das Männlein mit lustigem Schwung in die schwindelnde Tiefe hinunterzappeln. Das machte ihn plötzlich ganz närrisch vor Vergnügen, es war, als ob er nun die Welt hätte zerknacken können wie ein Streichholz; mit einem blöden Lachen lief er die Wendeltreppe hinab, über seinem Kopf schlugen die Glocken, und er drehte, drehte sich unaufhörlich im Dunkel, weiter gehetzt durch den schrecklichen Gedanken, daß er so in alle Ewigkeit die Wendeltreppe hinunterlaufen müßte, ohne je einen Ausweg zu finden aus diesem Abgrund; aber er hörte noch deutlich die Glocken dröhnen und den Lärm da draußen, und er befand sich wieder auf dem Platz, gestoßen und getragen von einem wilden Menschenstrom. Der Schall schien wie ein Sturm aus den Steinen herauszuschlagen, er fühlte, wie seine Füße weich wurden von der Lauigkeit des Blutes, — er wollte sich loswühlen, er wollte rufen, aber dieses Blut stieg in ihm auf, es röchelte in seiner Kehle, er verschmachtete und rief, rief . . .
. . . und wurde mit einem Ruck wach auf seinem Strohsack, vom Fiebergeschüttelt, und seine weit geöffneten Augen starrten in die wimmelnde Finsternis; sein Herz pochte . . . Aber er hörte immer noch den Lärm und das Glockengedröhn . . . Es war kein Traum . . . Er war nun doch wach, er erkannte das Geläut von mehreren Türmen, — nein, war es möglich? Aber von ganz fernher kam das dumpfe Getöse von vielem Volk, und mehr in der Nähe rasselte eine Trommel; wer schlug denn da Alarm zu dieser nächtlichen Stunde? Schritte eilten durch schlafende Straßen, er lauschte gespannt . . . Ja, das Volk war los, die Puppen waren am Tanzen, und die Glocken, die Glocken, sie sprangen über der Stadt hin und her! Dieser verteufelte Nazarener, er hatte es nun doch gewagt! „Ich habe noch ein Messer!“ lachte Ahasverus; ja, es war ein gutes freundliches Messerchen; „er wird schon sehn . . . er wird zufrieden sein . . .“ Und eine wunderbare Seligkeit stieg in ihm auf, mit solcher Gewalt, daß Sterben oder Leben ihm nun einerlei war, wenn er nur in wildem Triumph seiner Verzweiflung die Zügel schießen lassen konnte.
Er war schon draußen, sein Messer in der Faust. Die Frühlingsnacht war pechschwarz, als zöge ein Unwetter herauf. Ahasverus schauderte vor Kälte, und sein Kopf glühte. Das Geläute und Getöse hielt an, — wo war es? Er schwankte einen Augenblick, — er wußte nicht, wohin. Etwas von dem Traum wirkte fort in ihm, und er wollte zum Tempel, aber von einer anderen Seite stieg nun ein gewaltiges, wirres, vielstimmiges Geschrei auf und wuchs zu einer Wolke von Lärm.
„Am Bethlehemer Tor!“ dachte Ahasverus und fing an zu laufen. Hier und da wurde ein Fenster aufgestoßen: „Was ist los? — Ist der Feind im Land?“ Ängstliche Schlafmützen fragten es einander und riefen hinter Ahasverus her. Und er hielt immer nur sein Messer hoch wie ein Verrückter: „Jungens! . . . der Nazarener . . . es geht los . . .“
Nein, beim Bethlehemer Tor war es nicht, der Koloß des runden Wachtturmes machte die Nacht dort noch dunkler. Die Glocken dröhnten unaufhörlich . . . „Das Lagerhaus steht in Brand!“ sagten die Männer im Vorübereilen. Und Ahasverus hinterher. „Kein Stein auf dem andern!“ jauchzte es in ihm. Aber links glaubte er nun wieder das Getöse zu hören wie ein Meer, und er trabte durch krumme Gäßchen und verlief sich undgeriet plötzlich ins Gewühl auf dem Platz vor dem Haus des Hohenpriesters Kaiphas. Der phantastische Schein von Fackeln, die vor der Tür zusammengeschart waren, tanzte über den Köpfen. Es wurde geschrieen und gelacht und geheult; halbbetrunkene Strolche drängten sich, um nur vorwärtszukommen, Schulter an Schulter, und brüllten ein aufrührerisches Lied. Ahasverus stieß und brüllte mit, aber sie konnten nicht weiter. „Haben sie ihn gefaßt?“ fragte er. — „Obsie’s haben!“ . . . grinste jemand neben ihm, und Ahasverus blickte verwundert auf, denn er erkannte einen schmierigen Halsabschneider aus seiner Nachbarschaft, und dann starrte er mit ausgerecktem Hals zu den erleuchteten Fenstern, ob sie des Kaiphas höchsteigene Person nicht hinunterkegeln würden. Aber in dem selben Augenblick geschah etwas, das den Atem in seiner Brust stocken ließ: das Toben versank und verebbte in erwartungsvolle Spannung, es wogte ein großes Geschaukel von Fackeln und Volk, hocherhobene Posaunen bliesen eine wildschmetternde Fanfare, und da erschien auf der hohen Vortreppe, zwischen Landsknechten mit Piken, der Mann, Jesus der Nazarener, ganz bleich und still, mit gebundenen Händen.
Vor ihm her schritt der kleine Fettsack von Kaiphas, und Ahasverus sah, wie über seinem Wabbelkinn auf dem würdevollen Kupfergesicht mit den stechenden Schweinsäuglein die Befriedigung leuchtete. Und dahinter das aufgeregte Gebaren dichtgedrängter Priester und Pharisäer, die höhnten und pfiffen. Jesus blieb einen Augenblick stehen, aufrecht wie eine Bildsäule, aber sie stießen ihn die Treppe hinunter, und plötzlich war der ganze Platz wieder ein tosender Strudel.
„Laßt ihn los!“ riefen hier und da Stimmen. „Tötet ihn! Tötet ihn!“ bellten andere. „Er hat doch nichts Böses getan! . . .“ Wiederum Stoßen und Drängen; an der Ecke entstand eine Schlägerei. „Es lebe der König von Jerusalem! Uh! Uh! — Tötet ihn! — Laßt ihn los! . . .“
„Der Teufel soll ihn holen!“ schnaubte dicht neben Ahasverus ein Kerlchen mit gelbem Gesicht, „die Geschäfte gehen schon ohne all diese Aufrührer schlecht genug . . .“
„Aber sie werden ihn morden . . .“, sagte ein junger Mensch mit bebenden Lippen.
Ahasverus packte ihn beim Arm wie mit einer Kneifzange:
„Wie haben sie ihn gefaßt?“
Und der junge Mensch erzählte: „Auf dem Ölberg . . . Judas hat ihn verkauft . . . Sie wollen ihn morden! o Gott! sie wollen . . .“
„Judas! ein Apostel! Und die anderen? Haben sie sich nicht gewehrt?“
„Was hätten sie machen sollen? Petrus hat einem einen Hieb übers Ohr gegeben . . .“
„Und Jesus, hatte er keine Waffe?“
„Es scheint nicht, das Schaf; er hat freiwillig seine Hände ausgestreckt, daß sie ihn binden sollten . . .“
Verflucht! Es war Ahasverus, als ob seine Beine unter ihm wegsänken. Und er lachte ein verzweifeltes Lachen voll ohnmächtiger Raserei:
„Diese Memme! Er hatte einen Traum, einen Traum, und kein Schwert, um ihn wahr zu machen! . . .“
Er hielt immer noch sein Messer umklammert und stand unbeweglich, mit dem Rücken gegen ein Haus: er sah dahinten die Fackeln und die Lanzen weiterziehen, von Gewühl umdrängt, und das Gewühl trieb langsam mit ihnen fort.
Nahe beim Hause des Kaiphas waren noch einige Wächter um ein Feuer geschart, faul ausgestreckt oder an ihre Partisanen gelehnt; auch ein paar Mädchen und Müßiggänger lungerten dort noch herum, und in dem Feuerschein konnte Ahasverus das Gesicht des Petrus unterscheiden, des einzigen Apostels, der für Jesus auf dem Ölberge den Kampf gewagt hatte. „Von dem werde ich alles erfahren“, dachte er, und die alte Hoffnung spitzte in ihm wieder ein wenig die Ohren: „Vielleicht ist noch etwas zu machen . . .“
Als Ahasverus zum Feuer kam, sagte eines der Mädchen zu Petrus: „Du gehörst auch zu der Bande, tu nur nicht so, als ob du nicht bis dreie zählen könntest, ich hab dich mit dem Nazarener gesehn.“
Und Petrus, mit einem unschuldigen Maul, als fiele er aus den Wolken: „Ich? Was redest du für dummes Zeug? Ich? . . .“
„Ihr hört ja an seiner Sprache, daß er aus Galiläa ist“, sagte ein anderes Mädchen. Und ein Landsknecht trat näher an ihn heran und sahihm forschend ins Gesicht: „Jüngelchen, halt mal eben . . . hast du nicht dem Malchus das Ohr abgeschlagen? . . .“
Petrus wurde plötzlich frech und rief mit einem unsteten Blick, der zugleich guckte und auswich: „Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Ihr seid besoffen! . . .“
Aber Ahasverus packte ihn bei der Kehle und fuhr ihn mit fürchterlicher Bestimmtheit an: „Du bist Petrus, der Fischer aus Galiläa, und Jesus war dein Freund, du Feigling!“
„Ich habe Jesus niemals gesehn! . . .“ schrie Petrus, der blau und grün wurde.
Just in diesem Augenblick krähte ein Hahn mit erhobener, gewaltiger Raspelstimme ein heiseres, langgezogenes, endloses Kikiriki, das ganz aus der Tiefe hervorzuröcheln schien wie im Todeskampf und grausig abriß in einer Art teuflischem Lachen. So brach auch ein Lachen der Verzweiflung aus Ahasverus Gurgel hervor, denn: umsonst! dachte er wieder, umsonst! . . . Und Petrus, plötzlich frei, wankte rückwärts hinaus, als hätte der Blitz gerade vor ihm einen Abgrund in die Erde geschlagen. Niemand wagte die Hand nach Ahasverus auszustrecken.
Er ließ sein Messer fallen und irrte weiter.
Eine stille Klarheit hatte den Himmel gebleicht, und der Nacht entwuchs geräuschlos langsam ein bleigrauer Morgen. Auf den Steinen begannen schon die Wagen zu rasseln, die die Bäuerlein zum Freitagsmarkt fuhren. Ahasverus betrachtete das alles nun, als ob es ihn nichts mehr anginge; die Lust, weiter zu leben, war in ihm gebrochen.
Die Bauern gingen mit krummen Rücken in Kellerwirtschaften, um eine Kumme warmen Kaffee zu schlürfen, und Ahasverus hörte, wie sie geladen waren auf diesen Aufrührer, diesen verfluchten Radaumacher; es war seine Schuld, daß der Kram wieder mal aus Rand und Band war, just an einem Markttag.
Nach und nach kam die ganze Stadt auf die Beine, die Läden wurden geöffnet, man trug die Fensterluken hinein, und verschlafene Gesichter besprachen die große Neuigkeit.
„Wenn sie ihn kreuzigen, daß sie es dann nur schnell heute nochabmachen,“ hörte Ahasverus sagen, „sonst ist das Osterfest zum Teufel!“
„Und die Geschäfte gehn ohnehin schlecht genug!“
„Die Wirte werden nicht zu klagen haben . . .“
„Sie sollten all diese Besserwisser einsperren . . . mit ihrem Gequatsch . . . damit sie die Menschen bei ihren Angelegenheiten nicht stören . . . damit sie die Menschen in Ruhe lassen . . .“
„Diese fremden Ratten . . .“
„Sie wissen nicht mehr, was sie sich ausdenken sollen, heutzutage . . .“
Und dem Wirt der Ausspannung „Zur fröhlichen Einkehr“, der über der Fensterbrüstung lag, erzählte der Barbier von der Ecke, wie Petrus — „es ist schrecklich!“ — dem Judas den Kopf glatt abgehauen hatte.
Wie lange Ahasverus so umherschweifte, er hätte es nicht sagen können, — bis er endlich mit dem Haufen wieder mittreibend zum Gerichtshaus zog, vor dem eine große Menge versammelt war. Auf einem Altan stand der Landpfleger Pontius Pilatus, der eine Ansprache hielt, mit seinem behäbig-groben, alltäglichen Gesicht, das nur ein wenig verdrießlicher aussah, weil sie ihn aus seiner feisten Ruhe aufgestört hatten.
Man sah deutlich, daß er sich die Sache am liebsten vom Leibe halten wollte; die Glaubenslehre der Juden war ihm gleichgültig, und die krähenden Priester hingen ihm zum Halse heraus. Er schwatzte mit knappen Gebärden etwas von seiner Liebe zum Volk, und daß in erster Linie Ordnung herrschen müßte im Interesse der ökonomischen Entwicklung der Stadt, daß die Bürger von Jerusalem einander nun endlich einmal verstehen müßten und aufhören mit ihrem ewigen Gehäkel um Bagatellen. Bei diesem Wort begannen die Pharisäer schon wieder sich die Augen aus dem Kopf zu blöken, und das Publikum rumorte nur immer mehr. Kaiphas, der neben Pilatus über dem Geländer des Altans hing, schrie wütend und aufhetzend zu seinen Trabanten hinunter. Und Pontius Pilatus, ein wenig aus dem Konzept gebracht, ließ ihn nun seinerseits reden, um das Gebrodel zu stillen. Kaiphas, den knallroten Kopf stolz über dem Bauch, predigte erst mit salbungsvoller Stimme, legte dann mehr Nachdruck auf seine Worte, als er auf diesen Aufrührer zu sprechen kam, dersich für den König der Juden hielt, und auf die nötige Ehrerbietung vor dem jüdischen sowohl wie vor dem römischen Gesetz, und er schloß seine Rede mit einem gewaltigen Gedonner prasselnder Sätze. Ja, heilig durfte man die Ordnung nennen; aber dieser Fremdling, der gerade war der Störenfried, der weg mußte. „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ wurde gerufen.
„Ach, was kann er denn viel Böses anrichten?“ sagte Pilatus achselzuckend. „Er ist nur ein Träumer, ein Intellektueller!“
Die Schriftgelehrten, die Küster des Tempels, die Reichen, die Wechsler, die Leute an der Spritze, alle, die Jesus bei ihren Geschäftchen gestört hatte, alle, die einen Augenblick gezittert hatten, sie waren überall eifrig am Werk, tobten, daß es staubte, ließen Bier herumreichen und versprachen goldne Berge, wenn Jesus gekreuzigt würde. Und vor dem Sturm zog sich Pontius Pilatus ins Haus zurück, gereizt mit Kaiphas sich kibbelnd, der ihm mit aufgeregter Geschwätzigkeit folgte.
Rings um Ahasverus sagte nun ein jeder sein Sprüchlein:
„Er predigte doch gegen die Lehre . . .“
„Wenn er mehr ist wie wir, warum hat er sich dann greifen lassen und kein Wunder getan?“
„Ein Gaukler . . .“
„Er hat einen Blinden an einem Sonntag geheilt. Rechtschaffene Leute arbeiten nicht am Sonntag . . .“
„Warum blieb er nicht kusch? Warum kümmerte er sich um anderer Leute Angelegenheiten?“
„Er wollte den Tempel abbrechen . . .“
„Und was für ein Gesindel hatte er um sich herum, Landstreicher und Huren! . . . Dieses Magdalenchen!“ . . . Und voller Geilheit erzählten sie zweideutige Geschichten von diesem Magdalenchen.
„Er entriß die Kinder ihrer Familie . . .“
„Er säte Haß unter die Menschen . . .“
„Ein Glück, daß ich dabei war! Petrus ging schon ans Hauen und Stechen: er hat einen Kerl in zwei Teile gespalten bis an den Nabel . . . Aber ich habe ihm zum Donnerwetter nochmal eine neingehauen, daß ihm schwummerig wurde . . .“
„Die Apostel hatten selbst genug davon: ihr seht es ja, es ist einer von seinen besten Freunden, der ihm das Spiel verdorben hat.“
„Ha! ha!“ fluchte Ahasverus bei sich, „sieh da, das auserwählte Volk des Neuen Reiches!“ Die letzten Anhänger Jesu hatten sich auf die Strümpfe gemacht oder standen da, verblüfft und verbaast, und sperrten das Maul auf.
Aber plötzlich erschütterte Lachen, gewaltiges Prusten und Lachen, die dichtgedrängte Menge. Denn Jesus war auf dem Altan erschienen, vorwärts gestoßen, — und er glich mehr einer Vogelscheuche als einem König: sie hatten ihm zum Zeichen seiner Macht einen zerlumpten Purpurmantel umgehangen, in dem seine Füße strauchelten, und sein Haupt trug eine Krone aus Dornen geflochten, und als Zepter hielt er in seinen gebundenen Händen ein Rohr. Wahrhaftig, ein famoser Ulk! Ahasverus lachte und tobte mit, denn es war ihm, als ob er selbst da oben stünde, es war ihm, als ob er sich selbst verspottete, als ob die Dornen aus seinem eigenen Haupte den roten Schweiß tropfen ließen.
Soldatenvolk umgrinste den schäbigen Herrscher. Ein Lümmel zupfte ihn am Haar und fragte: „Du, der alles weiß, sag, wer hat das getan?“ Aber Jesus schwieg.
Und ein anderer gab ihm hinterrücks einen Backenstreich und fragte: „Weissage: wer hat dich geschlagen?“ Ahasverus fühlte die Ohrfeige auf seiner eigenen Backe brennen und lachte wild mit dem Volke mit. Jesus schwieg.
Und nun wurde nach seinem Antlitz gespieen: „Weissage! Weissage!“ Es schien Ahasverus, als ob er auf seine eigene Seele spiee, und er schrie mit. Ein fürchterliches Gedränge stieß nach vorn, jedermann wollte dabei sein, wollte mitspielen. Frauen und Kinder gellten mitten hinein ins Geheul dieser ungebärdigen, tausendköpfigen Bestie, die sich gegen die Mauer des Gerichtshauses quetschte.
Pilatus, der sich den ganzen Mummenschanz ausgedacht hatte, in der Meinung, daß das Publikum ihn nach solch einem Schauspiel in Frieden lassen würde, trat nun vor, und um zu zeigen, wie unschädlich der arme Schächer doch eigentlich wäre, spöttelte er gutmütig, indem er mit seiner geöffneten molligen Hand auf ihn wies:
„Ist das nun der König der Juden?“
„Hu! hu!“ raste das Volk zu dem schweigenden Manne mit der Dornenkrone und dem Rohr, und „Hu!“ raste Ahasverus, „hu! der König des Neuen Reiches, der König, der einen Traum hatte und kein Schwert, um eine Wirklichkeit, eine Wirklichkeit daraus zu machen!“
Aber die Hohenpriester fürchteten, daß die Beute ihren Krallen entschlüpfen könnte: „Pilatus höhnt die Juden!“ riefen sie von allen Seiten, „der Kaiser in Rom ist unser König! . . . Er lästert den Kaiser! . . .“ Und Pilatus war schon wieder aus der Fassung, betäubt durch das Gebrüll, aufgehetzt durch Kaiphas.
„Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ ging es hier und da hartnäckiger los.
Pilatus wurde ärgerlich. „Wir müssen kurzen Prozeß machen“, dachte er. Und da er nicht wußte, was tun, nahm er seine Zuflucht zum Nazarener selber: der verhielt sich auch allzu stumm und wollte kein Wort zu seiner Rechtfertigung sprechen: er mußte — zum Teufel! — doch mal deutlich auseinandersetzen, was er sich eigentlich dachte, dann würde das Urteil vielleicht milder ausfallen; und barsch werdend, platzte Pilatus heraus: „Komm, sei nun endlich mal vernünftig, sei nicht so romantisch, nimm die Dinge, wie sie sind . . . Ich habe dich in meiner Macht, ich kann mit dir machen, was ich will, rede . . .“
„Du vermagst nichts über mich!“ sagte Christus, den Blick in sich gekehrt; „ichbindie Wahrheit.“
„Wahrheit . . . Wahrheit . . . was ist Wahrheit?“ murmelte Pilatus und betrachtete mit aufrichtigem Mitleid diesen armen Schwärmer, der so jämmerlich seine Sache verdarb. Aber er hatte schon einen anderen Ausweg gefunden, um sich die Geschichte mit einem Schlage vom Halse zu schaffen:
„Werte Mitbürger, es ist ein uralter Brauch, eine ehrwürdige Überlieferung . . . eine Überlieferung, sage ich, der wir also treu anhängen müssen, daß der Statthalter zum Osterfest einen Gefangenen losläßt; — wollen wir diesen denn nicht laufen lassen?“
„Nein, nicht Jesus, — Barrabas!“ rief eine Stimme. Und „Barrabas! Barrabas!“ war der Schrei, der nun von überallher emporstieg. „Barrabas!“ schrie auch Ahasverus.
Dieser Barrabas, müßt ihr wissen, war in Jerusalem wohl bekannt und dem Volke teuer, als ein unverbesserlicher Windhund, Lüderjan, Nachtschwärmer, Pflastertreter, Saufaus, Würfelspieler, Hurenbock, Prasser, Zotenreißer und Hans in allen Gassen.
„Wenn du uns die Wahl läßt,“ sagte Kaiphas, „dann gibst du zu, daß Jesus schuldig ist!“
Pilatus verlor auf einmal alle Geduld: „Ich hab genug davon,“ schloß er wütend, „ich sitze hier schon den ganzen Morgen und rede mir die Zunge aus dem Hals, kreuzigt ihn, wenn ihr ihn nun doch mal kreuzigen wollt, aber dann gleich, damit es ein Ende hat! Und der erste, der sich dann noch muckst, fliegt an . . .“
Es war, als ob eine fürchterliche Welle das ganze wimmelnde Gedränge oben hinauf zum Richthaus tragen wollte mit wildem Gejauchze. Jesus wurde im Tumult fortgeschleppt, und Pontius Pilatus machte sich mit rundem Rücken aus dem Staube.
Für Ahasverus verlief alles nun, als ob es ganz fern von ihm geschähe, als ob er jenseits der Menschheit irrte, jenseits des Lebens. Was sie zu kreuzigen sich anschickten, es war etwas von dem letzten Traum, der ihn aufrechterhalten hatte; aber auch diese Kreuzigung und alles, es geschah in einem Traum. Alle Dinge trugen das Antlitz des Todes.
O, er mußte da heraus, er wollte zurück in die Wirklichkeit, er wollte noch einmal von ganz nahe Jesus anschauen, um deutlich zu fühlen, daß dies alles kein Hirngespinst war, zu fühlen, ob es wahr sei, daß er, Ahasverus, nun ganz allein, ganz allein auf dieser Welt blieb, um all ihre Jämmerlichkeit, all ihre Leere zu schleppen.
Das Fieber brannte in ihm, er war heiser vom Schreien, er mußte heraus aus diesem höllischen Gewühl. Er ging bis an das Stadttor, durch das der Zug zum Kreuzberg hinauf ziehen mußte. In dem Tor war eine kleine Wirtschaft. Ahasverus gab seine letzten Pfennige für ein Glas Bier und blieb draußen auf einer Bank sitzen: dort konnte er alles gut sehen.
Ein Blinder und ein Lahmer, die früher vor dem Tor zu betteln pflegten und die Christus geheilt hatte, machten laut ihre Späße mit der Wirtin.
„Ihr solltet euch schämen!“ sagte diese.
Der eine antwortete: „Was können wir dabei machen? — Hat er mir meine Augen wiedergegeben, so tat ers doch, damit ich sie brauchen sollte!“ Und er sah die Wirtin lauernd mit geilem Blick an.
Und der andere: „Unsere Schuld ist es nicht! — Hat er meinen Händen wieder Gefühl gegeben, so tat ers doch, daß ich was davon haben sollte . . .!“ Und sein Arm umfaßte die Wirtin, die aus vollem Halse mit schuddernder Brust lachte.
Vor der Wirtschaft schlenderten Jerusalemer, ganze Familien, die vor Ungeduld gähnten. Niemand arbeitete an diesem Tage, es war etwas wie eine seltsame Kirmesstimmung in der Luft, wenn das Wetter auch tot und trübe blieb. An dem Stadttor näselte ein Spielmann seine Lieder, angegafft vom Volke, und ein Haufen Rotznasen lief hinter einem roten Lappen, der an eine Stange gebunden war, singend vorbei mit Rumpelkasten und Kesselpauke. Aus allen Fenstern steckten Neugierige ihre Köpfe heraus, und auch auf den Dächern saßen die Menschen dicht gedrängt.
Das Mittagbrot hatten sie schon hinunter, und viele begannen stumpf zu werden vom langen Warten, als endlich Radau und Fanfarengeschmetter in der Ferne hörbar wurde. — „Da sind sie! Da sind sie!“ Und bald erschien die klägliche Prozession an der Biegung der Hochstraße, von wo sie sich langsam zum Stadttor bewegte.
Hinter einem Haufen Straßenjungen und Pflastertreter, die, von Hunden angebellt, dahinliefen oder Arm in Arm in Reihen pfeifend weiterhopsten, kamen zuerst Soldaten mit Helm und wehendem Federbusch, auf bunt-geschabrackten Pferden; die trugen Schilder und Standarten. Und dann etwas Musik und Fußvolk mit Spießen, Landsknechte in schweren Kollern, Hellebardiere, Bogenschützen, Hilfstruppen aus Libyen und Äthiopien, Mohren und Schornsteinfeger, kurzum, der Teufel und seine Großmutter, alles, was sie auf die Beine bringen konnten. Und umschlossen von all dieser rohen Macht schritten höchst befriedigt die Hohenpriester mit Kaiphas, die Schriftgelehrten, die Ältesten des Volks, die Küster und Stuhlsetzer des Tempels, der Statthalter und sein Rat, die Zunftmeister der reichen Tuchgilde, der Bund der Geldwechsler, die Gesellschaft zur Förderung des Fremdenverkehrs, der Verein der Hausbesitzerund Grundeigentümer, all die Mucker, Betbrüder und Schwarzen von Jerusalem, all die konzessionierten Betrüger und Halsabschneider, all die Schacherer, all die Geldhunde, all die Blut- und Hirnsauger, all die Schinder und Auffresser des gemeinen Mannes. Und wieder Soldaten und Soldaten, unaufhörlich . . . Wer konnte dagegen noch an? Wer sollte sich da noch mucksen? — Aber o! der elende, gebrochene König, der dahinter unter dem großen Kreuz sich fortschleppte! . . .
Die meisten Zuschauer schwiegen nun, die Kehle zugeschnürt, mit einer düsteren Vorahnung im Herzen, oder guckten mit ihren Kuhaugen und dachten: „Er hat es verdient!“ oder „Was können wir daran ändern?“ oder „Er hat uns betrogen, er hat uns das Glück versprochen“, und diese waren ärgerlich, weil kein Wunder geschah. Aber sie wagten einander nicht mehr anzublicken. Es gab auch solche, die einsahen, daß sie übel getan hatten, und darum ärgerlich wurden: sie riefen Schimpfworte und warfen Dreck nach dem Mann. Die Frauen bedauerten ihn mit leisen Worten des Mitleids und schluchzten. „Er muß doch etwas verbrochen haben . . .“ sagte nahe bei Ahasverus eine, die einen Säugling auf dem Arm trug.
Und Ahasverus sah den Mann mit dem Kreuz heranstraucheln. In seiner Seele saß der Tod. Er hätte alles vergessen mögen, nicht mehr diese feigen Lumpenhunde sehen, nicht mehr dies ohnmächtige Weibergejammer hören. Er dachte: „Da ist der Wortgaukler, der seinen Traum nicht tragen konnte, der Verräter, der meinen Traum gemordet hat. Und nun bleibe ich allein, — ich — allein . . .“ Er wälzte es wieder in sich herum, gleichgültig gegen seinen eigenen Schmerz; Gleichgültigkeit umschloß ihn überall, als hätte er niemals wieder seine Arme ausstrecken können. Ja, es hätte so schön werden können! Aber alles war unnütz, das Leben war unnütz . . . Und weil er allein, er allein das wußte, sprach etwas in ihm: „Ich werde nicht zerbrechen.“
Aber als der Galiläer das Stadttor erreicht hatte, geschah etwas Wunderbares.
Ahasverus stand kerzengerade mit hohen, breiten Schultern da, seinen harten Blick auf Jesus gerichtet. Jesus fiel auf die Kniee unter der schweren Last des Holzes und sah Ahasverus an mit etwas wie einemflehenden Schrei in seinen Augen. Sein Gesicht war bleich, schweißbedeckt, voll Staub und Blut. Er hatte Ahasverus erkannt, und schweigend schien er zu sagen: „Du, der du mein Bruder bist, hilf . . .“