Chapter 7

Staatsanwalt: Ich habe das Buch sofort bekommen.

Vert.: Ich konstatiere, Fräulein V. wurde auf der Straße verhaftet, nach der Verhaftung fand sofort eine Hausdurchsuchung statt, das Buch wurde aber bei ihr nicht gefunden.

Angekl.: Ich hätte das Buch damals noch ungeniert in meinem Besitz haben können. Mein erster Prozeß war ja doch erledigt. Washätte denn mir der Besitz des Buches schaden können? Hätte ich das Buch gehabt, ich würde es ruhig eingestehen.

(Dabei ist es vollkommen nebensächlich, ob sie das Buch wirklich besessen hat oder nicht, da die Angeklagte ja spontan zugibt, es gekannt zu haben, und ich erwähne dieses kurze Verhör nur deshalb, weil sich daran eine sehr eigenartige Äußerung der V. anschließt. Meiner Ansicht nach die einzige, die die geistige Superiorität dieser Frau beweist. Mit dieser Äußerung scheint sie tatsächlich über der Sache zu stehen. Es handelt sich um folgende Äußerung):

Ein Geschworener: Fräulein Angeklagte, hat Sie dieses Buch von Wulffen wirklich interessiert?

Angekl. (eifrig): Aber natürlich. Nach dem Prozeß hatte ich doch ein großes Interesse daran, das Buch kennen zu lernen, das als Beweis gegen mich geführt wurde. Ja, ich habe es gelesen.

Vors.: Nun endlich. (Vor zehn Minuten hat die Angeklagte selbst zugegeben, daß sie das Buch von Dr. Seifert ausgeliehen und es gelesen habe. Die uns interessierende Äußerung ist aber folgende.)

Angekl.: Herr Hofrat, wenn eine Köchin einen Apfelstrudel machen will, kauft sie sich ein Kochbuch, sie wird sich aber kein Buch„Die Psychologie der Köchin“ kaufen. Wenn ich einen Giftmord plane, würde ich mir ein Buch über Gifte, aber nicht über die Psychologie des Giftmörders kaufen.

Darauf weiß der unbeholfene Vorsitzende natürlich nichts zu antworten. Hätte er aber einen Blick in ein derartiges Buch über die Psychologie des Giftmörders geworfen, mir selbst lag es leider nicht vor – so hätte er wohl auch in dem Buch über Gift-Psychologie Tatsachen und Berichte und Details aller Art über die reale Wirkung und die kluge Auswahl der Gifte gefunden.

Nun wird Ernst Stülpnagel vernommen, ob er von einem Selbstmordversuch der Angeklagten wisse. Auch dies ist sehr charakteristisch und es ist nur bedauerlich, daß diese Frage nicht richtig geklärt worden ist. Denn wie ich oben sagte, zeichnen sich die klassischen Giftmörderinnen durch eine außerordentliche Ruhe und Heiterkeit aus. Wenn die V. also einen ernstlichen Selbstmordversuch unternommen hätte, würde das mit dem typischen Charakterbild einer Brinvilliers oder Gottfried nicht übereinstimmen.

Der Zeuge erzählt, daß er eines Tages in die Wohnung der V. gekommen sei, er habe sie in großer Depression vorgefunden, die Handgelenke waren mit einem Verband umgeben, und auf seine Frage erfuhr er, daß sie sich in einerBadeanstalt mit einer Nagelschere stark verletzt hätte, hierbei umgefallen und vom Arzt, der sie verbunden hatte, nach Hause gebracht worden ist.

Vorsitzender (zum Zeugen): Wie sah der Verband aus?

Zeuge: Es war über Gaze Heftpflaster geklebt in großen Streifen.

Vors.: Was war die Ursache des Selbstmordversuchs nach Ihrer Meinung?

Zeuge: Das Fräulein V. befand sich damals, im April glaube ich, war es, in der ärgsten Gemütsverfassung. Es hatte tags vorher wieder Auseinandersetzungen gegeben wegen ihrer schiefen Stellung, wie sie sagte.

Vors.: Glauben Sie, daß es wirklich ein Selbstmordversuch war, oder war es vielleicht so ein Hungerstreik, bei dem sie doch gegessen hat?

Der Verteidiger erhob sich erregt: Wir können nicht verlangen, daß die Angeklagte sich hier entkleidet, aber sie ist nur Haut und Bein, und Sie, Herr Präsident, haben selbst gefürchtet, ob Sie die Verhandlung werden durchführen können, und haben ihr zugeredet, doch zu essen, sie werde sonst zusammenbrechen. –

Ferner wäre folgendes interessant als ein kleiner Beweis für die suggestive Kraft dieser Frau.

Der Zeuge Stülpnagel kommt noch einmal auf das telephonische Gespräch mit dem Arzt am 3. Juli zu sprechen. Er meint, er wisse es nicht genau, daß Fräulein V. die Anregung gegeben hat, die Lebensmittel zuhause zu beseitigen, und daß er auch mit dem Arzt über die Wegräumung dieser verdächtigen Lebensmittel gesprochen habe.

Angekl.: Ich möchte doch Herrn Stülpnagel bitten, sich an das zu erinnern, was ich ihm damals sagte: er möge die Lebensmittel wegräumen.

Zeuge: Ich glaube mich zu erinnern.

Angekl. (heftig zum Zeugen): Sie wollen es nicht sagen. Es ist ein hartes Wort, aber an so etwasmuß man sich erinnern.

Der Vorsitzende richtet nun mehrere Fragen an die Angeklagte, die Konstatierungen aus den Akten verlangen. Die V. steht einige Augenblicke später auf und sagt: Herr Präsident, darf ich eine Frage stellen?

Vors.: An wen?

Angekl.: An Sie, Herr Vorsitzender, möchte ich nur eine einzige Frage stellen.

Vors. (erstaunt): An mich?

Angekl.: Jawohl. Ich möchte Sie nämlich fragen, hängt es mit dem Beamtenabbau zusammen, daß der Vorsitzende auch die Geschäfte des Staatsanwalts besorgt? (Lebhafte Heiterkeit.) Ehe noch die Angeklagte ausgesprochenhat, winkt ihr Hofrat Haerdtl mit der Hand ab und sagt: „Setzen Sie sich.“

Es folgt das Verhör der Mutter. Sie erzählt zunächst, wie ihre Tochter nach der Haftentlassung gelebt hat.

Vors.: Hat Sie Ihnen von ihren Beziehungen zu Stülpnagel erzählt?

Zeugin: Ich habe nichts davon gewußt.

Vors.: Fiel Ihnen seit Januar 1922 eine Veränderung auf?

Zeugin: Meine Tochter hat sehr schlecht ausgesehen, was ich für eine Folge von Überarbeitung hielt. Dann wurde es besser, später sah sie wieder sehr schlecht aus. Sie aß nichts anderes als Milch und war sehr nervös.

Vors.: Hat sie Ihnen nichts gestanden?

Zeugin: Nein, sie war sehr verschlossen, auch mir gegenüber.

Vors.: Wie haben Sie sich denn mit ihr vertragen?

Zeugin: Sehr gut. Sie war immer ein liebes und gutes Kind zu mir.

Vors.: Aber Geschenke hat sie Ihnen nie gemacht?

Zeugin: O doch, bis ich es ihr verboten habe.

Vors.: Wir finden es aber für lieblos, daß die Tochter allein das elegante Zimmer bewohnte, während die Mutter im Vorzimmer schlafen mußte.

Zeugin: Ich bitte, das war nur meine Schuld. Ich wollte dem armen Kind, das so viel mitgemacht hatte, den Luxus eines eigenen Wohnraumes nicht nehmen.

Ferner berichtet die Mutter: Ihr Mann sei an Paralyse gestorben. Desgleichen eine Halbschwester des Vaters und deren Tochter, so wie ein Cousin, letzterer an Größenwahn.

Vert.: Also die ganze Familie durchseucht.

Vors.: Ihre Tochter ist ein Siebenmonatskind und hat alle Kinderkrankheiten durchgemacht?

Zeugin: Ja. In der Schule war sie immer die erste, sie war sehr fleißig und hat außerdem sehr leicht aufgefaßt. Sie war die jüngste Bürgerschullehrerin in Wien.

Vors.: Sie sagten, daß sie zwei Seelen in ihrer Brust hat. Was meinen Sie damit?

Zeugin: Sie war oft geistesabwesend.

Vors.: Im vergangenen Frühjahr soll Ihre Tochter plötzlich den Wunsch geäußert haben, in dem Zimmer, wo Sie sonst mit ihr schliefen, allein zu schlafen. Warum?

Die Zeugin schweigt.

Vors.: Wenn diese Frage Sie aufregt, gehen wir darüber hinweg. Sie leben jetzt achtundzwanzig Jahre mit Ihrem Kind zusammen. Wie erklären Sie es, daß dieses hochbegabte Mädchen zum zweitenmal im Schwurgerichtssaale erscheint?

Zeugin: Weil sie krank ist.

Vert.: In welcher Art?

Zeugin:Ist ein Trieb nicht Krankheit?

Vert.: Haben Sie bei Ihrer Tochter impulsive Handlungen bemerkt?

Zeugin: Gewiß, sie gleicht darin ihrem Papa.

Vors.: Er hat den Eindruck eines Blödsinnigen gemacht, was man von Ihrer Tochter nicht behaupten kann.

Vert.: Was haben Sie sonst noch an ihr beobachtet?

Zeugin: Verschiedene Eigentümlichkeiten. Seit 21 Jahren lebe ich in der Angst, daß Milica wie ihr Vater in geistige Umnachtung fällt. Wenn sie sich aufregte, merkte ich, daß das rechte Auge abweicht. Mitunter konnte ich meine Angst nicht verbergen, sie las in meinem Blick und sagte mir dann immer: „Was schaust du mich schon wieder so forschend an? Fürchtest du, daß mir das Schicksal des Vaters werde?“

Vert.: Sie erzählten mir noch von einer anderen Eigentümlichkeit ihres Wesens.

Zeugin: Ja, wir waren einmal dreieinhalb Wochen in Venedig, haben alle Galerien und Museen besucht, so daß ich ihr schließlich sagte: „Nun kannst du ein ganzes Buch über deine Eindrücke schreiben.“ Nach der Heimkehr hatte sie sich aber von der Venediger Reise nichts gemerkt als die Markuskirche.

Vert.: Auf einmal also eine leere Strecke im Gehirn. Das sagt auch die Fakultät, daß bei ihr Zeiten sind, wo ihr Gedächtnis vollkommen versagt.

Ein Geschworener: Frau Zeugin, wie war denn Ihr Mann vor seiner Krankheit, war er auch so intelligent wie seine Tochter?

Zeugin: Nicht im entferntesten.

Ein Geschworener: Der Zeuge Schneider hat uns gesagt, daß er in Ihrer Wohnung das Buch „Psychologie des Giftmordes“ gesehen hat. Stimmt das, gnädige Frau?

Zeugin: In meinem Hause war das Buch nie.

Vors.: Ihres Wissens nicht, aber es war doch in Ihrem Hause. Die Angeklagte gibt das selbst zu.

Zeugin: Ich habe mich für alle Bücher meiner Tochter interessiert. Dieses Buch habe ich nie gesehen. Mit Rücksicht auf den ersten Vorfall hätte ein solches Buch mich doch sehr ängstlich gemacht. Aber es war wirklich nicht im Hause.

Das nun folgende Verhör findet mit einer Graphologin und Chiromantin statt, die von der Angeklagten trotz ihrer angeblichen „glänzenden Intelligenz“ des öfteren aufgesucht worden ist.

Vors.: Sie kennen die Angeklagte?

Zeugin: Sie war einigemal bei mir, um sich wahrsagen zu lassen. So etwa vor vier Jahren,als man von der ersten Sache noch nichts gewußt hat.

Vors.: Ist Ihnen etwas an ihr aufgefallen?

Zeugin: Sie war so schrecklich zurückhaltend, ganz furchtbar.

Vors.: Erinnern Sie sich, was Sie ihr damals gesagt haben?

Zeugin: Ich habe ihr wahrgesagt, daß sie einen älteren, verheirateten Mann liebt (Stülpnagel lernte sie aber erst zwei Jahre später kennen), sie soll das aber sein lassen, weil sie ihn nicht erreichen wird.

Vors.: Und was hat die V. erwidert?

Zeugin: Sie war so untröstlich, hat geweint und hat gesagt: Ach, wenn man einen so liebt. Sie hat hinzugefügt, daß es eine rein geistige Liebe ist, die mehr ist als die geschlechtliche. Das war in einem Ton gesagt, daß sie mir schrecklich leid getan hat und ich sie trösten mußte.

Vors.: Fräulein V., sind Sie wirklich einmal bei der Zeugin gewesen?

Angekl.: Ja, warum nicht, einige Male.

Vors.: Vielleicht haben Sie sich damals in dem Zustande des parzellierten Bewußtseins befunden?

Angekl.: Mein Gott, was macht man denn nicht alles. Es sind Stimmungen ...

Es wird nicht aufgeklärt, auf wen sich diese geistige, nicht geschlechtliche, angeblich sotiefe Liebe bezieht. Als die Wahrsagerin der V. einen Zettel mit einem frommen Gebet in die Hand drückt, wird dies vom Vorsitzenden gerügt. Die Angeklagte sagt dann mit rotem Gesicht, bittend: Sie hat es doch gut gemeint, Herr Hofrat, und beginnt zu weinen. Es ist dies die erste Stelle, bei der der Prozeßbericht von wirklichen Tränen spricht.

Schließlich wird ein Journalist vernommen, der oft im Hause V. verkehrt hat. Er hat die V. degeneriert genannt. Dies sei der Inhalt eines Gespräches gewesen. Fräulein V. habe unter starken seelischen Depressionen gelitten, da sie in dem Glauben war, daß sie den Fluch, der auf dem Geschlechte V. laste, „auszubaden“ habe.

Vors.:Haben Sie die V. für homosexuell gehalten?

Zeuge: Ja, aber ohne greifbaren Anlaß.

Vors.: Fräulein V. hat gern stark Witze gemacht?

Zeuge: Ja, aber nie unanständige.

Nach unwesentlichen Angaben und Verhören wird nun die Verhandlung vertagt.

Am vierten Verhandlungstage erfolgt der Schluß des Beweisverfahrens. Die Zeugen werden zu Ende verhört, die Gutachten erstattet. Inzwischen sind einige Briefe aus dem Publikum an die Geschworenen abgeliefert worden, in denen offenbar der Versuch gemacht werden soll, die Geschworenen zu beeinflussen.An einem der früheren Verhandlungstage hat sich übrigens der Verteidiger sehr scharf gegen eine weibliche Geschworene gewendet, die durch Zurufe und beredtes Mienenspiel ihren Abscheu ausgedrückt hat und er hat versucht, sie aus dem Geschworenenkollegium auszuscheiden. Der Antrag ist aber abgelehnt worden. Die eingelieferten Briefe werden übrigens ungelesen zu den Akten gelegt. Die Geschworenen wären zwar sehr vernünftigerweise dafür gewesen, der Vorsitzende möge sie öffnen und lesen, denn sie konnten doch auch sachliches, wesentliches enthalten, und wenn sie bloß die Geschworenen beeinflussen wollten, brauchte er ja den Inhalt nicht weiter zu geben. Aber der Vorsitzende ging nicht darauf ein.

Zuerst wird die Zeugenaussage einer Lehrerin verlesen, die auch in dem ersten Prozeß eine Rolle gespielt hat, und die allerhand belastende Dinge aus dem Vorleben der Angeklagten enthält. Unter anderen berichtet sie auch von Männern, die sich um die V. als Frau beworben haben sollen. Als nun ein Gerichtsbeamter bei der Verlesung auch den Namen eines solchen Mannes nennt, springt die V. erregt auf und ruft: Bitte, Namen nennt man doch nicht.

Vors.: Da hat sie recht. (Er gibt Auftrag bei der weiteren Verlesung die Namen fortzulassen.)

Bei der Verlesung einer anderen Aussage, die nicht günstig ist, und die von dem Verhalten der Angeklagten während ihrer Schulzeit spricht, ruft die V. dazwischen: Das geht zu weit! Sie haben die Frau Dr. Teleki gehört, die gesagt hat, wie sehr mich derLehrkörperschätzte. Wenn Sie jetzt diesen Klatsch aufgewärmt haben, so ist das Geschmackssache.

Nach diesen Worten will die V. den Saal eiligst verlassen.

Vors.: Bleiben Sie hier! Das werden wir auch abstellen!

Die V. wird von Justizbeamten zurückgehalten und zu ihrer Bank zurückgeführt. Sie ruft aus: Ich weiche der brutalen Gewalt. Es ist sehr hübsch, wenn Sie Gewalt anwenden müssen.

Sie setzt sich nieder, springt aber gleich darauf wieder wütend auf und schreit: „Herr Hofrat, ich konstatiere wieder, daß Sie nicht objektiv sind. Ich bin nicht die einzige im Saal, die das konstatiert.“

Der Staatsanwalt spricht nun über die Gerichtspsychiater, die er als hochangesehene Psychiater bezeichnet. Jetzt lacht die V. und räuspert sich auffällig.

Vors.: Das ist eine neue Ungezogenheit. Ich nehme nur Rücksicht auf Sie, weil Sie ein Weib sind und etwas krank.

In der Nachmittagsverhandlung bringt der Vorsitzende sehr interessante Bruchstücke aus einem viele Seiten langen Briefe an den Fürsterzbischof Piffl zur Verlesung.

„Wollen Sie ein übriges tun, dann bitte ich Sie, mit der hochmütigen Frau Inspektor (seiner Schwägerin) ein ernstes Wort zu sprechen ... Unter dem Schein des Edelmutes hat sie (Frau Piffl) nicht die Anzeige erstattet, um zu verhindern, daß meine Unschuld an den Tag kommt ... Wenn es einen gerechten Gott im Himmel gibt, dann wird die Gerechtigkeit die einzelnen Mitglieder der Familie Piffl schwer zur Verantwortung ziehen ... Die Piffls müßten sich bei mir bedanken, daß ich diese Schande nicht in die Welt hinausgerufen habe ... Diese Menschen, die keine Freundschaft halten wie ein Hund, sind ärger als diese. (!) Damit Sie ihnen das ungeheuere Verbrechen vorhalten, das sie an mir begangen haben, es wenigstens teilweise wieder gutmachen, denn ganz kann das nie geschehen.“

Besonders wichtig folgende Stelle: „oder kann Albert (der Stiefsohn Piffls), der in seiner Jugend manche Abnormität gezeigt hat, nicht ebensogut der Täter sein wie ich?“

Vors.: Wollen Sie zu diesen Stellen aus dem Briefe eine Bemerkung machen?

Angekl.: Der Brief hängt mit der Verleumdung zusammen, derentwegen ich ja schonbefragt worden bin. Wollen Sie vielleicht, Herr Hofrat, hier eine zweite Verurteilung beantragen?

Hier ist zu bemerken, daß der Vorsitzende gewiß eine zweite Verurteilung hätte beantragen müssen. Denn im ersten Prozesse war die V. doch nur aus Mangel an schlüssigen Beweisen von den Giftmordversuchen gegenüber der Familie Piffl freigesprochen worden. Nach ihrem Verhalten gegen die Familie Stülpnagel hat sie es aber bewiesen und durch schriftliches Zeugnis bestätigt, daß sie Giftmischerin, wenn auch vielleicht nicht Giftmörderin ist. Dadurch gewannen alle Tatsachen des ersten Prozesses ein anderes Licht. Sie weiß dies genau, und hat schon in einem früheren Verhör mit dem angeblichen „Fehlurteil“ des ersten Prozesses gespielt: „Es muß kein Fehlurteil gewesen sein,“ das heißt, der Freispruch bezüglich des Giftmordes. Dagegen könne es ein Fehlurteil gewesen sein, bezüglich der Verleumdung, obwohl deren Beweise doch unumstößlich jedem vernünftigen Menschen vor Augen liegen. Aber für die V. gibt es nichts unumstößliches, sie spielt so gern, sie sagt selbst: ich „phantasiere“ so gern.

Im heutigen Verhör vergeht eine lange Zeit mit der Aufzählung der Beschuldigungen, Verdächtigungen und Vermutungen, die die Angeklagte zu Beginn ihrer neuerlichen Untersuchungshaftvorgebracht hat, um sich von dem Verdacht der Täterschaft zu reinigen. Aber sie hat auch damit nur gespielt, keine der Beschuldigungen ist systematisch ausgebaut worden, keine wurde auch nur einen Augenblick lang zwingend.

Hierzu kommt eine Schimpfwut, die man nur zum Teil den äußeren Umständen zugute halten kann, es ist mehr als Wut, es ist auch Gift in den Worten.

Vors.: Jetzt muß ich den Herren Geschworenen, um ihnen den Charakter der Angeklagten zu illustrieren, noch erzählen, daß sie auch alle Zeugen schwer beschimpft hat. So hat sie den Zeugen Schneider, der doch ihr guter Freund war, einen pathologischen Lügner genannt.

Angekl.: Herr Hofrat, Sie waren doch selbst einmal Untersuchungsrichter und wissen, daß ein Untersuchungsrichter, um einen in die Enge zu treiben, die belastenden Aussagen nur in kleinen Portionen eingibt. So war ich natürlich ungeheuer erregt, als Schneider die unwahre Behauptung abgegeben hat, das Buch „Psychologie des Giftmordes“ bei mir gesehen zu haben.

Vors.: Begründen läßt sich ja nachher jede Beschimpfung, wenn man den Mut dazu hat.

Angekl.: Ich bedaure diese Ausfälleund(!)bedaure auch schon ein Geständnis abgelegt zu haben.

Vors.: Über alle Personen, die mit der Untersuchung zu tun hatten, haben Sie sich in der empörendsten Weise geäußert. So über Dr. Markus: „Das ist ein würdiger Freund der Konegen.“ Über einen anderen Arzt haben Sie in einem Brief geschrieben: „Ein solches Hornvieh von einem Arzt, der die Vergiftung nicht sofort konstatieren konnte, hat es noch nicht gegeben.“

Angekl.: Im ersten Fall, bei Frau Piffl, wurde der seither leider verstorbene Primarius Dr. Swoboda geholt, der auf den ersten Blick die Vergiftung erkannt hat. Im zweiten Fall haben die Ärzte aber vollständig versagt. Hätteich nicht das Rad aufgehalten... (Welche groteske Situation: die Giftmischerin beklagt sich über die Ärzte, die ihre Untat so spät erkannt haben!)

Vors.: Als ein Zeuge über ihr Liebesverhältnis zu Stülpnagel Äußerungen machte, haben Sie geäußert: „Wie der Schelm ist, so denkt er auch über andere.“

Angekl.: Wobei ich zu bemerken habe, daß ich hier nicht nur meine Ehre, sondern auch die Ehre eines anderen zu schützen habe. Das entschuldigt mich wohl genügend.

Vors.: Über die Geschworenen schrieben Sie: „Wegen der Verleumdung hätte ich mich schonverantworten können, das andere hätten die Trotteln doch nicht geglaubt.“ (Das ist nur so zu verstehen: den Giftmord hätten sie mir nicht zugemutet!) (Heiterkeit.) Über die Gerichtsbeamten: „Man hat mich in der Strafhaft nicht gut behandelt, aus Sadismus, damit ich bald verrecke.“ Über die Richter: „Die Richter sind alle Hunde. Der Untersuchungsrichter Dr. Fischer ist genau so ein Hund wie die anderen.“

Angekl. (ruhig): Das über den Herrn Dr. Fischer nehme ich zurück.

Vors. (trocken): Das andere nicht? (Heiterkeit.)

Vors.: In einem anderen Brief, der aus der Zelle herausging, sagten Sie: „Es wäre mein heißester Wunsch, daß der Skalp des Untersuchungsrichters auf meinem Weihnachtsbaum hängen möge.“ (Stürmische Heiterkeit.)

Vors.: Wollen Sie diese Ausdrücke eines rohen Charakters entschuldigen?

Angekl.: Diese Briefe geben nur ein Bild meiner zerrissenen Seele. Aus ihnen ersieht man, was ich gelitten habe.

Vors.: Alle Zeugen haben Ihnen in den letzten Tagen das beste Zeugnis ausgestellt, niemand hat Sie als zynisch oder roh kennen gelernt. Wie kommt es nun, daß Sie während der Haft diese förmliche Schimpfwut besaßen? – Sie hat halt immer, wenn manihr in der Untersuchung auf etwas draufgekommen ist, ihrer Laune Luft gemacht. –

Vert.: Ich erkläre mir das anders. Auf eine sofeingestimmteSeele, wie Fräulein V. es ist, wirkt eben die Haft ganz anders ein, als auf stumpfe Menschen.

Die Angeklagte erhebt sich und ruft: „Wenn man mir vielleicht meinen Selbstmordversuch vorwirft, so lege ich keinen Wert darauf, daß er hier konstatiert wird. Das ist meine Privatsache. Gut, ich mache dem Herrn Vorsitzenden das Vergnügen und sage: Er war fingiert.“

Wieder ein Spiel. Es ist unverständlich, weshalb man die Handgelenke der V. nicht auf Narben von dem Selbstmordversuch untersucht hat, nachdem schon so oft von dieser Tat die Rede gewesen.

Der Vorsitzende teilt mit, daß bereits ein zweiter Brief an die Geschworenen eingelangt sei und sagt: „Auch den legen wir gleich zu den Akten, vielleicht kommen bis Abend noch ein paar.“ (Heiterkeit.)

Hiermit sind die Zeugenaussagen abgeschlossen. Über das Tatsächliche des Verbrechens haben sie etwas durchaus neues nicht gebracht. Interessant waren nur die Spiegelungen der Persönlichkeit. Nun haben wir auch außer diesen Zeugenaussagen, welche Menschen entstammen, denen die Angeklagte irgendwie zuimponieren vermocht hat, noch ein ziemlich ausführliches Fakultätsgutachten der Wiener Universität, auf dessen Schlußfolgerungen es in diesem Falle sehr ankam. Das Urteil hat sich schließlich auch ungefähr so gestaltet, wie dieses Fakultätsgutachten die Schuld oder relative Schuld der Frau umschrieben hatte. Im weiteren Verlaufe will ich aus den Pressestimmen noch das eine oder das andere literarisch gezeichnete Porträt wenigstens teilweise wiedergeben. DasFakultätsgutachtenlautete im wesentlichen folgendermaßen:

„Wie nach den übereinstimmenden Ergebnissen der wiederholten Untersuchung kaum anders zu erwarten, gab sich die Beschuldigte auch vor dem Psychiater besonnen und überlegt. Sie beherrschte die Konversation, spricht geläufig über indifferente Themen, erweist sich aber da keineswegs frei von Irrtümern, vorgefaßten Ansichten; von einer umfassenden, allgemeinen Bildung ist keine Rede.

Schon bei der ausführlichen Erörterung ihrer Kindheitsentwicklung retouchierte sie, schildert sie die Kinderstube gewissermaßen als Idyll. Neben vielen ganz gleichgültigen Erinnerungen bringt sie die Episode, daß sie als kleines Kind Regenwürmer ausgrub, sie verschluckte und auch davon dem Großpapa in den Mund zu stecken versuchte, worauf sie Strafe erhielt.Sie erzählt weiter von der Platzangst, die sie als Kind hatte.

Bezüglich ihres Geschlechtslebens ist sie bemüht, sich als durchaus normal hinzustellen. Sie protestiert auch dagegen, daß sie seiner Zeit in Herrn Piffl verliebt gewesen sei; wenn er irgendwie Witwer geworden wäre, hätte sie ihn keinesfalls geheiratet. Hingegen bleibt sie entschieden dabei, daß sie Herrn Stülpnagel liebt, wiewohl er ganz anders aussah, als sie sich den Mann ihrer Liebe vorgestellt hat. Auf seine Zärtlichkeiten habe sie schnell reagiert. Etwa ein Jahr war das Verhältnis friedlich und glücklich. Mit der Tatsache der vorhandenen Ehefrau hatte sie sich abgefunden. Aber daß er neben ihr noch andere Verhältnisse unterhielt, das mußte sie empören.

Anschließend an dieses Examen hat die Beschuldigte den Ärzten noch ein Schriftstück überreicht, um klarzulegen, daß sie ein ganz normales Weib sei, daß sie als Kind und junges Mädchen die gleiche Entwicklung genommen habe wie ihre Altersgenossinnen; nur in einem einzigen Falle hätte sie zu einer Kollegin ganz besondere Sympathie gefaßt.

Ausführlich beschäftigt sich dieser Teil der Untersuchung mit den scharfen Angriffen gegen die Behörden, von denen sie sich immer ungerecht behandelt fühlt. Es scheint ganz aussichtslos, heißt es in dem Gutachten, der Beschuldigtenklar zu machen, daß die Behörden für sie erst Interesse gewannen und gewinnen mußten, nachdem gewisse Tatbestände gesetzt worden seien. Zwangsläufig wiederholen sich immer wieder diese Beschuldigungen. Es sind schon gewissermaßen erstarrte Gedanken. Dunkel sind ihre Aussagen, wenn sie von ihrer Enttäuschung spricht. Sie läßt offen, welche sie damit meint, ob den Umstand, daß Herr Stülpnagel sie in der Schwangerschaft im Stich gelassen oder daß er im Zuge des Untersuchungsverfahrens ihre intimen Beziehungen preisgegeben.

Verzweiflung oder Rache werden als Motiv abgelehnt, bei einer Sache, die, wie sie sagt,kein Motivhabe. Über den ersten Prozeß wollte sie unter keinen Umständen sprechen.

Das sind zunächst die Bemerkungen über die Ergebnisse der persönlichen Untersuchung. Nun lag den Professoren der psychiatrischen Klinik zur Beurteilung der geistigen Persönlichkeit der Beschuldigten noch ein überreiches Material vor. Zunächst wird festgestellt, daß der Vater der Beschuldigten an Epilepsie mit Charakterveränderung litt und schließlich an Gehirnerweichung starb. Milica hatte, wie ein Freund des Hauses, Direktor Dr. Böck, und Berichte der Mutter angegeben, eine schwere Kindheit hinter sich. Sie war oft krank, anscheinend vielbegabt, lerneifrig und ehrgeizig.Außer Zweifel steht ihr guter Intellekt. Das Gutachten führt auch als bemerkenswert an, daß die Beschuldigte nicht über ihren Kreis hinausstrebt, sondern den bescheidenen Beruf einer Lehrerin ergriff, für den sie besonders geeignet zu sein schien. Außerdem ist sie mit guten Gedichten hervorgetreten, sie zeigt auch schriftstellerische Fähigkeiten, ist jedenfalls produktiv.

Hingegen weist sie trotz ihrer Auffassungs- und Kombinationsgabe, ihrer formellen sprachlichen Begabung, beweglichen Phantasie und Gewandtheit des Ausdrucks in der Rede und in der Schriftgrobe Lücken im Bildungswesen auf. Und in der Kritik ist sie schwach.

Über das Maß einer Verstandesbegabung kann man schwer durch ein Examen ins klare kommen. Eine noch heiklere Aufgabe ist es jedoch, über das Innere, den Kern der Persönlichkeit, eine gutachtliche Äußerung abzugeben. Das hängt ja auch meistens, nebst der Subjektivität des Urteilenden von der Mentalität der Auskunftspersonen ab. Sie wird von dem einen als unheimliches Wesen angesehen, mit Scheu und Abneigung betrachtet, man schildert sie als kalt, rücksichtslos, ohne Moral und Dankbarkeit, egoistisch, voll Berechnung, boshaft, wenig wahrheitsliebend, als einen häßlichen Charakter. Aber sie macht ihren Weg, tritt einen Beruf an, wird andererseits als ausgezeichneteLehrerin beschrieben, die bei ihren Schülerinnen beliebt war, im Umgang taktvoll, zurückhaltend, liebenswürdig, hilfsbereit und uneigennützig. Sie hat Freunde, Freundinnen und Förderung gefunden, war durch Jahre vertraute Hausgenossin in einer gutbürgerlichen Familie. Trotz einer ihr zugeschriebenen angeblichen Verlogenheit hat sie an kein Hochstaplerleben gedacht, niemand hat ihr eine Handlung gegen das Eigentum oder auch nur großen Eigennutz zugemutet. Trotz aller Freiheit des Benehmens wahrte sie ihre Geschlechtsehre.Gefühlskälte fällt wohl allen Ärzten an ihr auf.Am wenigsten läßt sich vom Standpunkt des Seelenarztes über das Wollen und Streben eines Menschen aussagen. Seitdem sie zum erstenmal unter psychiatrische Beobachtung kam, taucht bezüglich ihrer Person die Hysterie auf. Vielfach wird als Grundlage, zumindest als auslösend für hysterische Reaktionen, eine Störung des Trieblebens gefordert. Sicheres läßt sich hier nun nicht angeben. Als sie ihr Verhältnis begann, war sie 26 Jahre alt geworden; sie hatte bei ihrer bedenkenlosen Auffassung, ihrem umgänglichen Wesen gewiß schon früher und leichter Gelegenheit gehabt, dazu mit einem Manne, der ihr an Jahren näher gestanden. Das Gutachten meint, daß trotz des normalen Eindrucks, den Herr Stülpnagel von ihr empfangen, mit der Möglichkeitimmerhin zu rechnen sei, daß Abweichungen in ihrem Triebleben bestanden haben, vielleicht auch noch bestehen.

Die Gutachter haben sich trotz des Widerstrebens der Angeklagten, über den ersten Fall zu sprechen, natürlich doch auch mit dem Vorakt beschäftigt, um festzustellen, ob außer den Anomalien des Geschlechtslebens vielleicht noch andere abnorme Triebrichtungen in Betracht kommen könnten. Die Wiederholung des gleichen Delikts, das die Gutachter schon vor dem Geständnis der Beschuldigten als erwiesen annahmen, läßt die Frage eines triebhaften Vorgehens um so eher bejahen, je mehr man Handlungen gleicher Art sich wiederholen sieht, während normale, verständliche und nachfühlbare Motive vermißt werden. Zu den Motiven bemerken die Gutachter bezüglich des ersten Falles: Da die Beschuldigte nur mit Herrn Landesschulinspektor gut stand, wurde damals von den Gutachtern und der Anklagebehörde Eifersucht und das Bestreben wahrgenommen, an Stelle der Gattin zu treten. Gewiß eine mögliche Kombination, aber nicht die einzige, es kann auch einen anderen Anlaß gegeben haben, zu einer Handlung des Affekts, den Wunsch, sich zu rächen.

In dem neuen Prozeßfall brachte die Beschuldigte als Erklärung für ihre Handlung ihre Schwangerschaft, beendet durch einespontane Fehlgeburt, vor. Das reicht aber nicht aus, eine höhergradige, seelische Störung zu beweisen, und für eine Geistesstörung fehlt jeder Anhaltspunkt. Es ist natürlich, heißt es im Gutachten, nicht zu erfahren, wann die Beschuldigte den Gedanken zur Tat gefaßt hat. Jedenfalls hat sie ein Geschäft ausfindig gemacht, wo man Bleiweiß und Staubzucker zugleich kaufen kann. Der Aufbau dieser Verantwortung ist gewiß eher vor als nach der Tat konzipiert worden.

Damit kommen wir zur Frage über die Echtheit der Liebe der Angeklagten. Ganz abgesehen von der Skepsis, mit welcher man jede ihrer Äußerungen entgegenzunehmen lernen mußte: Wer kennt die Frauen? Gerade bei hysterisch veranlagten beobachten wir Ärzte ganz regelmäßig das Durcheinanderspielen echter und falscher Gefühlsausbrüche, unvereinbare Widersprüche und doch auch Sinn und Zweck, selbst auf der Höhe der Leidenschaft. Durch die Aufnahme einer intimen Beziehung mit Stülpnagel konnte sie vielleicht einen Einfluß auf den Mann erwarten, den sie sonst nicht gehabt hat. Aber auch die andere Möglichkeit soll berücksichtigt werden: daß sie Herrn Stülpnagel wirklich liebte. Mit der Tatsache der Ehegattin hatte sie sich, wie schon gesagt, von Anfang an abgefunden. Als aber die Beschuldigte, ihrer Darstellung nach, sehen mußte, daß ihreReize, ihre Hingabe dem Mann nicht genügen, daß ihr Erster, den sie auch für ihren Einzigen nehmen wollte, sie betrog, begründete das gewiß eine Leidenschaftlichkeit, die sich in gewaltsamer oder hysterischer Form entladen konnte, gerade bei hysterischen Frauen beides so gern kombiniert. Bei der Reizbarkeit, der in Worten sofort aufflammenden Feindseligkeit, wenn ihr Selbstbewußtsein oder Selbstgefühl auch nur im mindesten verletzt wird, ist es wahrscheinlicher anzunehmen, die Beschuldigte hätte ihrer schweren Enttäuschung, ihrer verletzten Frauenehre, ihrer Eifersucht gemäß sich Luft gemacht, als an die andere Annahme, die Beschuldigte hätte, kalt überlegend, die Ehegattin Stülpnagels aus dem Wege räumen wollen, sei es auch um den Preis weiterer Opfer. Daß die Beschuldigte selbst sich gesundheitlich mindestens gefährdete, spricht auch eher für eine hysterische Affekthandlung.

Wenn ein gereiztes und rachsüchtiges Weib einen lebensgefährlichen Angriff unternimmt, ist das eine Affekthandlung, ein Verbrechen. Zum Gift wird selten Zuflucht genommen. Deshalb kann aber die Wahl gerade dieses Mittels nicht zur Diagnose Geisteskrankheit ausreichen.

Das Gutachten äußert sich nun über die Frage der Affekthandlung. Man könnte sich vorstellen: Die Beschuldigte hat im Affektzum Gift gegriffen, um Herrn Stülpnagel ihr Leiden entgelten zu lassen, ihn und seinen Kreis. Hingegen meint das Gutachten: Das Fassen des Entschlusses vom ersten Auftauchen des Gedankens, der, verworfen, doch immer wieder kehrt, ein innerer Kampf gegen Bedenken und Hemmungen, die Vorbereitung und schließlich die Durchführung der Handlung sind aber, wenn ein Giftverbrechen angenommen wird, nicht plötzlich, nicht in Affekthöhe, nicht zu einer Zeit eingeengten Bewußtseins erfolgt.

Das Gutachten setzt sich dann mit einer Ansicht des in der Familie verkehrenden Psychiaters Dr. Böck auseinander, der von einer Moral insanity bei Milica gesprochen hat. Das Gutachten möchte nicht, daß die Charakterzüge und Handlungen, die Milica aufweist, zu dieser Krankheit gestempelt werden. Auch die behaupteteGemeingefährlichkeitder Angeklagten ist zubezweifeln. Auf die Jahre fruchtbringender, beruflicher Tätigkeit, im allgemeinen klagloser, ja belobter Führung wurde bereits hingewiesen.

Sohin faßt die medizinische Fakultät ihr Gutachten dahin zusammen:

1. Milica V. ist nicht geisteskrank, bietet aber Zeichen von Charakterentartung, ein Mißverhältnis zwischen ihrer geistigen Leistungsfähigkeit und ihrem sittlichen Empfinden.

2. Sie war zur kritischen Zeit körperlich leidend, heruntergekommen, stand unter dem Einfluß von schweren Affekten. Eine Trübung oder Aufhebung des Bewußtseins ist jedoch für keine ihrer Handlungen Voraussetzung oder beweisbar.

3. Es liegen Gründe vor, zu vermuten, daß es sich bei der Beschuldigten um triebhafte Momente handelt. Die von ihr im ersten wie im gegenwärtigen Strafverfahren gewählteArt der Verteidigung, sowie alles, was sie zu Protokoll gegeben hat, gestattet darüberkeine Feststellung.

Das Beweisverfahren wird hierauf geschlossen.

Am nächsten Verhandlungstage wurden nach längerer Beratung die Schuldfragen, die den Geschworenen vorgelegt werden sollten, wie folgt formuliert:

Erste Hauptfrage: Ist die Angeklagte schuldig, im Mai und Juni 1922 in der Absicht, Dorothea Stülpnagel und deren Söhne zutöten, durch Beimengen von Bleiweiß in eine Anzahl Lebensmittelpakete, die für den Haushalt Stülpnagel bestimmt waren, zur wirklichen Ausführung führende Handlung unternommen zu haben, wobei die Vollbringung des Verbrechens nur wegen Unvermögens, eventuell wegen Zwischenkunft eines fremden Hindernisses, beziehungsweise durch Zufall unterblieb?

Zweite Frage (für den Fall der Bejahung der ersten Frage): Ist der Mordtückischerweiseversucht worden?

Dritte Frage (Eventualfrage): Ist die Angeklagte schuldig, durch eine aus Bosheit unternommene Handlung eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit von Menschen herbeigeführt zu haben?

Vierte Frage: Ist wirklich eine Gefahr für die körperliche Sicherheit entstanden?

Fünfte Frage (für den Fall der Bejahung der ersten und dritten Frage): Hat die Angeklagte gegen Dorothea und Ernst Stülpnagel senior und deren Söhne nicht in der Absicht zu töten, aber doch in anderer feindseliger Absicht so gehandelt, daß eine schwere Verletzung derselben erfolgte?

Sechste Frage (für den Fall der Bejahung der fünften Frage): War es die Absicht der Täterin, daß eineschwereVerletzung erfolge?

Siebente Frage: Erfolgte eine Gesundheitsstörung von mindestens dreißigtägiger Dauer, wobei Dorothea Stülpnagel auch eineBerufsunfähigkeitvon mindestens 30 Tagen erlitt?

Achte Frage: Ist die Tat in tückischer Weise erfolgt?

Neunte Frage (als Zusatzfrage zur ersten, dritten und fünften): Wurde die Tat in einer Sinnesverwirrung begangen, in der sich die Täterin ihrer Handlung nicht bewußt war?

Der Vorsitzende fügt noch hinzu, daß die fünfte Frage der Verantwortung der Angeklagten entspräche.

Es folgt nun die Rede des Staatsanwalts.

Hoher Gerichtshof! Meine Frauen und Herren auf der Geschworenenbank!

Eine Zeitung hat im Verlaufe des Prozesses geschrieben, der Staatsanwalt halte sich vorläufig im Hintergrunde, er werde die großen Worte erst im Plaidoyer vorbringen; damit ja kein Mißverständnis obwaltet: ich will keine großen Worte gebrauchen. Alle großen Worte sind ein bißchen hohl. Ich will in voller Ruhe und Sachlichkeit, wie sie ungefähr einem Richter geziemt, meinen Standpunkt vertreten. Im Laufe des Verfahrens ist, wie Sie wohl gemerkt haben, nicht alles so gegangen, wie es in einem richtigen Schwurgerichtsverfahren vor sich geht. Lassen Sie um Himmelswillen, verehrte Geschworene, dieIdeedes Rechtes nicht Schaden leiden durch den Schaden, den dieFormdes Rechtes hier genommen hat. Die Sachverständigen haben festgestellt, daß in 15 Lebensmittelpaketen Bleiweiß gefunden worden ist, es waren noch 502 Gramm Bleiweiß drinnen, als die Pakete beschlagnahmt wurden. Es muß also eine größere Menge Bleiweiß hinein getan worden sein, ungefähr drei Viertel Kilogramm.

Sehen Sie davon ab, daß die gewesene Fürstin V. hier sitzt, übertragen Sie den Fall in irgendein Bauernhaus, und nehmen Sie an, daß eine Bauerndirne das Bleiweiß in die Lebensmittel hineinpraktiziert hat. Sie hören, daß der Tat der Bauerndirne eine ganze Reihe von Szenen zwischen ihr und dem Bauern vorhergegangen ist, bei denen es sich immer wieder darum gehandelt hat: Ich will nicht deine Mätresse sein – M. V. hat ein etwas deutlicheres Wort gebraucht – ich will Bäuerin sein. Sie hören, daß der Bauer zu Mittag nicht aus der gemeinsamen Schüssel gegessen hat, und Sie hören, daß im Dienste bei ihr schon einmal solche Dinge vorgefallen sind, und daß die erste Bäuerin nur durch ein Wunder einem dreimaligen Versuche, mit Arsenik und Phosphor ums Leben gebracht zu werden, entgangen ist. Es ist kein Zweifel, diese Bauerndirne ist eine Mörderin, sie wollte sich an den Platz der Bäuerin setzen.

Die Angeklagte wollte hier nicht den Gedanken aufkommen lassen, daß sie eines jener Wesen sei, die man mit diesem gesunden, klaren Argument einfach verurteilt.

Sie hat es verstanden, um ihre Person einen gewissen Nimbus zu verbreiten und damit hat sie auch hier operiert. Sie geberdete sich unnahbar, trat wie eine Fürstin auf, und zeigte damit von allem Anfang an die Rolle, die siehier zu spielen gedachte. Das große Publikum unterliegt sehr leicht den Einflüssen solcher Äußerlichkeiten. Ich erinnere nur an das Beispiel eines Breitwieser (gefährlicher Mörder und Räuber), wo das Urteil der Menge getrübt war, weil er es verstanden hat, sich mit einem Nimbus zu umgeben. Die Angeklagte hat von Anfang an hier Theater gespielt. Ihre Verantwortung lag nicht darin, was sie gesagt hat, sondern wie sie es gesagt hat. Im Fakultätsgutachten ist (am Schluß) diese Seite ihres Wesens klar gekennzeichnet. Da heißt es, daß M. V. die Prozeßlage verzweifelnd beurteile, das heißt, sie glaubt, daß sie verurteilt werden wird. Und diese Person tritt hier mit Allüren auf, kommandiert, begehrt auf, schafft dem Vorsitzenden an, was er zu tun hat, greift in die Verhandlung ein, als ob sie sie leiten würde. Das ist Theaterspiel einer Person, die mit ein bißchen Galgenhumor, aber auch gewiß mit einer angeborenenFrechheitauftreten will. (Bei diesen Worten fährt die V. auf, als ob sie etwas sagen wollte, setzt sich aber auf einen Wink ihres Verteidigers wieder nieder.) Sie betrieb hier Milieumalerei, sprach von den Entbehrungen der Haft, von Hunger und Kälte, aber die große Pose, mit der sie alles vortrug, erwies sich als Schauspielerei, als der furchtbar magere Sachverhalt (hierversprichtsich der Staatsanwalt psychoanalytisch: denn die V.war wirklich nur Haut und Bein) bekannt wurde. Sie sprach auch von ihrem ungeheuer empfindlichen Schamgefühl, das ihr nicht erlaubt, vor der breiten Öffentlichkeit das Innere ihrer Seele zu enthüllen. Aber aus den Berichten des Gefängnispersonals habe ich erfahren, wie es um dieses Schamgefühl bestellt ist. Sie gebraucht geradezu unqualifizierbare Schimpfworte, wie ich sie in meiner 25jährigen Praxis mit einem Publikum minderer Sorte noch nicht gehört habe. Schauspielerei ist auch der Hinweis auf ihre politische Überzeugung, denn in ihren Gedichten trieft es geradezu von der entgegengesetzten politischen Richtung, dynastischem Gefühl usw.

Man kann ruhig behaupten, daß sie auf die Urteilslosigkeit der Menge spekuliert. Sie ist Giftmischerin. Die Verteidigung wird Sie, meine Geschworenen, auf das Wort Hysterie verweisen. Das hysterische Wesen der Angeklagten ist ihr Verteidigungsmittel, das sie geschickt zu benützen versteht. Die Verteidigung rühmt auch ihre persönlichen Eigenschaften, nennt sie taktvoll, klug, vornehm, ich sage einfach, sie ist eine Giftmischerin. Das scheinen Gegensätze zu sein, die sich nicht miteinander vertragen. Aber wenn man in der Geschichte der Giftmorde nachblättert, so wird man finden, daß sich unter den Giftmischern Personen von hohem Rang und Intelligenz befinden.

Nun will ich etwas, bevor ich auf ihre Beziehungen zu Stülpnagel eingehe, über ihre Glaubwürdigkeit sagen. Selten ist eine solche Unsumme von Lügen, Verdächtigungen, Verleumdungen von einem Beschuldigten zusammengetragen worden. Auch ihre Verantwortung, schließlich das Märchen mit dem Traumzustand, ist ein Hohlgespinst. Nur glatte Berechnung hat sie dazu gebracht, sich mit Stülpnagel einzulassen, und es ist zu bezweifeln, daß nach anderthalb Jahren Verkehr sich diese Liebe in einer so folgenschweren Eifersuchtsszene auflehnen sollte. Nehmen Sie an, eine Frau würde durch einen Mann in einen derartigen Konflikt geraten, daß sie glaubt, ihm unbedingt etwas antun zu müssen, was ja vorkommt. Sie wird sich aber dann ganz anders verhalten, als es die Angeklagte nach jener Szene mit Stülpnagel getan hat. Sie haben sich noch einmal und mehrmals miteinander amüsiert. Sieht das nach jenem Seelenzustand aus, wie ihn die Angeklagte schildert? Ich glaube nicht.

Aber wenn wir alle diese Lügen und Behauptungen außer Acht lassen, so ergibt sich aus dem, was übrig bleibt, zusammen ein logisches Bild des ganzen, aus dem die ganze Absicht klar hervorgeht. Die Angeklagte hat behauptet, daß sie ihn, Stülpnagel, treffen wollte. Er war aber mittags nie zuhause und hat Sonntags meistPartien gemacht, so daß er also von den vergifteten Lebensmitteln am wenigsten genossen hat. Nein, diese Behauptung muß falsch sein, weil sie zu stark durch die Tatsachen widerlegt wird. Sie hat ihn ja auch in der kritischen Zeit gedrängt, wie der Zeuge Rößler bestätigt hat, früher wegzufahren, auf Urlaub zu gehen. Die Tat muß vorbereitet, vorbedacht gewesen sein. Es muß ein Plan bestanden haben. Auch das Fakultätsgutachten spricht von einer Vorbereitung der Tat. Die Angeklagte muß genau gewußt haben, in welcher Drogerie man Bleiweiß bekommen kann, und hat es sich auch dorther verschafft.

Sie hat auch Kenntnis der Wirkungen des Bleiweißes gehabt. Das geht aus einem bezeichnenden Detail hervor, daß sie nämlich einmal spöttisch bemerkte, daß eine Bleiweißvergiftung, allerdings nur für eine kurze Zeit, diesinnliche Erregungsteigert!

Daß sie eine Menge von 600-700 Gramm in die Lebensmittel hineintat, beweist, daß sie keinen Unfall, sondern einen Mord ausführen wollte. Sie hat es darauf angelegt, daß die Frau Stülpnagel selbst die Speisen bereitet hat, an denen sie zugrunde gehen sollte. Das nennt man Tücke.

Man mußVorsatz und Motivierung voneinander scheiden.Motiviertwar die Handlung durch den Gedanken, daß FrauStülpnagel sterben müsse, damit Ernst St. Witwer werden und sie heiraten könne. DerVorsatzging auch dahin, die Buben mitzunehmen –, um einen Unfall vorzutäuschen.

Wenn auf die Unbeholfenheit des Mittels hingewiesen wird, so muß man bedenken, daß M. V. im Jahre 1918 wegen dreier schwerer Giftmord(versuch!)fälle in Untersuchung war und daher äußerste Vorsicht anwenden mußte. Daß sie sich um den erkrankten Mann bemüht hat, ist eine bei allen großen Giftmischerinnen und Giftmischern wiederkehrende Erscheinung und hat mit der Durchführung des Verbrechens nichts zu tun. (Im Gegenteil, es ist, wie er ja selbst zugibt, typisch und außerordentlich wichtig. Giftmord ist eben nicht Raubmord, sondern einweißes Verbrechenund dabei – ein Verbrechen für Frauen. Das bezeugt schon der geniale Pitaval.) Daß sie sich selbst der Gefahr ausgesetzt hat, beweist, wie hartnäckig ihr Plan war, denn man setzt sich nicht einer schweren Gefahr aus, wenn man nichts Hohes will. (Daß es sich für die Angeklagte um nichtsHoheshandelte, bewies der Verlauf der Aussagen und die Art der Beweise.)

Wenn sie vielleicht am 3. Juli tatsächlich den Auftrag gegeben hat, die Lebensmittel zu beseitigen, so war das kein Rücktritt vom Versuch, sondern die Konsequenz des Planes, um die Person nicht zu gefährden, um derentwillender Mord hätte vollbracht werden sollen.

Der Staatsanwalt wendet sich nun gegen Stülpnagel, den er mit einem Strafverfahren bedroht. Sodann streift er die Frage dertriebhaftenHandlung und meint, wenn auch im Gutachten die Vermutung ausgesprochen sei, es handle sich um eine triebhafte Handlung, so sei damit nicht gesagt, daß es sich um ein entschuldbares Verbrechen handle. (Welchen Sinn soll aber dieser Trieb haben, wenn er nicht als unwiderstehlicher oder kaum widerstehlicher Trieb gemeint ist?)

Auch die boshafte Gefährdung einer ganzen Reihe von unbekannten Personen sei durch die Handlung der Angeklagten gegeben gewesen (tatsächlich sind bei allen großen Giftmördern auch eine Menge unbekannter Personen Opfer), deshalb habe er diese Frage gestellt, aber er hoffe, daß die Geschworenen zu dieser Eventualfrage gar nicht kommen, sondern die Angeklagte wegen desversuchten Meuchelmordesschuldig sprechen werden.

DerVerteidigerDr. Hermann Kraszna führt aus:

Meine Herren Geschworenen!

Sie haben sich mit einem Falle von außerordentlicher Schwierigkeit zu beschäftigen, mit einem Mammutfall. Zwei hochgelehrte Herren Berufspsychiater haben sich mit derAngeklagten vier Monate hindurch beschäftigt und sind gegeneinander in Kämpferstellung getreten, sie konnten sich nicht einigen. Daraufhin habe ich das Oberlandesgericht gebeten, ein Fakultäts-Gutachten einzuholen. Und auch die Fakultät hat in ihrem Gutachten auf die besonderen Schwierigkeiten des vorliegenden Problems hingewiesen. Diese Schwierigkeit ist evident. Das hat niemand besser bekundet, als der Herr Staatsanwalt in einer derart drastischen Weise, wie noch nie im Gerichtssaal es geschehen, er ist völlig verwirrt geworden und hat den Boden unter den Füßen verloren. Die Anklage, die er im April erhob, ist ihm zerstört worden. Damals schrieb er: Milica Vukobrankovics hat dieses Attentat gemacht aus Liebe zu Stülpnagel, um seine Familie auszurotten und um an Stelle seiner Gattin seine Ehefrau zu werden. In der zweiten Anklage sagt er, sie habe aus Rache gehandelt. Und heute wieder sagt er, sie hat es aus Liebe getan, weil sie Herrn Stülpnagel heiraten wollte. Aus diesem wiederholten Wechsel der Anklage ist zu sehen, daß der Staatsanwalt hin- und herschwankt. Er kennt sich angesichts dieser Persönlichkeit nicht aus, was ich ihm nicht verdenke, weil die Angeklagte eine hieroglyphe Persönlichkeit ist, die man nicht leicht entziffern kann. Das Um und Auf der staatsanwaltschaftlichenLösung ist: Hier eine Giftmischerin – vernichte sie! Da war im Jahre 1917 ein Glas Limonade, das der Frau Piffl gereicht wurde, es wurde ihr schlecht, aber es geschah ihr nichts. Ein zweites Mal war es eine Mehlspeise mit Powidl (Pflaumenmus), in der Arsen war. Und als die Mitglieder der Familie Piffl davon aßen, da war diese Mehlspeise von einem ätzenden Geschmack, und alle hörten auf zu essen. Das Arsen der Milica Vukobrankovics hatte einen ätzenden Geschmack. Dann kam eine Phosphorpille dazu, so groß, daß man sie mit freiem Auge entdecken konnte. Nun haben wir die Bleiweißvergiftungen und wir haben gesehen, daß die Toten der Vukobrankovics alle leben. Wo ist da die Fehlerquelle der Giftmischerei, daß sie nicht töten kann? Ein Mörder geht kalt und berechnend zu Werke. Er handelt wie ein Mathematiker. Wo ist diese Zielsicherheit der Vukobrankovics? In dem vielzitierten Buch über Psychologie des Giftmordes wird von Gestalten erzählt, wie von der Madame Brinvillier, die ganze Regimenter zu Fall gebracht hat. (Das ist nicht richtig.) Das war alles Berechnung. Sie bediente sich solcher Mittel, die zum Ziele führen. Die Vukobrankovics kann niemanden töten. Wo ist das Geheimnis? Ist die Hand zu schwach, oder versagt das Gift bei ihr gerade? Und bei der Betrachtung dieser Frage kommenwir zur Erörterung der Persönlichkeit der Angeklagten, aus der hervorgehen wird, daß es sich nicht um Zufälle handelt, an die ich nicht glaube. Ich glaube vielmehr an eine Weltseele und daran, daß dieses Mädchen ein kranker Splitter davon ist.

Der Verteidiger spricht dann von den gerechten, hilfsbereiten, menschenfreundlichen Charakterzügen der Angeklagten, die eine Person untadeligen Wesens, nicht streberisch, aber diensteifrig zu nennen ist. Und da will man, sagt der Anwalt, das Bild verbittern, indem man anführt, daß sie während der Haft ganz anders gewesen. Wer kann es ermessen, wie die Haft auf den oder jenen wirkt? Will man ihr das zum Vorwurf machen? Wie kommt es nun, daß dieses Mädchen, das berufen war, an erster Stelle zu wirken, zum zweitenmal vor das Schwurgericht kommt? Auch den Psychiatern war dieses Rätsel nicht klar geworden. Aber das Gutachten stößt doch ein Fenster auf. Im dritten Absatz heißt es: Es liegen Gründe vor, zu vermuten, daß es sich bei der Beschuldigten um triebhafte Momente handelt. Und dann heißt es weiter: Die Frage eines triebhaften Vorgehens wird um so eher zu bejahen sein, je mehr Handlungen in gleicher Art sich wiederholen, während normale, verständliche und nachfühlbare Motive vermißt werden. Scheinbarausreichende Motivierung schließt freilich das nicht aus, was wir Ärzte einen Impuls nennen. Es muß etwas nicht in Ordnung sein. Aber der Triebmensch denkt nicht, rechnet nicht, wägt nicht und mißt nicht. Und Milica Vukobrankovics ist eine solche Person, die in gewissen Zeiten nicht normal denken und nicht normal fühlen kann, und die von ihren Trieben übermannt wird.

Verteidiger schließt: In Wirklichkeit liegt eine schwere Körperverletzung vor. Ich bitte daher diese Frage, aber auch die Frage auf Sinnesverwirrung zu bejahen. Verderben Sie nicht diese Person voll Fähigkeit und Talent, lassen Sie diese Friedlose in Frieden ziehen.

Nach einer Beratung von einer und einer halben Stunde erscheinen die Geschworenen im Saale, um das Urteil zu verkünden.

Die erste Frage auf versuchten meuchlerischen Giftmord wurde mit zwölf Stimmen verneint.

Die Zusatzfrage aufTückeentfiel.

Die dritte Frage, ob die Angeklagte aus Bosheit eine Handlung unternommen habe, die eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit von Menschen herbeigeführt habe, wurde verneint mit sechs gegen sechs Stimmen.

Die vierte Frage entfiel infolgedessen.

Die fünfte Frage (die der Verantwortung der Angeklagten entsprach) dahingehend, daß die V. gegen Dorothea und Ernst Stülpnagel senior in feindseliger Absicht, auf solche Art gehandelt habe, daß daraus eine schwere Verletzung erfolgte, wurde mit zwölf Stimmen bejaht.

Die Zusatzfrage, ob die Absicht der Täterin auf einenschwerenErfolg vorlag, wurde mit sechs gegen sechs Stimmen verneint.

Die Frage nach der dreißigtägigen Gesundheitsstörung wurde einstimmig bejaht.

Die Frage, ob der Angriff in tückischer Weise erfolgte, wurde mit sechs Nein gegen sechs Ja verneint.

Die letzte Frage aufSinnesverwirrungwurde einstimmig verneint.

Als erschwerend wurde bei der Strafbemessung die Mehrzahl der Opfer angenommen, die große weitere Gefahr für andere Opfer, die besonderen Schmerzen der Betroffenen, die Verübung durch Gift. Ferner die hohe Vorstrafe, die noch nicht weit zurückliegt.

Alsmilderndwurde angenommen dasGeständnis, das jedoch erst nach hartnäckigem und langem Bemühen, die Wahrheit zu verwischen, abgelegt wurde, ferner dieerblicheBelastung, die jedenfalls eine gewisse Verminderung der Hemmungen herbeigeführt hat, die Begehung der Tat unter dem Einfluß vonAffekten und die Gutmachung bezüglich der Stadtherr (der Bedienerin).

Das Urteil lautete auf dreieinhalb Jahre schweren Kerkers, verschärft mit einem harten Lager vierteljährlich. Die Dauer der Untersuchungshaft vom 28. Juni 1922 bis 15. Dezember 1923 wurde angerechnet. Die Verurteilung erfolgte wegen schwerer körperlicher Beschädigung.

Der Verteidiger: Gegen diese Strafe (die von dem Berufsrichter bemessen worden war), die eine Demonstration gegen das Geschworenenverdikt ist, melde ich Berufung an.

Die Angeklagte nahm das Urteil ohne Zeichen von Erregung auf.

Die Geschworenen waren: ein Galvaniseur, ein Bankbeamter, zwei Kaufleute, eine Verkäuferin, ein Schriftsteller (Obmann), eine Schriftstellerin, ein Schlosser, ein Landmann, ein pensionierter Oberförster, ein Beamter der Bezirkskrankenkasse, ein Buchdrucker und ein Schneider.

Wir lassen nun einige Berichte der Presse folgen, denen sich eine Würdigung des Buches der V., betitelt „Weiberzelle 321“ anschließen wird.

Der Wiener Feuilletonist Karl Marilaun bringt in einem Aufsatze folgende Analyse der S.

„Man sucht im hochgetragenen, eigenwilligund eigenartig profilierten Gesicht der Angeklagten nach einer Lösung des Rätsels. Und man glaubt in diesem geschickt beherrschten und eisern kommandierten, tragisch, bösartig und sentimental schauspielernden Gesicht einer gelernten Hysterikerin etwas wie die Lösung des Rätsels zu finden: wenn die Züge der Angeklagten in Augenblicken einer wirklichen, echten Abspannung gewissermaßen aus den Fugen, in Unordnung geraten. Dann kommt für halbe Sekunden das wahre Gesicht der V. zum Vorschein. Und das ist dann das sonderbar geronnene, wesenlos fatale,verwischte und uferlose Gesichteines Menschen, dessen Intelligenz letzten Endes doch leer läuft[1]. Eines Menschen, der so ziemlich alles zuwege bringen dürfte, was er sich vorgenommen hat, aber im Grunde wahrscheinlich gar nicht weiß, was er eigentlich will. Eine Hysterikerin und diesmal eine echte Hysterikerin. Eine im tiefsten hoffnungslose, geprellte, einsame, niemanden begehrende und nur irrtümlich begehrte Frau, die ein Genie sein müßte, um nicht ein offenkundiges Malheur der Schöpfung zu sein. Die V. ist aber wahrhaftig kein Genie, sie ist eine Intelligenz und ich versteige mich zu der Behauptung: nur die sehr fatalen Grundzüge ihres Wesens verdunkeln gewisseAnlagen zur Urschel. (Komische Alte.) Sie werden ja trotzdem sichtbar. Z. B. wenn sie, deren messerscharfe Intelligenz ganz sonderbar zu einem gebildeten Fräuleinpathos neigt, auffahrend sagt: ‚ich kann nicht Fürstendienerin‘ sein, oder wenn sie ‚auf Fürstentitel keinen Wert legt‘, sich für die Verhandlung aber doch eine ganze Anzahl melodramatischer Hinweise auf erlauchte Abstammung von serbischen Heldenepen zurecht gelegt hat ... An allem ist der Name schuld. Nein, die Laufbahn einer städtischen Bürgerschullehrerin war nichts für sie. Schon im Pädagogium war sie ‚der Stolz der Anstalt‘, intelligent, ehrgeizig, nicht auf den Mund gefallen und außerdem heißt sie Milica. So wird man zum Hochstapeln geboren (?!). So gerät man ans andere Ufer, wo nicht Menschen, sondern Schemen wohnen. So sammelt es sich im Herzen an; spitznäsige Selbstvergötterung, melodramatischer Hochmut, Verachtung des dummen Bürgers, der auf den Mund gefallen ist ... Klugheit, Ehrgeiz, glühend kalter Wille zur Karriere, zu irgendeiner Karriere. Aber diese Milica war vom Schicksal ausersehen, kein Mensch, sondern eine Dame, keine Frau, sondern eine bei kleinen Bürgern angestellte und die kleinen Bürger verachtende Gouvernante sein zu müssen.“

[1]So wirkt tatsächlich auch die Photographie der V., die ihrem Buche beigegeben ist.

Offenbar ist hier der Eindruck, den die V.auf widerstrebende Menschen machte, gut wiedergegeben, und in manchen Charakterzügen ist sie gut getroffen, aber das wesentliche, das einzig interessante, nämlich, was diese V. von der spitznäsigen, verarmten, gouvernantenhaften Aristokratin unterscheidet, und vor allem, was sie zu ihren paradoxen Taten gebracht hat, kann der Feuilletonist nicht klarlegen. Die Abneigung macht ihn nicht klarsichtiger als andere die Bezauberung, die an sich um so wirksamer gewesen sein muß, als sie in diesem Falle versagt. Und gibt es einen stärkeren Beweis für diese Ausstrahlung der V., als daß sie auch in dem zweiten Prozeß nur wegen unwesentlicher Vergehen verurteilt, wegen des Giftmordes eigentlich freigesprochen wird. Denn schwere körperliche Beschädigung und Giftmordversuch sind nicht das gleiche.

Wesentlich tiefer geht ein anderer Schriftsteller. Er erfaßt das Wesen der V. an vielen Stellen, er sieht das sehr charakteristische, trotzdem aber den Richtern entgangeneSpielenmit der Schuld, mit dem Gericht, ja mit der Identität, was sie eben so gefährlich macht, und schließlich zeichnet er auch die Wiener Umgebung, die den Ausgang des Prozesses mitbestimmt hat und nicht das allein. Wir müssen in M. V. selbst ein Stück Wien und ein Stück Balkan zugleich sehen. Es handelt sich um einen Artikel von Emil Kläger.

„Adeliger Umriß einer weiblichen Gestalt. Erst später das angestaunte System einer verwirrend schleiernden Geistigkeit. Schöne Frauen auf der unwirtlichen Sünderbank des Gerichtssaales ... Farbensprühend, seidig, irisierend und irritierend, liegt ein Mantel erotischer Wirkungen um ihre Schultern ... M. V. besitzt einen ungeheuren Reichtum an solch mysteriöser Garderobe. Da geschah das Wunder, daß sie aus dem finstersten Schacht der Ungekanntheit nur so hinaufflog zur Glorie der Berühmtheit des Tages. Wien ist neugierig und galant. Wien hat in Mitteleuropa wohl den feinsten Spürsinn für Sensation, naivste Schaulust und Erlebnisfreude. Es riß die Augen auf, es bekam Beine, es hatte unbegrenzt Zeit. Unverdrossen stand es halbe Tage auf der Straße, drückte sich mit kindlicher Geduld an das große Gemäuer, von dem die Sensation umschlossen wurde, hübsch artig in Doppelreihen, wenn es nicht kühn über ein Labyrinth von Treppen und Stiegen irrte, um plötzlich vor einem Gitter, einer Tür zu stehen, nur um einen Blick zu tun in den Dunst eines Saales, in dem Mordgerüchte warten, in dem sich die Silhouette dieser Frau abzeichnete.Kein Theater kann sich solch tollen Zulaufs rühmen.Die erklärte Diva der Schaulust dieser Woche war M. V. Sonderbar. Das Stück war eigentlich alt, stand schoneinmal im Repertoire der Justiz, vor fünf Jahren, bei allgemeiner Teilnahmslosigkeit ... Nun muß es eingestanden sein. Dieses zweite Mal wurde eben Milica als faszinierendes Weib entdeckt. Der einfache Sachverhalt läßt sich nicht verschweigen. Ethik macht sauere Mienen, Rechtlichkeit ergrimmt, aber dieMassenempfindungist nicht anders zu erklären, ohne sie zu verfälschen. Moral hat keine Gewalt über die Sinne. M. V. fasziniert. Es ist nicht leicht, auf den Grund ihres Wesens zu dringen, das ihr diese Macht gibt. Sie ist allzu dicht verschleiert. Ihr Bild schimmert ferner.Vergeblichhat die medizinische Fakultät ihre psychologischen Sonden angesetzt. Sie stach dabei immer nur in Schleiergespinst, um am Ende die fast heiter anmutende Schlußsentenz hinzuschreiben, ‚wer kennt die Frauen‘?

Eines aber ist sicher: Milica ist eine Herrennatur und wo sie steht, da wächst sofort unsichtbar eine Bühne um sie herum. Sie braucht nur einfach und ruhig dazustehen, und sofort wird um sie Platz. Ihre Stimme klingt und schafft Raum. Der erste Eindruck ist durchaus nicht außerordentlich. Die feine Gliederung des schlanken Körpers fällt wohl auf, das Kinn in dem länglichen Gesicht, durchaus weiblich und doch merkwürdig energisch. Doch hier ist keine eindeutige Schönheit,keine Lieblichkeit. Es ist nur rassige, herbe Eigenart. Eine schmale, lange, nicht ganz regelmäßige Nase senkt sich gar nicht streng harmonisch, die Lippen sind dünn, die Augen lebhaft, von unbestimmter Farbe. Niemand möchte da gleich entzückt sein. Auch wenn man die raffiniert über die Ohren herabgezogenen Haarschwänze in die Betrachtung einbezieht, die da von glänzenden Agraffen gehalten werden. Nein, es ist durchaus nichts, um die Ruhe zu verlieren. (Daß sie, wie das erste Gutachten behauptet, an einer Rückgratverkrümmung leidet, ist diesem wie allen anderen Berichterstattern entgangen.) Da erhebt sich die V., Arme und Beine rühren sich in fließender Bewegung von unvergleichlicher Anmut, der Kopf hebt sich mit einfachem Stolz. Jetzt genießt man das Schauspiel einer Geschmeidigkeit, wie sie an diesem musikgleichen Rhythmus nur die großen Katzen bieten. Ihre Stimme klingt gesättigt von dunklem Schmelz, nicht laut, aber von gedrungener Kraft. Sie greift fest zu und schmeichelt sich noch an den Hörer heran, nimmt gefangen. Und während des Klanges, der auch das Geistige der Frau trägt und in den Saal versprüht, verwandelt sie sich. Nun wird alles Herbe der Erscheinung unter dem Glanz der Stimme erhöht. Man spürt das unterjochte, gesänftigte Männliche, dasin diesem feingliedrigen Weib lebt, ihr Intellekt, Willen gibt. Der KontrastzweigeschlechtlichenWesens, zu einer Einheit vermählt, ist wohl der hauptsächlichste Grund der Faszination. Die Dosierung von Mann und Weib, von der Otto Weininger spricht, die einen prachtvollen Ausgleich in ihr gefunden hat. Sie spricht mit brillanter Beredsamkeit, sie hat überlegenen Witz, Dialektik, zieht scharfe Schlüsse,falsch, aber blendend. Man betrachte die Stirne. Sie ist fein, vornehm und doch stark. Hinter ihr sucht man das Geheimnis.

Endlich überwindet man Bild und Wirkung der Frau und findet dann den Fall durchaus nicht so dunkel (?). Der geringste der Giftmord-Prozesse, über den die Kriminalgeschichte berichtet, stellt den Leser vor ungleich merkwürdigere Tatsachen. Wenn der Staatsanwalt Recht hätte, daß die V. Giftmischerin ist, gewissermaßen ihrem inneren Berufe nach, dann wäre weder ihr Äußeres, noch ihr trefflicher Leumund dazu im Gegensatz. Alle großen Giftmischerinnen erfreuten sich der größten Schätzung, die meisten waren schön. Von der Marquise de Brinvilliers berichtet der Chronist: ‚Ihr Gesicht war rund und freundlich, von den regelmäßigsten Zügen. Sie wurde besucht, bewundert und gefeiert, angebetet, als schon ein großer Teilihres Wandels bekannt war.‘ Nicht anders die große Zahl ihrer Nachfolgerinnen, zu denen viele deutsche Verbrecherinnen gehören. Die meisten besaßen delikate Kultur, waren gesellschaftlich gebildet, genossen den Ruf von Herzensgüte. Sie verschafften sich eben außerordentlich viel Vertrauen. Alle wurden spät entdeckt, schwer überführt ...

Slawische Naturinstinkte, prinzeßliches Herrenbewußtsein wird gedeckt von einer Glasur, die unsere Pädagogik über ihr natürliches Wesen gestrichen hat. Ihre Vorfahren waren nicht wählerisch in den Mitteln, wenn es unerwünschte Konflikte zu lösen gab. Daheim herrscht Blutrache, auch für enttäuschte Liebe (?). M. V. mußte in Wien ein Proletendasein fristen, sie war eine Deklassierte (?!). Da mag eine innere Umstellung ihrer Wunschträume erfolgt sein. Sie paßte sich gezwungen den Verhältnissen an, die sie vorfand, wurde Lehrerin (übrigens ein Beruf, in dem man auch herrscht, wenn auch nur über Kinder). Aber das Bedürfnis nach Macht hat sie wohl nie verloren ... Sie war jemand, der sein eigenes Gewissen nicht fürchtet. Der Vorfall im Hause Piffl: kein versuchter Mord, es war nur einSpielmit Gift um der Macht willen. Daß sie es mit Hilfe von Gift tat, ohne den Erfolg eines Mordes herbeiführen zu wollen, ist seltsam, aber charakteristisch. Viele Autoren, diesich mit der Psychologie von Menschen befassen, die GiftohneMordabsicht anwenden, sind zur Überzeugung gelangt, daß hier erotische Motive eine Rolle spielen können. Sie sind wahrscheinlich der sadistischen ähnlich. Von der Marquise von Brinvilliers ist sichergestellt, daß sie ihre Gesellschaftsdame, die sie vergötterte, gelegentlich außer mit Bonbons auch mit ein bißchen Gift fütterte (?). Beileibe nicht in Tötungsabsicht, sondern bloß, um ihr ein wenig Qualen zu verursachen. Es schuf ihr erotische Sensationen und außerdem kokettierte sie mit ihrer Macht. Wer Gift und das Vertrauen seiner Umgebung in seiner Tasche fühlt, der darf den vermessenen Wahn genießen, gottähnlich über das Leben beliebiger Leute zu herrschen. Er schneidet es lautlos ab, wenn es ihm beliebt. Unsichtbar, unhörbar. Es findet kein Angriff auf das Opfer statt, es kennt seinen Mörder nicht. Er tötet aus der Ferne usw. usw.“

Diese Gedankengänge sind zum Schluß schon ziemlich abwegig. Sie treffen ganz gewiß an einzelnen Stellen wesentliches, aber der rationale Gedanke, im Giftmord zeige sich ein (weiblicher, spezifischer) Wille zur Macht, widerspricht der spielerischen, tändelnden, der „reinen Tat“ bis insparadoxeentfremdeten Seelenstimmung und Lebenshaltung, die alle großen Giftmischer aufweisen.

In einer ganz anderen Richtung bewegt sich ein Artikel, der die soziologische Bedeutung dieses und ähnlicher Fälle umschreibt und der die sehr wichtige praktische Frage aufwirft, was solle mit diesen Menschen geschehen? Die V. hat übrigens auch selbst diese Frage gestellt, freilich nicht in demluziden Intervallzwischen der ersten Rückkehr aus dem Gefängnis und dem zweiten Delikt, sondern später, auf der Anklagebank. Sie hat gesagt, ‚ich gehöre nicht her, vor das Gericht, sondern in ein Sanatorium‘. Hier ist doch Sanatorium nur der milde, gesellschaftlich gehobene Ausdruck für die Heilanstalt für Geisteskranke. Daß aber solch eine Geisteskrankheit, deren bloße Erkennung und Bezeichnung schon unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet, eine zum mindesten nicht geringere Schwierigkeit der Heilung entgegensetzen wird, das ist völlig klar.

Dies wußte auch die V. Daher ihr Haß gegen die Psychiater, der den Berichterstattern des ersten Prozesses ebenso auffällt wie denen des zweiten. Sie hat spottend gesagt, die Psychiater des Gerichts erklären nur einen Toten für krank. Aber der Satz wäre auch umgekehrt richtig: Wen die Psychiater für krank erklären, ist für immer tot, das heißt, er wäre auf immer in Detention zu halten, gleichgültig ob man diese Detention Irrenhausoder Kloster oder Sanatorium nennt. In diesem Sinne spricht sich auch der folgende Artikel aus, der der „Neuen freien Presse“ entnommen ist.

„Der Prozeß hat Wien aufgewühlt ... Solange es Menschen geben wird, werden sie der Brunst nach dem Ereignis gehorchen, kein Philosoph wird der Masse den elementaren Vorstoß wehren können, die Raserei hin zu den Fechterspielen, ... der Mensch mit all seinem Anstrich von Kultur ist doch organisch fühlend, dem Elementaren, dem Gewaltsamen zugeneigt, und keine Intelligenz wird ausreichen, diese Tierheit seinem Wesen zu entziehen ... Kommt dazu noch das Flimmern, das Zweideutige dieser seltsamen blassen und zarten Frau, die wie eineHexehandelt, aber wie eine Dame aussieht und wie eine geborene Rednerin zu sprechen weiß, so wird verständlich, was auf den ersten Blick nichts anderes schien als die phäakische Verschlampung, der Wiener oft genug anheimfallen. (Gemeint ist offenbar das unbegreifliche Interesse der Wiener an dem Fall und das Fehlen der moralischen Abwehr. Ging doch den Geschworenen des zweiten Prozesses am letzten Tage ein Brief zu, worin stand, die einzige Lösung wäre die, man solle ‚unser Königskind M. V. auf der Ringstraße herumführen, krönen‘!) Der Schreiber des Artikelssetzt seine Ausführungen fort wie folgt: Wir wollen jedoch nicht über den Fall V. sprechen, nur über die Strafe, die das Gericht verhängt hat. Hier ist ein Mensch, der zum zweitenmal seiner derselben seelischen Einstellung zum Opfer fällt ... niemand kann sich des Eindrucks erwehren, daß hie eine spezifischeSucht, eine düstere Unterströmung, ein Unter-ich vorhanden ist, um ein Wort von Freud zu verändern, etwas, was zwingend und mit gewaltsamer Lockung den Lebensgang dieser Frau in Banden hält. (‚Ist Trieb nicht Krankheit?‘ hatte die Mutter der V. gefragt.)


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