Der Kirchhof von Souchez
Im Juli
DerOberst ist ein großer, breitschulteriger Mann mit ernsten, nachdenklichen Zügen. Er trägt die Verantwortung für viele tausend Männer, und das Gewicht auf seinen Schultern ist nicht leicht. Es könnte ja sein, daß einer, einer seiner Feldgrauen des Nachts im Schlafe zu ihm käme und fragte: Oberst, warum hast du nicht an mich gedacht? – Für jeden einzelnen der Grauen, die aus allen Teilen des Reiches stammen, muß er Sorge tragen wie ein Vater. Es ist fast zu viel für einen Mann, der sich der Größe seiner Pflicht klar bewußt ist.
Liebenswürdig begrüßt er mich in der Halle seines Quartiers, aber der Ernst weicht nicht aus seinem starken, wetterbraunen Gesicht. Er sagt: „Wir haben heute nacht angegriffen. Der Ausgang des Gefechts ist noch nicht bekannt.“
Es ist der Angriff auf den Kirchhof von Souchez. Es ist neun Uhr. Noch nichts bekannt? Wird noch gekämpft,wie fielen die Würfel? Nur wer weiß, wie es dort zugeht, was es mit diesen Grabenkämpfen bei Souchez auf sich hat, kann begreifen, daß noch keine Nachricht eingelaufen ist. Dort gibt es keine Gräben mit elektrischem Licht und einer Telephonleitung, durch die man ohne jede Mühe glatt mit Berlin sprechen kann. Die Drähte werden in jeder Nacht ein paarmal entzweigeschossen. Die Gräben sind zusammengetrommelt. Es kann sein, daß zehn Leute einen Granattrichter halten, mit einem Maschinengewehr, oder nur mit Gewehren, oder nur mit Handgranaten, daß sie, sage ich, dieses Erdloch halten, vierundzwanzig, achtundvierzig Stunden, bis Verstärkung kommt oder eine Sappe zum Trichter vorgetrieben werden konnte. So sieht es dort aus. Es ist unmöglich, den Kopf herauszustrecken, geschweige denn den Graben zu verlassen, um Nachricht zu geben.
Souchez ist eine böse Ecke. Unsere Stellungen umklammern es in weitem Bogen, und die Regimenter sind entschlossen, diesen Bogen, diesen Riegel, zu halten. Keinen Meter Boden soll der Franzose haben! Zudem böte der Besitz von Souchez den Franzosen noch größere Vorteile der Beobachtung, als sie sie jetzt schon mit der Lorettohöhe besitzen. Ich war oben im Fesselballon und habe es mit eigenen Augen gesehen: flach wie eine Pfanne läge die Ebene dann vor ihnen. Um jede kleine Bodenwelle wird dort gekämpft, um jedes Gebüsch, um jeden Straßengraben. Der Franzose weiß recht wohl, was er will, und macht einen Vorstoß nach dem andern. Es war ihm auf Tage gelungen, sich da und dort in unserm Bogen festzusetzen. Südlich von Souchez, gegenGivenchy zu, hatte er seine Stellungen vorgeschoben (das sogenannte große Franzosennest), im Kirchhof hatte er sich festgebissen und westlich von Souchez, gegen die Zuckerfabrik und Lorettohöhe, hatte er sich vorgewühlt (das kleine Franzosennest).
Hin und her geht der Kampf um zerstampfte Gräben und Granattrichter. Dieser Kirchhof von Souchez, wohlverstanden, ist über seine Ufer getreten, genau wie der Carency-Bach, seine Mauern sind gefallen und er wächst und wächst.
Zwischen dem 21. und 24. Juni wurde das „große Franzosennest“ ausgehoben. Es waren wütende Nachtkämpfe! Der Angriff wurde von allen Seiten durch Sappen vorgeführt und das tiefeinschneidende Franzosennest abgeschnürt. Damit war das große „Franzosennest“ erledigt. Ein großer Erfolg! Ein paar Tage später – ich spreche hier nur von größeren Kämpfen, gekämpft wird hier Tag und Nacht! – griffen die Franzosen wütend unsere Gräben bei der Zuckerfabrik an. Aber unsere Grauen warfen sie zurück, so oft sie kamen. Die Kämpfe wurden rasender und rasender. Am siebenten verschwanden unsere Grauen unter einem Hagel von Stahl. Es half nichts, sie mußten zurück und die Franzosen besetzten 800 Meter zusammengetrommelte Gräben. Am achten warfen unsere Grauen sie wieder hinaus, räumten Gräben und Sappen und Trichter bis auf ein Grabenstück von 150 Metern, das der Franzose halten konnte. Die Gräben waren Ketten von Granattrichtern geworden, man wußte oft nicht, saßen Franzosen im Trichter drüben oder die Unsrigen. Um die 150 Meterwird seitdem erbittert gekämpft, hin und her, Vorstoß auf Vorstoß. Zäh und toll schlägt sich der Gegner. Die Handgranaten fliegen hinüber, herüber ...
In der Nacht vom 11. auf den 12. kam der Kirchhof an die Reihe.
Ich habe im Tagebuch eines Gefangenen geblättert. Der letzte Eintrag lautet: „Heute ist mein Geburtstag. Wir liegen im Kirchhof von Souchez, die Granaten schlagen ein und die Kreuze und Marmorblöcke und Gerippe fliegen nur so in der Luft herum. Diesen Geburtstag werde ich nie vergessen, solange ich lebe.“ Ein hübscher Geburtstag, alle Wetter! Es ist ja immerhin schon merkwürdig, seinen Geburtstag auf einem Kirchhof zu verbringen, aber auf einem Kirchhof unter Granatfeuer, das ist eine Sache, die nicht oft vorkommt.
Es sind unsere Granaten, die, wie man aus dem zerweichten, verblaßten Tagebuch despiou-piouersehen kann, den Tanz eröffnen. Sie kommen in ganzen Schwärmen an, in Schwärmen heulender und zischender Geister, die aus der Luft stürzen, auf die feindlichen Gräben. Sie krachen, der Kirchhof erbebt bis hinab zu den Särgen. Schwarze und rostbraune Wolken wälzen sich zwischen den Grabsteinen. Die Steine fliegen in die Luft, die Blechkränze und Holzkreuze. Es wird Ernst, kein Zweifel! Bis hinab zu den Särgen fressen sich die Granaten. Nun kommen die Bretter. Die Toten da unten hören nichts, sie liegen in tiefem, tiefem Schlaf. Aber dann kommen sie doch herauf, selbst die Toten erweckt dieser Lärm. Sie kommen herauf, um nachzusehen, was es gibt. Das Jüngste Gericht, ist das Jüngste Gerichtgekommen? Konnten die Lebenden, diese Toren, die das Geheimnis und die Weisheit da unten unter der Erde nicht ahnen, konnten sie sich nicht einen andern Ort aussuchen, wenn sie etwas unter sich auszumachen hatten? Schrecklich, dreimal schrecklich eine Welt, in der man selbst im Sarge nicht zur Ruhe kommt! Die Gerippe, die sich zwischen den Grabhügeln und Blechkränzen aufrichten, zerstieben. Weg damit! Der Granate ist der Tote im Weg, sie sucht den Lebendigen und sie wiehert über die anmaßende Philosophie der Skelette. Weg, fort! Sie hat nur einen schrecklichen Willen: zu töten!
Gespenster aus der Erde, Geister aus der Luft, es ist kein Wunder, daß das Herz des tapferen Franzosen schlägt.
Seine Leuchtraketen steigen. Hilfe! Seine Granaten tasten nach unsern Gräben. Unsicher. Er kann das Feuer nicht mehr dirigieren. Es ist Nacht. Der Sturm bläst und die Bäume rauschen, bis die Granate sie zerschmettert. Seine Leuchtkugeln steigen verzweifelt. Hilfe, Hilfe! O, jawohl, seine tapferen Kameraden, glaubt es mir, sie würden nicht zögern zu kommen, wenn sie könnten. Aber sie können nicht! Der ernste und nachdenkliche Oberst hat alles mit schrecklicher Genauigkeit vorbereitet, denn er denkt für seine Söhne. Es liegt Sperrfeuer auf den Verbindungswegen der Franzosen, furchtbares Feuer, nicht einmal ein Engel, ein unverwundbarer Engel käme durch den Feuerriegel! Sie sind verloren. Hier gibt es keine Wunder. Hier herrscht die Granate, Stahl, Sprengstoffe, nichts sonst. Sie sind umzingelt.
Das Feuer schweigt. Hurra! Vier Kompaniengehen vor zum Sturm. Wie Furien kommen sie daher. Tod oder Sieg! Es gibt nichts anderes.
Der Franzose aber ist nicht tot. Es wimmelt zwischen den Sandsäcken, es wühlt in den Gräben. Maschinengewehre, ein Schwarm zischender Spitzkugeln. Der schwere Fall von Männern, Handgranaten. Geschrei und Taumeln. Pardon! Pardon! Hände strecken sich aus den Gräben und Gräbern. Wir ergeben uns!
Der Kirchhof ist genommen!
Die Gefangenen werden abgeführt. Die Verwundeten schleppen sich davon. Die Krankenträger tragen die Schwerverletzten. Der Tag graut. Nebel. Der ernste und nachdenkliche Oberst geht in seinem Zimmer hin und her und wartet auf Botschaft.
Der Kirchhof hat neue Gäste bekommen. Was sind dagegen die paar Toten, die in ihrer Ruhe gestört wurden!
Hier liegen tausend Franzosen, hier liegen Feldgraue, alle Söhne von Müttern – –
„Der Kirchhof von Souchez ist erobert.“ Eine Zeile. Die Leute sagen: Nun ist der Kirchhof von Souchez wieder genommen worden, Gott sei Dank! Sie denken sich nicht viel dabei, sie ahnen es nicht –!
Es ist möglich, daß die Franzosen wieder ein Regiment opfern, um den Kirchhof zurückzugewinnen, es ist sicher, daß wir ihn dann wieder stürmen werden. So ist es hier.
Wir haben den Riegel um Souchez vorgeschoben, wir haben ihn fester geschweißt, die Feldgrauen schweißten ihn fester mit ihrem roten Blut.
Die Gefangenen marschieren durch Souchez. Die Überlebenden aus dem Kirchhof! Auch das Geburtstagskindist darunter, er hat Glück gehabt, diesen Geburtstag zu überleben. Schwerverletzt liegt der französische Kapitän auf der Bahre. Noch sind sie keineswegs in Sicherheit, denn die französischen Granaten fegen in das Dorf. Aber sie hoffen wieder. Die Sonne geht auf.
Ich treffe den ernsten Oberst wieder. Die Gefangenen stehen in Reih und Glied. Er mustert sie schweigend. Er spricht kein Wort. Wozu? Ich trete an ihn heran, grüße und beglückwünsche ihn zu seinem Erfolg.
Er nickt. Ein höfliches Lächeln. Aber sofort ist sein starkes Gesicht wieder ernst und voll schwerer Gedanken. Viele seiner Söhne, für die er sorgte wie ein Vater, sind nicht wiedergekommen, zwei seiner tapferen Kompaniechefs sind gefallen!