Gefangene aus der Arrasschlacht

Gefangene aus der Arrasschlacht

Im Juni

Siestehen in einer Reihe, wie die Orgelpfeifen, dicht neben dem Misthaufen des Bauernhofes. Der größte rechts, seine zwei Meter hoch, der kleinste am linken Flügel, immer noch gut einen Meter fünfundsiebzig. Es sind prächtige Burschen, wie man sie sonst nur bei Hagenbeck sieht. Sie stecken in graugelben Khakiuniformen, graue Wickelgamaschen, derbe Rohlederstiefel, alles ohne Tadel. Auf den schmalen Schädeln tragen sie Turbane, ein verblaßtes Zitronengelb, einzelne ein verstaubtes Blaugrau. Übrigens sind es keine faltenreichen, schwellenden Turbane, sondern Tuchstreifen, die eng um den Kopf geschlungen sind und den Turban nur noch andeuten. Ihre Gesichter sind scharf und fein geschnitten, von der edlen Färbung gedunkelten Elfenbeins. Die Sonne glänzt auf ihren Stirnknochen. Ihre Augen sind tiefbraun, glänzend und unergründlich wie Tieraugen. Die vollen Lippen sind bläulich und grau. Ihre langen, sehnigen, braungelben Hände liegen an den Hosennähten, Nase geradeaus.

„Was für Leute seid ihr? Regiment?“ – „Kiff, Kiff!“

„Französisch, spanisch, englisch? Was versteht ihr?“

„Kiff, Kiff!“

Kiff bedeutet eins – erstes Regiment.

„Français?“

Der blaßgelbe Turban schüttelt sich. Der Adamsapfel zuckt, ein Maul voller Zähne, eine rollende Zunge, die Kehle kracht und schnarrt:marrrroc – maroc.Eh bien, es sind Marokkaner. Sie verstehen keine SilbeFranzösisch, und es ist nichts aus ihnen herauszubringen. Wie Statuen stehen sie, Hände an der Hosennaht, Nase geradeaus, und es ist unmöglich, ihre Erstarrung zu lösen.

Sie sind Automaten. Die Zivilisation hat sie an ihre Brust genommen und ihnen beigebracht, wie man vor dem weißen Mann stramm zu stehen habe. Die Dressur erstreckte sich auf die Künste der Zivilisation, auf rechtsum und linksum, das Abfeuern des Gewehrs, und damit hatte die Zivilisation ihre Aufgabe erfüllt. Sie waren mechanische Puppen geworden, und nichts in der Welt konnte sie wieder in Menschen zurückverwandeln. Sie standen wie Säulen und wagten keinen Finger zu rühren, denn bei Gott, was konnte der weiße Mann tun, wenn sie es wagten? Er konnte sie mit einem Fußtritt auf den Misthaufen befördern, er konnte – ja, was konnte er nicht? Man sah es ihnen an, daß sie die Zivilisation des weißen Mannes begriffen hatten! Ihr Gott war der Korporal.

Dabei hatten sie Namen wie in den Märchen. Mohammed ben Abdel Kader! Jeder Name ein Fürst! Sie stammten aus Casablanca, Sous-Maroc, Mogador. Sie hatten keine Vorstellung, wo sie sich befanden, ihre Gehirne träumten, aber sie wußten, daß der weiße Mann sie hinschicken konnte, wohin er wollte, denn sie waren wilde Völker, Kiff, Kiff.

Um die Handgelenke, sehnig und edel wie die Fesseln von Tigern, trugen sie dünne Kettchen und daran hingen die Erkennungsmarken, Name, Regiment, Heimat, Nummer. Es waren kokette Armreife, anmutige Geschenkeder Zivilisation, die sie, die Zivilisation, für ihre Register und Bücher nötig hatte, wenn man die gelben Kadaver in die Massengräber fegte.

Mitten in der Reihe der gelben Automaten stand ein Franzose. Auch er stand in militärischer Haltung, aber man sah auf den ersten Blick, daß er keine Maschine, sondern ein Mensch war. Seine Haltung war locker, frei und würdig. Sie waren Statisten auf dem Kriegsschauplatz, er war Soldat. Sein Kopf war rund wie eine Kugel, gespickt mit blonden Haarstoppeln, oben und unten, sein Blick blau und seine Backen rot. Er war ein guter Bursche, der typischebon garçon, Spaßvogel und pfiffiger Junge in einer Person. Noch war er ein wenig eingeschüchtert durch das Unglück, das ihn betroffen hatte, aber das würde sich bald wieder geben, keine Sorge.

Wieso er hierher käme? – Oh, ja,pardon– seine Hände lösen sich, denn er brauchte sie zum Sprechen – er hatte eben Pech! Nichts andres. „Que voulez-vous, monsieur?“ Er war Koch und arbeitete in der berühmten Zuckerfabrik zwischen Souchez und Ablain. Er steigt also vom Garten aus in seine Küche hinunter, um anzufangen. Zwei deutsche Gefangene sitzen da unten im Keller, sonst aber ist niemand zu sehen. Das ist ein bißchen merkwürdig, nicht wahr? Also steigt er die Treppe hinauf, und die zwei deutschen Gefangenen begleiten ihn, da sie ja nichts zu tun haben. Kaum aber stecken sie die Köpfe in den Korridor – na, was sagst du dazu: die Deutschen sind da! – Man kann es nicht leugnen, das ist solides Pech!

Der Koch zieht den Kopf zwischen die Schultern und breitet die Arme aus. „Eh, bien! Que voulez-vous...“

„Können Sie sich denn mit diesen Gelben hier verständigen?“ Ein Blick, ein Ruck, ein verächtliches Achselzucken: „Mit diesen Gelben? Kein Wort, mein Herr!“ –

Man weiß, daß wir in diesen Kämpfen bei Arras fünfzehnhundert Gefangene gemacht haben. Heute sind es schon mehr. Das ist eine hübsche Anzahl, wenn man sich daran erinnert, daß wir uns rein defensiv verhielten, und für den Westen ist es ein großer Erfolg. Denn hier regnen die Regimenter nicht von den Bäumen wie in Rußland, sie hocken zäh in ihren Dachsbauten und jeder Mann muß sozusagen einzeln geholt werden. Die Fünfzehnhundert sind längst abtransportiert, aber heute nacht sind neue eingebracht worden, und ich besuchte sie in einem Nebenhofe der Kaserne. Im eigentlichen Kasernenhof exerzieren ein paar Kompanien unsrer Feldgrauen, und hier, drei Schritte davon entfernt, kauern sie, die gestern noch kämpften, und denen man die Waffe aus der Hand nahm.

Es sind ungefähr fünfzig. Sie sitzen und liegen in der Sonne, mit Schmutz und Blut bespritzt, so wie die Schlacht sie auslieferte. Einzelne starren bis hinauf zur Brust von trockenem Lehm. Der eine und der andre hat einen Verband, eine leichte Verletzung an der Hand, am Kopf. Einer sitzt mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, starrt zum Himmel und friert trotz der höllischen Hitze. Die meisten aber haben sich schon wieder zurechtgefunden, ihr Blick ist klar und ruhig. Nur zwei, drei rote Hosen sind darunter. Alle andern stecken in taubengrauenoder, wenn man will, taubenblauen, langen Röcken aus solidem filzartigen Tuch, die taubengraue Mütze auf dem Kopf. Es sind Elitetruppen.

„Die Leute über vierzig sollen vortreten!“ Sie kommen heran, sechs, acht, zehn. Aus fünfzig! Gott weiß, ob sie alle über vierzig sind, vielleicht denken sie, hier werden an ältere Semester Zigaretten oder Vergünstigungen, man kann es nie wissen, verteilt. Jedenfalls aber sind sie alle keine jungen Leute mehr, manche sind schon grau. Ich bin so überrascht, so erschüttert, daß ich keine Worte finde. Wie fürchterlich muß der Krieg unter Frankreichs Männern gewütet haben, daß sie hier stehen, zehn aus fünfzig, Familienväter, Ergraute und Gealterte. Sie sind alle gefaßt und wissen sich zu benehmen. Die meisten von ihnen sind Bauern und Handwerker. Ja es war furchtbar! Es war das furchtbarste Feuer, das man sich vorstellen kann. Sie wurden abgeschnitten von einem Riegel trommelnder Granaten. Sie haben genug! „Ja, mein Herr, man schlägt sich, man ist nicht gerade feige, man kämpft für sein Vaterland, das man liebt, wie Sie das Ihrige lieben, man schlägt sich bis zum letzten Atemzug – aber was zuviel ist, ist zuviel. Die menschlichen Nerven sind nicht berechnet für Explosionen dieser Gewalt. Nein, es war genug, genug, zuviel, zuviel. Ich war in der Champagne, im Frühjahr, bah, nichts gegen diese Kämpfe! Nichts! Ich kann Ihnen sagen – nein, es gibt keine Worte, um das zu schildern ...“

„Sie haben schwere Verluste gehabt?“

„Ho, ho, ho!! Schwere Verluste! Hatten wir nichtschwere Verluste? Ja, mein Herr, wir hatten fürchterliche – aber auch Sie, auch Sie hatten schwere Verluste, Sie können es nicht leugnen. Was für ein Krieg!“

Einer, ein Hagerer, Langer, mit krankem gelben Gesicht und entzündetem rechten Auge, schüttelt unausgesetzt verstört den Kopf. Furchtbares Feuer – er schüttelt den Kopf, schwere Verluste – er schüttelt den Kopf, genug, genug, er schüttelt den Kopf und hustet dabei. Ja, gewiß, genug, genug. Er ist noch ganz vernichtet. Er spricht nichts, aber er bestätigt, er unterstreicht. Er ist ein trauriges, melancholisches Echo.

Ein Granatsplitter fegte an seinem Gesicht vorbei, nahm ein Stückchen der Braue mit, ein kleines Eckchen des Lides und eine Spur des Nasenrückens. Ich beglückwünsche ihn, ein wenig tiefer und was wäre aus Ihnen geworden?

Aber er schüttelt den gelben Kopf und blickt mich mit seinen kranken Augen an. Ah, wozu? Für ihn gibt es keinen Trost.

Es ist nicht leicht, mit Gefangenen zu plaudern. Ein Wort, ein Blick, eine Änderung der Haltung und ihr Vertrauen ist wie weggeblasen. Sie stoßen einander an, sie starren auf den Sprecher, daß er verstummt, sie schweigen. Dann ist es vorbei, nichts kann mehr ihre Zunge lösen. Man muß es fühlen, wenn dieser Augenblick droht, und dem Gespräch eine neue, harmlose Wendung geben.

Die Geschichte mit den „schweren Verlusten“ war der kritische Moment. Der Sprecher hatte zuviel gesagt, obwohl er ja nichts verriet, sie fühlten es, und weil sie es fühlten, fühlte er es auch. Sie erkalteten.

„Ihr habt euch bewunderungswürdig geschlagen!“ sage ich. Sie rekeln sich, bescheiden, verlegen, sie schweigen.

Ich greife mir einen Mann heraus, der einen dünnen, schäbigen Leinwandkittel anstatt des Blaugrauen trägt.

„Et toi, mon ami, wie siehst du aus?“

Die Kameraden, die Blaugrauen und Eleganten lachen. Wie er sich schämt, es ist rührend. Er blickt auf sie, auf mich, er windet sich vor Feinfühligkeit. Er stellt mit der ausgebreiteten Hand eine Grenze her zwischen den Kameraden und mir: „Mein Herr!“

Ja, eine Granate hat ihn ausgezogen. Er flog in einen Granattrichter, sein Rock verbrannte und die Lumpen fielen ihm von den Schultern. Ebenso erging es seinen Pantalons. Es ist nur gut, daß es warm ist! Er deklamiert und seine Kameraden lachen.

„Sie sind ein tapfrer Soldat wie die andern. Es ist ja ganz egal, wie Sie aussehen.“

„Ja, aber es ist nicht schick!“

Das Mißtrauen ist verschwunden. Sie fragen, wohin man sie wohl bringen wird? Ob sie ihren Angehörigen Nachricht geben können? „Ich bin von Roubaix, kann ich nicht an meine Frau schreiben? Ich konnte ihr seit dem Herbst keine Nachricht geben.“ – Ich will mit dem Offizier sprechen.

Einen Trost, einen gewichtigen und wunderbaren Trost kann man Gefangenen immer geben: „Der Krieg ist für euch zu Ende!“

Ihre Blicke ruhen stumm und klar auf mir. Diese Blicke sollen sagen: Nennen Sie es einen Trost, gefangen zu sein? Wir sind Soldaten, viel lieber möchtenwir für unser Land weiter kämpfen! Sie sind stolz, und sie möchten nicht, daß ein Fremder ihre Freude sähe, daß die Sache ein Ende habe für sie und daß sie – lebten. Aber sie nicken und ihre Mienen erheitern sich. Der Verstörte schwingt den gelben Kopf und stößt einen tiefen Seufzer aus, während er die Finger krampfhaft ineinander flicht. Ja, ja, ja ...

Aber der im Leinenkittel lacht über das ganze Gesicht und strahlt vor Entzücken: „Ja, Gott sei Dank, mein Herr, der Krieg ist für uns zu Ende!“


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