Zehntes Kapitel.Aristoteles.

Ohne jede Anspielung auf das Dogma von der Seelenwanderung behandelt Plato das Unsterblichkeitsproblem im „Gastmahl“, hier läßt er den Sokrates folgende, diesem durch die weise Diotima aus Mantinea erteilte Offenbarung in einer Lobrede auf den Eros wiedergeben: Eros sei eigentlich, da er dasVerlangennach dem Schönen und Guten personifiziere, also noch nicht im Besitze derselben sei, noch kein Gott, sondern nur ein großer Dämon zu nennen. Dieser Dämon ist es, der den Göttern die Bitten und Aufträge der Menschen, den Menschen aber die Aufträge, Vergeltungen und Belohnungen der Götter vermittelt. Er ist das Prinzip der Wahrsagung und der priesterlichen Kunst. Denn Gott verkehrt nicht unmittelbar mit Menschen, Eros vermittelt den Verkehr mit ihm, ob nun die Menschen schlafen oder wachen. Eros ist der Sohn der „Penia“ (Armut) und des Überflusses „Poros“. Als der „Liebende“ ist er nicht an sich schön und gut, sondern er sehnt sich nach dem Schönen und Guten, weil er es wenigstensnoch nicht dauerndbesitzt. Um des Schönen und Guten immerwährend teilhaft zu werden, muß ein geistiges Gebären eintreten,das aber nur durch eine Übereinstimmung des Göttlichen mit dem Schönen möglich wird. „Ein Weltschicksal und ein geburtshelfendes Wesen ist die Schönheit für alles Entstehen.“ Dieser Vorgang ist aber etwas Göttliches, und dieses wohnt dem lebenden Wesen, welches sterblich ist,als etwas unsterbliches inne. Wenn aber Eros sich nach dem Guten und Schönen sehnt, so kann er, wie im leiblichen den Wunsch nach Fortdauer der Gattung, auch den Wunsch nach (individueller) Fortdauer im geistigen Sinne nicht aufgeben: erwünscht, unsterblich zu sein(!) Nun aber verändert sich der Mensch zwar geistig und körperlich, – in Neigungen, Streben und Kenntnissen, sowie im leiblichen Wachsen, – unaufhörlich und bleibt doch fortwährend derselbe. Alles Sterbliche wird so bewahrt, nicht dadurch, daß es ganz und gar identisch bleibt, wie das Göttliche, sondern dadurch, daß es bei seinem Entweichen und Veralten ein anderes, neues, gerade wie es selbst, zurückläßt. „Durch diese Veranstaltung hat das Sterbliche an Unsterblichkeit teil, sowohl in seinem Körper als auch in allem Übrigen, das Unsterbliche aber durch eine andere.“ In dieser Weise z. B. streben die Ehrgeizigen mit Hintansetzung alles anderen darnach, ein unsterbliches Andenken zu hinterlassen; so wäre nicht Alkeste für Admetos, Patroklos für Achilles, so wäre nicht Kodros gestorben, wenn sie nicht nach unsterblichen Andenken gestrebt hätten. Die geistigen Kinder stehen unendlich höher, als die leiblichen, und wer hätte nicht gewünscht, Kinder zu hinterlassen, wie dies Homer und Hesiod, Solon und Lykurg mit ihren Schöpfungen gethan! Solchen Vätern habe man wohl auch Tempel errichtet, nicht aber Vätern leiblicher Kinder. Wer geistige Kinder erzeugen wolle, der müsse sich früh bemühen, an Schönem Gefallen zu finden, und aufsteigen vom körperlich Schönen zu schönenGedanken, Reden, Kenntnissen, und so werde er endlich bei der „Kenntnis des Urschönen“ anlangen. „Wer aber das Urschöne lauter, rein und unvermischt geschaut, wird nur Vortrefflichkeit erzeugen. Hat er aber wahre Vortrefflichkeit erzeugt und aufgenährt, so ist es sein Anteil, daß er gottgeliebt, und wenn je irgend ein anderer Mensch, auch er unsterblich wird.“ –

Wir haben im Gastmahl den ersten Keim jenerästhetischenMystik, die später hauptsächlich von Plotin, endlich von GiordanoBruno in seineneroici fuoriund zuletzt von Schiller (Ideal und Leben, Briefe über ästhet. Erziehung) gepflegt worden ist; offenbar knüpft Plato an die zum Mythenkreise der eleusinischen Mysterien gehörige Fabel von Eros und Psyche an, deren esoterische Tendenz ich in meinem gleichnamigen Gedichte (Verlag von Rauert & Rocco) neugestaltet und in folgenden Schlußversen zum Ausdruck gebracht habe:

„Dir, die allmächt'ger als der Tod,Dir ew'gen Lebens Morgenrot,Dir, Bürgin der Unsterblichkeit,Dir,Liebe, ist mein Sang geweiht.Wo Du im Menschenherzen glimmst,Auch nur als schwaches Fünkchen flimmst,Du läuterst Dich zur Flammenglut,Die nimmer rastet, nimmer ruht,Bis sie am hohen HimmelszeltVerwandten Sternen sich gesellt.“

„Dir, die allmächt'ger als der Tod,Dir ew'gen Lebens Morgenrot,Dir, Bürgin der Unsterblichkeit,Dir,Liebe, ist mein Sang geweiht.Wo Du im Menschenherzen glimmst,Auch nur als schwaches Fünkchen flimmst,Du läuterst Dich zur Flammenglut,Die nimmer rastet, nimmer ruht,Bis sie am hohen HimmelszeltVerwandten Sternen sich gesellt.“

Es kann schon nach den wenigen mitgeteilten Auszügen aus seinen Hauptschriften nicht auffallen, daß die Unsterblichkeitsidee Platos zu vielfachen Kontroversen Anlaß gegeben hat. Besonders dreht sich der Streit darum, ob er Seele und Leib, Geist und Materie einander gegenüberstellt habe, also „Dualist“ gewesen oder ob er als Monist zu betrachten sei und die Einheit des Ganzen gelehrt habe, ferner ob er eine individuelle (persönliche) Unsterblichkeit oder nur eine Unsterblichkeit der in den Einzelnen sich offenbarenden Idee, der Gattung niederen oder höheren Grades, habe lehren wollen.

Uns scheint, daß dieser Streit um deswillen niemals mit streng geschichtlicher Kritik erledigt werden kann, weil nichts wahrscheinlicher ist, als daß Plato in verschiedenen Zeiten und bei Abfassung verschiedener Schriften in der That verschieden darüber gedacht hat. Auf ein streng gegliedertes Gedankensystem ist es ihm eben niemals angekommen. Am besten charakterisiert ihn wohl Dühring,krit. Geschichte der Philosophie, S. 100, 101: „Für die dichtende Phantasie ist Vieles vereinbar, was für den weniger losgebundenen Verstand bei näherer Untersuchung als Widerspruch hervortritt. Die künstlerische Darstellung kann daher eine Fülle von Ideen dialogisch vorführen, ohne daß sie genötigt wäre, in jedem Falleselbst einen markierten Standpunkt einzunehmen. Ihre Stärke wird vielmehr in der lebendigen, dem Wesen der dichterischen Vertiefung entsprechenden Reproduktion der mannigfaltigsten Gedanken zu suchen sein. Löst sie diese Aufgabe noch mit jener besonderen Grazie, die dem in Rede stehenden Philosophen einen großen Teil seines Zaubers verliehen hat, so wird man füglich hinreichend befriedigt sein, wenn man anstatt der strengeren Systematik nur einenleitenden Grundgedanken eigner Konzeptionantrifft. Ein solcher Gedanke, der an sich gleichsam den Rohstoff zu dem strengsten System abgeben könnte, ist bei Plato die Vorstellung von einer den edelsten Typus der Existenzen enthaltenden, schöpferisch wirksamen und für die Gestaltung der Dinge vorbildlichen Idee. Die Erfassung der ideellen Muster, hinter denen das wirkliche Dasein mit seinen Gestaltungen zurückbleibt, diese metaphysische künstlerische Vertiefung in das, was aus den lebendigen Gestalten der Natur und besonders aus der Erscheinung der Menschen spricht, macht nicht nur Platos Eigentümlichkeit aus, sondern stimmt vollkommen mit demdichterischgearteten Wesen seines ganzen Philosophierens, ja sogar mit einem Grundzuge des griechischen Geistes überein.“

Dieser leitende Grundbegriff ist das einzige, was neben dem ästhetischen Genusse, den uns die Lektüre seiner Schriften bereitet, einen Plato auch für die moderne wissenschaftliche und im edleren Sinne positivistische Philosophie wertvoll erscheinen läßt.

Im übrigen mag A. Niemann, (Die Menschenseele, Platons esoterische Lehre;Sphinx IV, 22) geschichtsphilosophisch das Richtige getroffen haben, wenn er die Hauptsätze dieses Philosophen kurz dahin resümiert:

1. Ein jeder Mensch will stets das Gute und thut das Böse nur unfreiwillig.

2. Das Gute für den Menschen ist die Tugend, und die menschliche Tugend ist die vollkommene Beschaffenheit des Menschen.

3. Die Tugend des Menschen ist Tugend durch die Parusie der göttlichen Tugend; vollkommen ist nur diese, die menschliche aber nicht.

4. Der Mensch ist Eins, wie Gott Eins ist, sein Leib ist die Erscheinung seiner Seele, wie die sichtbare Welt die Erscheinung der Gottheit ist. (An diesem „Monismus“ der Seelenlehre Platons, als seine esoterische Theorie hält Niemann im Gegensatz zu dem seiner Ansicht nach mehr exoterisch geschriebenen Dialog Phädons hauptsächlich unter Berufung auf den oben erwähnten Dialog: Parmenides fest.)

5. Die Seele des Menschen ist ohne Anfang und kehrt, je nach ihrer größeren oder geringeren Vollkommenheit in bestimmten Zwischenräumen in menschlichen Körpern auf Erden wieder, während ihr in den Zwischenräumen der Anblick des Seienden, der idealen Tugend vergönnt wird.

6. Das menschliche Bewußtsein ist ein Zustand der Erinnerung an das Seiende und wird geweckt durch den Anblick der Erscheinungen im Himmel (Gestirne) und auf Erden, die ein Spiegelbild des Seienden sind.

7. Die Gottheit vernachlässigt und versäumt nichts, sie sorgt für das Kleine wie für das Große und bringt die Seelen der Menschen immer an den für sie geeigneten Platz.

Niemann schließt dieses Resümé mit der Bemerkung: „Anders, als in solcher Allgemeinheit über Platos Philosophie zu reden, ist unmöglich für jeden, der nicht mit Sehergabe ausgerüstet seine Schriften liest. Denn die wichtigsten und entscheidenden Stellen sind stets nur den ‚Bacchen‘ verständlich gewesen; sie bilden offenbar eineGeheimlehre.“

Die Fachphilosophie ist immer noch geneigt, in Aristoteles den vollendetsten Vertreter des griechischen Denkertums zu erblicken. Diesem Urteil können wir unmöglich beipflichten. Aristoteles war lediglich im vollkommensten Sinne das, was man einen Polyhistor oder Vielwisser nennt; wenn man will, einUniversal-Gelehrter, auf keinen Fall aber ein Universalgenie. Seine Belesenheit ist eine erstaunliche, und schon Plato soll ihm den Beinamen „der Leser“ gegeben haben. Für uns liegt aber darin, daß wir durch Aristoteles indirekt die Lehren der früheren griechischen Denker kennen lernen können, da er nach der Art eines gründlichen Gelehrten die ihm im weitesten Sinne zugänglich gewesene Litteratur verwertet hat, seine beste Seite. Seine eigenen Lehren, obwohl wir ihnen ein gewisses Maß methodischer Schärfe und Gründlichkeit nicht absprechen wollen und können, sind in wichtigen Punkten nichts weniger als klar und originell. Andererseits hat aber bekanntlich der in ihnen vorwaltende rein formell logische Charakter nicht wenig zur Begründung der Scholastik beigetragen, mit deren letzten Resten erst unsere modernste Ära aufgeräumt hat; beispielsweise kleben dem großen Philosophen Kant die scholastischen Eierschalen noch in einem solchen Grade an, daß Schiller bei demselben (in einem Briefe an Körner) nicht mit Unrecht etwas „Mönchisches“ konstatieren konnte. Die Morgenröte der modernen Zeit, die Renaissance, begann daher mit einem heftigen Kampfe gegen die wissenschaftliche Autorität des Aristoteles. Das Mittelalter kannte eben von den gesamten Denkarbeiten des Altertums kaum etwas Anderes als die Schriften des Aristoteles. Ein Plato wurde erst durch diebyzantinischen Gelehrten, welche nach der Eroberung Konstantinopels ihre Zuflucht in Italien suchten und damit den ersten Anstoß zur Renaissance d. h. zur Wiedergeburt der Wissenschaft und Kunst gaben, im vollen Umfange bekannt. Besonders war es Georgios Gemistos (Plethon), der den Neuplatonismus und damit eine erste prinzipielle Gegnerschaft gegen den Aristotelismus des Mittelalters wiedererweckte. Der erste bedeutende Platoniker des Abendlandes erstand dann in Marsilius Ficinus. Bei den Scholastikern ging die Vergötterung des Aristoteles in der That ins Unglaubliche; jeder Zweifel an seine Allwissenheit galt geradezu alscrimen laesae majestatis. Die Werke des Aristoteles und noch dazu in ihrer unkritischen aus dem Arabischen übersetzten Form bildeten die Bibel, den papiernen Pabst, der jeden Fortschritt der Wissenschaft hemmte. Man bedenke, daß Ramus, ein Zeitgenosse Brunos, welcher die Autorität des Aristoteles auf logischem Gebiete anzufechten wagte, wie Bruno auf physischem oder naturphilosophischem, bloß deshalb als ein Opfer eines Meuchelmords auf dem Katheder fiel. (1572.) Diese Überschätzung übernahm die europäische Scholastik von den Arabern. Der arabische Kommentator des Aristoteles, Averroës, von den Scholastikern auch schlechthin der Kommentator genannt, schreibt in seiner Vorrede zur Aristotel. Physik:

Complevit, quia nullus eorum, qui secuti sunt eum usque ad hoc tempus, quod est mille et quingentorum annorum, quidquam addidit, nec invenies in ejus verbis errorem alicujus quantitatis, et talem esse virtutem in individuo unomiraculosumet extraneum extitit, et haec dispositio, cum in uno homine reperitur, dignus est esse divinus magis quam humanus. – Aristotelis doctrinaSumma Veritas, quoniam ejus intellectus fuit finis humani intellectus. 1. Destruct. disp. 3.

NochMalebranche, recherche de la verité II. c. 23hält es für erforderlich, gegen die allgemeine Anbetung des Aristoteles, deren psychologische Wurzel er in der ansteckenden Wirkung der Phantasie findet, zu polemisieren. Augenscheinlich verwertet er dabei einen Gedanken Giordano Bruno's, wenn er z. B. schreibt:

On ne considère pas qu' Aristote, Platon, Epicure étaient hommes comme nous et de même espèce que nous:et de plus qu' au temps, où nous sommes, le monde est plus âgé de deux mille ans, qu'il a plus d'expérience, qu'il doit être plus éclairé et que c'est la vieilleisse du monde et l'expérience, qui font découvrir la vérité.

Dieser geistreiche Gedanke, der ähnlich bei Bacon von Verulam, bei Pascal und Descartes wiederholt wird, findet sich zuerst beiBruno, cena de ceneri (IV. 1.)Vergl.Brunnhofer, Festschrift zur Feier der am 9. Juni 1889 in Rom stattgehabten Enthüllung des Bruno-Denkmals (Rauer & Rocco 1890).

Übrigens wird Bruno und vor allem Ramus, Pascal, Malebranche in begreiflicher Weise oft ungerecht gegen Aristoteles, und Lewes (Aristoteles, ein Abschnitt aus der Geschichte der Wissenschaft S. VII) dürfte den Streit um die richtige Würdigung dieses immerhin eminenten philosophischen Vielwissers am besten in dem Boileau'schen Verse erledigt haben:

Certes il ne méritaitNi cet excès d'honneurNi cette indignité.

Certes il ne méritaitNi cet excès d'honneurNi cette indignité.

Aristoteles war im Jahr 384 zu Stagira, einer Stadt Thraciens geboren. Mit Recht nennt ihn daher Bernays (Dial. d. Aristot. 2, 55) einen Halbgriechen. Wer wenigstens die große naturwüchsige Bedeutung der Rasse nicht verkennt und zugleich einiges Gefühl für die entscheidendsten Eigentümlichkeiten des reinhellenischen Typus besitzt, wird in Anbetracht der Thatsache, daß die Bevölkerung Thraciens und Makedoniens nur sehr dünn mit hellenischem Blute gemischt war, diese auch schon von W. Humboldt gemachte Bemerkung nicht mißbilligen. Auch bei den sog. deutschen Denkern d. h. bei denen, die innerhalb des geographischen Deutschlands gelebt und geschrieben haben, ist es oft von Interesse, ihre unzweifelhaft undeutsche Denkungsart aus dem bedenklichen Mischcharakter großer Teile[620]der deutschen Bevölkerung zu erklären; so z. B. ist der sorbisch-slawische Typus der sog. kursächsischen Bevölkerung (Thüringen, Königreich und Provinz Sachsen) in einem „Nietzsche“ unverkennbar.

Der Vater des Aristoteles war Leibarzt des makedonischen Königs, und es scheint der ärztliche Beruf ein altes Erbteil seines Geschlechts gewesen zu sein. Nach dem Tode seiner Eltern soll ein gewisser Proxenos aus Atarneus seine Erziehung übernommen haben. In seinem achtzehnten Lebensjahr kam Aristoteles nach Athen, wo er in den Schülerkreis Platos eintrat, dem er bis zu dessen Tode (347) angehört hat. Einige Zeit vor Platos Tode soll jedoch bereits ein Zerwürfnis zwischen ihm und dem Meister ausgebrochen sein. Nach einem BerichteAelians (V. H. III. 19)soll Aristoteles, als Plato bereits 80jährig und deshalb schwachen Gedächtnisses gewesen, während Xenokrates und Speusippos, die Lieblingsschüler und Vertreter des bejahrten Meisters, abwesend waren, von einer durch ihn gebildeten Clique unterstützt, mit Plato eine Streitunterredung angefangen und den Greis dabei in böswilliger Weise so in die Enge getrieben haben, daß sich dieser aus den Hallen der Akademie in seinen Garten zurückgezogen habe. Erst nach drei Monaten, als Xenokrates zurückkam, habe dieser den Aristoteles genötigt, den streitigen Raum Plato wieder zu überlassen. Die Erzählung kennzeichnet wenigstens den Beginn kleinlicher Gelehrten-Konkurrenz, wie sie seit dem mit Aristoteles gewissermaßen beginnenden Zeitalter der Alexandriner den Verfall der Philosophie zu einer bloßen Schulweisheit begleitet. Daß übrigens Plato den Aristoteles nicht gerade zu seinen berufensten Schülern gerechnet hat, ist auch abgesehen von der ziemlich gut verbürgten Bezeichnung desselben als „bloßer Leser“ schon aus einem Vergleich der grundsätzlich verschiedenen Naturen, die auch auf die philosophische Auffassung zurückwirken mußten, mehr als bloß wahrscheinlich. Nach dem Tode Platos begab er sich mit dem Platoniker Xenokrates nach Mysien zum Fürsten Hermias, wo er drei Jahre verblieb. Als Hermias durch Verrat in die Gewalt der Perser geriet, nahm Aristoteles, der inzwischen die Pythias, nach einigen eine Nichte, nach anderen eine Schwester des befreundeten Fürsten geheiratet hatte, seine Zuflucht zunächst nach Mytilene. Von hier aus wurde er 343 oder 342 v. Chr. von Philipp an den makedonischen Hof berufen, um die Erziehung des jungen, damals 13jährigen Alexander zu leiten, welcher er sich bis zu dessen 16. Lebensjahre widmete. Der Unterricht mußte aufhören, weilAlexander schon in diesem Lebensjahre von seinem Vater zum Reichsverweser bestellt wurde. Aristoteles scheint sich jetzt zunächst in seine Vaterstadt zurückgezogen zu haben, von wo er jedoch bald nach dem Ende Philipps, jedenfalls vor Beginn des großen Eroberungsfeldzugs Alexanders nach Athen übersiedelte. Hier gründete er im Lyceum seine eigene Schule, deren Mitglieder infolge der Aristotelischen Gewohnheit, die Unterredungen im Auf- und Abgehen in den Promenadengängen des Lyceum zu führen, den NamenPeripatetikererhielten.

Die Hilfsmittel, deren er zu seinen weitschichtigen, das ganze damalige Wissensgebiet umfassenden Arbeiten bedurfte, bot ihm Alexanders königliche Freigebigkeit im größten Maßstabe; Plinius berichtet, Alexander habe ihm alle Fischer, Jäger und Vogelsteller seines Reiches, alle Aufseher königlicher Jagden, Fischteiche, Heerden u. s. w., mehrere tausend Menschen allein zu Zwecken naturgeschichtlicher Forschungen zur Verfügung gestellt. Auch war Aristoteles, der übrigens selber wohlhabend war, durch jene Hülfsquelle nicht nur in der Lage, sich die kostspieligste Privatbibliothek anzuschaffen, sondern auch über die Verfassungen und Gesetze ausländischer Staaten mühsame Erkundigungen einzuziehen, wofür auch das erst kürzlich wiederentdeckte Buch über den Staat der Athener einen Beweis liefert.

In den letzten Lebensjahren trübte sich das Verhältnis zu seinem edlen Zögling und Begünstiger, hauptsächlich wohl, weil Kallisthenes, ein Verwandter des Aristoteles, den dieser selbst dem Könige als Begleiter empfohlen hatte, mit Recht oder Unrecht in den Verdacht geriet, sich an einer Verschwörung gegen das Leben Alexanders beteiligt zu haben, und infolge dieser Anklage das Leben verlor.

Nach dem Tode Alexanders, nach zwölfjähriger Wirksamkeit als Lehrer und Schriftsteller in Athen, wurde er durch eine Anklage wegen Atheismus, die von der national-hellenischen Partei (Demosthenes) ausging und die Religion wohl nur zum Vorwand nahm, veranlaßt, sich nach Chalcis auf Euböa zurückzuziehen. Hier erlag er schon im folgenden Jahre, im Sommer 322, einer Krankheit. Die Erzählung, er habe sich in den Euripus gestürzt, weil es ihm nicht gelungen sei, die Erscheinungen der Ebbe und Flut zu erklären,ist, wie Dühring (Krit. Gesch. der Phil., S. 115) bemerkt, mindestens gut erfunden. „Sie kennzeichnet uns jenen Sinn, der die Theorie als Attribut der Götter nahm und in ihr den Schwerpunkt des höchsten Lebens voraussetzte.“

Aristoteles hat außerordentlich[621]viele Schriften hinterlassen; etwa der sechste Teil seiner Werke mag uns erhalten sein; allerdings auch dieser nur in einer sehr fragwürdigen Gestalt, die dem Streit über Echtheit und Authentizität sowohl ganzer unter seinem Namen kursierender Schriften, wie auch einzelner Abschnitte großen Spielraum läßt. Die auffälligen Unordnungen und nicht seltenen Wiederholungen in einer und derselben Schrift scheinen die Vermutung zu unterstützen, daß wirgrößtenteilsnur mündliche, von Schülern redigierte Vorträge vor uns haben.

Schon das Altertum teilte seine Schriften ihrem Werte nach in zwei Klassen, in exoterische und esoterische ein, welche letztere auchakroamatischegenannt wurden. Aristoteles soll nämlich im Lyceum des Morgens vor einer größeren Anzahl von Zuhörern in populärer Weise seine Lehren, besonders diejenigen über Logik, Rhetorik, Politik und Naturgeschichte vorgetragen, abends aber in vertrauterem Kreise seine eigentlichen metaphysischen, wir dürfen auch geradezu sagen „occultistischen“ Theorien entwickelt haben. Die letzteren Vorträge nannte manakroamatische. Offenbar lag es jedoch dem Aristoteles nicht sehr an ihrer Geheimhaltung; denn daß er sie selber noch veröffentlicht hat, beweist ein schon von Andronikus mitgeteilter BriefAlexandersan ihn, in dem dieser ihm wegen der Veröffentlichung der akroamatischen Schriften (gewissermaßencollegia privatissima) Vorwürfe macht. Aristoteles erwidert darauf, daß er sich in seinen akroamatischen Schriften absichtlich einer Darstellungsform bedient habe, die sie andern, als seinen Schülern unverständlich mache. (Gellius XX, 5).

Da uns nur diejenigen Schriften des Universalgelehrten des Altertums interessieren, die eine occultistische Beziehung im Sinneder Vorrede haben, so gehen uns wesentlich nur die Bücher über Metaphysik, Physik, sowie die über Psychologie und über Schlaf und über Träume an, während wir gerade die verdienstlichste Seite der aristotelischen Arbeitsleistung, diejenige über Logik, Ethik, Politik und Ästhetik links liegen lassen müssen.

Um den metaphysischen Standpunkt des Aristoteles zu verstehen, muß man von seiner Kritik der Platonischen Ideeenlehre ausgehen. Die Annahme von Ideeen ist nach Aristoteles nicht begründet. Denn unter den platonischen Beweisen für dieselbe ist keiner, der nicht von entscheidenden Einwürfen getroffen würde, und was durch die Ideeen erreicht werden soll, das ist auch ohne dieselben zu erlangen; ihr Inhalt ist ganz derselbe, wie der der diesseitigen Dinge, im Begriff des Menschen „an sich“ z. B. sind dieselben Merkmale enthalten, wie im Begriff des Menschen überhaupt, er unterscheidet sich von diesem nur durch das Wort „an sich“. Die Ideeen sind eine unzulässige Hypostasierung, eine überflüssige Verdoppelung der Dinge in der Welt. Dies gilt sogar von ethischen, für die auch Kant die Gültigkeit der Ideeenkonzeption in Anspruch nimmt. Auch die ethischen Begriffe lassen sich nicht schlechthin von ihren Gegenständen trennen: es kann keine für sich bestehende Idee des Guten geben; denn der Begriff des Guten kommt in allen möglichen Kategorien vor, und bestimmt sich je nach verschiedenen Fällen verschieden. Auch sind die Bestimmungen der Urbildlichkeit und der Teilnahme, auf die Plato das Verhältnis der Ideeen zum empirischen Sein zurückführt, leere Bilder. Vor allem fehlt den platonischen Ideeen dasbewegendePrinzip, ohne das doch kein Werden und keine Naturerklärung möglich ist.

Die Wissenschaft hat es mit dem Wirklichen zu thun. DieallgemeinenBegriffe aber bezeichnen immer nur gewisse Eigenschaften der Dinge, sind nur Prädikats-, – nicht Subjektsbegriffe; und auch wenn eine Anzahl solcher Eigenschaftsbegriffe zum Gattungsbegriff zusammengefaßt wird, so erhalten wir nur einnomen, keine Substanz. Substantiell ist nur dasEinzelwesen.

Dennoch aber kehrt Aristoteles, indem er nun dasEinzelwesenund seine Entstehung zu begreifen versucht, wieder zu einem unsinnlichen Träger der Einzelwirklichkeit zurück, der der Platonischen Idee, abgesehen von den Allgemeinbegriffen, so ähnlichist, wie ein Ei dem andern, nur daß er sie mit Aktualität d. h. mit schaffender Thätigkeit ausrüstet; und diese neue Aristotelische Idee heißtForm. So gewiß die Wahrnehmung etwas anderes ist, als das Wissen, sagt er mit Plato, so gewiß muß auch der Gegenstand des Wissens ein anderer sein, als die sinnlichen Dinge. Alles Sinnliche ist vergänglich und veränderlich, es ist ein Zufälliges, das so oder anders sein kann; das Wissen dagegen bedarf eines Gegenstandes, der ebenso unveränderlich und notwendig ist, wie es selbst. Dieser Gegenstand aber ist dieForm; und diese ist zugleich die unentbehrliche Bedingung alles Werdens; alles Werden wird aus etwas zu etwas, das Werden besteht darin, daß ein Stoff eine bestimmte Form annimmt; diese Form muß daher von jedem Werden als das Ziel desselben gegeben sein, und allem Gewordenen alsungewordeneForm vorausgehen.[622]

Aus demselben Grunde aber muß der Form der Stoff, als etwas ebenfalls ewig Vorhandenes, Ungewordenes gegenüberstehen. Der Stoff oder die Materie ist das Substrat, dieMöglichkeitdes Werdens passiv, die Form aktiv.

Die Materie des Aristoteles ist eine vom modernen, besonders vom materialistischen Materien-Begriff wohl zu unterscheidende metaphysische Abstraktion. Sie ist das völlig Prädikatlose, Unbestimmte, Unterschiedslose, Dasjenige, was allem Werden als Bleibendes zu Grunde liegt und die entgegengesetzten Formen annimmt, das, was alles der Möglichkeit nach und nichts der Wirklichkeit nach ist, das rein potentielle Sein ohne alle und jede Aktualität. Da das Bestimmungslose nicht erkannt werden kann, so ist die Materie als solche unerkennbar. Alle Eigenschaften der Dinge, alle Bestimmtheit, Begrenzung und Erkennbarkeit fallen auf die Seite derForm. JenevölligeBestimmungslosigkeit und Unerkennbarkeit gilt eben nur von dererstenMaterie, dem Stoffan sich, welcherallenDingen zu Grunde liegt. Es hat aber andererseits auch jedes Ding seineneigentümlichenletzten Stoff, und zwischen beiden liegen alle stofflichen Gestaltungen in der Mitte, welche der Grundstoff durchlaufen muß, um der bestimmte Stoff zu werden, mit dem sich die Form des Dings unmittelbar verbindet. DieElemente z. B., welche den Stoff aller anderen Körper enthalten, sindFormendes Urstoffs; das Erz, welches der Stoff einer Bildsäule ist, hat als dieses Metall seine eigentümliche Form; die Seele ist zwar die Form ihres Körpers, in ihrem höchsten und von der Materie entferntesten Teile sind aber wieder zwei Elemente zu unterscheiden, die sich untereinander wie Form und Stoff verhalten.

Die Form stellt sich in der Erscheinung unter der Gestalt einer dreifachen Ursächlichkeit dar, im Stoffe liegt der Grund alles Leidens und aller Unvollkommenheit, der Naturnotwendigkeit und des Zufalls.

DiereineForm bezeichnet Aristoteles auch mit der unübersetzbaren Formelτὸ τὶ ἦν εἶναι, wörtlich „das was war Sein“. Gewöhnlich legt man dieselbe aus als dasSein, was dem Gewesensein entspricht und daher das sich gleich Bleibende ist, der Begriff des Wesens, der reine Begriff.

Der Begriff jedes Dings ist von seinemZweckenicht verschieden, da alle Zweckthätigkeit der Verwirklichung eines Begriffes gilt; zugleich ist derselbe auch diebewegendeUrsache, mag er nun das Ding als seine Seele von innen heraus in Bewegung setzen oder mag ihm seine Bewegung von außen kommen. DiereineForm, welche, da alles gegebene Sein, alle Einzelsubstanz, Alles, was ein Dieses ist, aus FormundStoff besteht, im gegebenen Reiche des bestimmten Seins nicht existiert, ist also die oberste Ursache oder dieGottheit, die den höchsten Zweck der Welt und den Grund ihrer Bewegung vereinigt.

Der reine Stoff andrerseits ist das der Form widerstrebende; von ihm rührt alle Zufälligkeit und Unvollkommenheit in der Natur her. Zufällig ist nämlich das, was einem Dinge gleichsehr zukommen und nicht zukommen kann,τὸ συμβεβηκός, was nicht in seinem Wesen enthalten und durch die Notwendigkeit seines Wesens gesetzt ist, was daher weder notwendig noch in der Regel stattfindet. Allem Einzelsein haftet daher eine Unvollkommenheit an. Daß aller Stoff Form werde, alles Vermögen Wirklichkeit, alles Sein Wissen, ist zwar eine Forderung der Vernunft und das Ziel alles Werdens, – aber unvollziehbar, da die Materie als „Beraubung“ der Form (στέρησις) niemals ganz zur Wirklichkeit und somit zur Erkenntnis kommen kann.

In dem hier klar werdendenDualismuszwischen Form und Stoff liegt eine Schwierigkeit, ja ein Widerspruch, der uns auch die Zweideutigkeit vieler einzelner Sätze des Systems begreiflich macht. Mit Recht bemerkt schon Locke, daß die Gelehrten über die wahre Meinung des Aristoteles in vielen der wichtigsten Punkten wohl niemals einig werden würden.

Einmal soll nach Aristoteles, – im Gegensatz zu Plato, – nur das Einzelwesen für etwas Substantielles im vollen Sinne gelten. Der Grund des Einzelwesens, des Bestimmten, aber soll in der Form als dem Bestimmenden liegen. Volle und ursprüngliche Wirklichkeit soll nur der Form zukommen, der Stoff soll nur die bloße Möglichkeit desjenigen sein, dessen Wirklichkeit die Form ist. Die Form wird also der Substanz gleich gesetzt. Dann wird aber doch wieder der Stoff als die Unterlage alles Seins, als das Beharrliche im Wechsel bezeichnet; und indem die reine Form immer ein Allgemeines bleibt, das Einzelwesen erst durch Verbindung derselben mit der Materie entsteht, wird also der eigenschafts- und bedingungslose Stoff als dasjenige statuiert, was die individuelle Bestimmtheit der Einzelwesen erzeugt.

Einerseits polemisiert Aristoteles gegen den platonischen Idealismus, wonach das wahre Wesen der Dinge, die doch erst durch den Stoffwirklichwerden, in der Form sucht. Bald erscheint die Form, bald jedoch wieder das aus Formund Stoffzusammengesetzte Einzelwesen als das Wirkliche.

Diese Doppeldeutigkeit macht sich zunächst fühlbar, wenn es sich darum handelt, eine klare Vorstellung von dem Gottesbegriff des Aristoteles und dem Verhältnis Gottes zur Welt zu beschaffen.

Gott ist die reine Form, der erste Beweger, schlechthin unkörperlich, unteilbar und außer dem Raume, reine Energie. Eine schlechthin unkörperliche Substanz ist eine bloß denkende Substanz. Gott ist absolute Denkthätigkeit. Er denkt sich selbst; sein Denken ist Denken des Denkens. Aristoteles gilt insofern als der erste wissenschaftliche Begründer des Theismus; denn er will die Gottheit als selbstbewußten (reinen) Geist gefaßt wissen.

Wie aber kann dieser bloß denkende reine Geist zugleich der erste Beweger sein? Hierauf antwortet er: „Gott bewegt die Welt also: was begehrt und gedacht wird, bewegt, ohne sich zu bewegen.Dieses beides aber ist auf der höchsten Stufe dasselbe (der absolute Gegenstand des Denkens ist ebendamit das absolute Begehrenswerte, das Gute schlechthin); denn Gegenstand des Verlangens ist das anscheinend Schöne, ursprünglicher Gegenstand des Wollens das wirklich Schöne, das Begehren aber hat in der Vorstellung (vom Wert des Gegenstands) seinen Grund, nicht diese in jenem. Das erste mithin ist der Gedanke. Das Denken aber wird vom Denkbaren bewegt, an und für sich denkbar aber ist nur die eine Reihe, und in dieser ist das erste das Wesen, und zwar das einfache und schlechthin wirkliche.“ „Die Zweckursache bewegt nur das Geliebte, und durch das (von ihr) bewegte bewegt sie das übrige.“ Gott ist also das erste Bewegende nur, sofern er der absolute Zweck der Welt ist, gleichsam der Regent, dessen Willen alles gehorcht, der aber nicht selbst Hand anlegt. Dieses ist er aber deshalb, weil er die absolute Form ist. Wie die Form überhaupt die Materie dadurch bewegt, daß sie dieselbe sollicitiert, sich aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit zu entwickeln, so kann auch die Wirksamkeit Gottes auf die Welt keine andere sein.

Aber die Vorstellung, daß der Bewegte ein natürliches Verlangen nach dem Bewegenden habe, ist offenbar höchst unklar. Wie soll ferner, wenn doch nach der eigenen Annahme des Philosophen das Bewegte immer vom Bewegendenberührtwerden muß, der unräumliche erste Beweger die räumliche Welt berühren? Wenn ferner Aristoteles unter der Gottheit die höchsten Formen, insbesondere die Geister, welche die himmlischen Sphären bewegen und beseelen, für unentstanden erklärt, ebenso wie den unvergänglichen Teil der menschlichen Seelen, wie soll das Verhältnis dieser Formen zur reinen Form einerseits, zu Gott, und zur Materie andrerseits gedacht werden? Mit Recht bemerkt Schwegler, Geschichte der Philosophie S. 95: „Man sieht nicht, warum der letzte Grund der Bewegung, was der absolute Geist zunächst einzig ist, auch als persönliches Wesen gedacht werden müsse, man sieht nicht, wie Etwas bewegende Ursache und doch selbst unbewegt, Ursache alles Werdens, d. h. des Vergehens und Entstehens, und doch sich selbst gleichbleibende Energie, ein Bewegungsprinzip ohne Vermögen (Potenzialität) sein könne: denn das Bewegende muß doch in einem Verhältnisse des Leidens und Thuns mit dem Bewegtenstehen.“ Überhaupt hat Aristoteles, was schon aus diesen widersprechenden Bestimmungen hervorgeht, das Verhältnis zwischen Gott und Welt nicht vollständig und folgerichtig durchgebildet. Da er den absoluten Geist einseitig nur als beschauende theoretische Vernunft bestimmt, und alles Thun und Handeln, weil dieses einen unvollendeten Zweck voraussetzt, von ihm als dem vollendeten Zwecke ausschließt, so fehlt das rechte Motiv seiner Thätigkeit in Beziehung auf die Welt. Bei seinem nur theoretischen Verhalten ist er nicht wahrhafter erster Beweger; außerweltlich und unbewegt, was er seinem Wesen nach ist, geht er nicht einmal mit seiner Thätigkeit ins Weltleben ein; und da auch die Materie ihrerseits nie ganz zur Form wird, so offenbart sich auch hier derunvermittelte Dualismuszwischen dem göttlichen Geist und dem unerkennbaren Ansich des Stoffs.

Noch mehr tritt diese Unklarheit des AristotelischenDualismushervor in seiner, hier wohl am meisten interessierendenSeelenlehre. Die uns erhaltene Aristotelische Psychologie gilt zwar mit Recht als das erste wissenschaftliche Werk über diesen Gegenstand; zweifelsohne gehört sie zu den esoterischen oder akroamatischen Schriften und ist eine seiner bedeutendsten Leistungen. Sie enthält auch manche vortreffliche Bemerkung und dauernd anerkannte Sätze. Berühmt ist vor allem der erste Satz: „Wenn das Wissen zu dem Schönen und Ehrenwerten zu rechnen ist, das eine Wissen aber mehr als das andere dazu gehört, sei es wegen seiner Genauigkeit oder weil sein Gegenstand besser und bewundernswert ist, so möchte ich wohl aus beiden Gründen der Seelenlehre den ersten Rang mit einräumen; denn die Kenntnis der Seele scheint für die Wahrheit viel zu nützen; hauptsächlich in Bezug auf die Natur; denn die Seele ist gleichsam der Anfang der lebenden Wesen.“

In der That steht die Psychologie an einem Punkte, wo die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaften sich schneiden; sie bildet die natürliche Grundlage, auf welcher die idealen Geisteswissenschaften, die Logik und die Ethik, nebst ihren Verzweigungen, auch die Jurisprudenz, aufbauen müssen. Allein die Psychologie des Aristoteles stellt zumeist bloße Begriffsschalen als bequeme Auskunftsmittel hin, wo es gilt, den Mangel eines Gedankeninhalts zu verdecken und dem allgemeinen Gefühl, daß über eine Frage doch irgend etwas aufgestellt werden müsse, Rechnung zu tragen.

Für eine solche leere Begriffsschale müssen wir vor allem die weltberühmte Definition erklären: „Die Seele ist die erste vollendete Wirklichkeit eines dem Vermögen nach lebenden Naturkörpers und zwar eines solchen, welcher Organe hat.“ (de anima II, 1–4). Die Seele ist die Form oderEntelechiedes Leibes. Wenndu Prel, monist. Seelenlehre cap. IV., in Aristoteles den Begründer einermonistischenSeelenlehre sieht, so hat er nur insoweit Recht, als nach Aristoteles auch die Physiologie nur ein Teil der Psychologie ist. Sobald wir aber der Aristotelischen Psychologie näher treten, zeigt sich, daß sein dualistischer Standpunkt ihn auch hier in den Hauptfragen zu keiner klaren Stellungnahme gelangen läßt, und wird es begreiflich, daß von jeher die Aristoteles-Gelehrten z. B. darüber nicht einig geworden sind, ob und wieweit die Unsterblichkeit der Menschenseele von ihm behauptet oder verneint werden sollte.

Anscheinend geht er zunächst aus von der Einheit, nicht Einerleiheit der Seele nicht etwa mit der Materie, wohl aber mit dem belebten Leibe. Man kann nicht, insofern protestiert er gegen den Pythagoräischen Seelenwanderungsglauben, jede beliebige Seele in jeden beliebigen Leib stecken. Die Seele ist die Entelechie ihres Leibes d. h. dieEntfaltung dessen, was in dem lebendigen Leibe als Potenz angelegt ist. Dieser Satz klingt ganz monistisch, und selbst ein Materialist könnte ihn unterschreiben. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet er die Ernährung und Fortpflanzung als das Eigentümliche der Pflanzenseele, die Empfindung und die Selbstbewegung als das Hinzukommende der Tierseele. Allein bei der Menschenseele reicht er damit nicht aus. Sie kann nur nach der animalischen Seite hin als Entelechie des Leibes begriffen werden. Sie ist nicht etwa die vollkommenste Tierseele, wie der menschliche Leib der vollkommenste Leib ist. Es ist etwas in ihr, was sich so nicht erklären läßt und wodurch sie die Sphäre des Sinnlichen überschreitet. Dies Übersinnliche ist die Vernunft, der Intellekt. Aristoteles meint, daß dem Gedanken nicht, wie jedem animalischen Seelenakt, eine leibliche Funktion entspreche. Die animalische Seele hat zwar einen rein physischen Ursprung. Indem er als Naturforscher den Prozeß der Zeugung verfolgt, sucht er nachzuweisen, daß das Zusammenwirken des männlichen und weiblichen Faktors ohne Hinzutritt irgend eines Dritten hinreichendsein müsse, um eine neue animalische Seele hervorzubringen. Indem das Männliche als thätige Ursache zu dem Weiblichen als der leidenden hinzutritt, entsteht sofort diejenige Wirkung, welche der Natur beider entspricht, es entwickelt sich aus ihnen das, was sie an sich sind, nicht weil die Stoffe, die sie enthalten, räumlich nach dem gleichartigen hinstreben, sondern weil jedes, wenn es einmal in Bewegung gesetzt ist, sich in der Richtung bewegt, zu der es die Anlage trägt,weil schon im Samen die Seele der Möglichkeit und dem Keime nach gesetzt ist. Die wirkenden Kräfte, deren sich die Natur hierbei bedient, sind die Wärme und Kälte; das Maß und die Richtung dieser Kräfte ist aber durch die Natur des Zeugungsstoffes und der in ihm angelegten Erzeugnisse bestimmt: aus jedem Keim entwickelt sich ein Wesen derselben Art, wie das, von welchem er herstammt, weil im Blut, als dem unmittelbaren Nahrungsstoff, der Trieb zur Bildung eines Leibes von dieser bestimmten Art liegt, und weil eben dieser Trieb im Samen fortwirkt; und daher kommt es, daß nicht bloß der Gattungscharakter, sondern auch der der Einzelnen durch die Zeugung sich fortpflanzt. Hat hiebei der männliche Samen, von welchem der Anstoß zur Entwicklung ausgeht, die Kraft, den ihm gegebenen Stoff vollständig zu zeitigen, so folgt das Kind dem Geschlecht des Vaters; fehlt es ihm hiezu an der nötigen Wärme, so entsteht ein Wesen von kälterer Natur, ein Weib. Dies nämlich ist es, was die beiden Geschlechter in letzter Beziehung unterscheidet, die größere oder geringere Lebenswärme; die wärmere Natur vermag das Blut zu Samen zu verkochen, die kältere ist darauf beschränkt, in den Katamenien den rohen Stoff zur Fortpflanzung herzugeben; das Weib ist ein unfertiger, auf einer tieferen Entwicklungsstufe stehen gebliebener Mann. Nach dieser Fähigkeit richten sich die Geschlechtsorgane; diese sind mithin nicht die Ursache, sondern nur die Erscheinung des Geschlechtsunterschieds; sein letzter Grund liegt vielmehr in der Beschaffenheit des Lebensprinzips und des Centralorgans, worin dieses seinen Sitz hat, und wenn er auch erst mit dem Hervortreten der Geschlechtsteile zur Vollendung kommt, so ist er doch schon beim ersten Anfang der Entwicklung in der Bildung des Herzens begründet.

Ganz anders als mit der vegetativen Seele aber verhält essich nach Ansicht des Aristoteles mit derVernunft. Sie ist es einzig und allein, die als einGöttlichesvonaußenhereinkommt. (ϑυράϑεν ἐπεισίεται.)

Ob er aber jenes von außen hinzutretende Göttliche und allein Unvergängliche in der Menschenseele alspersönliche Substanzdachte oder, wie Alexander von Aphrodisias und später besonders der Kommentator Averroës meint, als bloßes Hereinspielen und Hereinwirken eines pantheistisch zu denkenden Weltgeistes in das rein sinnliche, mit dem Tode dem gänzlichen Untergange geweihte Individuum, darüber wird wohl immer Streit bleiben.

Schloßmann, das Vergängliche und Unvergängliche in der menschlichen Seele nach Aristoteles, Halle 1873, meint, daß Aristoteles ähnlich wie Kant (und neuerdings du Prel) der mystischen Conception von einem intelligiblen (idealen) und empirischen Ich gehuldigt habe. Er verweist selber zur Unterstützung dieser Duplicitätstheorie auf die Spontaneität des Genies. „Woher die Macht jenes geistigen Triebes, welchem die Menschheit so viele bleibende geistige Eroberungen verdankt? Solchen Erscheinungen gegenüber (und wer kann sie alle herzählen?) wird jede bloß empirische und insbesondere die materialistische Erklärung, die sie sämtlich aus einer mechanischen Bewegung des Stoffes ableiten will, zur puren Ungereimtheit. Wir stehen hier vor den geheimnisvollen Tiefen der intelligiblen Welt. Gerade das Bewußtsein davon hat den ächten Genius immer, mitten in dem Gefühle seiner Kraft, zugleich demütig gemacht. Göthe, indem er vor der größeren dichterischen Schöpfermacht Shakespeares sich beugt, Tieck aber bei aller Anerkennung, die er ihm zu teil werden läßt, unter sich selber stellt, fügt hinzu: Ich darf das frei sagen, ich habe mich ja nicht selbst gemacht. – Ebenso sind Vernunft und Gewissen in unser aller geistigem Dasein etwas, das wir nicht gemacht haben, geistige Mächte, welche aus der Tiefe unseres eigenen Bewußtseins emporsteigend auf unser freithätiges Ich beständig und unmerklich treibend eindringen. Daher geraten wir mit jedem Denkakt in den Bereich der Denkgesetze, welche unsre Vernunft, ohne daß wir hierüber reflektieren, zur Geltung bringt; mit jedem Willensakt in den Bereich der sittlichen Gesetze, welche unser Gewissen, wie wir alle aus Erfahrung wissen, auch im Fall unseres Widerstrebens aufrecht erhält.Dies führt, namentlich auf sittlichem Gebiet, zu dem Begriff einesidealen, einesinwendigenMenschen, nach welchem der äußere, empirisch gegebene Mensch sich gestalten, bezw. sich umgestalten soll. Eben jener inwendige Mensch ist, wie wir ihn wahrhaft erkennen, nach Göthe schlechthinige Autorität für uns. – Für dieses ethische Verhältnis wird ein Analogon aus derästhetischenSphäre zur Erläuterung dienen können. Ein feiner und zartsinniger Beobachter hat mit Recht gesagt, daß der ächtelyrische Dichternicht eine bloße Kopie der Eindrücke seines empirischen Ich giebt, sondern daß in ihm gleichsam ein ideales Ich dies empirische belauscht, gewisse Elemente desselben mit nicht minder unerbittlicher Strenge zurückweist und nur den Duft, den Wiederhall, die ätherischen Nachklänge der Wirklichkeit in sein Spiegelbild aufnimmt. Erstdiese zweite Seele, fügt er hinzu, macht den Dichter.[623]– Eine solche zweite Seele ist es, die auch den sittlichen Menschen macht. Auch hier belauscht gleichsam ein ideales Ich das empirische, weist gewisse Elemente desselben mit nicht minder unerbittlicher Strenge zurück und entwirft auch seinerseits von ihm ein ideales Spiegelbild, aber nicht um sich an dem ästhetischen Wohlgefallen daran genügen zu lassen, sondern um dessen Verwirklichung, wenn es sein muß, im hartnäckigen Kampfe, dem empirischen Ich abzuringen.“ – „DemidealenIch entsprichtbei Aristotelesderthätige Intellekt(derνοῦς ποιητικός), den er ja auch als eine zweite Art von Seele bezeichnet und im Gehorsam gegen welche er die Sittlichkeit bestehen läßt. Demempirischen Ichentspricht derleidentliche Intellekt(derνοῦς παϑητικός). Bei Kant ist analog die Unterscheidung zwischen dem intellektuellen oder intelligiblen Ich und dem sinnlichen Ich, von welchen er jenes als das bestimmende, also thätige, dieses als das bestimmte, also leidentliche denkt. Einmal wirft er die Bemerkung hin, daß durch solche Unterscheidung eines doppelten Ich zwei Subjekte (also gewissermaßen zwei Hypostasen) in einer Persönlichkeit vorausgesetzt zu werden scheinen.“[624]

Der leidentliche Intellekt des Aristoteles gehört der vorübergehenden Erscheinung an; er ist keine eigene selbständig geistige Substanz, sondern nichts als eine Ausstrahlung, die der thätige Intellekt, als die einzige geistige Substanz im Menschen in der Sphäre des Sinnlichen dadurch hervorbringt, daß er sich mit dem beseelten Körper verbindet. Sobald diese Verbindung sich löst, verschwindet damit zugleich der leidentliche Intellekt und unser empirisches sinnliches Ich. Nicht aber das intelligible Ich, der thätige Intellekt, der gleichsam hinter und über jenem den unvergänglichen Wesensgrund bildet. Dieser gleicht nach dem Bilde eines griechischen Kommentators alsdann „einem Künstler, der seine Werkzeuge weggeworfen hat, dessen Wirksamkeit aber fortdauert, nämlich in rein geistiger, nicht stofflicher und werkzeuglich vermittelter Weise.“[625]

Ob hiernach Aristoteles eineindividuelleUnsterblichkeit angenommen oder geleugnet habe, gehört zu den zahllosen wohl niemals zu Ende kommenden Streitfragen der Aristoteles-Gelehrten.

Es wiederholt sich hier der bereits hervorgehobene logische Defekt seines Dualismus zwischen Form und Stoff. Wie es schon in seiner Metaphysik unentschieden bleibt, ob der Grund des Einzelseins in der Form oder im Stoff liege, so bleibt es erst recht in seiner Psychologie im Dunkeln, ob die Persönlichkeit in den höheren oder den niederen Seelenkräften, in dem unsterblichen oder sterblichen Teile unserer Natur liegt. Einerseits scheint es, daß der thätige Intellekt, die Vernunft als solche, der reine Geist nicht der Sitz der Persönlichkeit sein kann; denn alle Bestimmtheit, alle Lebendigkeit des persönlichen Daseins, der ganze auf der Wechselwirkung zwischen Welt und Mensch, auf Veränderung und Entwicklung gegründeteInhaltder Persönlichkeit fällt ja auf die Seite der Sinnlichkeit, istempirischesIch. Selbst das Denken ist ja ohne Phantasiebilder nicht möglich, von denen nach Untergang der empfindenden Seele nicht mehr die Rede sein kann. Und selbst wenn man mit Aristoteles an eine Fortdauer derreinen Denkthätigkeitnach dem Tode glauben wollte, wie soll man sich die Identität desGeisteslebens nach dem Tode mit dem jetzigen vorstellen?Zeller, Philosophie der Griechen II, S. 607, bemerkt aber mit Recht: „Und doch kann diePersönlichkeiteines vernünftigen Wesens und seine freie Selbstbestimmung nicht in seiner sinnlichen Natur liegen. Wo sie aber dann liege, darnach fragen wir (Aristoteles) vergebens: wie die Vernunft von ‚außen her‘ (ϑυράϑεν) zu der sinnlichen Seele hinzutritt und beim Tode sich wieder von ihr abtrennt, so fehlt es beidenauch während des Lebens an der inneren Einheit, und was der Philosoph über die leidende Vernunft und den Willen sagt, ist in seiner unsicheren Haltung nicht geeignet, zwischen den ungleichartigen Teilen des menschlichen Wesens die wissenschaftliche Vermittlung zu bilden.“

Anstatt der erste Begründer einermonistischenSeelenlehre zu sein, laboriert also Aristoteles, der scheinbar eine Einheit zwischen Leib und Seele vertritt, auf der anderen Seite selber an einem unversöhnlichenDualismuszwischen (animalischer) Seele und Geist. Offenbar liegt dies an einer sein ganzes System kennzeichnenden Überschätzung des rein theoretischen, abstrakten Denkvermögens und Verkennung der hohen geistigen und sittlichen Bedeutung, die auch das scheinbar Niedrige, die Sinnlichkeit, im Menschen beansprucht.

Eine andere Anschauung hatten Plato und die Mysterien von dem unvergänglichen Teile der Seele, und diesen, nicht dem Aristoteles, der richtiger von Averroës vertreten sein dürfte, folgten die christlichen Aristoteliker des Mittelalters, wenn sie, im Anschluß unter anderem auch an die bekannten Worte des Paulus, den Geist nach dem Tode als Gefäß der zu rettenden Persönlichkeit eineverklärteLeiblichkeit nach sich ziehen lassen. Zu ihnen gehört Dante, wenn er schildert, wie in den durch Zeugung und Geburt entstehenden menschlichen Leib, und zwar in das Gehirn, ein göttlicher Hauch sich einsenkt und sich so ein einheitliches Seelenwesen gleichsam anbildet, und dabei im dichterischen Gleichnis auf die Sonnenglut verweist, die mit dem Saft des Weinstocks verbunden den Wein entstehen läßt:


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