Kriegslazarett Kasim Pascha,den 3. September 1916.
Welchen Balsam haben Ihre Worte in meine Wunden getan! Wohl weiß ich, daß jeder Brief ein Pfeil ist, der in das Ungewisse fliegt, von dem wir nicht ahnen, in welchem Lande, zu welcher Stunde er niederfällt; der Ihre aber traf mich mitten im Herzen. Mir ist, als erwachte ich für Augenblicke aus tiefem Schlaf. Daß es noch eine lichtere Landschaft gibt, als die flache Ebene dieses Daches, wo ich meinen Tisch zwischen die Betten gestellt habe, und die flackernde Kerze, die von dem Atem der Kranken bewegt scheint, um Ihnen zu schreiben; wo ich im Schlafkleid unter dem hellen Mond seltsame Wache vor dem Tode halte, der unsichtbar in den Adern der Menschen umhergeht, der jeden Tag mit weißem Gesicht glühend am Himmelheraufsteigt und seine seltsamen Inseln, Kamel-, Pferde- und Stierleichen, die aufgelösten Leiber toter Soldaten mitten durch den Strom der Stadt treibt, daß wir nie vergessen, daß wir auch hier in den Laufgräben des Krieges schlafen.
Wenn ich zurückdenke an das Leben, das ich einstmals geführt habe, an die stille Tafelrunde der Geister, die diese Zeit so lange hungernd von ihrer Mahlzeit scheuchte, so befällt mich oft eine stille Angst, daß dies alles nur ein merkwürdiger Traum war, der niemals Wahrheit besessen. Daß ich nie ein anderes Zimmer bewohnte als diesen einäugigen Raum, dessen Scheiben mit Papier verklebt sind, in dessen Winkel an einer aufgespannten Schnur meine Wäsche und meine Kleider hängen, in der die Koffer geschlossen und die Teppiche in Ballen gepackt liegen, als gelte es, jede Stunde des Aufbruchs gewärtig zu sein. Hat es auch für mich Wandernden einmal Heimat gegeben? Wann geschah es, daß ich auf etwas anderes blickte als gleißende Backsteinbauten oder in das sandige Auge der Wüste?Der stille Gleichmut des Landes hat seine tröstende Hand auch auf mich gelegt. Die Flamme des Zornes ist herabgebrannt, ich habe lächeln gelernt, was mich noch gestern in Empörung versetzte, begreife ich mit ergebener Anmut. Wie oft muß ich an meinen arabischen Diener denken, der jede Frage mit einem „Warum“ beantwortet. „Ist das Essen fertig?“ — „Warum soll es nicht fertig sein?“ — „Hast du meine Stiefel geputzt? Ist Reis, sind Tomaten da?“ — „Warum nicht, Sahib?“ Und wenn ich ihn darnach fragte, würde er nicht antworten: „Warum sollst du in Deutschland sein? Kannst du mir sagen, weshalb diese Erde besser sein sollte, als sie es ist? ...“ Aluan wird 17 Jahre alt, ist zum zweiten Male verheiratet und hat zwei Kinder auf dem Friedhof liegen. Seit ich in den Tagen meiner Krankheit an seinem feindlichen Unbegreifen so oft in hilflose Verzweiflung geriet, hatte ich nie geglaubt, daß wir einander menschlich so nahe kämen. Wir beide haben manches von einander gelernt.
Einmal besuchte ich ihn im Hause seines Schwiegervaters in Kazimen, lag die heißen Stunden des Mittags in seiner ländlichen Hütte auf der besten buntgedruckten Matratze, die er auf dem Erdboden ausgebreitet hatte, und deren Muster ich noch immer auf der Rückseite meines Hemdes trage. An der Wand hingen die kostbaren Frauenkleider aus grüner und roter Seide, und während ich schlief, kamen Kälber und Eselinnen, mit kauenden Mäulern, und berochen mit großen Augen den Gast. Bei dieser Gelegenheit sah ich auch Aluans starke und wohlgebaute Frau, zu der er jede Nacht eine Stunde weit von Bagdad nach Kazimen läuft, um erst im Morgengrauen wiederzukehren.
Zuweilen fahre ich mit ihm nach der Insel hinaus, um zu baden. Hinter der Stadt bildet der Strom eine breite Sandbank, auf der Fellachen ihr Gemüse bauen. In meinem zeltüberdachten Boote versteckt, die persische Mütze auf dem Kopf, gleite ich heimlich aus der Stadt, denn ich bin ein scheuer Fremdling unter den Leutendes eigenen Volkes geworden. Dann breite ich meinen Teppich auf den Sand der Insel, ziehe mein baumwollenes arabisches Überkleid an, lese im Homer, im Herodot, im Goethe oder der Bibel, die meine nie versagenden Tröster sind; denn ich bin nun ganz zurückgekehrt zu den ewigen Menschheitswerken, die jenseits alles Ruhmes und Streites dieser Zeit liegen. Neben mir, auf den Fersen sitzend, hockt Aluan, und nachdem er lange geschwiegen hat, lächelt er nachdenklich. „Ja, siehst du, Sahib,“ sagt er zu mir, „das ist der Unterschied. Ich habe eine Frau und kein Essen. Du hast Essen und keine Frau.“ Auch hier spricht die Stimme des Menschlichen zu mir, und mit leiser Rührung betrachte ich die sanfte Neigung seines Kopfes, wenn er mir zuhört, oder die zärtliche Geste, mit der er nach einem Zipfel meines Kleides hascht, seine Lippen darauf zu drücken und mir für eine Kupfermünze zu danken.
Aber ich habe noch andere Brüder, die heimkehrend in den Stunden des Abends auf michwarten. Hinter der Brücke am Wasser liegt die kleine Moschee. In den Nächten des Ramadan bin ich der Gast der alten Mollahs. Hier ist Munir, der Erleuchtete, ich sitze zu seinen Füßen und lausche auf seine Stimme. Einmal fragen sie mich nach meinem Namen. Ich sage ihnen, wie ich heiße; seitdem rufen sie mich „Tarik“. Wir lesen einander Gedichte in arabischer und deutscher Sprache vor, und obwohl keiner des anderen Worte versteht, hören wir doch einander zu und sind voll Andacht.
Mein arabischer Diener, die alten Gelehrten im Schatten der Moschee und Pater Joseph, mit dem ich das Dach meines Hauses teile, sind nun meine einzigen Freunde geblieben, vielleicht noch ein sterbender Hund, den ich am Wasser, krank und mit Wunden bedeckt, zwischen dem Lärm der Bootsführer und Wasserträger ganz in sich versunken, die geheimnisvolle Arbeit des Todes verrichten sehe. Aber die Stunden sind selten, da ich in ihrer Mitte bin. Ich habe aufgehört, mir selbst zu gehören, ineine Reihe inhaltsloser Tage gedrängt, ein bodenloses Gefäß, das leer wurde, noch ehe wir es zu füllen begannen. Nicht immer ohne Bitterkeit trage ich diese Stunden und die Demütigungen, die mit meiner Arbeit verbunden sind; denn auch hier gilt nur, wer zu töten berufen ist, und ein liebender Menschenpfleger ist im Grunde eine verächtliche Gestalt. Möchte mir nur die Liebe derer bewahrt bleiben, denen ich, meiner selbst kaum mächtig, die letzte Kraft meiner Hände reiche.
Während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich vom Dach in den Hof auf die lange Reihe ihrer Betten hinab, wo sie, ihrer Decken entblößt, nebeneinander liegen, das eine Knie in die Höhe gezogen, als stiegen sie noch im Schlaf eine unendlich mühsame Treppe hinauf. Und ich höre wieder die Stimmen der deutschen Soldaten, die, heimgekehrt aus der Wüste, mir von den bitteren Mühen ihres Lebens erzählen, wie sie hier, am „Hintern der Erde“, von Hunger, Krankheit und Heimweh zernagt, der letztenHilfe, des Beistandes ihrer Offiziere beraubt, die sie ohne Grund in der Glut der Mittagsstunden in der sommerlichen Wüste Schanzen werfen ließen, in einer „türkischen Fremdenlegion“ dienten. Noch gestern saß ich an dem Bett eines sterbenden Offiziers, in dessen letzten Träumen das bittere Gefühl versagter Freundschaft umging, die Scham und der Vorwurf gegen die Kameraden, die, Verbrecher aus Ehrgeiz und Niedertracht, ihren Untergebenen die Liebe verweigerten, die sie ihnen schuldig waren. Nun tönt aus dem Schatten der Mauer die Stimme eines jungen Soldaten, der seinen türkischen Wärter ruft: „Mustapha, Musta — pha!“ leise und kläglich, als riefe er seine Mutter. Ich blicke auf und schaue den schwarzen Strom hinunter, in dem die letzten Lichter der Stadt sich spiegeln, blicke in das Wunder der fallenden Sterne, die wie glühende Geißeln über den nächtlichen Himmel peitschen, die herabsickern, langsam fallende Schneeflocken, silberne Tränen. Jetzt blitzen sie auf, gewaltigelichthelle Kugeln, die eine unsichtbare Hand über die Erde hinabwirft, zu schauen, ob der Krieg noch immer nicht das verwüstete Lager entweihter Unschuld verließ. Sie verlöschen, und wieder wird Nacht. Aus dem Dunkel des Flusses aber tönt die leise Stimme eines arabischen Fischers, der in seinem Boote schlafend den Strom hinabtreibt:
Die große Palme und der kleine Schößling sind dahingegangen,Ich blieb allein zurück.
Die große Palme und der kleine Schößling sind dahingegangen,Ich blieb allein zurück.
Die große Palme und der kleine Schößling sind dahingegangen,Ich blieb allein zurück.
Die große Palme und der kleine Schößling sind dahingegangen,
Ich blieb allein zurück.
Mitten in all das kommt Ihr Brief, und ich fahre empor wie ein Schlafwandelnder. Freude! Freude! Aber auch Kummer erfaßt mich. Ich sehe die frischgelöschte Tinte Ihres Namens darunter, als wäre ich eben in der Winterstille durch den Schnee der Berge herabgekommen, trete in das abendliche Zimmer und sehe, wie Sie vom Tische aufstehen und aufhören zu schreiben. Wie ich zu lesen anfange, erkenne ich verwundert, daß ich selber es bin, an den diese Worte gerichtet wurden. Werde ich wirklichnoch einmal diese Stube schauen? Wann wird der Tag kommen, da mir und Euch allen die Worte geschenkt sind: „Hier gebe ich Dir Armin Wegner zurück.“ Wie anders wird die Gestalt sein und die Seele, die wieder unter die Augen der Freunde tritt. Ihr werdet die ersten weißen Haare auf dem Haupte der Jugend schauen. Denn es ist ein Weg ohne Heimkehr, den wir beschreiten, an dem wir wohnen wie die abgeschiedenen Seelen der Babylonier, deren Nahrung der Staub ist, und die von ihm zurückkehren, tun es nicht ungestraft. Andere Augen sind es, mit denen sie schauen; sie bleiben gezeichnet für den kommenden Tag.
Dennoch glühen unter der Asche dieser Tage purpurne Flammen, die zuweilen urplötzlich hervorbrechen, vor deren geheimer Gewalt ich erschrecke, als wenn sie mich selber vernichten müßten! Ein unbändiges Verlangen ergreift mich, die Schritte hinaus zu setzen, in welche Höhen und Abgründe sie auch führen mögen,fort! fort! verkleidet in das Gewand eines Beduinen, bettelnd, mit Aussatz bedeckt, und sei es auch, um in der Wüste zu sterben. Aber schon höre ich die Schritte der Häscher im Hof, die mir das Blut in den Adern erkalten lassen. Wohin? Wohin? ... Einst sagte mir ein arabischer Wahrsager, den ich im Staub der Straße um meine Zukunft befragte, indem er die Würfel auf eine messingne Schale legte, in die das Zeichen des Widders und des Steinbocks gegraben war: „Was du im Herzen trägst, wird in Erfüllung gehen.“ Aber was ist es, das ich im Herzen trage: Tod, Leben, Ruhm oder Untergang, Glück oder Verbrechen? Auch der Gram ist nur eine Stufe der Lust; hinter den härtesten Leiden noch gilt es zu jubilieren wie eine Lerche. Nur eines weiß ich, daß mit mir die Liebe ist, daß sie mich weiter begleiten wird, und sei es auch zu den Abenteuern und Ländern, die jenseits dieses Lebens liegen. „Friede sei mit Dir!“ rufen mir die Araber zu, denen ich des Nachts in den dunklenGassen begegne; mit mir aber geht der Unfriede, mit meinem friedlichen Herzen die Unrast, die mich durch alle Schmerzen der Erde von der Hölle bis zu den Sternen treibt, immer duldend und immer voll Neugier.
Ihr Armin, genannt Tarik, das ist „der des Weges Schreitende“.
An Pater Joseph
Hadit, den 30. September.Früh ½7, im Schatten eines alten Wasserrades.
Bester Pater! Ihnen den ersten Gruß. Daß es weiter geht. Daß die Erde sich wieder rundet. Als Sie mich bei meiner Abreise baten, Ihnen zu schreiben, schien mir dies freilich ein Wunsch, dessen Erfüllung fern in einer heimatlichen Schreibstube lag. Aber nun ich die ersten Tage durch die Wüste gereist bin, sehe ich, wie sehr meine Gefühle bei Ihnen blieben, wie fremd mir die Heimat noch ist. Dabei denke ich nicht ohne Genugtuung daran, daß ich dieser letzten kurzen Erkrankung, die mich nach den Anstrengungen der vergangenen Wochen zum drittenmal auf das Lager warf, den Aufbruch zur Heimkehr verdanke, die fast nochin der Stunde des Abschieds an dem Mangel an Wagen gescheitert wäre. Dieser Heimkehr, die keine Heimkehr ist; denn auch meine verblutete Seele liegt bei den Toten in der Steppe begraben und wird nie wieder in das Land zurückkehren, das ich vor kaum zwei Jahren verließ. Wie oft muß ich mich unserer erregten Gespräche in den verdeckten Kellern von Mesnil Schah Bender erinnern und jener tröstlichen Worte, die ich Ihnen zurückließ: „Meine Irrtümer sind mir lieber als Ihre Wahrheiten.“ Aber ich fühle auch, daß hinter allen Widersprüchen etwas Menschliches lag, das wieder zu zittern anhebt. Ja, jetzt erkenne ich, wie schwer mir der Abschied wurde, seit das letzte Wahrzeichen der Stadt verschwand, jene einsame Grabpyramide, die halb zerfallen hinter Kazimen in der Wüste steht. Zwei Tage sahen wir sie in der Sonne leuchten, dann löste sie sich in Rauch auf.
Heute werden wir zum erstenmal einen Tag rasten. Die Kutscher haben die Splinte aus den Wagen gezogen und sind in das Dorfgegangen; so habe ich Zeit, in Geduld zu warten. Ja, das Menschliche. Wie es mich auch hier auf allen Dörfern und Wegen der Wüste begleitet! Jener oft wiederholte Gruß der Fellachen, jenes „Bruder, Bruder“, mit dem uns die Beduinen die Früchte ihrer Felder reichen, der Bettler die Hand nach uns ausstreckt, scheint mir ein tägliches Gleichnis meiner Gedanken. Oft, wenn ich in die Gasse ihrer lehmgehärteten Hütten trete, gesellt sich ein arabischer Junge zu mir. „Eier! Eier!“ ertönt unsere Stimme vor den Türen, dann kommen die Mädchen und Frauen aus den Höfen heraus. Ich bleibe bei den Männern an ihren Webstühlen stehen, mit ihnen zu plaudern (sie hocken in einem Loch in der Erde). Zutraulich legen sie mir die Hand auf die Schulter. Ich sitze bei den Frauen auf ihren Matten, und sie verschleiern sich nicht.
Während aus den tönernen Schaufeln des Wasserrades ein feiner Sprühregen über mich herabfällt, blicke ich nach der schmalen Inseldes Euphrat hinüber, auf der zwischen Palmen die Hütten aneinandergedrängt stehen, eine graue Feste. Bronzene Gestalten treten zögernd in das Wasser, das Bündel ihrer Kleider wie einen wunderlichen Turban um den Kopf geschlungen. Und wie ich dem Spiel ihrer Leiber zuschaue, die sich schwer gegen die Strömung beugen, wie sie, ihre Kinder auf dem Rücken tragend, das Ufer hinaufklettern, über das die warme Morgensonne streicht, fühle ich wieder, wie ich trotz Tod und Tränen in dieses Land verliebt gewesen bin.
Täglich streifen wir viele Stunden weit durch seine hungrige Weite. Schon vor Sonnenaufgang, wenn die Pferde noch ungeschirrt an den Wagen stehen, wandere ich zu Fuß hinter der Karawane her. Blaß hebt sich die Staubwolke unter den Tritten der keuchenden Tiere, bis der Tag kommt, und der Schatten ihrer spitzen Ohren deutet auf unseren Weg. Dabei bin ich von einer so überquellenden Heiterkeit und Fülle der Gesichte bewegt, daß es mir kaumgelingt, im Weiterschreiten auf ein zerflattertes Papier ein paar kurze Aufzeichnungen zu machen. Welche Veränderung ist mit mir vorgegangen! Selbst meine Uhr, die seit Monaten still stand, begann drei Tagereisen hinter Bagdad wieder zu gehen. Oder ich lehne in den heißen Mittagstunden im Winkel unseres schaukelnden Pilgerwagens und träume zwischen Wachen und Dämmern von einem großen Manifest des Friedens. Ist es Europa, dem ich mich nähere, das mich so froh macht? Ich glaube, wenn es nach Indien oder Ägypten ginge, ich könnte nicht glücklicher sein.
Gestern, schon in der Dunkelheit, wir waren den ganzen Tag durch löchrigen Boden gefahren, blieb unser Wagen allein in der Steppe zurück. Ich war auf den Bock gestiegen und hatte selbst die Zügel unserer vier Pferde in die Hand genommen, aber die hartgewordene Krume einer ausgetrockneten Wassermulde zersplitterte unter unseren Rädern wie Glas. Die Pferde zogen an, zerrissen die Stränge, zitterten undblieben stehen. Und während der Kutscher mit tränenverzerrtem Gesicht und einem „Hilf Allah“ immer wieder vergeblich auf die Pferde einschlug, ging ich im offenen Hemd und meinen weichen Schlafschuhen allein eine Stunde weit unter dem sternenbeglänzten Himmel, das nächste Dorf zu suchen. Wie nahe wart Ihr mir alle, während ich still vor mich hinschritt, einsame Worte mit Euch tauschend. Ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um das Schlagen Eurer Herzen zu fühlen. O beglückende Müdigkeit, als endlich auch unser Wagen in den finsteren Hof der Karawanserei rollte, spät unter dem offenen Wind zu schlafen, unter den Kaugeräuschen der Tiere, die zwischen unsern Lagern umhergehen. Dann tönt das Donnern der Wasserräder lauter vom Fluß, und die Glocke des Leithengstes klingt noch lange in unsern Traum ...
Grüßen Sie Aluan, Dschafar und Achmed und die andern kleinen Bootsjungen, mit denen wir hinab nach der Insel fuhren. GedenkenSie der Lebendigen und der Toten. Und wenn Sie durch jene trümmerbesäte Straße gehen, durch die wir oft im Dunkeln stolperten, so vergessen Sie nicht, daß ich auch diesen Staub unter Ihren Füßen noch liebte.
Aus dem Tagebuche
Rahije, den 2. Oktober,abends ½6.
Eben im Euphrat gebadet, Grund sehr steinig. Die ersten stärkeren Wolkenzüge treten auf und beschatten die Sonne. Die letzten Palmen sind verschwunden. Vor Ana habe ich mir für zehn Piaster ein schwarzes Lämmchen gekauft. Schon drei Tage schleppe ich es mit mir und habe die größte Freude, es während der Fahrt auf dem Schoß zu halten und zu streicheln.
Gestern nachmittag, wir fuhren, Wagen und Karawane, in enggeschlossenem Zug, uns vor Überfällen der Beduinen zu schützen (am Vorabend waren deutsche Schahturs überfallen worden, und es gab acht tote Araber), ein wenig schweigsam, denn es war spät geworden, stand plötzlichin der Abenddämmerung ein seltsames Zeichen am Himmel. Ein langer, geschwänzter Strich wie die helle Schnur einer Peitsche. War es der rauchende Schweif einer Sternschnuppe oder spiegelte sich der leuchtende Lauf des Euphrat in den Wolken wider? Alle Blicke waren auf den blassen Himmel gerichtet, wo es unverändert fast zehn Minuten verweilte. „Das ist ein Zeichen des Friedens,“ sagte eine Stimme. Mir aber schien es eine feurige Geißel, die über der Erde stand. Unwillkürlich neigte ich den Kopf, als müßte ihr sausender Schlag auch über mich und unsere kleine Karawane herabfallen, die mühsam und gedrückt über den steinigen Grund dahinzog.
Abu Kemal. Dreizehnter Tag.Abends 5 Uhr.
Heute nur acht Kilometer zurückgelegt. Kahle, steinige Uferhöhen, die wir nur langsam hinaufklimmen, verwahrloste Wege. Weite violettschimmernde Hochebene, durch die der Fluß stahlgrau dahinzieht. Überall liegen lose Brockenzerstreut, als wäre ein ungeheurer Steinregen herabgefallen. Gegen Mittag raste Hassan, der Führer der Kutscher, mit seinem Wagen in das ausgetrocknete Bett eines Flusses. Alle Pferde bluteten. Zwei Räder waren völlig zerbrochen, und der Wagen schleppte sich, auf den Speichen rumpelnd, mühsam bis in den Chan. Gestern ging ein Maultier mit allem Gepäck in den Fluß, konnte aber gerettet werden. Ein Pferd, das beim Tränken über die Uferböschung stürzte, wurde abgetrieben. So gibt es täglich Verzögerungen. Wir werden zwei Tage hierbleiben.
El Gahsim, den 6. Oktober.
Bei Sonnenuntergang unter dem Dach einer weidengeflochtenen Hütte. Neben mir vor einem Feuer von Eselsmist hockt ein blinder Araber. Über mir an den Zweigen hängt in einem leinenen Beutel der Koran. Ein ungeheurer Staubsturm hat die Ebene mit einem schwarzen Mantel bedeckt. Wir hatten eben abgekocht, als die Wolke plötzlich über den Horizont sprang, Blitzewie feurige Flammen. Von den hohen Wellen des Euphrat wurde der Schaum so weit durch die Luft gewirbelt, daß wir glaubten, es begänne zu regnen. Zu meinen Füßen liegt alles durcheinander, das noch fettige Geschirr, die Beutel mit Reis und getrockneten Aprikosen, das rote Fleisch der angeschnittenen Melone, alles mit einer Schicht von grauem Staub bedeckt. Ich fühle ihn zwischen Lippen und Zähnen. Heute wurde unser Lämmchen geschlachtet. Ich hatte es Mona Lisa getauft, und es sprang und meckerte lustig auf unsern Halteplätzen umher. In meinen Mantel gehüllt, versuche ich auf einer Reihe von Kisten zu schlafen. Als ich wieder aufwache, ist klare Nacht. Der blinde Araber steht draußen im Mondschein auf seiner Matte und betet. Die toten Augen sind in das geisterhafte Licht gerichtet, unbeweglich, als schaute er in eine wunderbare Landschaft. Nun sehe ich es auch. Da beugt er den Kopf und fällt in die Kniee.
Salichie, den 7. Oktober.Nachts 12 Uhr.
Einsame Herberge in der Wüste. Ich lehne, die Wache haltend, am Tor der verlassenen Karawanserei. Draußen dämmert die endlose Ebene. Der volle Mond steht am Himmel. Es ist so hell, daß ich ohne Mühe schreiben kann. Vom Hof tönt das Husten der brustkranken Pferde, nur unterbrochen von dem Heulen Hassans. Sie haben ihm den Rücken und die Sohlen blutig geschlagen, weil er im Basar von Ana die eisernen Ersatzteile der Wagen verkauft hat, die die türkische Kommandantur für uns requiriert hatte. Von Fußtritten verfolgt, schleppt er sich von einem Winkel in den andern.
Ich trete in einen fensterlosen Raum der Karawanserei. Als ich Licht mache, leuchten mir von der berußten Gipswand in großen deutschen Buchstaben die Worte entgegen: „Wo waren wir gestern?“ Betroffen bleibe ich stehen, leuchte mit dem Streichholz die Wand ab.Ich zähle acht verschiedene Sprachen. Hier ist eine Trommel mit gekreuzten Schlägern an die Mauer gezeichnet. Deutsche Namen darunter und das Datum: den 28. August 1914. Daneben: Ankunft dritter Zug von Ekbatana, den 2. Januar 1915. Reise von Teheran nach Bagdad und Stambul, Baruch Josephsberg, 77. Reg. Lemberg. Marga Imre,5 Magyarka, honvéd 13. IV. 16. Marie Stirting, Erna Erickson de Bender Abasle 23. Julliet 15 en route pour Beirut. Dann die Inschrift eines englischen Gefangenen:Happy he, who return. London, Holting-street.Die Unterschrift ist nicht zu entziffern. Namen, Namen. Deutsche, englische, französische, ungarische, türkische, arabische, hebräische, schwedische Inschriften. Es nimmt kein Ende. Wie seltsam berührt es mich, viele Tagereisen weit in der Wüste all jene mit zahlreichen Zungen zu mir reden zu hören, die gleich mir diese tote Stille durchwandert haben, die vom Golf oder aus russischer Gefangenschaft die endlose Reise über die persischen Bergeund durch die Wüste machten, von Hitze und Kälte gepeinigt, eine Nacht in diesem fensterlosen Raume zu schlafen. Wo sind sie, die mit verrostetem Nagel dieses in den Mörtel der Wand gruben? Hier hat einer sein Vaterhaus, von Bäumen beschattet, an die Wand gezeichnet. Neben manchem Namen ist ein kleines Kreuz gemalt, heimkehrende Kameraden haben es hinzugesetzt, dreimal sind sie den Weg durch die Wüste gezogen. An der gegenüberliegenden Wand steht eine arabische Inschrift: „O Ali, Sohn des Hassan, ich habe Wasserrinnen nach dir vollgeweint.“ Darunter auf Türkisch: „In Bagdad und Umgegend habe ich drei Monate im Elend gelebt. O Allah, gib uns Barmherzigkeit und Frieden. Osman Hakki Tefik, Hauptmann im Generalstab. Salichie, den 4. Tamus 1333[3].“
Als ich wieder hinaustrete, schlägt mir die Nacht kalt entgegen. Ich gehe vorsichtig zwischen den schlafenden Menschen und Tieren hindurch,die zusammengekauert am Boden liegen. Ermüdet setze ich mich auf den Leib des toten Esels, der am Nachmittag gestorben ist. Bis hierher schleppte er die blutgeschwollenen Glieder, aber als die Maultiere, von ihrer Traglast befreit, den wunden Rücken im Staube wälzten, erhob er sich nicht wieder. Und ich denke an den Weg zurück, den wir alle gewandert sind, denke an meine Toten und wie sie mich ständig begleiten. Wenn ich am Tage in der hellen Sonne hinter der Karawane herschreite, winkt mir ihr Gepäck vom Rücken der Maultiere herab. Dunkel leuchtet ihr Name auf den hellen Kisten, dem traurigen Rest ihrer Habe, den ich mit mir zurück in die Heimat trage, als ginge ich wie der Gläubige hinter dem Leichnam her, den er in heiliger Erde bestatten will, ihren geliebten Schatten in Deutschland zu begraben. Des Abends am Feuerloch ist mir, als müßte ich wie in früheren Tagen mit ihnen die Mahlzeit teilen. Ich blicke in ihr Gesicht: „Bist du es, alter Freundund Wüstengefährte? Willst du Brot? Magst du Tee?“ ... Ich fühle ihre Nähe, die mich umgibt, die stille Gemeinschaft derer, denen wir nicht mehr weh tun können. Ich schlafe in ihrem Schatten.
Fröstelnd lehne ich mich über den aufgetriebenen Leib des toten Tieres, mit der Hand seinen Hals liebkosend, der noch eine leichte Wärme trägt. Wieder steigt jener freundliche Gedanke des Friedens vor mir herauf, und während ich einsam in der unergründlichen Weite sitze, ist mir, als könnte ich deutlich auf das künftige Europa hinabsehen, wie auf ein heiteres Gebäude, das sich mit freundlichen Zimmern und Gärten vor mir ausbreitet. —
Zwei Uhr nachts. Es ist Zeit zum Wecken. Ich reiße den Kutschern die Mäntel fort, die sich zitternd zwischen ihren Futtersäcken erheben. Nun habe ich noch eine Stunde Ruhe, aber die Fledermäuse, die im Gebälk flattern, lassen mich nicht einschlafen. Bald gehe ich hinter der Karawane her. Vor mir raucht die unabsehbareEbene. Und wieder denke ich: o sie liebten dich nicht, du grauer einsamer Boden, alle, die ihren flüchtigen Namen an die zerbröckelnde Wand dieser Herberge schrieben. Sie dachten: Deutschland, oder England, oder Schweden ... irgendwo dort hinten an eine geliebte und menschenbelebte Scholle, zogen vorüber und fluchten dir. Ich aber fühle deine grenzenlose Weite in meinem Herzen. Fühle in mir deine Sonne, deinen Wind, deine Sterne. Fühle, wie mit jedem Schritt meine Seele lebendiger und froher wird, als wanderte ich vom Tode zurück in das Leben.
Abu Herera, den 11. Oktober.
Der letzte Leichnam? Als wir in die verlassene Karawanserei treten, die von Unrat und üblen Gerüchen erfüllt ist, liegt er in der offenen Tür. Die ausgehungerte Gestalt eines zwölfjährigen armenischen Knaben. Mit strohblondem Haar, den Leib bis auf die Knochen abgemagert, Hände und Füße wie Keulen. Nur der linke Armsteckt noch in Lumpen. Als ich an den Fluß trete, finde ich viele Gräber, zahllose alte Feuerstellen. Ist dieses das Ende einer furchtbaren und grausamen Jagd?
Wieder tritt jener Auszug eines vertriebenen Volkes vor meine Augen, durch dessen schmerzliche Lager ich im vergangenen Jahr mit erschrockener Seele geirrt bin. Bald begegnen wir den ersten Flüchtlingen. Die Ränder aller Wege sind mit ihren Knochen besät, die grell in der Sonne bleichen. In Maden treffen wir das erste Lager. Kinder und Frauen umdrängen unsern Wagen, schlagen sich wund um ein Stück Brot oder eine leere Melonenschale. In Tibini haben sie einen kleinen Basar errichtet. Bäcker, Fleischer und Schuster sitzen in der grellen Sonne unter den ausgespannten Lumpen eines zerrissenen Tuches auf dem nackten Steinboden und bieten ihre Ware aus. Einen türkischen Offizier sah ich beim Garkoch ein gebratenes Stück Fleisch kaufen, und nicht ohne Bewunderung dachte ich: sie haben dich in den Tod getrieben, du aberbietest deinem Mörder für einen Metalik noch in der Wüste ein Stück Fleisch an!
Bei Rakka, in einem völlig verwahrlosten schmutzigen Lager, traf ich einen dreizehnjährigen Knaben. Er hatte seine Mutter und seinen Bruder verloren, nur sein Vater lebte. Er hieß Manuel. Einen weißen Lappen gegen die Sonne um den Kopf gebunden, lief er, auf auf einem Kuhhorn blasend, lachend zwischen den Haufen der Hungernden, Kranken und Sterbenden umher, die reglos dalagen oder, dem Wahnsinn nahe, ihren Kot als Speise verzehrten. Seine wohlgebaute, noch kräftige Gestalt, sein offenes Gesicht gefielen mir. Ich wollte ihn in unsern Wagen nehmen, um ihn mit nach Deutschland zu bringen. Seine geraden Augen leuchteten dunkel zu mir auf. (Meine Mutter, dachte ich einen Augenblick, ich will dir einen neuen Sohn schenken!) Ich ließ mich zu seinem Vater führen, einem Händler aus Alexandrette, den sie zum Wächter des Lagers gemacht hatten, weil er lesen und schreibenkonnte. Aber obwohl sein Gesicht sich vor Freude verklärte, war er so müde und abgestumpft, und seine Angst vor den Gendarmen, die Furcht um das eigene Leben waren so groß, daß er keinen Ausweg finden konnte.
Da ging ich selbst zu dem arabischen Aufseher. Ich saß zwei Stunden auf seiner Matte und bot ihm den Rest meiner Barschaft an. Aber sie wollten ihn nicht freigeben. Ich versprach, in Aleppo bei Hakki Bey, dem Leiter der Ansiedlungen, für ihn zu bitten. Wieder und wieder drückte ich ihre Hände, ich sagte: ich werde in Deutschland an Euch denken. Manuel begleitete mich bis an den Ausgang des Lagers. Er wollte versuchen, in der kommenden Nacht unserer Karawane nachzulaufen. Aber ich glaube nicht, daß es ihm gelingen wird, unter den Flintenschüssen der Gendarmen zu entfliehen.
Mes kene, den 15. Oktober.
Als es Abend wird, sitze ich mit dem Priester Père Arslan Dadschad in der offenen Tür seinesZeltes, und sie erzählen mir von ihren Leiden. Von den 800 Familien der Stadt, mit denen sie auszogen, von den vielen Tausenden, die er in der Wüste begraben hat, darunter dreiundzwanzig Priester und einen Bischof. Ihre Blicke schreien mich an. „Du bist doch ein Deutscher“, sagen sie, „und mit den Türken verbündet ... so ist es also wahr, daß ihr selbst es gewollt habt!“ Ich schlage die Augen herab. Was kann ich ihnen erwidern, um sie Lügen zu strafen? Aus einer Tasche seines Gewandes, in einen zerlumpten Fetzen gehüllt, holt der Priester sein Christuskreuz, und als er es andächtig mit Küssen bedeckt, kann ich, von Rührung ergriffen, mich nicht enthalten, es gleichfalls an die Lippen zu führen, dieses Kreuz, das der Zeuge so vielen menschlichen Kummers und Leidens gewesen ist.
Ich sehe nach den abendlich rauchenden Zelten und dem hellen Mond, der über der dämmerigen Ebene aufsteigt. Das alles ist so anheimelnd, daß ich mir einen Augenblick ein friedliches Bild vortäuschen könnte. Frauen ingeschürzten Unterröcken und offenen Blusen machen einen kleinen Abendspaziergang. Das Geschrei spielender Kinder tönt herüber. Da höre ich wieder ihre ängstlich forschende Stimme: ob ich Armenier in den Städten am Euphrat getroffen habe? „... Wir werden sterben, wir wissen es.“ Er deutet auf sein zerlumptes Gewand: „Une fois j’étais un prètre, maintenant je suis un mouton, qui va à mourir.“
Ich gehe im Dunkel an den Fluß hinunter. In einer Schlucht finde ich einen Haufen übereinandergetürmter Menschengerippe. Weiße Schädel, die noch mit Haaren bedeckt sind, ein Becken, die Brustrippe eines Kindes, zierlich gebogen wie eine Spange. Einen Augenblick überkommt mich eine dumpfe Verzweiflung, die mir die Tränen in die Augen treibt, als müßte ich alle Hoffnungen, alle Keime der Liebe vernichten, die mich je an das Lebendige banden. Unendlich märchenhaft aber fließt der Fluß in die weite Einsamkeit hinaus, in den unterspülte Erdschollen zuweilen donnernd hinabfallen, und andessen Ufern ich verlassen dahinschreite, als wäre ich der letzte Mensch.
Der Hafir, den 16. Oktober.
Eine grüne Oase, Weide mit Lämmerherden. Ich liege, o Wunder, unter einem Baum und sehe das Licht durch die schmalen Blätter scheinen. Heute ist mein dreißigster Geburtstag. Zum dritten Male, seit ich von Hause fortzog, sehe ich diesen Tag sich wenden. Seit dem frühen Morgen wandere ich in der hellen Sonne dahin, den Blick nach dem hohen Himmel gerichtet, dort hinten, wo die Stadt aufsteigen soll, nach der wir so lange Wochen gewandert sind, der Liebe voll und der starken Hoffnung des kommenden Lebens. Mit welcher Freude verzeichnet das Auge das Auftauchen jedes neuen Gegenstandes. Ein plätscherndes Wasser, eine Blume, einen Regentropfen. Schwarzblaue Wolken beschatten den Himmel, und wieder bricht die Sonne hindurch. Altweibersommer fliegt uns durch die Steppeentgegen — die weißen Haare Europas, das in Gram und Elend früh gealtert ist.
Aleppo, den 19. Oktober.Bei den deutschen Schwestern.
Als das schwarze Haupt der Zitadelle sich hinter den sanften Erdwellen aufreckt, geraten die Pferde in schnellere Bewegung. Lächelnd neigen die Kranken sich aus den Wagen, deren hölzerne Kästen mit zerrissenen Planen klappernd in die steinernen Straßen rollen, windbrüchige Schiffe, die den letzten Sturm überstanden. Wir haben die Bahnlinie erreicht, die uns wieder mit Stambul verbindet.
Mein erster Gang führt mich zu den Schwestern. Sie haben für die armenischen Flüchtlinge zwei Häuser eingerichtet, die mit Waisenkindern überfüllt sind, die an der Straße liegen blieben. Die meisten kommen aus Van oder Erzerum und waren länger als sechs Monate unterwegs. In den ersten Wochen war der Hof so dicht von dem nackten Gestrüpp ihrer Scharen überwuchert,daß sie sich gegenseitig zu ersticken drohten. Als man das Haus reinigte, fand man im Brunnenschacht die Leiche eines Kleinen, der zwischen der Wildnis der Menschen dort schweigend verschwunden war. Auch Frauen und Männer halten sich unter ihnen versteckt. Ich habe angefangen, ihre Schicksale aufzuzeichnen, wobei Schwester Beatrix mir als Dolmetscher dient. Nur mühsam beginnen sie aus Schwäche und Angst vor neuen Leiden zu reden, bis die Fülle ihres Elends sie fortreißt und sie in Tränen ausbrechen.
In den letzten Tagen habe ich zahlreiche fotografische Aufnahmen gemacht. Man erzählt mir, daß Dschemal Pascha, der Henker von Syrien, bei Todesstrafe verboten hat, in den Flüchtlingslagern zu fotografieren. Zusammengerollt trage ich diese Bilder des Entsetzens und der Anklage unter meiner Bauchbinde versteckt. In den Lagern von Meskene und Aleppo sammelte ich viele Bittbriefe, die ich in meinem Tornister verborgen habe, um sie an die amerikanische Botschaft in Konstantinopel zu bringen, da die Postsie nicht befördern würde. Ich zweifle keinen Augenblick, damit eine hochverräterische Handlung zu begehen, und doch erfüllt mich das Bewußtsein, diesen Ärmsten wenigstens in einer schwachen Hinsicht geholfen zu haben, mit dem Gefühl größeren Glückes als jede andere Tat es vermöchte.
Konia, den 28. Oktober.Im Bade.
Heute ist der neununddreißigste Tag, seit wir Bagdad verließen. Da der Zug über Mittag liegen bleibt, gehe ich ein paar Schritte in die herbstliche Stadt. Müde setze ich mich in die verlassene Moschee, hocke mich in einer Nische auf den Boden, lege den Daumen hinter die Ohrläppchen und fange zu grübeln an. Bald kommen die Leute und Soldaten von der Straße herein. Ein paar Vögel zwitschern in der Kuppel, die Stimme des Vorbeters klingt, von tiefem Schweigen unterbrochen, durch den Raum. Einen Augenblick denke ich, von einem Schwindel der Gefühle erfaßt: Gott, wo bist du? Soschlafe ich ein und erwache erst, als das Bethaus leer ist, und wie zur Antwort singt eine grenzenlose Öde durch den Raum.
In weiße Tücher gehüllt, liege ich auf der Ruhebank des Bades. Nur gedämpft klingt der Lärm der Stadt herüber, ein blaues Licht fällt durch die Decke herab. Noch brennt mir die Haut von dem heißen Seifenwasser, und verwundert schaue ich mein sonnenverbranntes Gesicht im Spiegel, den langen Bart, der mir in der Wüste gewachsen ist. Zuweilen aber sinke ich in Träume, dann steigt gewaltsam und furchtbar ein Werk vor mir auf, von dem ich glaube, daß es zu dem Grausamsten gehören muß, was je über menschliches Elend geschrieben wurde.
Ehe ich Aleppo verließ, ging ich in das Polizeigebäude, um bei dem Leiter der Ansiedlungen für Manuel zu bitten. Aber obgleich er drüben in seinem Amtszimmer saß und ich seinen Kopf durch die Scheiben erblickte, ließ er mir durch den Diener sagen, er wäreverreist. In allen Gesichtern, die aus den Türen sahen, wohnte ein feiges Gewissen. Ich ließ mich bei seinem Vertreter melden. Alle waren sehr höflich, und wie immer bot man mir eine Schale Kaffee an. Doch während ihm Angst und Lüge deutlich in die Augenwinkel geschrieben stand, wagte er doch zu behaupten, mit der Frage der Ansiedlungen hätten sie nichts zu schaffen. So trat ich, ohne ein Wort meiner Bitte vorgetragen zu haben, wieder hinaus, die Treppe hinunter, an den Polizisten vorbei, die mit falschen Gesichtern in den Winkeln standen.
Von Neuem breitet der Badewärter ein frisches Laken über mich. Ein wohliges Gefühl entfesselt alle Glieder. Aber schon im Halbschlaf sehe ich noch einmal die bloßen braungebrannten Füße des armenischen Knaben vor mir, die schon so viele Meilen in die Ferne gewandert sind. Seine dunklen Augen blicken fragend zu mir auf ... Manuel wird in der Wüste sterben. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.
[3]der Hedschra.
Kospoli, den 12. November 1916.An Bord des Corcovado, Goldenes Horn.
Nur diesen Gruß, mein greises geliebtes Haupt, nur dieses Wort, daß ich da bin, tausend Stunden näher an Deinem Herzen! Nichts mehr von Undank und Bitterkeit! Nichts von Vergangenheit, nichts von Zukunft! In dieser Stunde nur Freude! Daß ich zurückgekehrt bin mit unerhörten Reichtümern des Geistes und Herzens, mit unersetzbaren, märchenhaften Schätzen des Leides. Nun da ich hier bin, gerettet, um das Martyrium dieses Weges, für mich und alle Opfer, die er gekostet hat, immer von neuem zu durchleben, fühle ich, wie hinter mir die Wüste zu wachsen beginnt, Meilen und Meilen wandernd in das Ewig-Ungewisse hinein. Nun erst erkenne ich, wie fern, wie fremd ich Euch war. Aber ich fühle auch, wie in mirdas Wiedergeborene sich aufhebt, wie tausend Stricke mich rufen: Spanne dich ein, den Schatz zur Höhe zu winden, den zu entdecken du in so weite Tiefen hinab mußtest!
Sollte es mich dem gegenüber bedrücken, daß dieser Krieg noch immer nicht in sich selber zusammenbrach? Daß ich, zwischen unüberbrückbare Widersprüche und Welten gesetzt, mich zweifelnd umschaue, wohin ich die Schritte bewegen soll, vor mir die Hölle der Somme, in meinem Rücken die Wüste? In dem Rumpf eines alten Schiffes wohnend, in dessen Kajüten man die deutschen Soldaten einquartiert hat und das rostig, von Seemuscheln bedeckt, im Goldenen Horn vor Anker liegt, trete ich zuweilen an die Reeling. Und zwischen abgetakelten Seegelbooten, zwischen schwarzbauchigen Dampfern, deren eingeschlafene Schrauben von Seetang bedeckt sind, zwischen Schornsteinen, Brückenpfeilern und Speichern sehe ich die grauen Leiber der Schlachtschiffe schimmern. Ja, vielleicht werde ich morgen, von denen fortgeschickt,denen ich so lange gedient habe, dort über das Fallreep treten, die Hände an der Naht und die Füße zusammengeschlagen, mit der Bitte, mich anzumustern, wieder wie in Knabentagen eine Matrosenbluse und einen Schifferknoten zu tragen, von Seewind umjubelt. Aber dahinter steht ein anderes Bild, und die Hand auf das Geschütz oder die Fahne gelegt, inmitten des grauen Kasernenhofes einer herbstlichen Stadt, höre ich mich mit anderen die Worte sprechen: „Ich, Armin Wegner, schwöre zu Gott dem Allmächtigen und Allwissenden einen leiblichen Eid, daß ich seiner Majestät dem Könige von Preußen zu Lande und zu Wasser ...“ hier aber wird es plötzlich still um mich, und umgeben von einem kalten Schweigen höre ich einsam, als wären sie etwas Fremdes, Losgelöstes, von meiner Lippe die Worte fallen: „Daß ich niemals einen Menschen töten werde, an welchen Orten der Erde es immer sei! Niemals das Geschütz oder Gewehr gegen meine fremdenBrüder zu richten. So wahr mir Gott helfe!“
Da streift helle Sonne mein Gesicht. Ich sehe, wie die dunkle Welle, in die mein Blick noch eben träumend versenkt war, blauleuchtend zu blitzen und zu schäumen anhebt. Und ich begreife aus den Erfahrungen einer langen Jugend heraus, daß ich nicht mehr traurig sein darf, daß nie wieder etwas aufstehen kann, mich zu beugen oder zu brechen, so fratzenhaft Rätsel auch immer vor mich hintreten mögen, die zu lösen fast übermenschlich scheint und deren Ungelöstheit doch den Tod bedeutet. Sind wir nicht immer auf einer Reise begriffen? Ist die Küste nicht stets von Nebel verhüllt? Wenn ich des Nachts in meiner engen Schiffskabine liege, und mein Blick trifft aufwachend auf die Matratze des darüberliegenden Kameraden und die engen hölzernen Wände dieses vermodernden Kastens, in dem es nach Schwefel und Wanzen riecht, dann ist mir, als wäre ich, wie in vergangenen Jahren, auf irgendeinerabenteuerlichen Fahrt begriffen, als müßte ich beim ersten Schlagen der Glocke auf Deck und an die Brüstung eilen, eine fremde, märchenhafte Küste zu schauen oder ein grünes Ufer der Heimat, an dem auch Dein weißes Haar wehte wie eine seidene Fahne des Friedens.
Wird es morgen sein? Wieviel Jahre werden vergehen? O, ich begreife, daß ich ein Recht habe, glücklich zu werden ... Freude! In dieser Stunde nur Freude! Nichts von Vergangenheit, nichts von Zukunft! War nicht jede See, die wir durchschwammen, nur der Vorbote eines größeren Meeres, in das wir uns stürzten, des geretteten Lebens froh und der neugewonnenen stärkeren Kräfte? O schöpferische Tat des Geistes, Kraft der Seele, die aus gemartertem Dasein geläutert emporsteigt, und du, gewaltigste Pflicht, die ich mich freudig bereite zu erfüllen, beglänzt von der Sonne des dreißigsten Jahres, zu schaffen, zu leben für Dich, mich, uns alle!
SeiteAn die Großmutter1An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten8An die Eltern12An eine Schwester von Gül-Hane16Traum auf dem Kelek24An Carl Hauptmann27An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten34An die Großmutter44Ein Vermächtnis in der Wüste48An eine Freundin60Brief an die Mutter64Letzter Brief an die Eltern, Brüder, Freunde, Mitmenschen und Geliebten78An eine Freundin85An die Mutter91An die Mutter99An einen Freund106Brief an die Eltern112Der Triumph der Mutter123An Carl Hauptmann133Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr (an Pater Joseph)145Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr (aus dem Tagebuche)152An die Großmutter173