Drittes Buch.Prinzip einer neuen Wertsetzung.

Drittes Buch.Prinzip einer neuen Wertsetzung.

Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für dasLebenentscheidet zuletzt.

Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls.

Der Glaube „so und soistes“ zu verwandeln in den Willen „so und sosoll es werden“.

Die Frage der Werte istfundamentalerals die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Wertfrage beantwortet ist.

Sein und Schein, psychologisch nachgerechnet, ergibt kein „Sein an sich“, keine Kriterien für „Realität“, sondern nur für Grade der Scheinbarkeit gemessen an der Stärke desAnteils, den wir einem Schein geben.

Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen und Wahrnehmungen gekämpft, sondern um Herrschaft: –vernichtetwird die überwundene Vorstellungnicht, nurzurückgedrängtodersubordiniert.Es gibt im Geistigen keine Vernichtung....

DieWertschätzung, „ich glaube, daß das und das so ist“ alsWesender „Wahrheit“. In den Wertschätzungen drücken sichErhaltungs-undWachstumsbedingungenaus. Alle unsreErkenntnisorgane und Sinnesind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen. DasVertrauenzur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also dieWertschätzungder Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewieseneNützlichkeitderselben für das Leben:nichtderen „Wahrheit“.

Daß eine MengeGlaubenda sein muß; daßgeurteiltwerden darf; daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Wertefehlt: – das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werdenmuß, ist notwendig, –nicht, daß etwas wahr ist.

„Diewahreund diescheinbareWelt“ – dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt aufWertverhältnisse. Wir habenunsereErhaltungsbedingungen projiziert alsPrädikate des Seinsüberhaupt. Daß wir in unserm Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die „wahre“ Welt keine wandelbare und werdende, sondern eineseiendeist.

„Wahrheit“: das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht notwendig einen Gegensatz zum Irrtum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedener Irrtümer zueinander: etwa, daß der eine älter, tiefer als der andre ist, vielleicht sogar unausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer Art nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrtümer uns nicht dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen an solchen „Tyrannen“, beseitigt und „widerlegt“ werden können.

Eine Annahme, die unwiderlegbar ist, – warum sollte sie deshalb schon „wahr“ sein? Dieser Satz empört vielleicht die Logiker, welcheihreGrenzen als Grenzen derDingeansetzen: aber diesem Logikeroptimismus habe ich schon lange den Krieg erklärt.

DasFeststellenzwischen „wahr“ und „unwahr“, dasFeststellenüberhaupt von Tatbeständen ist grundverschieden von dem schöpferischenSetzen, vom Bilden, Gestalten, Überwältigen,Wollen, wie es im Wesen derPhilosophieliegt.Einen Sinn hineinlegen– diese Aufgabe bleibtunbedingt immer nochübrig, gesetzt, daßkein Sinn darin liegt. So steht es mit Tönen, aber auch mit Volksschicksalen: sie sind der verschiedensten Ausdeutung und Richtung zuverschiedenen Zielen fähig.

Die noch höhere Stufe ist einZiel setzenund daraufhin das Tatsächliche einformen: also dieAusdeutung der Tat, und nicht bloß die begrifflicheUmdichtung.

Es gibt weder „Geist“, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um „Subjekt und Objekt“, sondern um eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer gewissen relativenRichtigkeit, vor allemRegelmäßigkeitihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht....

Die Erkenntnis arbeitet alsWerkzeugder Macht. So liegt es auf der Hand, daß sie wächst mit jedem Mehr von Macht....

Sinn der „Erkenntnis“: hier ist, wie bei „gut“ oder „schön“, der Begriff streng und eng anthropozentrisch und biologisch zu nehmen. Damit eine bestimmte Art sich erhält und wächst in ihrer Macht, muß sie in ihrer Konzeption der Realität so viel Berechenbares und Gleichbleibendes erfassen, daß daraufhin ein Schema ihres Verhaltens konstruiert werden kann.Die Nützlichkeit der Erhaltung–nichtirgendein abstrakt-theoretisches Bedürfnis, nicht betrogen zu werden – steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnisorgane...., sie entwickeln sich so, daß ihre Beobachtung genügt, uns zu erhalten. Anders: dasMaßdes Erkennenwollens hängt ab von dem Maß des Wachsens desWillens zur Machtder Art: eine Art ergreift so viel Realität,um über sie Herr zu werden, um sie in Dienst zu nehmen.

Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehen bleibt, „es gibt nurTatsachen“, würde ich sagen:nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nurInterpretationen. Wir können kein Faktum „an sich“ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen.

„Es ist allessubjektiv“, sagt ihr: aber schon das istAuslegung. Das „Subjekt“ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzuerdichtetes, Dahintergestecktes. – Ist es zuletzt nötig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese.

Soweit überhaupt das Wort „Erkenntnis“ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist andersdeutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne. – „Perspektivismus“.

Unsere Bedürfnisse sind es,die die Welt auslegen; unsere Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.

Das Verlangen nach „festen Tatsachen“ – Erkenntnistheorie: wie viel Pessimismus ist darin!

Es ist unwahrscheinlich, daß unser „Erkennen“ weiter reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältnis zur Schwierigkeit der Ernährung.

Die Erkenntnis wird bei höherer Art von Wesen auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nötig sind.

Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: – das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken – Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten Mut zu beidem haben – die einen zum Wiederfinden, die andern –wirandern! – zum Hineinstecken!

„Der Sinn für Wahrheit“ muß, wenn die Moralität des „Du sollst nicht lügen“ abgewiesen ist, sichvoreinem andern Forum legitimieren: – als Mittel der Erhaltung von Mensch, alsMachtwille.

Ebenso unsre Liebe zum Schönen: ist ebenfalls dergestaltende Wille. Beide Sinne stehen beieinander; der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die Lust am Gestalten und Umgestalten – eine Urlust! Wir können nur eine Weltbegreifen, die wir selbergemachthaben.

Die Welt „vermenschlichen“, das heißt immer mehr uns in ihr als Herren fühlen –

Unsre Werte sind in die Dingehineininterpretiert.

Gibt es denn einen Sinn im An-sich!?

Ist nicht notwendig Sinn ebenBeziehungssinn und Perspektive?

Aller Sinn ist Wille zur Macht (alle Beziehungssinne lassen sich in ihm auflösen).

Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachstum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Kardinaltatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Oszillationen des Ja und des Nein? – Aberwerfühlt Lust?.... Aberwerwill Macht?.... Absurde Frage! wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlustfühlen ist! Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, derübergreifenden Einheiten....

1. Die organischen Funktionen zurückübersetzt in den Grundwillen, den Willen zur Macht, – und aus ihm abgespaltet.

2. Der Wille zur Macht sich spezialisierend als Wille zur Nahrung, nach Eigentum, nachWerkzeugen, nach Dienern (Gehorchern) und Herrschern: der Leib als Beispiel. – Der stärkere Wille dirigiert den schwächeren. Es gibt gar keine andere Kausalität als die von Wille zu Wille. Mechanistisch nicht erklärt.

3. Denken, Fühlen, Wollen in allem Lebendigen. Was ist eine Lust anderes als: eine Reizung des Machtgefühls durch ein Hemmnis (noch stärker durch rhythmische Hemmungen und Widerstände) – so daß es dadurch anschwillt. Also in aller Lust ist Schmerz inbegriffen. – Wenn die Lust sehr groß werden soll, müssen die Schmerzen sehr lange und die Spannung des Bogens ungeheuer werden.

4. Die geistigen Funktionen. Wille zur Gestaltung, zur Anähnlichung usw.

Der Wille zur Macht kann sich nuran Widerständenäußern; er sucht also nach dem, was ihm widersteht, – dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasmas, wenn es Pseudopodien ausstreckt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigenwollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in den Machtbereich des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. – Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und dieZweiheiterscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zweiWillen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung untereinander völlig aufzugeben).

„Hunger“ ist nur eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.

Man kann das, was die Ursache dafür ist,daßes überhaupt Entwicklung gibt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als „werdend“ verstehen wollen, noch weniger als geworden.... Der „Wille zur Macht“ kann nicht geworden sein.

Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf dieAbsicht der Mehrung von Macht.

Was ist „passiv“? –Gehemmtsein in der vorwärtsgreifenden Bewegung: also ein Handeln des Widerstandes und der Reaktion.

Was ist „aktiv“? – nach Macht ausgreifend.

„Ernährung“ – ist nur abgeleitet; das Ursprüngliche ist: alles in sich einschließen wollen.

„Zeugung“ – nur abgeleitet; ursprünglich: wo ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu organisieren, tritt einGegenwillein Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationszentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen.

„Lust“ – als Machtgefühl (die Unlust voraussetzend).

Ist „Wille zur Macht“ eine Art „Wille“ oder identisch mit dem Begriff „Wille“? Heißt es so viel als begehren? oderkommandieren? Ist es der „Wille“, von dem Schopenhauer meint, er sei das „An sich der Dinge“?

Mein Satz ist: daßWilleder bisherigen Psychologie eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung ist, daß es diesen Willengar nicht gibt, daß, statt die Ausgestaltung einesbestimmtenWillens in viele Formen zu fassen, man den Charakter des Willensweggestrichenhat, indem man denInhalt, das Wohin? heraussubtrahiert hat – : das ist im höchsten Grade beiSchopenhauerder Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er „Wille“ nennt. Es handelt sich noch weniger um einen „Willenzum Leben“: denn das Leben ist bloß einEinzelfalldes Willens zur Macht; – es ist ganz willkürlich, zu behaupten, daß alles danach strebe, indieseForm des Willens zur Macht überzutreten.

Es gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen – : und folglich gibt es vielerlei „Wahrheiten“, und folglich gibt es keine Wahrheit.

Unsere Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: das ist die Summe aller der Wahrnehmungen, derenBewußtwerdenuns und dem ganzen organischen Prozesse vor uns nützlich und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen überhaupt (zum Beispiel nicht die elektrischen); das heißt: wir habenSinnenur für eine Auswahl von Wahrnehmungen – solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten.Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich ist.Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mitWerturteilen(nützlich und schädlich – folglich angenehm oder unangenehm). Die einzelne Farbe drückt zugleich einen Wert für uns aus (obwohl wir es uns selten oder erst nach langem, ausschließlichem Einwirken derselben Farbe eingestehen, zum Beispiel Gefangene im Gefängnis oder Irre). Deshalb reagieren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese, andere jene, zum Beispiel Ameisen.

Diese perspektivische Welt, diese Welt für das Auge, Getast und Ohr ist sehr falsch, verglichen schon für einen sehrviel feineren Sinnenapparat. Aber ihre Verständlichkeit, Übersichtlichkeit, ihre Praktikabilität, ihre Schönheit beginntaufzuhören, wenn wir unsre Sinneverfeinern: ebenso hört die Schönheit auf beim Durchdenken von Vorgängen der Geschichte; die Ordnung desZwecksist schon eine Illusion. Genug, je oberflächlicher und gröber zusammenfassend, um sowertvoller, bestimmter, schöner, bedeutungsvollererscheintdie Welt. Je tiefer man hineinsieht, um so mehr verschwindet unsere Wertschätzung, – dieBedeutungslosigkeit naht sich! Wir haben die Welt, welche Wert hat, geschaffen! Dies erkennend, erkennen wir auch, daß die Verehrung der Wahrheit schon dieFolgeeinerIllusionist – und daß man mehr als sie die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat.

„Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!“

Erst bei einer gewissen Stumpfheit des Blickes, einem Willen zur Einfachheit stellt sich das Schöne, das „Wertvolle“ ein: an sich ist es,ich weiß nicht was.

ErstBilder– zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. DannWorte, angewendet auf Bilder. EndlichBegriffe, erst möglich, wenn es Worte gibt – ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares (Wort). Das kleine bißchen Emotion, welches beim „Wort“ entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die ein Wort da ist – diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffes. Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, alsdieselbenempfunden werden, ist die Grundtatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarten Empfindungen in derKonstatierungdieser Empfindungen; – wer aber konstatiert? DasGlaubenist das Uranfängliche schon in jedem Sinneseindruck: eine Art Ja-sagenersteintellektuelle Tätigkeit! Ein „Für-wahr-halten“ im Anfange! Also zu erklären: wie ein „Für-wahr-halten“ entstanden ist! Was liegt für eine Sensationhinter„wahr“?

Widerspruch gegen die angeblichen „Tatsachen des Bewußtseins“. Die Beobachtung ist tausendfach schwieriger, der Irrtum vielleichtBedingungder Beobachtung überhaupt.

Kritik der neuen Philosophie: fehlerhafter Ausgangspunkt, als ob es „Tatsachen des Bewußtseins“ gäbe – und keinenPhänomenalismusin derSelbstbeobachtung.

„Bewußtsein“ – inwiefern die vorgestellte Vorstellung, der vorgestellte Wille, das vorgestellte Gefühl (das uns allein bekannte) ganz oberflächlich ist! „Erscheinung“ auch unsreinnereWelt!

Der Phänomenalismus der „inneren Welt“.Diechronologische Umdrehung, so daß die Ursache später ins Bewußtsein tritt als die Wirkung. – Wir haben gelernt, daß der Schmerz an eine Stelle des Leibes projiziert wird, ohne dort seinen Sitz zu haben – : wir haben gelernt, daß die Sinnesempfindung, welche man naiv als bedingt durch die Außenwelt ansetzt, vielmehr durch die Innenwelt bedingt ist: daß die eigentliche Aktion der Außenwelt immerunbewußtverläuft..... Das Stück Außenwelt, das uns bewußt wird, ist nachgeboren nach der Wirkung, die von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projiziert als deren „Ursache“....

In dem Phänomenalismus der „innern Welt“ kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um. Die Grundtatsache der „inneren Erfahrung“ ist, daß die Ursache imaginiert wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist.... Dasselbe gilt auch von der Abfolge der Gedanken: – wir suchen den Grund zu einem Gedanken, bevor er uns noch bewußt ist: und dann tritt zuerst der Grund und dann dessen Folge ins Bewußtsein.... Unser ganzes Träumen ist die Auslegung von Gesamtgefühlen auf mögliche Ursachen: und zwar so, daß ein Zustand erst bewußt wird, wenn die dazu erfundene Kausalitätskette ins Bewußtsein getreten ist.

Die ganze „innere Erfahrung“ beruht darauf, daß zu einer Erregung der Nervenzentren eine Ursache gesucht und vorgestellt wird – und daß erst die gefundene Ursache ins Bewußtsein tritt: diese Ursache ist schlechterdings nicht adäquat der wirklichen Ursache, – es ist ein Tasten auf Grund der ehemaligen „inneren Erfahrungen“, das heißt des Gedächtnisses. Das Gedächtnis erhält aber auch die Gewohnheit der alten Interpretationen, das heißt der irrtümlichen Ursächlichkeit, – so daß die „innere Erfahrung“ in sich noch die Folgen aller ehemaligen falschen Kausalfiktionen zu tragen hat. Unsere „Außenwelt“, wie wir sie jeden Augenblick projizieren, ist unauflöslich gebunden an den alten Irrtum vom Grunde: wir legen sie aus mit dem Schematismus des „Dings“ usw.

Die „innere Erfahrung“ tritt uns ins Bewußtsein erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuumversteht– das heißt eine Übersetzung eines Zustandes in ihmbekanntereZustände – : „verstehen“ das heißt naiv bloß: etwas Neues ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem. Zum Beispiel „ich befinde mich schlecht“ – ein solches Urteil setzt einegroße und späte Neutralität des Beobachtendenvoraus – : der naive Mensch sagt immer: das und das macht, daß ich mich schlecht befinde, – er wird über sein Schlechtbefinden erst klar, wenn er einen Grund sieht, sich schlecht zu befinden.... Das nenne ich denMangel an Philologie; einen Textals Textablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der „inneren Erfahrung“, – vielleicht eine kaum mögliche....

DasBewußtsein, – ganz äußerlich beginnend, als Koordination und Bewußtwerden der „Eindrücke“ – anfänglich am weitesten entfernt vom biologischen Zentrum desIndividuums; aber ein Prozeß, der sich vertieft, verinnerlicht, jenem Zentrum beständig annähert.

Ursprünglich Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben übrig, die größte Zahl ging zugrunde – und geht zugrunde.

Rolle des „Bewußtseins“.– Es ist wesentlich, daß man sich über die Rolle des „Bewußtseins“ nicht vergreift: es ist unsereRelation mit der „Außenwelt“, welche es entwickelt hat. Dagegen dieDirektion, respektive die Obhut und Vorsorglichkeit in Hinsicht auf das Zusammenspiel der leiblichen Funktionen tritt unsnichtins Bewußtsein; ebensowenig als die geistigeEinmagazinierung: daß es dafür eine oberste Instanz gibt, darf man nicht bezweifeln: eine Art leitendes Komitee, wo die verschiedenenHauptbegierdenihre Stimme und Macht geltend machen. „Lust“, „Unlust“ sind Winke aus dieser Sphäre her: derWillensaktinsgleichen: dieIdeeninsgleichen.

In summa: Das, was bewußt wird, steht unter kausalen Beziehungen, die uns ganz und gar vorenthalten sind, – die Aufeinanderfolge von Gedanken, Gefühlen, Ideen im Bewußtsein drückt nichts darüber aus, daß diese Folge eine kausale Folge ist: es ist aberscheinbar so, im höchsten Grade. Auf dieseScheinbarkeithin haben wir unsere ganze Vorstellung vonGeist,Vernunft,Logikusw.gegründet(– das gibt es alles nicht: es sind fingierte Synthesen und Einheiten) und diese wieder in die Dinge,hinterdie Dinge projiziert!

Gewöhnlich nimmt man das Bewußtsein selbst als Gesamtsensorium und oberste Instanz; indessen, es ist nur einMittelderMitteilbarkeit: es ist im Verkehr entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrsinteressen.... „Verkehr“ hier verstanden auch von den Einwirkungen der Außenwelt und den unsererseits dabei nötigen Reaktionen; ebensowie von unseren Wirkungen nach außen. Es ist nicht die Leitung, sondern einOrgan der Leitung.

Die Sinneswahrnehmungen nach „außen“ projiziert: „innen“ und „außen“ – da kommandiert derLeib–?

Dieselbe gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim Einverleiben der Außenwelt: unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits dasResultatdieserAnähnlichungundGleichsetzungin bezug aufalleVergangenheit in uns; sie folgen nicht sofort auf den „Eindruck“ –

In betreff desGedächtnissesmuß man umlernen: hier steckt die Hauptverführung, eine „Seele“ anzunehmen, welche zeitlos reproduziert, wiedererkennt usw. Aber das Erlebte lebt fort „im Gedächtnis“; daß es „kommt“, dafür kann ich nichts, der Wille ist dafür untätig, wie beim Kommen jedes Gedankens. Es geschieht etwas, dessen ich mir bewußt werde: jetzt kommt etwas Ähnliches – wer ruft es? weckt es?

Alles Denken, Urteilen, Wahrnehmen alsVergleichenhat als Voraussetzung ein „Gleichsetzen“, noch früher ein „Gleichmachen“. Das Gleichmachen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in die Amöbe ist.

„Erinnerung“ spät, insofern hier der gleichmachende Trieb bereitsgebändigterscheint: die Differenz wird bewahrt. Erinnern als ein Einrubrizieren und Einschachteln; aktiv – wer?

Der Glaube an den Leib ist fundamentaler als der Glaube an dieSeele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt. Glaube an dieWahrheitdesTraumes–).

Ausgangspunkt vomLeibeund der Physiologie: warum? – Wir gewinnen die richtige Vorstellung von der Art unsrer Subjekteinheit, nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens (nicht als „Seelen“ oder „Lebenskräfte“), insgleichen von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitsteilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen. Ebenso wie fortwährend die lebendigen Einheiten entstehen und sterben und wie zum „Subjekt“ nicht Ewigkeit gehört; ebenso daß der Kampf auch in Gehorchen und Befehlen sich ausdrückt und ein fließendes Machtgrenzen-Bestimmen zum Leben gehört. Die gewisseUnwissenheit, in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens, gehört mit zu den Bedingungen, unter denen regiert werden kann. Kurz, wir gewinnen eine Schätzung auch für dasNichtwissen, das Im-Großen-und-Groben-Sehen, das Vereinfachen und Fälschen, das Perspektivische. Das Wichtigste ist aber: daß wir den Beherrscher und seine Untertanen alsgleicher Artverstehen, alle fühlend, wollend, denkend – und daß wir überall, wo wir Bewegung im Leibe sehen oder erraten, auf ein zugehöriges subjektives, unsichtbares Leben hinzuschließen lernen. Bewegung ist eine Symbolik für das Auge; sie deutet hin, daß etwas gefühlt, gewollt, gedacht worden ist.

Das direkte Befragen des Subjektsüberdas Subjekt und alle Selbstbespiegelung des Geistes hat darin seine Gefahren, daß es für seine Tätigkeit nützlich und wichtig sein könnte, sichfalschzu interpretieren. Deshalb fragen wir den Leib und lehnen das Zeugnis der verschärften Sinne ab: wenn man will, wir sehen zu, ob nicht die Untergebenen selber mit uns in Verkehr treten können.

Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht „wahr“. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder eins, noch auch nur reduzierbar auf eins.

Ich halte die Phänomenalität auch derinnerenWelt fest: Alles, was unsbewußtwird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt, – derwirklicheVorgang der inneren „Wahrnehmung“, dieKausalvereinigungzwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen – und vielleicht eine reine Einbildung. Diese „scheinbareinnereWelt“ ist mit ganz denselben Formen und Prozeduren behandelt, wie die „äußere“ Welt. Wir stoßen nie auf „Tatsachen“: Lust und Unlust sind späte und abgeleitete Intellektphänomene....

Die „Ursächlichkeit“ entschlüpft uns; zwischen Gedanken ein unmittelbares, ursächliches Band anzunehmen, wie es die Logik tut – das ist Folge der allergröbsten und plumpsten Beobachtung.Zwischenzwei Gedanken spielennoch alle möglichen Affekteihr Spiel: aber die Bewegungen sind zu rasch, deshalbverkennenwir sie,leugnenwir sie..

„Denken“, wie es die Erkenntnistheoretiker ansetzen, kommt gar nicht vor: das ist eine ganz willkürliche Fiktion, erreicht durch Heraushebung eines Elementes aus dem Prozeß und Subtraktion aller übrigen, eine künftige Zurechtmachung zum Zwecke der Verständlichung....

Der „Geist“,etwas, das denkt: womöglich gar „der Geist absolut, rein, pur“ – diese Konzeption ist eine abgeleitete zweite Folge der falschen Selbstbeobachtung, welche an „Denken“ glaubt: hier isterstein Akt imaginiert, der gar nicht vorkommt, „das Denken“, undzweitensein Subjektsubstrat imaginiert, in dem jeder Akt dieses Denkens und sonst nichts anderes seinen Ursprung hat: das heißt,sowohl das Tun, als der Täter sind fingiert.

Nichts ist fehlerhafter, als aus psychischen und physischen Phänomenen die zwei Gesichter, die zwei Offenbarungen einer und derselben Substanz zu machen. Damit erklärt man nichts: der Begriff „Substanz“ ist vollkommen unbrauchbar, wenn man erklären will. DasBewußtsein, in zweiter Rolle, fast indifferent, überflüssig, bestimmt vielleicht, zu verschwinden und einem vollkommenen Automatismus Platz zu machen –

Wenn wir nur die inneren Phänomene beobachten, so sind wir vergleichbar den Taubstummen, die aus der Bewegung der Lippen die Worte erraten, die sie nicht hören. Wir schließen aus den Erscheinungen des inneren Sinns auf unsichtbare und andere Phänomene, welche wir wahrnehmen würden, wenn unsere Beobachtungsmittel zureichend wären, und welche man den Nervenstrom nennt.

Für diese innere Welt gehen uns alle feineren Organe ab, so daß wir einetausendfache Komplexitätnoch als Einheit empfinden, so daß wir eine Kausalität hineinerfinden, wo jeder Grund der Bewegung und Veränderung uns unsichtbar bleibt, – die Aufeinanderfolge von Gedanken, von Gefühlen ist ja nur das Sichtbarwerden derselben im Bewußtsein. Daß diese Reihenfolge irgend etwas mit einer Kausalverkettung zu tun habe, ist völlig unglaubwürdig: das Bewußtsein liefert uns nie ein Beispiel von Ursache und Wirkung.

Alles, was als „Einheit“ ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer nur einenAnschein von Einheit.

Das Phänomen desLeibesist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.

Wo es eine gewisse Einheit in der Gruppierung gibt, hat man immer denGeistals Ursache dieser Koordination gesetzt: wozu jeder Grund fehlt. Warum sollte die Idee eines komplexen Faktums eine der Bedingungen dieses Faktums sein? oder warum müßte einem komplexen Faktum dieVorstellungals Ursache davon präzedieren? –

Wir werden uns hüten, dieZweckmäßigkeitdurch denGeist zu erklären: es fehlt jeder Grund, dem Geist die Eigentümlichkeit, zu organisieren und zu systematisieren, zuzuschreiben. Das Nervensystem hat ein viel ausgedehnteres Reich: die Bewußtseinswelt ist hinzugefügt. Im Gesamtprozeß der Adaptation und Systematisation spielt das Bewußtsein keine Rolle.

Die Physiologen wie die Philosophen glauben, dasBewußtsein, im Maße es an Helligkeitzunimmt, wachse imWerte: das hellste Bewußtsein, das logischste, kälteste Denken seierstenRanges. Indessen – wonach ist dieser Wert bestimmt? – In Hinsicht aufAuslösung des Willensist das oberflächlichste,vereinfachtesteDenken das am meisten nützliche, – es könnte deshalb das – usw. (weil es wenig Motive übrig läßt).

DiePräzisiondesHandelnssteht im Antagonismus mit derweitblickendenund oft ungewiß urteilendenVorsorglichkeit: letztere durch dentieferenInstinkt geführt.

Hauptirrtum der Psychologen: sie nehmen die undeutliche Vorstellung als eine niedrigereArtder Vorstellung gegen die helle gerechnet: aber was aus unserm Bewußtsein sich entfernt und deshalbdunkel wird,kanndeshalb an sich vollkommen klar sein.Das Dunkelwerden ist Sache der Bewußtseinsperspektive.

Die ungeheuren Fehlgriffe:

1. die unsinnigeÜberschätzung des Bewußtseins, aus ihm eine Einheit, ein Wesen gemacht: „der Geist“, „die Seele“, etwas, das fühlt, denkt, will –

2. der Geist alsUrsache, namentlich überall, wo Zweckmäßigkeit, System, Koordination erscheinen;

3. das Bewußtsein als höchste erreichbare Form, als oberste Art Sein, als „Gott“;

4. der Wille überall eingetragen, wo es Wirkung gibt;

5. die „wahre Welt“ als geistige Welt, als zugänglich durch die Bewußtseinstatsachen;

6. dieErkenntnisabsolut als Fähigkeit des Bewußtseins, wo überhaupt es Erkenntnis gibt.

Folgerungen:

jeder Fortschritt liegt in dem Fortschritt zum Bewußtwerden; jeder Rückschritt im Unbewußtwerden; (– das Unbewußtwerden galt als Verfallensein an dieBegierdenundSinne, – alsVertierung....)

man nähert sich der Realität, dem „wahren Sein“ durch Dialektik; manentferntsich von ihm durch Instinkte, Sinne, Mechanismus....

den Menschen in Geist auflösen, hieße ihn zu Gott machen: Geist, Wille, Güte – Eins;

allesGutemuß aus der Geistigkeit stammen, muß Bewußtseinstatsache sein;

der Fortschritt zumBesserenkann nur ein Fortschritt imBewußtwerden sein.

Wir können uns unsern Leib räumlich auseinanderlegen, und dann erhalten wir ganz dieselbe Vorstellung davon wie vom Sternensystem, und der Unterschied von organisch und unorganisch fällt nicht mehr in die Augen. Ehemals erklärte man die Sternbewegungen als Wirkungen zweckbewußter Wesen: man braucht das nicht mehr, und auch in betreff des leiblichen Bewegens und Sichveränderns glaubt man lange nicht mehr mit dem zwecksetzenden Bewußtsein auszukommen. Die allergrößte Menge der Bewegungen hat gar nichts mit Bewußtsein zu tun:auch nicht mit Empfindung. Die Empfindungen und Gedanken sind etwasäußerst Geringes und Seltenesim Verhältnis zu dem zahllosen Geschehen in jedem Augenblick.

Umgekehrt nehmen wir wahr, daß eine Zweckmäßigkeit im kleinsten Geschehen herrscht, der unser bestes Wissen nicht gewachsen ist: eine Vorsorglichkeit, eine Auswahl, einZusammenbringen, Wiedergutmachen usw. Kurz, wir finden eine Tätigkeit vor, die einemungeheuer viel höheren und überschauenden Intellektzuzuschreiben wäre, als der uns bewußte ist. Wir lernen von allem Bewußtengeringer denken: wir verlernen, uns für unser Selbst verantwortlich zu machen, dawirals bewußte, zwecksetzende Wesen nur der kleinste Teil davon sind. Von den zahlreichen Einwirkungen in jedem Augenblick, zum Beispiel Luft, Elektrizität, empfinden wir fast nichts: es könnte genug Kräfte geben, welche, obschon sie uns nie zur Empfindung kommen, uns fortwährend beeinflussen. Lust und Schmerz sind ganz seltene und spärliche Erscheinungen gegenüber den zahllosen Reizen, die eine Zelle, ein Organ auf eine andre Zelle, ein andres Organ ausübt.

Es ist die Phase derBescheidenheit des Bewußtseins. Zuletzt verstehen wir das bewußte Ich selber nur als ein Werkzeug im Dienste jenes höheren, überschauenden Intellekts: und da können wir fragen, ob nicht alles bewußteWollen, allebewußten Zwecke, alleWertschätzungenvielleicht nur Mittel sind, mit denen etwas wesentlichVerschiedenes erreicht werden soll, als es innerhalb des Bewußtseins scheint. Wirmeinen: es handle sich um unsreLustundUnlust– – – aber Lust und Unlust könnten Mittel sein, vermöge deren wir etwas zuleisten hätten, was außerhalb unseres Bewußtseins liegt – – – Es ist zu zeigen, wie sehr alles Bewußteauf der Oberflächebleibt: wie Handlung und Bild der Handlungverschiedenist, wiewenigman von dem weiß, was einer Handlungvorhergeht: wie phantastisch unsere Gefühle „Freiheit des Willens“, „Ursache und Wirkung“ sind: wie Gedanken und Bilder, wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind: die Unergründlichkeit jeder Handlung: die Oberflächlichkeit alles Lobens und Tadelns: wiewesentlich ErfindungundEinbildungist, worin wir bewußt leben: wie wir in allen unsern Worten von Erfindungen reden (Affekte auch), und wie dieVerbindung der Menschheitauf einem Überleiten und Fortdichten dieser Erfindungen beruht: während im Grunde die wirkliche Verbindung (durch Zeugung) ihren unbekannten Weg geht.Verändertwirklich dieser Glaube an die gemeinsamen Erfindungen die Menschen? Oder ist das ganze Ideen- und Wertschätzungswesen nur einAusdruck selbervon unbekannten Veränderungen?Gibtes denn Willen, Zwecke, Gedanken, Werte wirklich? Ist vielleicht das ganze bewußte Leben nur einSpiegelbild? Und auch wenn die Wertschätzung einen Menschen zubestimmenscheint, geschieht im Grunde etwas ganz anderes! Kurz: gesetzt, es gelänge, das Zweckmäßige im Wirken der Natur zu erklären ohne die Annahme eines zweckesetzenden Ichs: könnte zuletzt vielleicht auchunserZweckesetzen, unser Wollen usw. nur eineZeichensprachesein für etwas Wesentlich-Anderes, nämlich Nicht-Wollendes und Unbewußtes? nur derfeinste Anscheinjener natürlichen Zweckmäßigkeit des Organischen, aber nichts Verschiedenes davon?

Und kurz gesagt: es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um denLeib: es ist diefühlbarwerdendeGeschichtedavon, daß einhöherer Leib sich bildet. Das Organische steigt noch auf höhere Stufen. Unsere Gier nach Erkenntnis der Natur ist ein Mittel, wodurch der Leib sich vervollkommnen will. Oder vielmehr: es werden Hunderttausende von Experimenten gemacht, die Ernährung, Wohnart, Lebensweise desLeibeszu verändern: das Bewußtsein und die Wertschätzungen in ihm, alle Arten von Lust und Unlust sindAnzeichen dieser Veränderungen und Experimente. Zuletzthandelt es sich gar nicht um den Menschen: er soll überwunden werden.

Warum alleTätigkeit, auch die einesSinnes, mit Lust verknüpft ist? Weil vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr, weil alles Tun ein Überwinden, ein Herrwerden ist undVermehrungdesMachtgefühlsgibt? – Die Lust im Denken. – Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffenund amGeschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines „Werks“.

„Unlust“ und „Lust“ sind die denkbar dümmstenAusdrucksmittelvon Urteilen: womit natürlich nicht gesagt ist, daß die Urteile, welche hier auf diese Art lauten werden, dumm sein müßten. Das Weglassen aller Begründung und Logizität, ein Ja oder Nein in der Reduktion auf ein leidenschaftliches Habenwollen oder Wegstoßen, eine imperativische Abkürzung, deren Nützlichkeit unverkennbar ist: das ist Lust und Unlust. Ihr Ursprung ist in der Zentralsphäre des Intellekts; ihre Voraussetzung ist ein unendlich beschleunigtes Wahrnehmen, Ordnen, Subsummieren, Nachrechnen, Folgern: Lust und Unlust sind immer Schlußphänomene, keine „Ursachen“.

Die Entscheidung darüber, was Unlust und Lust erregen soll, ist vomGrade der Machtabhängig: dasselbe, was in Hinsicht auf ein geringes Quantum Macht als Gefahr und Nötigung zu schnellster Abwehr erscheint, kann bei einem Bewußtsein größerer Machtfülle eine wollüstige Reizung, ein Lustgefühl als Folge haben.

Alle Lust- und Unlustgefühle setzen bereits einMessen nach Gesamtnützlichkeit, Gesamtschädlichkeitvoraus: also eine Sphäre, wo das Wollen eines Ziels (Zustandes) und ein Auswählen der Mittel dazu stattfindet. Lust und Unlust sind niemals „ursprüngliche Tatsachen“.

Lust- und Unlustgefühle sindWillensreaktionen(Affekte), in denen das intellektuelle Zentrum den Wert gewisser eingetretener Veränderungen zum Gesamtwert fixiert, zugleich als Einleitung von Gegenaktionen.

Wie weit unserIntellekteine Folge von Existenzbedingungen ist – : wir hätten ihn nicht, wenn wir ihn nichtnötighätten, und hätten ihn nichtso, wenn wir ihn nichtsonötig hätten, wenn wir auchandersleben könnten.

Man müßtewissen, wasSeinist, um zuentscheiden, ob dies und jenes realist(zum Beispiel „die Tatsachen des Bewußtseins“); ebenso wasGewißheitist, wasErkenntnisist und dergleichen. – Da wir das aber nicht wissen, so ist eine Kritik des Erkenntnisvermögens unsinnig: wie sollte das Werkzeug sich selbst kritisieren können, wenn es eben nur sich zur Kritik gebrauchen kann? Es kann nicht einmal sich selbst definieren!

Was kann alleinErkenntnissein? – „Auslegung“, Sinnhineinlegen, –nicht„Erklärung“ (in den meisten Fällen eine neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordene Auslegung, die jetzt selbst nur Zeichen ist). Es gibt keinen Tatbestand; alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsre Meinungen.

Die Voraussetzung, daß es im Grunde der Dinge so moralisch zugeht, daß diemenschliche Vernunft recht behält, – ist eine Treuherzigkeit und Biedermannsvoraussetzung, die Nachwirkung des Glaubens an die göttliche Wahrhaftigkeit – Gott als Schöpfer der Dinge gedacht. – Die Begriffe eine Erbschaft aus einer jenseitigen Vorexistenz – –

Erster Satz. DieleichtereDenkweise siegt über die schwierigere; – alsDogma:simplex sigillum veri. –Dico: daß dieDeutlichkeitetwas für Wahrheit ausweisen soll, ist eine vollkommene Kinderei....

Zweiter Satz. Die Lehre vomSein, vom Ding, von lauter festen Einheiten isthundertmal leichterals die Lehre vomWerden, von der Entwicklung....

Dritter Satz. Die Logik war alsErleichterunggemeint: alsAusdrucksmittel, –nichtals Wahrheit.... Späterwirktesie alsWahrheit....

Was ist Wahrheit?–Inertia;dieHypothese, bei welcher Befriedigung entsteht: geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw.

Eine Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung erprobte,bewieseneLebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum Bewußtsein, alsdominierend.... Und damit tritt die ganze Gruppe verwandter Werte und Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig, wahrhaft; es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunftvergessenwird.... Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist....

Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit denKategorien der Vernunft: dieselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit.... Es kam ein Punkt, wo man sich zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte – und wo man siebefahl, das heißt, wo sie wirkten alsbefehlend.... Von jetzt ab galten sie alsa priori, als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar. Und doch drücken sie vielleicht nichts aus, als eine bestimmte Rassen- und Gattungszweckmäßigkeit, – bloß ihre Nützlichkeit ist ihre „Wahrheit“ –

Daß derWert der Weltin unserer Interpretation liegt (– daß vielleicht irgendwo noch andre Interpretationen möglich sind, als bloß menschliche –), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, das heißt im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jedeErhöhung des Menschendie Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt – das geht durch meine Schriften. Die Welt, dieuns etwas angeht, ist falsch, das heißt, ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist „im Flusse“, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine „Wahrheit“.

Die bestgeglaubten apriorischen „Wahrheiten“ sind für mich –Annahmen bis auf weiteres, zum Beispiel das Gesetz der Kausalität, sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daßnicht daranglauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehen bleibt!

Die Verirrung der Philosophie ruht darauf, daß man, statt in der Logik und den Vernunftkategorien Mittel zu sehen zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeitszwecken (also „prinzipiell“ zu einer nützlichenFälschung), man in ihnen das Kriterium der Wahrheit, respektive derRealitätzu haben glaubte. Das „Kriterium der Wahrheit“ war in der Tat bloß diebiologische Nützlichkeit eines solchen Systems prinzipieller Fälschung: und da eine Gattung Tier nichts Wichtigeres kennt, als sich zu erhalten, so dürfte man in der Tat hier von „Wahrheit“ reden. Die Naivität war nur die, die anthropozentrische Idiosynkrasie alsMaß der Dinge, als Richtschnur über „real“ und „unreal“ zu nehmen: kurz, eine Bedingtheit zu verabsolutisieren. Und siehe da, jetzt fiel mit einem Mal die Welt auseinander in eine „wahre“ Welt und eine „scheinbare“: und genau die Welt, in der der Mensch zu wohnen und sich einzurichten seine Vernunft erfunden hatte, genau dieselbe wurde ihm diskreditiert. Statt die Formen als Handhabe zu benutzen, sich die Welt handlich und berechenbar zu machen, kam der Wahnsinn der Philosophen dahinter, daß in diesen Kategorien der Begriff jener Welt gegeben ist, dem die andere Welt, die, in der man lebt, nicht entspricht.... Die Mittel wurden mißverstanden als Wertmaß, selbst als Verurteilung der Absicht....

Die Absicht war, sich auf eine nützliche Weise zu täuschen: die Mittel dazu die Erfindung von Formeln und Zeichen, mit deren Hilfe man die verwirrende Vielheit auf ein zweckmäßiges und handliches Schema reduzierte.

Aber wehe! jetzt brachte man eineMoralkategorieins Spiel: kein Wesen will sich täuschen, kein Wesen darf täuschen, – folglich gibt es nur einen Willen zur Wahrheit. Was ist „Wahrheit“?

Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung und kein Ende.

Das ist der größte Irrtum, der begangen worden ist, das eigentliche Verhängnis des Irrtums auf Erden: man glaubte ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, – während man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge Weise die Realitätmißzuverstehen....

Und siehe da: jetzt wurde die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen,die ihre Realität ausmachen, Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg.

Und nun war das ganze Verhängnis da:

1. Wie kommt man los von der falschen, der bloß scheinbaren Welt? (– es war die wirkliche, die einzige);

2. wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren Welt? (Begriff des vollkommenen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen, deutlicher, alsWiderspruch zum Leben....)

Die ganze Richtung der Werte war aufVerleumdung des Lebensaus; man schuf eine Verwechslung des Idealdogmatismus mit der Erkenntnis überhaupt: so daß die Gegenpartei immer nun auch dieWissenschaftperhorreszierte.

Der Weg zur Wissenschaft war dergestaltdoppeltversperrt: einmal durch den Glauben an die „wahre“ Welt, und dann durch die Gegner dieses Glaubens. Die Naturwissenschaft, Psychologie war 1. in ihren Objekten verurteilt, 2. um ihre Unschuld gebracht....

In der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend etwas verurteilen undwegdenken, alles wegdenken und verurteilen. Das Wort „das sollte nicht sein“, „das hätte nicht sein sollen“ ist eine Farce.... Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinneschädlich,zerstörerischist. Die Physiologie demonstriert es jabesser!

– Wir sehen, wie die Morala) die ganze Weltauffassungvergiftet,b) den Weg zur Erkenntnis, zurWissenschaftabschneidet,c) alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt (indem sie deren Wurzeln alsunmoralischempfinden lehrt).

Wir sehen ein furchtbares Werkzeug derdécadencevor uns arbeiten, das sich mit den heiligsten Namen und Gebärden aufrecht hält.

Zur „logischen Scheinbarkeit“.– Der Begriff „Individuum“ und „Gattung“ gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich. „Gattung“ drückt nur die Tatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten, und daß das Tempo im Weiterwachsen und Sichverändern eine lange Zeit verlangsamt ist: so daß die tatsächlichen kleinen Fortsetzungen und Zuwachse nicht sehr in Betracht kommen (– eine Entwicklungsphase, bei der das Sichentwickeln nicht in die Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht erreichtscheint, und die falsche Vorstellung ermöglicht wird,hier sei ein Ziel erreicht– und es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben....).

DieFormgilt als etwas Dauerndes und deshalb Wertvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden; und wenn noch so oft „dieselbe Form erreicht wird“, so bedeutet das nicht, daß esdieselbe Form ist, – sondern eserscheint immer etwas Neues– und nur wir, die wir vergleichen, rechnen das Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die Einheit der „Form“. Als ob einTypuserreicht werden sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und innewohne.

DieForm, dieGattung, dasGesetz, dieIdee, derZweck– hier wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendwelchen Gehorsam in sich trage, – eine künstliche Scheidung im Geschehen wird da gemacht zwischen dem,wastut, und dem,wonachdas Tun sich richtet (aber daswasund daswonachsind nur angesetzt aus einem Gehorsam gegen unsre metaphysisch-logische Dogmatik: kein „Tatbestand“).

Man soll dieseNötigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze zu bilden („eine Welt der identischen Fälle“) nicht so verstehen, als ob wir damit diewahre Weltzu fixieren imstande wären; sondern als Nötigung, uns eine Welt zurecht zu machen, bei derunsre Existenzermöglicht wird: – wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist.

Diese selbe Nötigung besteht in derSinnenaktivität, welche der Verstand unterstützt – durch Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten, auf dem alles „Wiedererkennen“, alles Sich-verständlich-machen-können beruht. UnsreBedürfnissehaben unsre Sinne so präzisiert, daß die „gleiche Erscheinungswelt“ immer wiederkehrt und dadurch den Anschein derWirklichkeitbekommen hat.

Unsre subjektive Nötigung, an die Logik zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst, bevor uns die Logik selber zum Bewußtsein kam, nichts getan habenals ihre Postulate in das Geschehen hineinlegen: jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor –, wir können nicht mehr anders – und vermeinen nun, diese Nötigung verbürge etwas über die „Wahrheit“. Wir sind es, die das „Ding“, das „gleiche Ding“, das Subjekt, das Prädikat, das Tun, das Objekt,die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob- und Einfachmachenam längsten getrieben haben. Die Welterscheintuns logisch, weilwirsie erst logisierthaben.

Die fortwährenden Übergänge erlauben nicht, von „Individuum“ usw. zu reden; die „Zahl“ der Wesen ist selber im Fluß. Wir würden nichts von Zeit und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, „Ruhendes“ neben Bewegtem zu sehen glaubten. Ebensowenig von Ursache und Wirkung, und ohne die irrtümliche Konzeption des „leeren Raumes“ wären wir gar nicht zur Konzeption des Raums gekommen. Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den „Augenschein“, daß es gleiche Dinge gibt. Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht „begriffen“, nicht „erkannt“ werden; nur insofern der „begreifende“ und „erkennende“ Intellekt eine schon geschaffene grobe Welt vorfindet, gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest geworden, insofern diese Art Schein das Leben erhalten hat – nur insofern gibt es etwas wie „Erkenntnis“: das heißt ein Messen der früheren und der jüngeren Irrtümer aneinander.

In einer Welt, die wesentlich falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit einewidernatürliche Tendenz: eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderenhöheren Potenz von Falschheit. Damit eine Welt des Wahren, Seienden fingiert werden konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (eingerechnet, daß ein solcher sich „wahrhaftig“ glaubt).

Einfach, durchsichtig, mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte, Vorhang, Form: ein Mensch derart konzipiert eine Welt des Seins als „Gott“ nach seinem Bilde.

Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein: es mußder Vorteil in jedem Sinne auf Seiten des Wahrhaftigen sein. – Lüge, Tücke, Verstellung müssen Erstaunen erregen....

Wenn der Charakter des Daseins falsch sein sollte – das wäre nämlich möglich –, was wäre dann die Wahrheit, alle unsere Wahrheit?... Eine gewissenlose Umfälschung des Falschen? Eine höhere Potenz des Falschen?....

Von derVielartigkeitder Erkenntnis.SeineRelation zu vielem anderen spüren (oder die Relation der Art) – wie sollte das „Erkenntnis“ desandernsein! Die Art zu kennen und zu erkennen ist selber schon unter den Existenzbedingungen: dabei ist der Schluß, daß es keine anderen Intellektarten geben könne (für uns selber) als die, welche uns erhält, eine Übereilung: diesetatsächlicheExistenzbedingung ist vielleicht nur zufällig und vielleicht keineswegs notwendig.

Unser Erkenntnisapparat nicht auf „Erkenntnis“eingerichtet.

„Denknotwendigkeiten sind Moralnotwendigkeiten.“

Herbert Spencer.

„Der letzte Prüfstein für die Wahrheit eines Satzes ist die Unbegreiflichkeit ihrer Verneinung.“

Herbert Spencer.

Es könnte scheinen, als ob ich der Frage nach der „Gewißheit“ ausgewichen sei. Das Gegenteil ist wahr: aber indem ich nach dem Kriterium der Gewißheit fragte, prüfte ich, nach welchem Schwergewichte überhaupt bisher gewogen worden ist – und daß die Frage nach der Gewißheit selbst schon eineabhängigeFrage sei, eine FragezweitenRanges.

Das Begierdenerdreich, aus dem dieLogikherausgewachsen ist: Herdeninstinkt im Hintergrunde. Die Annahme der gleichen Fälle setzt die „gleiche Seele“ voraus.Zum Zweck der Verständigung und Herrschaft.

ZurEntstehung der Logik. Der fundamentale Hang,gleichzusetzen,gleichzusehenwird modifiziert, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch denErfolg: es bildet sich eine Anpassung aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen kann, ohne zugleich das Leben zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser ganze Prozeß ist ganz entsprechend jenem äußeren, mechanischen (der sein Symbol ist), daß dasPlasmafortwährend, was es sich aneignet, sich gleich macht und in seine Formen und Reihen einordnet.

DieAnnahme des Seiendenist nötig, um denken und schließen zu können: die Logik handhabt nur Formeln für Gleichbleibendes. Deshalb wäre diese Annahme noch ohne Beweiskraft für die Realität: „das Seiende“ gehört zu unsrer Optik. Das „Ich“ als seiend (– durch Werden und Entwicklung nicht berührt).

DiefingierteWelt von Subjekt, Substanz, „Vernunft“ usw. istnötig– : eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns. „Wahrheit“ ist Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen: – die Phänomeneaufreihenauf bestimmte Kategorien. Hierbei gehen wir vom Glauben an das „An-sich“ der Dinge aus (wir nehmen die Phänomene alswirklich).

Der Charakter der werdenden Welt alsunformulierbar, als „falsch“, als „sich-widersprechend“.ErkenntnisundWerdenschließen sich aus.Folglichmuß „Erkenntnis“ etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbarmachen vorangehen, eine Art Werden selbst muß dieTäuschung des Seiendenschaffen.

Ein- und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine „Notwendigkeit“ aus,sondern nur ein Nichtvermögen.

Wenn, nach Aristoteles, derSatz vom Widerspruchder gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführungen zurückgehen, wenn in ihm das Prinzip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungenvoraussetzt. Entweder wird mit ihm etwas in betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob man es anderswoher bereits kennte; nämlich, daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werdenkönnen. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werdensollen. Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt,die uns wahr heißen soll.

Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maßstäbe und Mittel, um Wirkliches, den Begriff „Wirklichkeit“, für uns erst zuschaffen?.... Um das Erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also keinKriterium der Wahrheit, sondern einenImperativüber das, was als wahr geltensoll.

Gesetzt, es gäbe ein solches sich-selbst-identischesAgar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der Mathematik) voraussetzt, dasAwäre bereits eineScheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloßscheinbareWelt zur Voraussetzung. In der Tat glauben wir an jenen Satz unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zubestätigenscheint. Das „Ding“ – das ist das eigentliche Substrat zuA;unser Glaube an Dingeist die Voraussetzung für den Glauben an die Logik. DasAder Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion des „Dinges“.... Indem wir das nicht begreifen und aus der Logik ein Kriterium deswahren Seinsmachen, sind wir bereits auf dem Wege, alle jene Hypostasen: Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion usw. als Realitäten zu setzen: das heißt eine metaphysische Welt zu konzipieren, das heißt eine „wahre Welt“ (–diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal....).

Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und Verneinen, das Für-wahr-halten und das Nicht-für-wahr-halten, sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein Recht voraussetzen, überhaupt für wahr zu halten oder für unwahr zu halten, bereits von einem Glauben beherrscht,daß es für uns Erkenntnis gibt, daßUrteilen wirklich die Wahrheit treffen könne: – kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können (nämlich, daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommenkönnen).

Hierregiertdas sensualistische grobe Vorurteil, daß die Empfindungen unsWahrheitenüber die Dinge lehren, – daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und demselben Ding sagen kann, es isthartund es istweich. (Der instinktive Beweis, „ich kann nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben“ –ganz grobundfalsch.)

Das begriffliche Widerspruchsverbot geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bildenkönnen, daß ein Begriff das Wesen eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondernfaßt.. Tatsächlich gilt dieLogik(wie die Geometrie und Arithmetik) nur vonfingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch,nach einem von uns gesetzten Seinsschema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen....

Gleichheit und Ähnlichkeit.

1. Das gröbere Organ sieht viel scheinbare Gleichheit;

2. der GeistwillGleichheit, das heißt einen Sinneneindruck subsummieren unter eine vorhandene Reihe: ebenso wie der Körper Unorganisches sichassimiliert.

Zum Verständnis derLogik:

der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht– der Glaube, daß etwas so und sosei(das Wesen desUrteils), ist die Folge eines Willens, essollso viel als möglich gleich sein.

Die Logik ist geknüpft an die Bedingung:gesetzt, es gibt identische Fälle. Tatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde,muß dieseBedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zurlogischen Wahrheitkann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzlicheFälschungalles Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung und dann der Durchführung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht aus dem Willen zur Wahrheit.

Die logische Bestimmtheit, Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit („omne illud verum est, quod clare et distincte percipitur“ Descartes): damit ist die mechanische Welthypothese erwünscht und glaublich.

Aber das ist eine grobe Verwechslung: wiesimplex sigillum veri. Woher weiß man das, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge indiesemVerhältnis zu unserm Intellekt steht? – Wäre es nicht anders? daß die ihm am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihmbevorzugt, geschätzt und folglichalswahrbezeichnet wird? – Der Intellekt setzt seinfreiestesundstärkstes VermögenundKönnenals Kriterium der Wertvollsten, folglichWahren....

„Wahr“: von seiten des Gefühls aus – : was das Gefühl am stärksten erregt („Ich“);

von seiten des Denkens aus – : was dem Denken das größte Gefühl von Kraft gibt;

von seiten des Tastens, Sehens, Hörens aus – : wobei am stärksten Widerstand zu leisten ist.

Also diehöchsten Grade in der Leistungerwecken für dasObjektden Glauben an dessen „Wahrheit“, das heißtWirklichkeit. Das Gefühl der Kraft, des Kampfes, des Widerstandes überredet dazu, daß es etwasgibt, dem hier widerstanden wird.

DasUrteil– das ist der Glaube: „dies und dies ist so.“ Also steckt im Urteil das Geständnis, einem „identischen Fall“ begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses. Das Urteil schafft esnicht, daß ein identischer Fall da zu sein scheint. Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen; es arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle gibt. Wie heißt nun jene Funktion, die vielälter, früher arbeitend sein muß, welche an sich ungleiche Fälle ausgleicht und verähnlicht? Wie heißt jene zweite, welche auf Grund dieser ersten usw. „Was gleiche Empfindungen erregt, ist gleich“: wie aber heißt das, was Empfindungen gleich macht, als gleich „nimmt“? – Es könnte gar keine Urteile geben, wenn nicht erst innerhalb der Empfindungen eine Art Ausgleichung geübt wäre: Gedächtnis ist nur möglich mit einem beständigen Unterstreichen des schon Gewohnten, Erlebten. –Bevorgeurteilt wird,muß der Prozeß der Assimilation schon getan sein: also liegt auch hier eine intellektuelle Tätigkeit vor, die nicht ins Bewußtsein fällt, wie beim Schmerz infolge einer Verwundung. Wahrscheinlich entspricht allen organischen Funktionen ein inneres Geschehen, also ein Assimilieren, Ausscheiden, Wachsen usw.


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