Intrigen

Intrigen

Doktor Schelestow, der Urheber des Zwischenfalles vom 2. Oktober, macht sich bereit, in diese Sitzung zu gehen; er steht schon lange vor dem Spiegel und bemüht sich, seinem Gesicht einen matten Ausdruck zu verleihen. Wenn er in der Sitzung mit einem aufgeregten, gespannten, roten oder allzublassen Gesicht erscheint, werden sich seine Feinde einbilden können, daß er ihren Intrigen allzuviel Bedeutung beimesse; wenn aber sein Gesicht kalt, leidenschaftslos, gleichsam verschlafen sein wird, wie bei Menschen, die über der Menge stehen und vom Leben ermüdet sind, so werden diese Feinde bei seinem Anblick Respekt vor ihm empfinden und sich denken:

Sein unbeugsames Haupt ragt höher als das DenkmalDes Siegers, der Napoleon bezwang!

Sein unbeugsames Haupt ragt höher als das DenkmalDes Siegers, der Napoleon bezwang!

Als ein Mensch, der sich für seine Feinde und ihre Ränke sehr wenig interessiert, wird er in die Sitzung später als alle kommen. Er wird lautlos in den Saal treten, sich mit einer müden Gebärde das Haar zurechtstreichen und sich, ohne jemand anzublicken, ans äußerste Ende des Tisches setzen. Er wird die Pose eines gelangweilten Zuhörers annehmen, kaum merklich gähnen, irgendeine Zeitung vom Tische nehmen und lesen … Alle werden reden, streiten, sich ereifern, einander zur Ordnung rufen, er aber wird schweigen und in die Zeitung blicken. Endlich wird abersein Name immer häufiger genannt werden und die brennende Frage in Weißglut übergehen; er wird seine gelangweilten, müden Augen auf die Kollegen heben und wie widerwillig sagen:

»Man zwingt mich zu sprechen … Ich habe mich darauf nicht vorbereitet, meine Herren, verzeihen Sie mir darum, wenn meine Rede etwas mangelhaft ausfallen wird. Ich will ab ovo anfangen … In der letzten Sitzung haben gewisse verehrte Kollegen erklärt, daß ich mich bei Konsilien nicht so benehme, wie sie es gerne möchten, und von mir Erklärungen verlangt. Da ich alle Erklärungen für überflüssig und die gegen mich erhobenen Vorwürfe für unbegründet hielt, bat ich, mich aus dem Verein auszuschließen, und verließ die Sitzung. Aber jetzt, wo gegen mich eine neue Serie von Anklagen erhoben wird, sehe ich zu meinem Leidwesen ein, daß ich dennoch zu Erklärungen greifen muß. Ich will also solche abgeben.«

Dann wird er, zerstreut mit dem Bleistifte oder mit der Uhrkette spielend, sagen, daß er bei den Konsilien oft tatsächlich die Stimme erhoben und die Kollegen unterbrochen habe, ohne sich um die Gegenwart Fremder zu kümmern; es sei auch wahr, daß er bei einem Konsilium den Patienten in Gegenwart der Ärzte und der Angehörigen gefragt habe: »Welcher Dummkopf hat Ihnen Opium verschrieben?« Fast kein einziges Konsilium sei ohne einen Zwischenfall abgelaufen … Aber warum? Sehr einfach. Bei jedem Konsilium müsse er, Schelestow, über das tiefe Niveau der Fachkenntnisse seiner Kollegen staunen. Es gäbe in der Stadt zweiunddreißig Ärzte, und die meisten von ihnen wüßten weniger als jeder Student im ersten Semester. Nach Beispielen brauche man nicht weit zu gehen. Nomina sunt, natürlich, odiosa, aber in der Sitzung sei man doch unter sich, also könne er, um nicht abstrakt zu sein, die Namen nennen. Allen sei es z. B. bekannt, daß der verehrte Herr Kollege von Bronn der Beamtenfrau Sserjoschkina mit einer Sonde die Speiseröhre durchbohrt habe …

Der Kollege von Bronn wird in diesem Augenblick aufspringen, die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen und aufschreien:

»Herr Kollege, Sie haben sie durchbohrt und nicht ich! Sie! Und ich werde es Ihnen beweisen!«

Schelestow wird ihm nicht die geringste Beachtung schenken und fortfahren:

»Es ist auch allen bekannt, daß der verehrte Kollege Schila bei der Schauspielerin Semiramidina eine Wanderniere für einen Abszeß angesehen und einen Probedurchstich gemacht hat, was sehr bald zu einem exitus letalis führte. Der verehrte Kollege Besstrunko hat, statt einen Nagel an der großen Zehe des linken Fußes zu exstirpieren, den gesunden Nagel am rechten Fuß exstirpiert. Ich darf auch nicht den Fall unerwähnt lassen, wo unser verehrter Herr Kollege Tercharjanz dem Soldaten Iwanow die Eustachischen Röhren mit solchem Eifer katheterisierte, daß dem Patienten beide Trommelfelle platzten. Bei dieser Gelegenheit will ich noch erwähnen, daß derselbe Kollege einem Patienten beim Zahnziehen den Unterkiefer ausgerenkt hat und ihn nicht früher wieder einrenken wollte, als bis der Patient sich bereit erklärte, ihm für das Einrenken fünf Rubel zu bezahlen. Der verehrte Kollege Kurizyn ist mit einer Nichte des Apothekers Grummer verheiratet und hat mit ihm ein gewisses Abkommen getroffen. Es ist auch allen bekannt, daß unser Vereinssekretär, der junge Kollege Skoropalitelnyj mit der Gattin unseres verehrten Herrn Vorsitzenden Gustav Gustavowitsch Prechtel ein Verhältnis hat …

Vom tiefen Niveau des Wissens bin ich allmählich auf Verstöße gegen die ethischen Grundsätze zu sprechen gekommen. Um so besser. Die Ethik ist unser wunder Punkt, meine Herren, und um nicht abstrakt zu sprechen, will ich Ihnen unseren verehrten Kollegen Pusyrkow nennen, der bei einer Namenstagsfeier bei der Oberstenwitwe Treschtschinskaja erzählt hat, daß nicht Skoropalitelnyj das Verhältnis mit der Gattin unseres Vorsitzenden habe, sondern ich! Das wagt derselbe Herr Pusyrkow zu sagen, den ich im vorigen Jahre mit der Gattin unseres verehrten Kollegen Snobisch erwischt habe! Übrigens, Dr. Snobisch … Wer genießt das Renommee eines Arztes, von dem sich behandeln zu lassen für die Damen nicht ganz ungefährlich ist? – Snobisch … Wer hat eine Kaufmannstochter wegen der Mitgift geheiratet? – Snobisch! Was aber unseren verehrten Vorsitzenden betrifft, so treibt er heimlich Homöopathie und bekommt von den Preußen Geld für Spionage. Ein preußischer Spion – das ist schon wirklich ultima ratio!«

Ärzte, die klug und als gewandte Redner erscheinen möchten, gebrauchen immerdiese beiden lateinischen Ausdrücke: »nomina sunt odiosa« und »ultima ratio«. Schelestow wird nicht nur lateinisch, sondern auch französisch und deutsch, in jeder beliebigen Sprache sprechen! Er wird alle bezichtigen und allen Intriganten die Masken herunterreißen; der Vorsitzende wird müde werden, die Glocke zu schwingen, die verehrten Kollegen werden von ihren Plätzen aufspringen und mit den Händen fuchteln … Die Kollegen mosaischer Konfession werden sich zu einem Haufen zusammendrängen und ein Geschrei erheben.

Schelestow wird aber, ohne jemand anzublicken, fortfahren:

»Was aber unseren Verein betrifft, so muß er bei dem jetzigen Mitgliederbestand und den jetzt herrschenden Ordnungen unbedingt zugrunde gehen. Alles ist darin ausschließlich auf Intrigen begründet. Intrigen, Intrigen und Intrigen! Als eines der Opfer dieser einen großen, teuflischen Intrige halte ich mich für verpflichtet, folgendes zu erklären:«

Er wird reden, und seine Partei wird applaudieren und sich triumphierend die Hände reiben. Unter einem unbeschreiblichen Lärm und Donner wird man zur Wahl des Vorsitzenden schreiten. Von Bronn & Co. werden ihren ganzen Einfluß für Prechtel einsetzen, aber das Publikum und die wohlgesinnten Ärzte werden sie auszischen und schreien:

»Nieder mit Prechtel! Wir wollen Schelestow! Schelestow!«

Schelestow nimmt die Wahl an, aber unter der Bedingung, daß Prechtel und von Bronn sich bei ihm wegen des Zwischenfalls vom 2. Oktober entschuldigen. Wieder erhebt sich ein ohrenbetäubender Lärm, wieder drängen sich die verehrten Kollegen mosaischer Konfession zu einem Haufen zusammen und schreien … Prechtel und von Bronn sind empört und bitten schließlich, sie nicht mehr als Mitglieder des Vereins anzusehen. Um so besser!

Schelestow ist Vorsitzender. Vor allen Dingen reinigt er den Augiasstall. Snobisch muß hinaus! Tercharjanz muß hinaus! Die verehrten Kollegen mosaischer Konfession müssen hinaus! Mit seiner Partei wird er es erreichen, daß bis zum Januar im Verein kein einziger Intrigant übrig bleibt. Im Ambulatorium des Vereins wird er zunächst die Wände streichen lassen und ein Plakat anbringen: »Rauchenstrengstens verboten«; dann wird er den Feldscher und die Feldscherin hinausschmeißen, die Medikamente nicht von Grummer, sondern von Chrasczebicki beziehen, den Ärzten vorschlagen, keine einzige Operation ohne seine Aufsicht auszuführen usw. Vor allen Dingen wird aber auf seinen Visitkarten stehen: »Vorsitzender des Ärztevereins zu N.«

So träumt Schelestow, bei sich zu Hause vor dem Spiegel stehend. Da schlägt aber die Uhr sieben und erinnert ihn daran, daß er in die Sitzung muß. Er erwacht aus seinen süßen Träumen und beeilt sich, seinem Gesicht den matten Ausdruck zu verleihen, aber das Gesicht will ihm nicht gehorchen und nimmt einen sauren und stumpfen Ausdruck an, wie bei einem erfrorenen jungen Hofhund; er will, daß es solid sei, es wird aber lang und drückt Bestürztheit aus, und nun scheint es ihm, daß er nicht mehr einem Hund, sondern einem Gänserich gleiche. Er senkt die Lider, kneift die Augen zusammen, bläht die Backen, runzelt die Stirne, aber es ist zum Verzweifeln: es kommt dabei etwas ganz anderes heraus als er möchte. Die natürlichen Eigenschaften dieses Gesichts sind wohl derart, daß mit ihm nichts anzufangen ist. Die Stirne ist niedrig, die kleinen Äuglein schweifen unruhig umher wie bei einer unreellen Händlerin, der Unterkiefer steht so dumm und blöd hervor, und die Wangen und die Frisur sehen so aus, als hätte man den »verehrten Kollegen« soeben aus einem Billardlokal hinausgeschmissen.

Schelestow betrachtet sein Gesicht, ärgert sich, und es kommt ihm schon vor, daß auch das Gesicht gegen ihn intrigiere. Er geht ins Vorzimmer und macht sich fertig, und es scheint ihm, als intrigierten auch der Pelz, die Gummischuhe und die Mütze gegen ihn.

»Kutscher, ins Ambulatorium!« schreit er.

Er bietet zwanzig Kopeken, aber der Intrigant von einem Droschkenkutscher verlangt fünfundzwanzig … Er setzt sich in die Droschke und fährt, aber der kalte Wind weht ihm ins Gesicht, der nasse Schnee blendet ihm die Augen, und das elende Pferd schleppt sich unerträglich langsam. Alles hat sich verschworen und intrigiert … Intrigen, Intrigen und Intrigen!


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