Vierter Teil

Vierter Teil

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich mich plötzlich im Krankenhaus des Doktor Werner, meines alten Genossen, befand. Es war das Kreiskrankenhaus eines der nördlichen Gouvernements, das mir schon lange aus Werners Briefen bekannt war. Das Gebäude befand sich einige Werst von der Gouvernementsstadt entfernt, war äußerst schlecht geleitet, stets überfüllt, hatte zum wirtschaftlichen Verwalter einen großen Betrüger und verfügte über ein zahlenmäßig geringes, stark überarbeitetes Personal. Doktor Werner sah sich gezwungen, zusammen mit der äußerst liberalen Kreisverwaltung einen erbitterten Kampf gegen den wirtschaftlichen Verwalter zu führen, gegen die von diesem äußerst schlecht geleiteten Baracken, gegen den Bau der Kirche, den der Verwalter um jeden Preis beendigen wollte, sowie um die angemessene Entlohnung der Angestellten usw. Die Kranken starben aus Schwäche statt zu gesunden, wurden infolge der schlechten Luft und ungenügenden Nahrung von der Tuberkulose befallen. Werner selbst hätte natürlich schon längst das Krankenhaus verlassen, würden ihn nicht ganz besondere, mit seiner revolutionären Vergangenheit zusammenhängende Umstände dort festgehalten haben.

Mich ließen alle diese Reize des Krankenhauses kalt. Werner war ein ausgezeichneter Genosse und zögerte nicht, mir seine Bequemlichkeit zu opfern. Er überließ mir in der großen Wohnung, auf die er als erster Arzt ein Anrecht besaß, zwei Stuben; in der anstoßenden dritten wohnte ein junger Feldscher, in der vierten, die dem Schein nach der Krankenpflege diente, verbarg sich ein verfolgter Genosse. Freilichumgab mich keine besondere Behaglichkeit, und die Aufsicht, der ich unterworfen war, dünkte mich trotz dem großen Taktgefühl des jungen Genossen weit stärker ausgeprägt und fühlbarer, als auf dem Mars. Doch war mir all dies völlig gleichgültig. Doktor Werner verabreichte mir ebenso wie die Aerzte auf dem Mars fast keine Medizin, gab mir nur bisweilen ein Schlafmittel ein und sorgte vor allem dafür, daß ich Ruhe habe und mich wohl fühle. Allmorgendlich und allabendlich suchte er mich nach dem Bad auf, das mir der fürsorgliche Genosse zu bereiten pflegte. Doch dauerte sein Besuch stets nur wenige Minuten, und er beschränkte sich auf die Frage, ob ich nichts brauche. In den langen Monaten meiner Krankheit hatte ich mir das Sprechen fast abgewöhnt und begnügte mich damit, nein zu sagen, oder aber überhaupt keine Antwort zu geben. Seine Fürsorge jedoch störte mich, denn ich fühlte, daß ich eine derartige Behandlung gar nicht verdiene und daß ich ihm dies eigentlich mitteilen müßte. Schließlich gelang es mir auch mit Anstrengung aller Kräfte, ihm zu bekennen, daß ich ein Mörder und Verräter sei und daß durch meine Schuld die ganze Menschheit zugrunde gehen müsse. Er widersprach nicht, lächelte bloß und kam von da an häufiger.

Allmählich übte die Umgebung auf mich eine heilsame Wirkung aus. Der Schmerz krampfte mir weit weniger stark das Herz zusammen, die Qual verblaßte, die Gedanken wurden beweglicher, ihre Färbung wurde heller. Ichbegann das Zimmer zu verlassen, im Garten und im Hain zu spazieren. Irgendeiner der Genossen hielt sich immer in meiner Nähe auf; das war peinlich, doch begriff ich sehr wohl, daß man einen Mörder nicht frei umhergehen lassen könne. Bisweilen sprach ich auch mit den Genossen, freilich nur über gleichgültige Dinge.

Es war zu Beginn des Frühlings, und die Wiedergeburt des Lebens ringsum schwächte ein wenig das Qualvolle meiner Erinnerungen ab; das Zwitschern der Vögel rief in mir eine gewisse traurige Beruhigung wach, erweckte den Gedanken,daß wenigstens sie nicht vergehen würden, sondern weiter leben, und daß nur die Menschen verloren seien. Einmal begegnete mir im Hain ein Schwachsinniger, der sich unter Aufsicht aufs Feld zur Arbeit begab. Er empfahl sich von mir mit außerordentlich stolzer Gebärde – er litt an Größenwahn, erklärte, er sei ein Gendarm, anscheinend die höchste Macht, die er während seines Lebens in der Freiheit gekannt hatte. Zum ersten Mal in meiner ganzen Krankheit mußte ich unwillkürlich lachen. Ich fühlte, daß mich das Vaterland umgebe, und gleich dem Riesen Antheus schöpfte ich, wenngleich äußerst langsam, neue Kraft aus der Heimaterde.

Als sich die Gedanken mehr meiner Umgebung zuwandten, verlangte es mich zu wissen, ob Werner und den beiden anderen Genossen bekannt sei, was sich mit mir ereignet und was ich getan hatte. Ich fragte Werner, wer mich ins Krankenhaus gebracht habe? Er erwiderte, ich sei mit zwei ihm unbekannten jungen Leuten gekommen, die nichts Genaues über meine Krankheit zu berichten wußten. Sie erklärten, mir in der Hauptstadt begegnet zu sein. Sie bemerkten, daß ich krank sei, hatten mich bereits vor der Revolution gekannt und damals durch mich von Doktor Werner gehört. Deshalb wandten sie sich nun an ihn. Sie reisten noch am gleichen Tag ab. Bei Werner hatten sie den Eindruck anständiger junger Menschen erweckt, an deren Worten nicht zu zweifeln war. Er selbst hatte mich bereits seit etlichen Jahren aus dem Auge verloren und es war ihm nicht gelungen, über mich Nachricht zu erhalten.

Ich wollte Werner über den von mir begangenen Mord berichten, doch fiel mir dies furchtbar schwer. War doch die ganze Geschichte unsäglich kompliziert, mit unzähligen Umständen verknüpft, die sie einem leidenschaftslos beurteilendenMenschen äußerst seltsam erscheinen lassen mußte. Ich erklärte Werner die Schwierigkeit und erhielt von ihm die unerwartete Antwort:

„Das beste wäre es, Sie würden mir jetzt überhaupt nichts erzählen. Derartiges ist Ihrer Genesung nicht förderlich. Ich will natürlich nicht mit Ihnen streiten, doch vermag ich an Ihre ganze Geschichte nicht zu glauben. Sie sind an Melancholie erkrankt, und diese Krankheit veranlaßt die ehrbarsten anständigsten Menschen, sich allerlei nie begangener Verbrechen zu zeihen. Das Gedächtnis unterstützt die Phantasie und erzeugt trügerische, unwahre Erinnerungen. Sie werden mir dies erst dann glauben, wenn Sie wieder hergestellt sind, deshalb ist es auch besser, die Erzählung bis zu jenem Zeitpunkt hinauszuschieben.“

Hätte dieses Gespräch einige Monate früher stattgefunden, so hätte ich zweifellos aus Werners Worten ein großes Mißtrauen und die Verachtung meiner Person herausgelesen. Jetzt jedoch, da meine Seele bereits nach Rast und Erholung suchte, faßte ich die ganze Sache anders auf. Es war mir angenehm, daß mein Verbrechen den Genossen nicht bekannt sei und daß die Tatsache angezweifelt werden könne. Ich begann von nun an immer seltener an meine Tat zu denken.

Meine Genesung machte rasche Fortschritte, nur bisweilen übermannte mich wieder die frühere Qual, doch dauerten diese Anfälle niemals lange. Werner war offensichtlich mit mir zufrieden, ich wurde auch nicht mehr so scharf beobachtet. Seiner Ansicht über meine „Phantasien“ gedenkend, bat ich ihn, mir einen typischen Fall meiner Krankheit zum Lesen zu geben, den er im Krankenhaus beobachtet und niedergeschrieben hatte. Zögernd und ungern erfüllte er meine Bitte. Er wählte aus den verschiedensten Krankheitsgeschichten eine und gab sie mir.

In dieser Krankheitsgeschichte wurde der Fall eines Bauern erzählt, den die Not aus einem entlegenen Dörfchen in eine der größten Fabriken der Hauptstadt trieb. Das Leben der großen Stadt erschütterte offensichtlich sein seelischesGleichgewicht; den Worten seiner Frau zufolge war er lange Zeit „völlig außer sich“. Dann verging dies, er lebte und arbeitete wie alle übrigen. Als in der Fabrik ein Streik ausbrach, stand er auf Seiten der Genossen. Der Streik war lange und hartnäckig, der Bauer mußte mit Frau und Kindern Hunger leiden. Plötzlich begann er sich zu grämen, machte sich Vorwürfe, weil er geheiratet und ein Kind gezeugt habe und überhaupt „gottlos“ lebe.

Dann begann er irre zu reden, wurde zuerst ins städtische Spital und von dort in das Krankenhaus seines Heimatkreises gebracht. Er behauptete steif und fest, daß er den Streik gebrochen und die Genossen verkauft habe, sowie jenen „guten Ingenieur“, der im Geheimen den Streik unterstützte, und der von der Regierung aufgehängt wurde. Zufällig kannte ich genau die ganze Geschichte des Streiks – ich arbeitete damals in der Hauptstadt – wußte genau, daß bei diesem Streik kein Verrat vorgekommen, der „gute Ingenieur“ nicht bloß nicht gehängt, sondern nicht einmal verhaftet worden war. Die Krankheit des Arbeiters endete mit seiner Genesung.

Diese Geschichte verlieh meinen Gedanken eine neue Färbung. In mir wurde der Zweifel wach, ob ich tatsächlich den Mord begangen, oder aber ob, wie Werner sagte, „die Phantasie der Melancholie“ mein Gedächtnis beeinflußt habe. Zu jener Zeit waren meine Erinnerungen an das Leben auf dem Mars seltsam verworren und verblaßt, zusammenhanglos und unvollständig, und wenngleich das Bild des Verbrechens klar in meinem Gedächtnis haftete, so verlor es sich doch in den einfachen und scharfen Eindrücken der Gegenwart. Bisweilen schüttelte ich den kleinlichen, beruhigenden Zweifel ab, erkannte klar, daß allestatsächlichso gewesen und daß es unmöglich sei, dies abzuleugnen. Dann aber kehrten Zweifel und Sophismen zurück, halfen mir, meine Gedanken von der Vergangenheit abzuwenden. Die Menschen glauben so gerne das, was ihnen angenehm ist ... Und wenngleich in der Tiefe meiner Seele die Erkenntnis lebte, daß diese Auffassung eineLüge sei, so überließ ich mich ihr dennoch freudig, wie man sich einem Glückstraum überläßt.

Heute glaube ich, daß meine Genesung ohne diese betrügerische Autosuggestion nicht so rasch und so völlig erfolgt wäre.

Werner hielt von mir sorgsam jeden Eindruck fern, der für meine Gesundheit irgendwie „schädlich“ hätte sein können. Er gestattete mir nicht, mit ihm ins Krankenhaus zu gehen, und von den dort beherbergten Geisteskranken durfte ich nur die unheilbar Schwachsinnigen und Degenerierten beobachten, die frei umhergingen und sich mit verschiedenen Arbeiten auf dem Feld, in Hain und Garten beschäftigten. Ich muß gestehen, daß mich diese Fälle nicht sonderlich interessierten, habe ich doch mein Lebtag alles Hoffnungslose, Nutzlose, für Immer-Verurteilte gehaßt. Es verlangte mich weit mehr danach, akute Fälle zu studieren, vor allem jene, bei denen die Hoffnung auf Genesung bestand, die Melancholiker und die heiteren Maniaken. Werner versprach mir, mich mit ihnen bekannt zu machen, sobald meine eigene Genesung genügend Fortschritte gemacht habe; doch schob er es immer wieder von neuem hinaus.

Noch mehr aber bemühte sich Werner, mich von dem politischen Leben der Heimat zu isolieren. Anscheinend nahm er an, meine ganze Erkrankung rühre von den furchtbaren Eindrücken der Revolution her. Er wollte nicht glauben, daß ich mich die ganze Zeit über fern der Heimat befunden habe und nicht einmal wußte, was sich hier ereignet hat. Er hielt meine Unkenntnis der Lage für bloße Vergeßlichkeit und fand diese Tatsache sei für mich und meine Gesundheit äußerst günstig. Er weigerte sich nicht nur, mir etwas über die Vorfälle zu berichten, sondern verbot dies auch meinen Wärtern; in der ganzen Wohnung war keine einzige Zeitung, keine einzigeZeitschrift aus den letzten Jahren zu finden, er verbarg alle derartigen Dinge in seinem Arbeitszimmer oder im Krankenhaus. Ich war gezwungen, auf einer unbewohnten politischen Insel zu leben.

Anfangs, da es mich einzig und allein nach Ruhe und Stille verlangte, erschien mir diese Lage sehr angenehm. Später jedoch, als meine Kräfte zunahmen, wurde es mir in der Austernschale zu eng; ich stellte an meine Gefährten allerlei Fragen, die sie, dem Gebot des Arztes gehorchend, nicht beantworteten. Ich ärgerte und langweilte mich. Versuchte, meine politische Quarantäne zu durchbrechen, Werner davon zu überzeugen, daß ich gesund genug sei, um Zeitungen lesen zu dürfen. Vergeblich; Werner erklärte, es wäre verfrüht, und er selbst werde beurteilen, wann es an der Zeit sei, meine geistige Diät abzuändern.

Nun nahm ich zur List meine Zuflucht. Es galt, in meiner Umgebung einen Spießgesellen zu finden, der seiner Freiheit nicht beraubt war. Den Feldscher für mich zu gewinnen, wäre äußerst schwierig gewesen: er hatte eine übertrieben hohe Auffassung von seiner Berufspflicht. Deshalb wandte ich mich an den anderen Krankenpfleger, den Genossen Wladimir. Bei ihm stieß ich auf keinen großen Widerstand.

Wladimir war früher Arbeiter gewesen. Fast noch ein unwissender Knabe, hatte er sich den Revolutionären angeschlossen, war aber jetzt bereits ein erfahrener Soldat. Zur Zeit eines gewaltigen Pogroms, als eine Unzahl Genossen unter den Kugeln gefallen und in den Flammen der Feuersbrunst zugrundegegangen waren, hatte er sich einen Weg durch die Menge der Pogromisten gebahnt, etliche derselben erschossen und war durch einen glücklichen Zufall mit heiler Haut davongekommen. Dann lebte er lange Zeit illegal in verschiedenen Städten und Dörfern, widmete sich der bescheidenen aber gefährlichen Aufgabe, Literatur und Waffen zu transportieren. Schließlich, als ihm schon der Boden unter den Füßen brannte, sah er sich gezwungen, bei Werner ein Versteck zu suchen.Diese Einzelheiten erfuhr ich selbstverständlich erst später. Doch bemerkte ich gleich zu Anfang, daß der junge Mann unter seiner geringen Bildung litt und daß es ihn, dem die frühere wissenschaftliche Disziplin fehlte, viel Mühe kostete, sich selbst weiterzubilden. Ich begann mich mit ihm zu beschäftigen, wir kamen gut vorwärts, und ich gewann auf ewig sein Herz. Später fiel es mir leichter, mich meinem Ziel zu nähern: Wladimir hielt nur wenig von medizinischen Anordnungen und wir zettelten eine kleine Verschwörung an, um Doktor Werners Strenge zu paralysieren. Wladimirs Erzählungen, die Zeitungen, Zeitschriften und politischen Broschüren, die er mir zusteckte, gaben mir gar bald ein Bild vom Leben der Heimat während meiner Abwesenheit.

Die Revolution war nicht glatt vor sich gegangen, hatte sich qualvoll lange hingezogen. Das aus seiner Stumpfheit erwachende Proletariat hatte anfangs, dank unerwarteter Angriffe, große Siege errungen, doch wurde es im entscheidenden Augenblick von den Bauernmassen im Stich gelassen, und die vereinigten Kräfte der Reaktion brachten ihm furchtbare Niederlagen bei. Während es für einen neuen Kampf Kräfte sammelte und die Nachhut der bäuerlichen Revolutionäre erwartete, wurden zwischen den Großgrundbesitzern und der Bourgeoisie Verhandlungen angebahnt, die ein gemeinsames Vorgehen und die Erdrosselung der Revolution bezweckten. Diese Absichten nahmen die Form einer parlamentarischen Komödie an; sie endeten infolge der unversöhnlichen Haltung der Agrarier-Reaktionäre mit einem Mißerfolg. Das Spielzeug-Parlament berief seine Mitglieder ein, jagte sie dann, eines nach dem anderen, auf die gröbste Weise wieder fort. Die Bourgeoisie, erschöpft von den Stürmen der Revolution, erschreckt durch die ersten selbstbewußten energischen Angriffe des Proletariats, ging immer weiter nach rechts. Die Bauernschaft, in ihren Massen revolutionär gesinnt, machte sich rasch die politische Erfahrung zu eigen; die Flammen zahlloser Feuersbrünste erhellten den von ihr eingeschlagenen Weg desKampfes. Die alte Macht versuchte auf blutigste Art die bäuerliche Erhebung abzuwürgen, wollte zu gleicher Zeit die Bauernschaft durch Verteilung von Grund und Boden versöhnen, doch geschah letzteres auf eine so geizige, schmutzige Art, das es völlig ergebnislos blieb. Tagtäglich ereigneten sich auf allen Seiten, von allen Parteien und Gruppen unternommene Ueberfälle. Im Lande wütete ein noch nie dagewesener, in keinem Reiche der Erde je geahnter Terror, oben und unten.

Das Land ging einem neuen entscheidenden Kampf entgegen. Doch war dieser Weg so lang und so voller Schwanken und Zweifeln, daß viele von Erschöpfung und sogar von Verzweiflung übermannt wurden. Die radikale Intelligenz, die am Kampf teilnahm, vor allem die Sympathisierenden, gingen fast vollständig ins Lager der Feinde über. Freilich bedauerte das niemand. Aber sogar unter meinen einstigen Genossen entstanden Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit. Diese Tatsache bewies mir klar, wie schwer und kraftraubend das revolutionäre Leben dieser Zeit gewesen war. Ich selbst, ein ausgeruhter Mensch, der sich der Vorrevolutionszeit und des Anfangs des Kampfes erinnerte, ohne jedoch die Härte der späteren Niederlagen erlitten zu haben, sah klar das sinnlose Untergraben der Revolution, sah, wie sehr sich alles in diesen Jahren verändert habe, wie viele neue Elemente des Kampfes hinzugekommen waren, wie unmöglich es war, das Gleichgewicht herzustellen. Die neue Woge der Revolution mußte kommen und war schon nahe.

Es gab bloß eine Möglichkeit: warten. Ich ahnte, wie qualvoll schwer unter diesen Umständen die Arbeit der Genossen sein mußte. Mich selbst verlangte es nicht, allzu rasch wieder an die Arbeit zu gehen. Und dies unabhängig von Werners Ansichten; ich fand, es sei klüger, Kräfte zu sammeln, um sie erst dann anzuwenden, wenn sie wieder ihre ganze Stärke erreicht hatten.

Auf unseren langen Spaziergängen im Hain erwogen wir, Wladimir und ich, die Aussichten und Bedingungen des bevorstehendenKampfes. Die heroisch naiven Träume und Pläne meines Gefährten erschütterten mich zutiefst, er schien mir ein edles, liebes Kind, dem ein schlichter, anspruchslos schöner Kämpfertod bevorstand, erhaben und einfach, wie sein ganzes junges Leben gewesen. Der Weg der Revolution wird mit edlen Opfern bezeichnet, und schönes Blut färbt die proletarische Fahne.

Aber nicht nur Wladimir kam mir wie ein Kind vor. Selbst Werner, dieser alte Revolutionär, erschien mir weit naiver und kindlicher, als ich früher geglaubt hatte – und das gleiche Gefühl empfand ich auch anderen Genossen, ja sogar etlichen unserer Führer gegenüber ... Alle jene Menschen, die ich auf der Erde gekannt hatte, machten auf mich den Eindruck halbkindlicher, noch nicht völlig erwachsener Wesen, die das Leben in sich und ringsum nur unklar zu erfassen vermögen, die äußeren und inneren Gewalten gehorchen. In dieser Empfindung war kein Tropfen von Selbstüberhebung, oder Verachtung, sondern tiefe Zuneigung und brüderliches Interesse für diese embryonalen Geschöpfe, die Kinder einer jungen Menschheit.

Die glühende Sommersonne schien das Eis, in dem das Leben des Landes erstarrt war, zu schmelzen. Es erwachte, und die Morgenröte neuer Stürme zeigte sich am Horizont. Aus der Tiefe drang von neuem dumpfes Murren. Diese Sonne, dieses Erwachen erwärmten meine Seele, steigerten meine Kräfte; ich fühlte, bald würde ich gesünder sein, als ich es je zuvor gewesen.

In dieser Stimmung unklarer Lebensfreude wollte ich nicht mehr an die Vergangenheit denken. Das Bewußtsein, ich sei von der ganzen Welt, von allen vergessen, tat mir wohl ... Für die Genossen wollte ich erst zu einer Zeit auferstehen,da es keinem mehr einfallen würde, mich über die Jahre meiner Abwesenheit zu befragen, es für derartiges kein Interesse geben und meine Vergangenheit in den stürmischen Wogen einer neuen Flut versunken sein werde. Bemerkte ich jedoch Tatsachen, die diese meine Hoffnung als zweifelhaft erscheinen ließen, so erfaßten mich Erregung und Unruhe, sowie eine sinnlose Feindseligkeit gegen jene, die sich noch an mich erinnern konnten.

An einem Sommerabend fand sich Werner bei der Rückkehr aus dem Krankenhaus nicht, wie gewöhnlich, im Garten ein, um sich zu erholen – er bedurfte dieser Erholung, denn der Rundgang durchs Krankenhaus ermüdete ihn sehr, – sondern suchte mich auf und begann mich ausführlich über mein Befinden zu befragen. Mir schien, als strenge er sich an, meine Antworten im Gedächtnis zu behalten. Das war etwas ungewöhnliches, und ich glaubte, er habe vielleicht durch einen Zufall meine kleine Verschwörung entdeckt. Doch merkte ich bald, daß er keinerlei Verdacht hege. Dann verließ er die Stube und begab sich in sein Arbeitszimmer. Erst eine halbe Stunde später sah ich durchs Fenster, daß er in seiner dunklen Lieblingsallee spazieren ging. Ich konnte nicht umhin, diese Kleinigkeiten zu beobachten, gab es ja in meiner Umgebung keinerlei große Vorfälle und Ereignisse. Nachdem ich verschiedene Vermutungen verworfen hatte, kam ich zu der allerwahrscheinlichsten Lösung, Werner wolle vielleicht auf eine besondere Aufforderung hin jemandem über meine Gesundheit einen Bericht schreiben. Die Post wurde ihm allmorgendlich in sein Arbeitszimmer gebracht, – vielleicht hatte er heute einen Brief erhalten, der sich nach mir erkundigte.

Von wem war dieser Brief, was bezweckte er? Ich mußte dies unbedingt erfahren, um meine Seelenruhe wiederzufinden. Werner selbst zu befragen, wäre vergeblich gewesen – er schien einen besonderen Grund zu haben, mir den Brief zu verheimlichen, hätte sonst von selbst darüber gesprochen. Ob vielleicht Wladimir etwas wußte? Aber es erwies sich, daßauch ihm nichts bekannt war. Ich überlegte, auf welche Art und Weise ich die Wahrheit erfahren könnte.

Wladimir war zu jedem Dienst bereit. Meine Neugierde erschien ihm völlig berechtigt, Werners geheimnisvolles Wesen hingegen fand er unbegründet. Er scheute sich nicht, Werners Zimmer einer wahren Durchsuchung zu unterziehen, desgleichen das medizinische Kabinett, doch fand er nichts Interessantes.

„Entweder hat er den Brief eingesteckt“, meinte Wladimir, „oder aber zerrissen und fortgeworfen.“

„Wohin wirft er gewöhnlich die zerrissenen Briefe und Papiere?“ fragte ich.

„In den Korb, der unter dem Tisch seines Arbeitszimmers steht.“

„Gut, bringen Sie mir alle Papiere, die Sie im Korb finden.“ Wladimir ging und kehrte eiligst zurück.

„Es sind gar keine Papiere im Korb“, erklärte er. „Doch fand ich diesen Briefumschlag, den er, dem Stempel nach, heute erhalten haben muß.“

Ich griff nach dem Umschlag und betrachtete die Aufschrift. Plötzlich schien unter meinen Füßen die Erde zu versinken, und die Wände drohten über mir einzustürzen ...

Es war Nettis Schrift!

Aus dem Chaos der Erinnerungen und Gedanken, in dem meine Seele versank, als ich sah, daß sich Netti auf der Erde befinde und nicht mit mir zusammentreffen wolle, erhob sich nur das Endergebnis klar und deutlich. Dies kristallisierte sich gleichsam von selbst heraus, ohne irgendeinen logischen Prozeß, und stand über jedem Zweifel. Doch vermochte ich mich damit nicht abzufinden. Ich wollte meine Tat mir und anderengegenüber begründen. Vor allem aber konnte ich mich nicht in den Gedanken finden, daß Netti meine Tat nicht begreifen, sie für einen bloßen Ausbruch des Gefühls halten könnte, obschon sie doch eine logische Notwendigkeit gewesen war, die sich unvermeidlich aus meiner ganzen Geschichte entwickelt hatte.

Es galt also, vor allen folgerichtig meine Geschichte zu erzählen, um der Genossen, um meiner, um Nettis willen ... Deshalb wurde dieses Manuskript geschrieben. Werner, der es als erster lesen wird – am Tage nach Wladimirs und meiner Flucht – möge für dessen Veröffentlichung sorgen, – selbstverständlich muß er die nötigen, durch unsere konspirative Tätigkeit bedingten Abänderungen vornehmen. Das ist meine einzige Bitte. Ich bedaure sehr, daß ich ihm nicht zum Abschied die Hand drücken kann ...

Während ich an diesen Erinnerungen schrieb, erhob sich die Vergangenheit immer heller und klarer vor mir, das Chaos verwandelte sich in Gewißheit, die von mir gespielte Rolle, sowie meine Lage zeichneten sich scharf in meinem Bewußtsein ab. Mit gesundem Verstand und klarer Erinnerung vermag ich alles zum Abschluß zu führen ...

Zweifellos überstieg die mir gestellte Aufgabe meine Kräfte. Worin aber ist die Ursache meines Mißerfolges zu suchen? Und wie ist der Irrtum zu erklären, den sich Mennis durchdringender, hoher Verstand bei meiner Wahl zu schulden kommen ließ?

Ich entsann mich eines Gespräches, das ich mit Menni über meine Wahl geführt hatte. Es war zu jener glücklichen Zeit gewesen, als Nettis Liebe in mir den unbegrenzten Glauben an meine Kraft erweckt hatte.

„Wie kam es, Menni“, fragte ich, „daß Sie aus der großen Menge verschiedenartigster Menschen unseres Landes, deren Bekanntschaft Sie während Ihres Aufenthaltes auf der Erde gemacht hatten, gerade mich für den geeignetsten Vertreter der Erde gehalten haben?“

„Die Auswahl war nicht besonders groß“, entgegnete er. „Sie mußte im Rahmen der Vertreter des wissenschaftlich-revolutionären Sozialismus getroffen werden, denn alle anderen Weltanschauungen standen der unseren noch weit ferner.“

„Mag sein. Wäre es aber nicht viel leichter gewesen, unter den Proletariern, die die Basis und die Kraft unserer Bewegung bedeuten, das richtige zu finden?“

„Ja, es wäre richtiger gewesen, dort zu suchen. Aber ... ich hätte bei ihnen nicht das gefunden, was mir unentbehrlich schien: die umfassende, vielseitige Bildung, die höchste Stufe Ihrer Kultur. Diese Tatsache lenkte mein Suchen nach der anderen Seite.“

So sprach Menni. Seine Annahme bewahrheitete sich nicht. Bedeutet dies, daß er überhaupt keinen Erdenmenschen hätte mitnehmen dürfen, daß der Unterschied zwischen den beiden Kulturen ein unüberbrückbarer Abgrund ist, über den derEinzelnenicht hinüberzugelangen, und den bloß die Gesellschaft zu besiegen vermag? Das zu glauben, wäre für mich persönlich ein großer Trost, doch zweifle ich ernstlich daran. Ich glaube vielmehr, daß sich Menni in jener Ansicht, die unsere Arbeitergenossen betrifft, geirrt habe.

Wodurch erlitt ich Schiffbruch?

Die erste Ursache war vielleicht der Umstand, daß sich eine Unmenge Eindrücke des fremden Lebens auf meinen Geist stürzte, daß deren Reichhaltigkeit mein Bewußtsein überflutete und die Ufer verwischte. Mit Nettis Hilfe überlebte ich die Krise und fand mich wieder zurecht. Aber war nicht diese Krise selbst die Folge jener erhöhten Empfindsamkeit, jener verfeinerten Wahrnehmung, die rein geistig arbeitenden Menschen eigen ist? Würde vielleicht einer primitiveren, etwas weniger komplizierten, widerstandsfähigeren und einfacheren Natur alles leichter gefallen, und für sie der rasche Uebergang weniger schmerzlich gewesen sein? Vielleicht wäre es für den mindergebildeten Proletarier weniger schwer gewesen, sich in ein neues, höheres Dasein zu finden, freilich hätte er weitmehr Neues lernen müssen, doch wäre in seinem Fall nicht nötig gewesen, so viel Altes zu verlernen, und gerade dies ist das schwerste ... Mir scheint, daß ich in dieser Hinsicht recht habe und daß sich in Mennis Berechnung ein Fehler eingeschlichen hatte, indem er dem Kulturniveau mehr Bedeutung beimaß, als der kulturellen Entwicklungskraft.

Ferner wurden meine Seelenkräfte von demCharakterjener Kultur zermalmt, an die ich mich mit meinem ganzen Wesen anzupassen versuchte. Ihre Erhabenheit erdrückte mich, die Tiefgründigkeit ihrer sozialen Bande, die Reinheit und Durchsichtigkeit der Verhältnisse zwischen Mensch und Mensch. Sternis Rede, die auf etwas plumpe Art die Unermeßlichkeit der zwei Lebenstypen beleuchtete, war bloß die Veranlassung, der letzte Anstoß, der mich in die Untiefe stürzte, an deren Rand mich mit elementarer, unbezwinglicher Kraft der Widerspruch zwischen meinem Innenleben und dem ganzen sozialen Milieu, in der Fabrik, der Familie, der Gesellschaft, unter Freunden getrieben hatte. Und abermals muß ich fragen, ob diese Widersprüche nicht gerade bei mir doppelt so stark und scharf fühlbar wurden, bei mir, dem revolutionären Intellektuellen, der neun Zehntel seiner Arbeit entweder in der Einsamkeit verrichtet hatte, oder zumindest unter Bedingungen, die ihn von seinen auf einer anderen Bildungsstufe stehenden Mitarbeitern absonderten? Bei mir, dessen Persönlichkeit sich von den anderenabgesonderthatte? Würden sich diese Widersprüche nicht weit schwächer bei einem Menschen ausgewirkt haben, der neun Zehntel seines Arbeitslebens auf primitive, undifferenzierte Art verbracht, sich aber stets in einem Kameradenkreis aufgehalten hatte, mit diesem durch eine grobe, aber tatsächliche Gleichheit verbunden? Mir schien, daß dem so sei, und daß Menni seinen Versuch in anderer Richtung wiederholen müßte ...

Zwischen den beiden von mir erlittenen Schiffbrüchen hatte es eine Zeit der Entschlossenheit und der männlichen Tatkraft im Kampfe gegeben. Das, was damals meine Kraft aufrechterhielt, half mir auch heute ohne ein Gefühl allzu großer Demütigung den Abschluß zu machen: Nettis Liebe.

Freilich war Nettis Liebe ein edler und liebevoller Irrtum gewesen, dennoch war eine solche Liebemöglich; diese Tatsache konnte durch nichts und niemanden weggeleugnet und verändert werden. Für uns bedeutete sie eine Bürgschaft für die tatsächliche Annäherung der beiden Welten, und für ihre künftige Verschmelzung zu einer einzigen, ungeahnt schönen und starken Welt.

Und ich selbst ... Für mich gibt es keinen Abschluß. Für das neue Leben war ich nicht geeignet, nach dem alten verlangt es mich nicht mehr. Ich gehöre ihm nicht mehr an, weder den Gedanken, noch den Gefühlen nach. Es gibt nur einen Ausweg.

Die Zeit ist vorüber. Mein Spießgeselle erwartet mich im Garten; eben hörte ich sein Signal. Morgen werden wir bereits fern von hier sein, auf dem Wege dorthin, wo das Leben brodelt und die Ufer überflutet, wo es leicht sein wird, die mir so verhaßte Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft zu verwischen. Leb wohl, Werner, guter, alter Genosse.

Gegrüßt seiest du, neues strahlendes Leben, und auch du, dessen leuchtende Erscheinung: meine Netti!


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