II

Man hatte Jonsen ins Spital geschafft. Die süßen Giftgerüche waren Räuber seines Gehirns für Wochen, wie durch einen blutroten Nebel sah er die nahen Fördertürme und Schachtgerüste. Geräusche, die durch die geöffneten Fenster gekommen waren, empfand er wie die Nähe eines Meeres, das von verschluckten heißen Untergängen wimmelt. Die Schwestern waren einfach unerträglich. Und die Ärzte griffen zu wie Henker.

Manchmal umschwirrten ihn Bestimmungen: was tatest du! Du! Wen wecktest du! Wen wecktest du!

Die Feinde, unter denen er hier lebte, wann würden sie das Seil knüpfen . . . die Klinge heben . . . das Gift gießen?

Begräbnisse fuhren stündlich durch sein Gehirn. Er schritt hinter seinem eigenen Sarge einmal.

Und als er sah, wozu er geholfen hatte, dachte er: gerade das Gegenteil wollte ich.

Das Fieber aber war stärker als der gepfählte Willen. Es zerstäubte ihn völlig, wie Töne eines dunklen Spieles. Schmerzen des Wachen rissen sie fort.

An einem Sonntage kam Piet zu Besuch. Jonsen richtete sich auf. Aus dem gebürsteten Sonntagsrock des Kameraden kam ihm ein lieber Geruch zugeweht.

Piets Stimme machte einen brutalen Griff: „Daß du auch so ein Tölpel sein mußt! Warum hast du das nicht dem Steiger überlassen? Lag der hier, wäre die Gruft nicht offen. Nun sind wir drin. Acht Tage haben wir gebraucht, um den Sumpf zu stopfen. Aber weißt du, der Satan ist immer noch da. So was riecht man doch. Die andern ja gewiß nicht. Aber weißt du, eine Kohle gibt es . . . o, . . . eine Kohle . . . die Kerle haben noch nie so verdient. Und du mußt hier nun faulenzen! Na, es geht doch besser? Was?“

Piet beugte sich herab. Sein langer Bart kitzelte Jonsens Ohr. Sein Atem war geschwängert vom Geruch der Gruft. So schien es Jonsen. Und dieses Fühlen von Verwestem, das durch seine Wachträume gerast war solange er hier lag, ließ ihn zurückschaudern von der Berührung mit den Händen Piets.

Aber Piets Hände waren wie Eisenklammern. Wie Zangen. Und griffen zu.

Er saß eine Viertelstunde auf dem Matratzenrand Jonsens. Der Abend brach weißgelb herein. Todbereite und Genesende dieses Saales freuten sich daran. Beflügelung ihrer Atemzüge klang wie Vogelgezwitscher. Urteile waren aufgehoben. Hoffnungen stiegen strahlend und standen real. Jonsens Blut allein ging träge. Manchmal setzte das Herz ganz aus. In diesen Augenblicken der absoluten Leere nickte der kahle Schädel Piets in sein Bewußtsein hinein wie die Fratze eines Skeletts. Er hatte sicher noch Wundfieber. Denn er schrie plötzlich auf.

Piet sprang wie gestochen empor und rief die Wärterin.

„Sie haben den Jonsen behext,“ schrie sie wutkreidig auf und stand wie ein Panther geduckt vor ihm.

Piet drehte die Mütze in den schwitzigen Händen und ging langsam rückwärts zur Tür. Die großen Ohren, die von seinem Kopf weit abstanden, bogen sich wie krumme Hörner vor.

„Satan! Satan !“ bellte da Jonsen und war mit einem Satz aus dem Bett. Aber die Beine hielten ihn nicht und warfen ihn platt auf den Boden. Man mußte ihm die Zwangsjacke anlegen. Vierzehn Stunden währte das Delirium.

Die schwarze Fahne des Todes und die rote des Wahnsinns umarmten sich. Doch das Dickträge des bäurischen Blutes hielt sich wie ein Wall. Das Gift schrumpfte einschläfernd zurück.

Mitten im Winter warf man den wieder gesunden Jonsen aus dem Spital. Die Schlackenhalden glänzten wie blaue Schneeberge. Vom Förderturm rutschten die Seilbahnen wie Gletscher. Den Häusern waren greise Bärte gewachsen von den Dächern. Fenster schauten blind wie aus weißen Wimpern.

Jonsen ging lahm auf einem derben Stock gestützt. Der Schimmelwirt nahm ihn wieder auf. Jonsen schuldete diesem bierseligen Faulenzer noch achtzig Frank. Die sollte er abarbeiten. Ein Lahmer ist immerhin noch als Nachtwächter nütz, hieß es auf der Gewerkschaft. Jonsen bemühte sich um diesen Posten. Aber er dachte sich fast widerwillig auf die Grube. Noch waren Pläne da, die harrten. Seine Organe betrogen ihn nicht. Seine Ohren hörten lange die Melodie des wiedergewordenen Fronens und griffen danach. Richteten sie auf und verdrängten andere Assoziationen. Gewesenes zeigte sich in neuer Gestaltung. Alles Seiende vermochte nichts mehr zu gestalten. Der dünne Strich Verzicht war nur noch ein kaum gesehener Punkt.

Nach dem Abendessen sagte der Wirt zu Jonsen: „Daß die Gruft sich wieder aufgetan hat, weißt du wohl? Zwanzig Kerle hat sich der Satan geholt. Schade um den Piet. Es war ein schönes Begräbnis. Die Knappen von Ronsdael und Saint Legér waren mit ihren Fahnen gekommen.“

Es war etwas Gebieterisch-Entsetzliches in dieser grauenhaft nüchternen Rede des Berichtes. Feuer und Schwefel standen darüber und dörrten Blutströme.

Jonsen war aufgesprungen. Er hielt sich die Schläfen, die schmerzhaft hämmerten. In seiner Kehle war kein Ton. Nur eine schwärende verklumpte Tiefe. Ein Reflex kam herauf und spiegelte das Wiedersein der Gräuel als Meer im Gehirn.

Das Gesicht des Schimmelwirts hatte sich zu einer Grimasse breiten Lächelns verzogen. Es kam wie ein Pfiff: „Den Steiger haben sie eingesperrt. Er soll an allem schuld sein . . . he . . . he, he, he.“

Als Jonsen die ohnmächtig gebrochenen Augen auftat, um einen Satz zu sprechen, sah er hundert Gesichter. Flache Fragen wie Fischbäuche und teergesalbt von der Schwärze der Explosion, fuhren ihn an mit Augen, die aus den Höhlen gesprungen waren. Heißer Atem qualmte auf und sengte alles Denken an.

Der Schimmelwirt glotzte Jonsen an wie: ist der Bengel verrückt! Hat er Fusel gesoffen? Gestohlenen Fusel?

So quälte er Jonsen und hatte den Heiligenschein Luzifers mit einem Mal. Da riß Jonsen eine Flasche vom Tisch und schlug sie dem Wirt in die Frage. Säufer und Weiber liefen zusammen.

Jonsen wollte fliehen. Hinunter in die Gruft, zu Piet — zu Piet — und weiter . . .

Der Gendarm aber legte ihm blanke Handeisen fest um die Gelenke.

(1912)

Einmal geschah es, daß Séverin Roubaud den erkrankten Steiger Poulein plötzlich vertreten mußte, weil er der Älteste auf der Sohle war.

Séverin aber betrachtete den Auftrag, einen verlodderten Flöz wieder berggerecht zu schaffen, sozusagen als Prüfungsaufgabe für den Hilfssteiger-Posten, der zu vergeben war.

Er spannte, von brutalem Ehrgeiz getreten, Hirn und Muskeln an. Trieb die fünf Kameraden wie Ochsen und fluchte bei der Einfahrt wie der Berginspektor selber.

Jaques, der fünfte von den Kerlen, lockerte im ersten Zorn schon das Messer.

Der verwahrloste Schacht stundete bereits ein paar Jahre und war schlüpfrig wie ein Sumpf.

Die sechs Männer hatten schwere Arbeit mit dem hervorgequetschten Gebirge, das sich über zehn Fuß Mächtigkeit hinstreckte.

Sie sackten jeden Schritt breit, den sie herausschlugen, sofort zu. Keile und Bolzen saßen fest im Aufhieb. Und aus Pram und Sohl rieselte kaum noch Staub.

Nur im vordersten Gang, wo Séverin allein schaffte, stand das Feuer in geduckten Funken und schrie nach der Wettermühle.

Aber Séverin hatte einen harten Schnapsschädel und bohrte fort, trotzdem die Bläser aus dem gerissenen Bruch schon explodierten und ein Heulen wie von gereizten Löwen war.

Dicht hinter den anderen stürzten die Ladungen wie Lawinen von Staub. Benahmen ihnen allen den Atem und saßen faustdick auf dem Gestänge.

Jaques murrte und warnte Séverin: den Bruch doch erst ausschwelen zu lassen.

Séverin aber stemmte die Eisen, als säße hinter ihm einer mit Keulen.

Da fingen auch die anderen um Jaques an, unruhig zu werden. „Man sollte den Obersteiger anklingeln,“ schrie der rote Jean.

Zwei Weiber, die ganz hinten die Wagen andrückten und in Rufnähe waren, pfiff man heran.

Sie mußten die Wettermühle holen.

Séverin schlug weiter. Schlug, daß die ausgeklüfteten Felsen dröhnten.

In den Hölzern knackte es, als bohrten tausend Würmer darin, und aus den Nebengebirgen scholl dumpfes Grollen herüber.

Man deckte das Kappholz und rammte die Buchenpfähle Schlag auf Schlag.

Widerliche Schwüle kam aus den Gängen, trotzdem die Mühle ungeheuer mit den Flügeln aus den Saugern schlug.

Der rote Jean, der aus dem Vlämischen stammte, warf die Eisen einfach fort und verkroch sich hinter das Gestänge. Ein schweres Grauen war über ihn gekommen, denn er hatte in der verflossenen Nacht einen bösen Traum gehabt. Er hatte seinen Vater rot und groß gesehen. Seinen Vater, der vom Förderseil aufgerissen wurde, vor Jahren, im Leichenkittel über die Halde tanzen sehen.

„Du Séverin!“ heulte er auf und wischte sich den Schmutz von den dünnen Lippen.

Séverin blickte nicht auf von der Arbeit. Er lag auf den Knien und arbeitete, daß ihm die Zunge breit aus dem Halse hing.

Hin und wieder tat er ein paar Fehlschläge. Dann rann ihm das Blut aus großen Wunden von den Händen. Aber er zuckte nicht. Er fühlte sich wie ein Teil dieses Gebirges, das den anderen wie ein massiver Haufen aus dicker, ansteckender Finsternis erschien, in die sie ohnmächtig hineinbellten.

Endlich hatte er ein riesiges Loch geschlagen. Das Geröll quatschte auf seine Lenden wie lauter feuchte Sandsäcke.

Er beugte sich vor, tastete klirrend herum, ergriff die Flasche vom Rücken und goß sie ganz in sein inflammiertes Inwendige.

Als ihm der letzte Tropfen des Fusels durch den Schlund gefahren war, fühlte er wieder, was er vorhatte und schleuderte die Flasche zurück.

Der Hammer sprang wie geölt von seinen Schultern herab.

Rings war es ganz still geworden von den Fäustelschlägen der anderen.

Jean stand mitten im Gang und schrie noch einmal: „Du . . . du . . . Séverin . . . du . . . Mörder!“

Sein Gesicht war kreidig verzerrt.

Und die Augen zerrissen die Finsternis. Und plötzlich öffnete sich da im innersten Innern ihrer Pupillen eine Luke. Kohlschwarze Sammetpforten wurden tief drinnen aufgeschoben. Und es stiebte eine schwarze Glut heraus. Ein knitternder Schatten von Feuer. Eine Flamme . . .

Sein Atem hielt mit einem Seufzer inne.

Er fühlte sich sengend heiß.

Die Lippen brannten.

Mein Gott!

Mutter Maria!

Joseph . . .

Der Vater . . . !

Und da . . . da . . . da . . . wie von unten mit riesigem Nacken wütend emporgedrückt, brach die ganze Arbeit zusammen.

Splitterte. Riß. Knallte und rollte empor.

Die Kolbenwuchten steilten sich wie Dämme. Berg und Gehölz verschwanden in Rauch und Steinhagel. Ein Geheul wie nicht mehr aus menschlichen Kehlen donnerte auf.

Aber die wahnsinnigen Rufe starben hin in dem Lärm von herabstürzenden Brocken und Wasser, das wie ein Bergstrom einbrach und den Staub verschlammte.

Séverin schnaubte durch den verstopften Mund wie ein wilder Hengst. Stürzte in das Dunkel vor, wo er die Kameraden vermutete.

Da brach es noch einmal los und es war, als barst die ganze Erde zusammen.

Bis zur Brust war er festgekeilt und griff mit den Händen wie in Mehlberge.

Und immer neues Wasser ergoß sich und verschlang die Staubwolken.

Von einem geknickten Pfahl herunter blinkte gelbes Licht.

Das war Jeans Lampe.

Er griff danach und hob sie hoch.

Seine Augen zersägten das Dunkel.

Da hörte er ein Jammern tief unter sich wie aus einem ungeheueren Keller herauf.

Seine Augen begannen zu hüpfen.

Blut siedete auf den zackigen Felsstücken. Fleischteile lagen dampfend auf den zerschmetterten Hölzern.

Er bekam endlich eine warme Hand zu fassen und versuchte sie mit aller Macht emporzuziehen.

Tastete hinunter und griff nasses Gestein.

Die Hand ging verloren.

Er kratzte überall herum und konnte sie nicht wiederfinden.

Er versuchte, sich aus dem Bruch herauszuwinden. Aber je heftiger er sich abmühte, um so nachgiebiger rollte neues Gestein herab.

Seine Kraft erlahmte. Seine Augen brannten weh aus der Schwärze und suchten nach der Hand. Sie wurden gejagt von einem furchtbaren Wahnwitz. Jeder Nerv war aufgespannt.

Und da sah er sie wieder.

Die Hand . . .

Mit fünf Fingern . . .

Die bewegten sich. Zitterten. Krallten sich zusammen.

Séverin ächzte und drehte sich aus der Umklammerung in unsinnigen Verrenkungen.

Die dicke Luft machte seinen Atem kurz.

An den Geröllklumpen hämmerte sein Arm sich lahm.

Und dort unten war noch immer die Hand . . .

Finger, die krampfhaft verzerrt um Hilfe zuckten.

Sich wieder schlossen.

Ein mörderisch geballter Fluch, diese Faust.

Und sie wuchs heraus aus dem Gestein.

Ungeheuer groß heraus.

Séverin schüttelte sich wild.

Frost klirrte über sein Gesicht.

Tausend Räder brausten durch sein Gehirn.

Brausten und rissen die Augen mit, die nun nichts mehr sahen. Nur eine furchtbare Nähe geisterhaft fühlten.

Die krummgeballte Faust des Satans.

Und Brausen und Stampfen des Weltgerichts.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Als Séverin erwachte aus purpurner Finsternis, sah er in das blutige verzerrte Gesicht Jeans. Und die Hand, die er gefühlt hatte, die sich in sein Gehirn gehämmert hatte, hielt ihm die Lampe in die Augen.

„Ah — — — ah . . . du . . . du . . .“ ächzte er und schüttelte sich vollends wach.

Jean erhob sich, langsam, mühselig, den Raum wie ein Riese ausfüllend. Eine Wolke, ein Berg — und brüllte: „Seht da! Seht den Séverin! Seht ihn an: da ist er, der das alles getan hat. Seht da! Den Mörder!“

Séverin, ganz Besinnung wieder und stark, packte ihn bei den Schultern, riß ihm die Lampe weg und kommandierte: „Maul halten! Du . . . du Tier. Siehst du nicht, daß wir hier fest sind?“

Jean schwankte zurück und grinste.

Séverin suchte indes mit der Lampe das Geröll ab. Nach einem Eisen oder so etwas. Und fand schließlich einen Fäustel.

Damit beklopfte er hinten die Wand.

Es klang hohl.

Séverin schrie auf: „Hierher Jean. Hier müssen wir durch.“

Jean hatte sich inzwischen ein Eisen herausgekratzt und kroch heran. Séverin hielt die Lampe in der einen Hand und hämmerte mit der anderen wild auf den Felsen.

Jean stieß mit dem Eisen schon wuchtig hinterdrein. Jeder Stoß würgte ihm das Gedärm in die Kehle. Sein nackter Oberkörper war klatschnaß und hautlos vor Schweiß.

Das Gebirge gab langsam nach und brach in kurzen Schollen herab. Dumpfes Dröhnen schauerte nach allen Seiten und fand keinen Ausweg. Die Adern der beiden Wühler bäumten sich gegen die Geräusche wie Stacheln auf, und Spannung brannte in den Muskeln mit rauchendem Eiter.

Sie hämmerten drei volle Stunden in einem Zuge. Und fielen beide zu gleicher Zeit erschöpft um.

Es war, als würden ihnen erst jetzt Augen, Ohren und alle Eingeweide allen Ernstes geöffnet für die Bodenlosigkeit dieses nachtschwarzen Elends!

Séverin flüsterte matt: „Jean . . . Jean . . . hör doch!“

„Was ist noch zu hören?“ ächzte der aus schmerzhaften Krümmungen herauf.

„Du Jean!“

„Zum Teufel noch, was soll ich!“

„Du Jean, wenn wir noch eine Stunde schlagen, müssen wir durch sein. Keinen Meter mehr ist die Wand.“

„Verflucht, schlag doch wenn du kannst!“

„Hör’, ehe sie uns von vorn herausgraben, sind wir da hinten schon auf dem alten Gang. Ein Notschacht ist da.“

„Schrei doch nicht so, du Hund! Mein Kopf ist ganz zerschossen. Krepieren müssen wir doch hier. Alles ist vorbei.“

Sein Gesicht fiel mit einem Knick vornüber.

Séverin bemühte sich, wieder auf die Füße zu kommen. In seinen Schläfen und in seiner Stirn beutelten sich dicke Blasen. Blut trat ihm schwarz aus Kinn und Hals.

Dann begann er zu hämmern und dachte an Maruscha. O, schönes warmes Bett mit Maruscha! Nun wird sie oben am Tor stehen und mit den anderen Weibern flennen. O Maruscha! Bald, ja, ach bald komm ich wieder zum Küssen. Schönes warmes Bett. Maruscha!

Er hatte wieder Schwung in den Muskeln und sein Riemen stand. O Maruscha!

Auch Jean hatte sich wieder aufgereckt. Stützte sich auf das Eisen und horchte. Schlenkerte mit dem verwundeten Arm und sackte ein bißchen in den Knien ein.

Plötzlich jauchzte er laut: „Schüsse . . . hör’ . . . Sprengschüsse!“

Séverin ließ den Hammer fallen und drückte sich mit dem Kopf tief in das Gestein.

„Donner, ja. Jean, ganz deutlich, wirklich Schüsse!“

Nun hieben sie alle beide wie verrückt. Körper an Körper. Und Jeans Besinnung wuchs mit jedem Hieb, den er ausholte.

Ach, die Wand gab nicht nach. Und die Minuten zogen die Sekunden mehr und mehr in die Länge, zerrten sie ungeheuer auseinander, walzten sie wie Draht aus, der mit spinnendem Klang in die Ohren hineintönte. Jean schmiß das Eisen trostlos hin. Seufzte: „Alles ist wieder still. Horch . . . ganz still . . .“

Séverin klappte zusammen. Tastete blind und grausam in der Luft herum. Dachte einen Augenblick: „Hab’ ich wirklich Schüsse gehört? Wie? Hab’ ich Schüsse gehört?“

Jean fühlte sich wie ins Genick gestoßen. Ein Knochengerüst klapperte über seinen Rücken.

„Hu . . . Hu . . . Der Alte . . .“ spie er fröstelnd, und sprang wieder an die Wand.

Helles Feuer blitzte vom Eisen. Und der Staub pfiff, von einer fremden Schwingung weggestoßen, ihm breit ins Maul.

Splitternd gab die Gesteinswand nach.

Eine handgroße Lücke klaffte und ließ eine wunderlich kalte Luft hereinziehen.

Séverin, der einen halben Meter seitwärts stand, bekam den Durchzug zu schnappen.

„O ihr Heiligen all! Jean! Jean! Nun können wir bald durchschlüpfen.“

Jean spürte, wie seine Adern heraufschwollen: Dieser Hund kann noch lachen? In diesem Unglück noch lachen?

Und stellte sich vor das Loch: so, daß der andere nicht hinzukonnte und schlug in besessener Wut in den Bruch.

Stück um Stück fiel klirrend herab. Und das Loch war schon so, daß man den Kopf durchstecken konnte.

Und noch immer ließ er Séverin nicht heran. Eine wahnsinnige Ahnung polterte durch sein Gehirn.

Mit einem Ruck hob er sich in die Ellenbogen und zwängte erst seinen Kopf und dann den Oberkörper durch das Loch.

Enttäuscht ließ er sich wieder zurückschnellen und fiel hinterrücks auf eine Steinkante. Séverin sah, wie er die Beine hoch in die Luft warf. Und dann auf einmal die Hand.

Die Hand mit den fünf Fingern, die auf- und zugingen. Sich ballten und wie ein fleischgewordener Fluch standen.

Er hielt sich an einen Felszacken gepackt. Und aus seinen Augen, die vor Qual schimmerten, schoß wagerecht die Angst.

Da flog er vor, warf den Hammer wütend in den Bruch und begann die Öffnung weiter auszubrechen.

Jean konnte sich nicht rühren. Seine Augen waren voll Blut. Und durch dieses Blut schwamm das knarrende Geripp des Alten. Und immer hörte er den andern hämmern.

„Er wird durchkriechen und mich hier liegen lassen! Der Mörder wird mich hier verrecken lassen! Ei verflucht!“

Und da kam ihm seine Kraft zurück und riß den Wahnsinn aus den Augen.

Und sieh: Heilige Mutter Maria, Joseph! Der andere steckte schon halb im Loch.

Wie eine Riesenschlange wälzte sich Jean auf den Knien vor und faßte Séverins Beine.

„’Rauß da, du Mörder!“

Séverin stürzte platt zu Boden. Drehte sich herum. Sein Gesicht gab ein wüstes Gebrüll. Er schlug mit den Armen wild um sich. Kam mit einem Ruck wieder auf die Beine und rutschte nach der Öffnung.

Da kugelte sich Jean noch einmal auf ihn, biß und kratzte.

„Was willst du Lump? Hast du einen Flapps?“ krächzte Séverin.

Jean hatte Séverins Kehle zu fassen bekommen. Schraubte seine Finger fest herum.

Séverin fühlte diese Krallen wie Schüsse im Gehirn. Jeder Finger schoß hundert Kugeln. Das Herz stand ihm bebend in der Kehle. Finger rissen es heraus. Fünf Finger, die wie ein Fluch geschlossen waren.

„Maruscha . . . !“

Das war der einzige Laut, den die Finger aus dem zuckenden Herzen quetschten.

Dann schnellten diese Finger zurück, und Jean fuhr sich damit über den rauchenden Schädel.

Und da befiel ihn naßkalt schweißiges Grausen.

Mit einem Satz war er aus dem Loch heraus. Tastete sich mit blinden Händen durch den Schacht. Sein Kopf ging wie ein Pendel. Ein ganz kleines Pendel. Bis er an ein Gerüst schlug und stehenblieb.

Verdammt und verflucht stehenblieb.

Mit einem gut Teil Anstrengung war es Jean dann gelungen, sich wieder zu konzentrieren. Seine Finger griffen etwas Festes. Balken, die hochsteilten. Ein widerlicher Luftstrom brauste da von oben herab. Ein Fauchen und Zischen von Drähten.

Und dann stolperte Jean in den Korb. Riß an dem Zinkseil. Das Auffahrtsignal schnellte nach oben. Packend schnappten die schweren Traggesenke ineinander. Der Korb stieg wie eine Wolke. Die Luft pfiff heiß und giftig.

Jean hatte eine Empfindung, als sei er erst jetzt er selber geworden, ganz und gar. Und jubelte: o ihr Heiligen alle! Gelobt! Gelobt Jesus Christus!

Plötzlich stand der Korb mit einem Ruck. Schleuderte Jean herauf, daß ihm die Bordkante tief in die Brust schnitt.

Jäh grub er beide Fäuste wild in seinen Busen hinein. Krähend vor Schreck. Und suchte das Seil.

Riß mit beiden Händen an dem Tau und schrie alle Schutzpatronen hinauf. Riß das Tau herunter und riß es tief in seinen Schädel. Mit den Armen, die in weißlichen glatten Windungen von seinem Körper herabfielen.

Und da! Wie ein geborstener Meteor, sausend, polternd fegte der Korb wieder in die Tiefe hinab, von einer Satanskralle wütend herabgezogen.

Immer tiefer.

Grenzenlos durch Finsternis und Nächte sausend.

Bis auf den Grund durch Meerjahre und Sternkorallen.

Abwärts.

Endlos in das torweit aufgesperrte Maul des Alten, der einmal im Knochenrock über die Halde tanzte.

(1912)

Soo . . . soo . . . seufzte Nervil Munta, nach dem sich die eisenbezackte Tür des Zuchthauses zu Ottignies hinter ihm geschlossen hatte und hob die Brust. Hob sie, wie um den roten Mauerberg der Stadt, der vor ihm aufragte, empor zu drücken.

„Soo . . . das Jährchen ist um. Der Streik wird auch vorbei sein. Jarse wird einen schönen Stein auf seinem Grabe haben. Die Hauer zwei Frank die Woche mehr verdienen. Vielleicht nimmt mich der Direktor wieder an. Gewesenes, kann nicht mehr dauern. O, ich will schon arbeiten. Für zwei oder drei, wenn es sein muß. Und acht Schichten die Woche. Mutter braucht dann nicht mehr auf die Zinkschmelze gehen. Und wenn mich eine von den Koksmädchen will, wird sie geheiratet, man muß nun endlich voll werden.“

Er hob die Brust und ging durch die lichtbeglänzte schnurgerade Straße. Ging mit schaukelnden Schritten zum Bahnhof wie auf einem Schiff. Radfahrer stießen mit krummen Lichthörnern die gehetzte Menge an die Häuserkanten. Funken von den Stromzuleitungen der Tram schossen wie Silberfische durch die dichtmaschigen Netze der Luft, und die Paukenwirbel der Geräusche dröhnten langgezogen und jagten Echos auf und nieder. Dann und wann blieb Nervil Munta vor einem großen Schaufenster stehen. Hob die Hände aus den tiefen Hosentaschen, bewegte die Lippen lautlos und schob die Hände wieder hinein. Ging weiter, kopfschüttelnd, murmelnd, ließ sich anrempeln. Rauch ins Gesicht blasen. Lief einen Baum um. Kam in Gefahr, von einem Lastwagen überfahren zu werden und stand endlich vor dem Bahnhofsgebäude.

Hinter ihm schlug es zusammen wie ein geteilt gewesenes Meer. Der Ziffernkreis der Uhr stand groß und gelb wie ein aufgehender Mond. Die Fahrkarte kostete fünf Frank, die er gewissenhaft abgezählt auf das Zahlbrett warf. Er wog das graue Pappstückchen in der Hand und fühlte Heimat und eine freiere Luft. Im Warteraum erstand er sich einen Genever. Trank noch einen und kam bis zum fünften.

Da rief der Wärter den Zug aus.

Nervil Munta schlüpfte in den Wagen und fuhr drei Stunden wie im Traum. Die Augen leblos in den schwarzen, bespienen Boden gebohrt.

In Namur mußte er umsteigen und vier Stunden auf den Zug nach Charleroi warten. Seine Fahrtgenossen, Bauern, Kleinbürger und Soldaten suchten sich in dem großen Wartesaal geeignete Plätze zum Schlafen.

Ein junger Bursche, den Leinenkittel dick mit Kalk beschmiert, — vielleicht war es ein Maurer, der, nachdem die Bauerei in der Stadt zu Ende war, in sein Heimatdorf zurückkehren wollte, — sprach ihn an.

Ließ die weißen Zähne lächelnd blecken und forderte ihn zum Trinken auf.

Sie traten an den Schanktisch und stießen miteinander an. Der Maurer aber hatte eine geläufige Zunge und schnurrte wie ein geschmiertes Rad. Der Speichelschaum zischte und spritzte.

Da drehte sich Nervil Munta wortlos um und suchte sich einen freien Tisch. Streckte die Beine aus und stürzte die Ellenbogen auf. Nun er die vielen Menschen gesehen hatte, nach einem Jahre wieder richtig gehende Menschen, die laut und lustig schwatzen konnten, fluchen und rauchen durften, wurde ihm die Zunge, über die der Schnaps gebrannt war, wie Stiche von Insekten, seltsam trocken und der Kopf wie ein Klumpen Blei widerlich schwer.

Es überkam ihn, zurückzudenken. Sich zurückzudenken in den kahlen gefühllosen Kerker. Er hörte vernehmlich den Filzschritt der Wache und das böse Geklirr des Schließers. Der Dunst von vergossenen Getränken und verbrodelten Speisen kitzelte seine Nase, die noch wund war von dem faden Leichengeruch der Zelle. Klappern von Tellern und Gläsern schwirrte durch die heftigen Pulsschläge seines Gehirns wie das Scharren der Blechschüssel jeden Mittag über den Zement des Zellenbodens, vom Fuß des Kalfaktors durch die Eisentür geschoben. Jedes geregte Leben, das hier im Wartesaal geschah, wurde zum Fühler zurück in kaum überstandene Stunden der Einzelhaft.

Und er hüllte sich in die wiederaufgebrochenen Gefühle, glaubte, daß er sie fühlte und merkte nicht, daß er nur die Mäntel der Gefühle ausbreitete zum Spiel, das Schlaf herbeilockte.

Er schlief fest und fuhr wie gestochen auf, als die Glocke der Abfahrt schrillte.

Wie zerschlagen tappte er sich auf den Perron und erreichte mit Not den Zug. Die Abteile waren überfüllt, dunkel und dunstig.

Als die schweren Wagen die Halle verließen, hämmerte der graue, windharte Morgen an die Scheiben.

Nervil Munta, der sich einen Fensterplatz mit seinen starken Knochen erdrückt hatte, sah spähend in die rauchige Landschaft hinaus. Die hereinbrechende Frühe hatte seine Gedanken aufgepeitscht, in Zukunft zu sinnen, und lebendiges Feuer in seine Glieder geworfen. Das Wirbelnde der bewegten Erde tanzte in sein Gehirn wie ein Kirmesreigen und wälzte ein freudiges Schnalzen auf seine Zunge, das lange anhielt. Dann überschrie der Bremsstrom die Achsen, und der Train stand am Ziel wie festgerammt.

Fluchend vorgeschoben verließ Nervil Munta den Wagen und zwängte sich durch das Portal.

Auf der Straße blieb er stehen. Sah sich nach allen Seiten lauernd um wie einer, der zum ersten Mal in dieses Gesichtsfeld rückt. Klopfte an den Kleidern herum, schob die Mütze zurecht und trabte der Vorstadt zu.

Gasometer und Hochöfen winkten mit klobigen Fäusten. Rauch zog in gelben, grauen und weißen Klumpen wie ein Riesengeschwader über die zermürbten Lehmhäuser. Dunst von verbranntem Erz und ranzigen Ölen machte die Luft schwer und feucht.

Nervil Munta aber blähte die Nasenflügel weit, spreizte die Finger und schmeichelte sich ein Leuchten in die Augen. Federnd schnellten seine Beine über das schlechte Pflaster, und wie ein Verfolgter griff er die Klinke einer Tür, die in das letzte Haus diesseits der Straße führte.

Mit der Mutter, die ihren schwarzen Tuchrock angezogen hatte und ein reines Häubchen aufgestülpt, machte er nicht viel Umstände. Als sie freudeweinend auffuhr, küßte er sie sauber ab und drückte sie wieder in den Stuhl zurück.

Der weiße Kopf neigte sich seitwärts, und ganz leise sagte sie: „Wie bist du gewachsen, mein Sohn! Und wie stark siehst du aus. O, alles ist besser geworden, als ich meinte. Und wie ich mich gegrämt habe, mein Sohn! Sieben Vaterunser habe ich für dich gebetet. Und die heilige Jungfrau beschworen. Und du, du mein Sohn . . .?“

Nervil Munta hob den Kopf und tastete die Wand ab. Blieb vor dem Muttergottesbilde stehen und reckte die Arme. Ging in die Kammer, wühlte in seinen Sachen herum und ging wieder ans Fenster und sah lange auf die Straße, wo die Kinder sich jagten und schrieen.

Zum Mittag hatte ihm die Mutter eine Fleischsuppe gekocht. Er wagte erst nicht, die würzige Brühe zu berühren. Dann aber, als ihm die Kostprobe auf der prüfenden Zunge zergangen war, schlürfte er den Teller in einem Zuge leer und schnalzte wie ein an der Brust gestilltes Kind. Erzählte der Frau mit dem weißen Scheitel von den harten Erbsen und trockenen Brotrinden im Kerker und geriet dabei in einen hellen Zorn. Obwohl er sich in der Zelle vorgenommen hatte, niemandem etwas von den schweren Tagen zu erzählen, erfuhr die Mutter alles, was ihm noch im Gedächtnis geblieben war. Und er kam sich wie ein Held vor, als er die Erzählung beendet hatte.

Zum Abend ging er ins Wirtshaus und vertrank mit den Freunden, die ihn schon erwartet hatten, das ganze Geld, welches man ihm für geleistete Arbeit im Zuchthaus gezahlt hatte. Nichts sollte mehr von den Tagen in seinem Besitz bleiben.

Und alle, die er freigehalten hatte, wollten sich bemühen, für ihn zu sprechen beim Steiger, Inspektor und Direktor. Und der Wirt sagte gewichtig: „Wenn alles reißt, Nervil Munta, kannst du bei mir im Hause schaffen. Bekommst dein schönes Essen und guten Lohn.“

Aber es gab zwischen den bereiten Helfern und dem siegbewußten Nervil Munta keine voneinander abhängigen Zusammenschlüsse. Da ihm seine von der Mutter gelobte Stärke einfiel, wurde sein Bewußtsein freier und von stolzem Erhobensein.

Am nächsten Tage, nachdem er bis zum Mittag geschlafen hatte, ging Nervil Munta auf die Gewerkschaft hinaus.

Grauer verstörter Regen rann, und in den verkrüppelten Bäumen der Allee hing der Sturm und heulte. Von den Hochöfen her brausten die Gebläse wie Wiehern lüsterner lüstiger Hengste. Die Zinkhütten qualmten empor wie dunkle Wäldermassen, und die spitzen Schornsteine zerstachen den Horizont, der wie eine riesige Blase schwamm.

Nervil Munta stieg in sein Innerstes nieder und brachte die Tage herauf, da er in Begleitung seines Vaters diesen Weg zum ersten Male geschritten war. Zur Arbeit aufgeschrieben wurde, das erste Geld der Mutter brachte. Vertrauensmann des Arbeitskomitees wurde. Beiträge einziehen mußte. Und dann der Streik. Und die Schlägerei mit dem Jarse. Das Gericht. Der Kerker . . .

Und nun ging er wieder Arbeit suchen.

Mancher Zelle Kern, der während des stumpfen Jahres sich verhüllt hatte, ergoß sich in den fiebernden Puls der Adern und überschwemmte die Schlacken der verflackten Flüche, die in den ersten Wochen der Gefangenschaft sein Denken vergifteten. Das Schmerzen der Schläfen war nicht mehr. Zu Tat und Freude schwollen Atem und Muskeln und fühlten die Arbeit vor sich als edelste Lust. Nicht für Erbärmlichkeiten mehr würde man diese wiedergeborenen Gefühle in Fesseln zwängen.

Das Gefühl dieser gesteigerten Bedeutung von dem Erhobensein seines Ichs erfuhr der Portier, den er gebietend ansprach und die Passiermarke zum Direktor forderte.

Der dicke Kerl, der in der Kolonialarmee als Korporal gedient hatte, ließ sich so leicht nicht überzeugen und fauchte ihn an wie einen Strolch. Stellte ein Kreuzverhör an und ließ sich die Papiere geben. Dann erst langte er die Marke heraus.

Nervil Munta sagte dem Portier ein Trinkgeld zu, wenn der Direktor ihm den alten Posten an der Fördermaschine wiedergeben würde.

Dann stieg er die Treppe zum Büro pfeifend empor und klopfte stark an. Die Angeln der Tür kreischten wie die Riegel der Zelle, die er kaum verlassen hatte. Das machte ihn schon unsicher, als hätte er den frohen Umschwung des Blutes vergessen.

Der Direktor kam ihm barsch bis zur Schranke entgegen und hob die Stirn gekräuselt.

„Sie suchen Arbeit?“

„Soo . . . soo . . . ist es, Herr Direktor!“

„Arbeitsbuch! Papiere!“

Nervil Munta wickelte das gelbe Buch aus der Zeitung und reichte es dem Direktor zögernd hin. Geduckt, wie einer, der Prügel empfangen soll.

Der schlug das Buch auf. Las. Hob die Schultern. Las noch einmal und machte das Buch wieder zu, überlegen und kalt.

Sagte dann: „Die neuen Bestimmungen der Gesellschaft verbieten, Bestrafte anzunehmen. Zumal Leute, die dem Komitee angehört haben. Auf die Nichtorganisierten muß Rücksicht genommen werden. Sind die fleißigsten Arbeiter. Reibereien würden wieder entstehen. Streik und Schlägerei. Sehr bedauerlich, aber nicht zu ändern.“

Mit zwei Fingern reichte er dem zusammengesackten Menschen das Buch zurück und drehte ihm den Rücken zu.

Nervil Munta schlich sich stöhnend hinaus und kam erst wieder zu sich, als er auf dem Hof stand. Mitten in dem satten Gewirr von Arbeit, das von den Werken herübergewitterte.

Dem Portier, der die Hand geöffnet hinhielt, spie er ins Gesicht. Stellte sich draußen vor den Zaun und ballte die Fäuste. Das Gesicht zerriß ein böser Krampf, und trockener Husten quälte die Kehle. Aber dann hakte sich etwas in die Stirn hinein und zog den Willen zurück von einem Sprung ins Rächerische. Beruhigte das Gehirn und fürchtete die letzte Armut nicht.

Wie er nun dastand und das Gespannte der Fäuste löste, brach weiße Sonne schräg durch die Wolken und verwirrte seine Augen so, daß sie tränten. Er bedeckte das Gesicht mit der Hand und ging in die Stadt zurück. Auf Umwegen. Es war ein steiler und steiniger Pfad, der über den Hügel zwischen Ginster hindurch führte.

Die Mutter betrachtete ihn blinzelnd.

Seine hervorstehenden Augen aber starrten ins Dunkel der Kammer. Und die Unterlippe fiel herab. Zum Reden war er an diesem Tage nicht zu bewegen.

Am dritten Tage endlich, nachdem er auf sechs Stellen abgewiesen war, im Walzwerk, in der Bleihütte, in der Ziegelei, Pumpanlage, Gasanstalt, Teerfabrik, bekam er auf der Koksmühle Arbeit. Da zwanzig Leute die Brocken dort hingeworfen hatten, nahm man gern Ersatz. Gleichviel, wo er herkam.

Nervil Munta, der einem Streikbrecher das Messer in die Rippen gesetzt hatte, nun selber ein solcher Lump?

Er fürchtete die letzte Armut nicht. Aber die andere Angst. Vor dem Ekel des Nichtstuns fürchtete er sich maßlos und griff darum zu und belobte den Tag und das Werk.

Da er zur Nachtschicht befohlen war, war ihm eine Last genommen. Die Genossen, denen er nicht gern begegnet wäre auf dem Werkgang, waren ihm auf diese Weise entrückt. Man würde nun nicht mit Fingern auf ihn zeigen. Ihn nicht anspein, auflauern, verprügeln.

Aber in Gedanken noch wollte er ein Körper der Freiheit sein. Entflohen aus der Armut, der Fremde, der Schande. Im Schaffen war ihm Leben. Wollust hierzu peitschte sein ungeschwächtes Blut auf.

Der Aufseher, bei dem sich Nervil Munta um acht Uhr zur Nachtschicht meldete, war der Schwager des erstochenen Jarse. Er beriet schon in Gedanken dem Mörder, der ihm in die Hände gegeben war, waffenlos und gedemütigt, die Minute seines letzten Blickes.

Nervil Munta aber merkte nicht den Triumph und ließ sich wie ein blindes Kind an die gewaltige Maschine, die sonst von zwei Männern bedient wurde, führen.

Zwischen kreischenden Schwungrädern und sausenden Treibriemen wurde sein arbeitshungriger Körper hingestellt. Wie ein stürzender Felsblock warf er sich in die Fron und ließ die Muskeln springen. In rhythmischem Hin- und Herwärtswiegen zitterte sein geladener Körper. Da ihm diese Arbeit ungewohnt war, ermüdete er bald und bog den gekrümmten Rücken ächzend gerade. Wischte sich den Schweiß aus der Stirn und hustete den Staub, der seine Kehle zugeschnürt hatte, hinaus. Das Zuchthaus hat mir das Fleisch von den Knochen gefressen und das Mark ausgesogen, dachte er und strich sich mit der flachen Hand über die gedunsenen Adern.

Aber da stand der Aufseher lauernd hinter ihm und brüllte „Was zum Satan glotzt du herum? Hast dich nicht lange genug ausgeruht. Da hinten im Bau?“

Nervil Munta starrte mit verglasten Augen empor, griff nach der Schaufel und warf den Koks in die Mühle. Der Aufseher stand lauernd hinter ihm und sah zu.

„Du Faulpelz mußt schneller schippen. Noch einmal so schnell. Soll die Maschine leerlaufen, springen?“

Nervil Munta nahm sich zusammen. Irgendwo schwoll eine Wut in ihm und befeuerte die Gelenke. Nur mehr ein Werkzeug war ihm der Arm. Und durch sein Gehirn blitzte das Erkennen: Ich bin nicht mehrich.

„Immer noch fixer und mehr auf die Schippe,“ brummte der Aufseher und ging.

Nervil brach am Morgen wie ein Sack zusammen. Lag im Ankleideraum erst eine gute halbe Stunde lang auf der Erde, ehe er aus der Fabrik in die Stadt zurücktaumelte.

Dann trank er die Kanne Kaffee, die ihm die Mutter vorsetzte, in einem Zuge leer und warf sich auf’s Bett. Schlief bis zum Abend und war nur mit Mühe wach zu kriegen.

Packte dann die Brotstücke und die Geneverflasche in den Kober und ging wieder auf die Mühle.

Und Nacht für Nacht kamen die gleichen Auftritte mit dem Aufseher, der ihn zwackte und peinigte wie eine Schindmähre. Seine Rachlust lebte ihm darum und davon. Nur die Geschicklichkeit „Jetzt“ zu sagen, war ihm noch nicht geworden.

Nervil Munta lebte in einem besinnungslosen Dämmer.

War steingewordene Antwort eines lebendigen Hetzers.

Seine Hände waren aufgerissen, und das Blut klebte den Holzgriff der Schaufel unentrinnbar ans Fleisch.

Stand nicht einer hinter ihm, der mit den Fäusten an seine Schläfen hämmerte, so, daß man die Knochen klingen hörte?

Dann wieder kam die Angst: Gib acht; die Räder donnern auseinander und zerschlagen deinen Schädel. Die Riemen zischen wie Schlangen und werden dich umringeln und die Brust zerquetschen. Gib acht! Gib acht!

Durch das Gedröhn der Walzen, durch Staub, Aufseherfluch und Schweißtropfen kam ihm diese Furcht.

Würde sie nie aufhören zu sein?

In der fünften Nacht sprang ein Koksstück aus der Mühle und zerfetzte sein Ohr. Das blutete und wurde eine einzige schwarzblaue Geschwulst.

„Siehst du,“ sagte der Aufseher, der ihm die Wunde verband, „siehst du, der Jarse hat dich gerufen. Nimm dich in acht, daß er dich nicht ganz holt!“

Nervil Munta dachte an die Schlägerei und versprach sich, dem Jarse von dem ersten Verdienst eine Messe lesen zu lassen.

Der Aufseher begann zu hoffen und trieb es in der siebenten Nacht noch ärger mit Nervil Munta. Der Mörder mußte zu Ende gepeinigt werden. Und sein blutgieriger Wille hetzte sich hinauf in seinen letzten Mut.

Als Nervil Munta sich unter den letzten Flüchen des Hetzers schließlich aufbäumte und nach einem Eisenstück greifen wollte, glitt er auf der glatten Bühne plötzlich aus und geriet in das Radgezähn. Und ehe der Aufseher dazu kam, den Schwung der Transmission zu stoppen, war sein Schwager Jarse gerächt.

(1912)

Mitte März trat der neue Ingenieur Erwin Vallotti sein Amt an. Er hatte die drei Dynamo-Maschinen zu beaufsichtigen, die in Bordael dröhnten und ratterten, die Pumpanlagen und Paternosterwerke betrieben.

Der Direktor der Grubengesellschaft stellte ihm die drei Gehilfen vor. Zuerst den Techniker Vildrac, dann den Jean Paquet und zuletzt Henri Semella.

Der Techniker Vildrac war der einzige auf diesem Werk, der keiner Organisation angehörte. Er mied den Schnaps, ging jeden Sonntag zweimal in die Kirche und besaß fünf Kinder. Außerdem hatte er rote Haare, Sommersprossen in einem wulstigen Gesicht und ein unregelmäßiges Gebiß.

Von den beiden anderen Kerlen war Jean Paquet der intelligentere. Obwohl etwas Raubtierhaftes von ihm ausging (wenn man z. B. seine unverhältnismäßig langen Arme und den wüst bebuschten Schädel betrachtete) war sein Gesicht schmal und offen, und der Blick stand fast immer frei.

Henri Semella endlich fiel nur durch sein Sprechen auf, das mehr wie ein gewürgtes Knurren ging und gut zu dem Bulldoggenmaul paßte. Daß er in der Kneipe häufig zu finden war, mag auch erwähnt werden.

Der Ingenieur Erwin Vallotti machte, nachdem er sich von dem Vorhandensein der drei Mitarbeiter zur Genüge überzeugt hatte, nunmehr die Bekanntschaft der Maschinen in der weißen Riesenhalle, die aus zwölf ungeheuren Bogenfenstern Weltmeere von Licht empfing.

Die drei Dynamos mit ihren Kesseln waren von verschiedenen Dimensionen. Jene zwei an den beiden Außenflügeln des Raumes hielten sich in älteren Konstruktionsmaßen und verursachten nur mäßige Geräusche. Aber es schien, als äußerten diese Geräusche feinste Wissenschaft, welche die Menschen kannte, in denen Tore sind, ihnen zueilte, in ihnen bebte wie ein gewordenes Spiegelbild des Daseins und Nächte zerstach.

Wenn die breiten Lederriemen über die Stahltrommeln fuhren, die Bürsten schrill pfiffen und die Luft sich zwischen den Polen wie eine Gewitterboe erbrach, spürte man deutlich, wie in den Menschen dünne Schichten einer Halluzination gegeneinanderdrängten, nebelzart und schmerzgefranzt, sich ineinanderschoben und ein Gesicht formten, das nicht von dieser Welt war.

Mimische Ausdrucksposen dieses also Geformten stellte das jeweilige Blut-Tempo des Halluzinierten.

Aber all diese traum-trächtigen Geräusche der zwei äußeren Maschinen verstummten, sobald das Ungetüm in der Mitte die Flügel erhob. Hart wie ein Gebirge stand sein Schnauben im Raum und ballte die Luft zu Lawinen, die vom Schwungrad durcheinandergewürfelt eisige Nacht säeten, wer wohl fände Worte, die die Kräfte jener frostigen Niederbrüche mündig machen, um sie gegeneinander sprechen zu lassen? Könnten es Laute aus unseren Sprachen sein? Ach, solche Laute fügen sich nie zu Wörtern und Sätzen, die antworten. Sie können auch nicht beschreiben. Ununterscheidbar schwarz in schwarzem dünnem Tuche wären alle Schlünde und Abhänge, von denen unsere Sprache gesprochen hat.

Unersättlich mahlte das Maschinenungeheuer. Thronte in dem schwärzlich düsteren Rot der Höhle wie ein Drachen und lenkte mit seiner gigantischen Schwere das Pendel Mensch in die nächste herzukommende Zeit hinein, die eine völlige Wahrheit strahlen wird.

War es nicht eine infernalische Groteske, daß der Techniker Vildrac auf der Plattform stand und den Gang dieser Maschinen lenkte? Mit den Füßen eines gebrechlichen Glaubens sein Dasein in das Hirn dieses Gott-Embryos rammte, ohne zerzwirbelt zu werden wie ein lästiges Insekt?

Der Ingenieur Erwin Vallotti kannte, fremd in dieser Halle, natürlich noch nicht das wahre Gesicht des Molochs. Als ihm aber Jean Paquet wie auf eine heimliche Verabredung hin die Opfer nannte (zwölf vom Hundert), da war kein Zweifel mehr in ihm. Er segnete diese Stunde. Und alle Furchen in seinem hageren Antlitz schienen wie eingemeißelt in die harte Haut. Jeder Zug um Nase und Mundwinkel stand starrend steif.

Drei Wochen waren verrollt. Da zogen die Grubenleute in hellen Scharen in die Versammlung. Ein Obmann von der Zentralleitung der roten Organisation war gekommen und sprach für den Achtstunden-Tag. Man jubelte ihm zu, wenn er mit einem Worthieb starre Gesetze splitterte, oder alles Bestehende, das faul war, mit einem Fußtritt in den „Orkus“ stieß. Man heulte auf, als er mit einem Scheinwerferstrich von Allwissenheit in das sumpfige Qual-Labyrinth der Gewerkschaft von Bordael stach und Zustände lichtete, die schon nicht mehr sträflich waren. Und das Geheul der Wissenden klang wie das Feldgeschrei irgendeines wilden Volksstammes und schien von dumpfen, schmetternden Trommelwirbeln begleitet. Denn in den Mienen des Redners stand gläubig geschrieben: Ich bin schon nah; gleich wird das Vollbringen mich umhüllen.

Sieghaft verlas er die Resolution, welche forderte: sogleich in den Streik zu treten, der als ein Unerwartetes schon halberfüllte Forderung war.

Da setzte breit und dumm die Diskussion ein. Zog den Willen zurück von dem letzten Sprung und ließ ihn wie eine offengestöpselte Essenz verflüchten, die zum Himmel stank. Und die Stimmung zerriß. Blut kochte. Exzesse wurden.

Da trat der Ingenieur Erwin Vallotti, der von einem Pfeiler verdeckt der Strömung gefolgt war, vor und versuchte sich einen Weg zu der Tribüne zu bahnen, wo der fremde Redner saß. Halsgeschwollen und mit zurückgebeugten Armen. Hatte Hämmern im Kopf, während Adern sich verknoteten, wühlten und zerrten: Fäuste zu ballen über diese Haltlosen. Zu brüllen: Ihr Vieh!

Rings um ihn her hatte sich aus Getreuen und Standhaften ein tonnenförmiger Kreis geschlossen, dessen Dauben alle Mühe hatten, den Druck von außen auszuhalten. Die armen Leute quetschten sich so schmal wie möglich. Krümmten die Schultern und spreizten die Beine, um dem entsetzlichen Muskel standzuhalten, der sich um das lebende Faß wand und preßte.

Der Ingenieur Erwin Vallotti kam nicht einmal bis zur Mitte des Saales. Als er umherblickte mit verwundert fragenden Augen, sah er, daß er der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden war. Man stierte ihn verdutzt an. Ließ die Unterkiefer hängen und erreizte sich Gedanken, wer er sei, was er hier zu tun habe und mit welchen Absichten.

Da schrie einer: ’Raus mit dem Spion!

Aber noch ehe es aus dem zwiespältigen Gemurmel zum Orkan schwoll, ging die Glocke auf der Tribüne.

Da drängte es sich in ihm auf wie ein Gefühl von Scham: Wer sind denn eigentlich diese Geschöpfe. Diese schlappen Gesichter mit ihrer gedunsenen Un-Ironie? Ihrem matten Unwillen? Daß gerade diese des Elementaren verlustig gegangen waren: der Kraft, zu zürnen. Gewaltsam ans Licht zu drängen!

Er empfand diesen Augenblick etwas wie Verachtung gegen sich selbst und suchte den Ausweg zur Tür. Ging über die Straße zum Kanal hinunter, wo ein Sturm erbost war. Schob sich mit wagerechtem Oberkörper durch den treibenden, puffenden Widerstand.

Da segelten dichte, monderhellte Wolken um einen Strahlenkern. Unter ihnen klatschte und flatterte es wie unter einer Reihe riesig gebauschter Segel, und unter dem Holzpfahlwerk des Kais wetzten zerbrochene Scherben ein Spiel, das keinen Klang mehr hatte. Schiffsmaste beschrieben weite Pendelbewegungen. Schornsteine von drüben schnellten wie Gerten und zerrissen die Wasserhaut in lange weißschäumende Wunden.

Es lag nahe, die Raserei von einem flammenden Zorn mißhandelter Elemente, in denen es ohne Unterlaß riß und peitschte, knirschte und schrie, winselte, zischte und schluchzte, unvernünftig sinnlos zu nennen. Aber gehorchten nicht die Elemente des Menschenhirns denselben Gesetzen wie Himmel und Flut?

Und doch: die Elemente da hinten im Versammlungshaus interessierten ihn mehr, als das Unwetter hier draußen, das ja wohl ihr entfernter Verwandter war. Sie sprachen eine gleich unartikuliert klingende Sprache, wenn auch von Furcht noch gehalten.

Aber diese Naturkraft muß noch im Keim konzentriert, gezähmt werden, um sie als Kraft auf gewaltige Entfernungen zu übertragen. Und ohne ihre Macht zu dämpfen, muß man sie hindern können, ihre eigene Maschine zu zerschmettern.

Ach, begreifen sie wirklich schon: wie, lebten sie so, wie sie leben? Und wie vermöchten sie es, wie vermögen sie’s? Hören sie denn nicht den Schrei: Es wartet einer draußen schon?

Sind sie denn krank?

Krank, da sie sich noch bemühen können, ehe der Schrei des Todes herausgenommen ist aus ihrer Welt oder — ganz in sie hineingekommen? Aber wie können nur ganze Haufen sich als die Einzelnen fühlen, da jener Schrei doch an alle und als das Erste herangeht. Müßten die Menschen innerlich so verschieden sein, wie sie heute ihr Äußeres einander verweist?

Man ginge lieber zu den Kaffern und wüßte schon, bevor man mit ihnen spräche, über sie: In diesen bist du wie in jedem Lebenden zu Hause. Und diese Sicherheit stärkte und man könnte leben ohne das Schmerzen der einsamen Wachheit.

Der Ingenieur Erwin Vallotti hatte die Straße wieder erreicht. Der Sturm blies nun von rückwärts, hob ihn empor, stieß ihn fast vor sich her und spreizte ihm die Rockschöße aus wie Flügel. Er sah nach dem Versammlungshaus hinüber. Alle Lichter waren erloschen dort. Der Regen hatte das Volk wie Spreu zerstreut. War der hundertfältige Willen der Vielen endlich geknotet zu einem einzigen Tau, jenen Riesen zu fesseln, gegen dessen Bestialität man anzurennen versuchte?

Vor einer miserablen Wirtschaft stand noch eine kleine Gruppe Abschiednehmender. Das Harmonikagezwitscher von drinnen drang kaum durch die Scheiben ins Freie, und das Klirren der Gläser nahm sich aus wie ein schwaches tickendes Knipsen.

In der Nähe einer Laterne stieß der Ingenieur Erwin Vallotti mit einem älteren Mann zusammen, der ihn trotz seiner klar gehörten Entschuldigung mit den Augen verfolgte.

Der Ingenieur Erwin Vallotti guckte neugierig über die Achsel zurück und wäre vor Erstaunen fast gestolpert. Diesen buschigen Kopf hatte er schon gesehen, ebenso, wie diesen starren Blick unter den Hängebrauen.

Er rief darum, nicht mehr zweifelnd: „Jean Paquet!“

Da drehte sich der Schwarze um und kam rasch aus der brausenden Finsternis.

Nun sah er deutlich: der Mann, dessen Gesicht sauber geseift war, hatte Fanatisches. Und war sein Mitarbeiter.

Dann sagte er: „Nun, mein lieber Paquet, wie lief die Sache? Wird gestreikt oder nicht?“

Jean Paquet beugte sich vor. Wie jung er doch aussah!

Fast sieghaft kam es heraus: „Ja. Sie, morgen schon! Und Sie können es auch gleich wissen: ich mach mit. Dafür könnenSiemeine Maschine lenken. Oder der Vildrac. Oder ihr alle zusammen!“

„Wer?“

„Na, der Vildrac, der Kriecher! Wer denn sonst? Sein Gott wird ihm wohl noch einen Arm dazu wachsen lassen, damit er nicht mehr zehn, ach, gleich zwanzig Stunden schuften kann.“

„Sagen Sie mal, Paquet, weshalb beschimpfen Sie gleich Ihren Genossen? Wissen Sie denn schon, daß er nicht mittut, wenn alle streiken?“

Jean Paquet verzog den Mund und spuckte aus: „Der und streiken? Tausend Knüppel jagen ihn nicht aus dem Maschinenhaus!“

„Sie sollten ihm mal ins Gewissen reden! Oder mit Geld herumkriegen. Vielleicht hat er Angst zu hungern.“

Jean Paquet richtete sich auf. Trotzig. Hob die Schultern. Und schrie gemein: „Sie wollen mich wohl aushorchen. Herr Ingenieur??“

Da faßte ihn der Ingenieur Erwin Vallotti bei der Schulter, um ihn in das gegenüberliegende Lokal zu zerren.

Paquet aber witterte Verrat. Bekam einen Wutanfall und riß sich los. Brüllte über die Straße hin: „Nun pack’ dich aber, du Spion! Pack’ dich! Sonst gibt’s noch eine Leiche heute Nacht!“

„Feigling!“ knurrte der Ingenieur Erwin Vallotti und ging mit starren Blicken in das fahle Frühlicht.

Am nächsten Morgen waren nur zehn Knappen von der ganzen Belegschaft gekommen, die sich zur Einfahrt meldeten. Man wies sie zurück und hing doppelte Schlösser vor die Tore. Die Heizer aber, junge Kerle aus dem Osten, standen vollzählig vor den Kesseln, und in der Maschinenhalle fehlte nur Jean Paquet.

Da ersuchte der Direktor, dem der Streik wirklich nicht naheging, den Ingenieur Erwin Vallotti, die verwaiste Maschine für die paar Tage, wo dieser Karneval tobte, selbst zu halten. Denn das Wasser müßte unter allen Umständen aus dem Schacht.

Der Ingenieur Erwin Vallotti schwoll rot an. Zuckte aber nicht. Stellte sich vor das Schwungrad und lenkte den Hebel. Der Schweiß glänzte dick in den schwarzen Haarsträhnen, die ihm unter dem Hut hervorhingen. Und seine Augen lagen tief wie zwei ausgebrannte Kohlen.

Er dachte: warum sind nur die Heizer da? Dieser Streik wäre dann der erste, der zu gewinnen ist. Lumpenpack!

In der Mittagspause, als der Vildrac im Ölkeller war, hatte der Ingenieur Erwin Vallotti eine Unterredung mit Henri Semella, die so gestellt war, daß dieser am nächsten Morgen nicht wieder kam. Da setzte der Ingenieur Erwin Vallotti mit den kleinen Maschinen aus.

Nun ging die große Riesenmühle allein, und Vildrac war stolz auf das durchdringende Getöse, das sie verursachte. Er sog das Sausen der Zylinder wie Musik ein und ahmte mit heftigen Lungenstößen das Auszischen des Dampfes nach. Er putzte und reinigte die Metallteile, bis sie die Sonne an Glanz übertrafen. Sang und putzte und sah strahlend erhoben auf den Ingenieur herab, dessen schlangenhafter Schatten in dem Lichtpfad auf zitternden Steinen zwischen den ruhenden Dynamos unter den Riemen hin- und herhuschte.

Das ging Tag für Tag so. Und drei Wochen hindurch. Und um keinen Schritt waren die Streikenden mit ihren Forderungen näher gekommen.

Der Herr Direktor ging wie ein Pfau umher und rauchte teure Zigarren auf dem Grubenhof. Sein Blick fuhr streichelnd über die festverrammten Tore und über jedes Gebäude. Minutenlang horchte er auf das Brausen aus dem Maschinenhaus und klopfte sich befriedigt auf den Bauch. Denn auf den Höfen lagen noch ungeheure Kohlenvorräte aufgestapelt. Und solange die Pumpen das Wasser in breiten Strömen aus den Schächten hoben und der König und Soldaten waren — — —

Eines Abends belauschte der Ingenieur Erwin Vallotti einen Trupp Ausständiger im Wäldchen, wo sie faul und mutlos im Moos lagen. Man resignierte da: „Solange die Maschinen gehen, gibt der Hund von Direktor nicht nach. Warum haben wir die Heizer nicht auf unserer Seite? Der Streik ist doch auch ihre Sache. Man sollte das Maschinenhaus stürmen und die Lumpenkerle totschlagen. Diese Lumpenkerle,“ — sie spuckten alle geräuschvoll aus, — „die ihren Brüdern in der Verdammnis noch ein Bein stellen, gerade das: ein Bein stellen, denn es ist doch so, wie wenn zwei raufen und ein dritter kommt und stößt den Schwächeren mit dem Fuß unter die Kniekehlen und nimmt dann für die Mühe noch fünf Groschen. Es ist akkurat dasselbe, wie wenn das Schwalbenjunge dem Kuckucksjungen hülfe, die Schwalben aus dem Nest zu schmeißen. Aber man kann die Hunde nicht mehr fassen. Tag und Nacht liegen sie auf dem Werk. Dynamit sollte man legen.“

Der Ingenieur Erwin Vallotti zuckte auf: „Verwirre ich mich denn immer mehr? Geht nicht einer hinter mir, der mit den Knöcheln seiner Finger auf meinen Rücken klopft, so daß ich meine Gedanken aus den Knochen klingen höre? Als Echo einer gewordenen Tat klingen höre: „Dynamit sollte man legen . . . !“

Bin ich denn Gott?

Freilich, der Gott, den unsere Völker zu fühlen glauben, hat ja auch nicht gelernt,derGott zu sein.

Trotzdem will ich mein Werk vollenden. Sei’s auch um den Preis der Brüder.“

Als der Ingenieur Erwin Vallotti wieder in das Maschinenhaus kam, schickte er den Heizer, der ihn vertreten hatte, wieder weg und nahm sich den Vildrac vor.

„Sie sind schon fünfzehn Jahre auf dem Werk, hörte ich!“

„Ja, Herr Ingenieur!“

„Was sagenSiedenn zu dem Streik, he?“

„Ich . . . ich . . . meine, die Kerle haben keinen Grund. Sie haben doch ihr Auskommen und acht Stunden den Tag — das geht doch nicht. Da lungern sie bloß in der Kneipe herum und vertrinken noch mehr. Es ist eine Schande, Herr, wie die Kerle saufen!“

„Sie lesen viel in der Zeitung, Vildrac?“

„Ach, mehr in der heiligen Schrift. Die Zeitungen lügen ja so. Nur im Kreisblatt steht manchmal Wahres. Da stehtauch, daß der Streik nichts wie Erpressung ist. Aber man weiß ja, die Kerle haben sich aufhetzen lassen von denen, die oben stehen und berühmt werden wollen. Der Jean Paquet ist übrigens auch so ein Hetzer. Was hat er als Maschinist mit den Grubenleuten zu tun? Schon längst hätte er hier weg müssen. Der Hetzer!“

„Sind Sie nie in einer Versammlung gewesen?“

Vildrac richtete sich auf mit geröteten Augen. Sein sonst gelbes Gesicht glich augenblicklich einem nebligen Herbstmond. Es war fast glutrot. Mit schleimigen Gurgelstößen erwiderte er: „Soll ich auch etwa unter die Hungerleider gehn, Herr Ingenieur? Ich habe fünf Kinder, Herr! Gegen meine Überzeugung soll ich Front machen? Nein. Nie im Leben! Sie sehen ja, die Geschichte führt ja doch zu nichts. Nächste Woche werden Leute aus Holland kommen. Dann können die hier sich trollen. Und dann: Ist das ein Kampf? Nichts als Mord. Mord!“

Da brauste der Ingenieur Erwin Vallotti auf: „Aber nun hören Sie mal. Gewiß ist das ein Kampf. Ein Bazillenkampf. Ihre Brüder hungern. Ihre Brüder finden das Hungern unbehaglich. Sie vereinigen sich, um sich das Brot, d. h. die Produktion zu erkämpfen. Sie sagen Mord? Nun, wenn Kampf einmal im Gange ist, hagelt es auch Hiebe. Und wenn Brotläden gestürmt werden, hol’ der Henker den, der umherfackelt und von den Lilien auf dem Felde faselt. Es wird ja nicht nach Formen und Billigkeit gefragt, sondern nach Macht und Konjunkturen. Rechtmäßig heißt jeder Streik, der gelingt. Und dieser Streik wird und muß gelingen, weil er sozial und ein Kraftmesser ist.“

Vildrac spreizte die Hände. In seinen Mienen jagten sich Abwehr und Angst. Keifte Unverständliches und kroch wie ein verprügelter Hund unter die Riemen.

Der Ingenieur Erwin Vallotti hingegen stand mit geballten Fäusten. Ein Verödendes lief über sein Denken. Er wurde fast irre in der Wut darüber, daß jener, ein Vernarrter, da war und sein Haus beschrie. Einer da war, der nicht fühlte, daß die große Quelle des Neuen draußen unter den Brüdern herausgebrochen ist, die schon lebte in ihrer dem Tode abgekehrten Art. Ihre Sache ist Zweck und ihre Seele Lust. Frei freute diese sich erst, wenn keiner der Beteiligten mehr unentwickelt im Knäuel der primären Triebe läge, wenn nicht mehr lebende Möglichkeiten von Menschen aus dem Meere des Goldes hinausgeworfen wären auf den Strand der Not.

In diesen Gedankengängen kam der Ingenieur Erwin Vallotti dazu, ein Signal zu geben. Und sein Wille konzentrierte sich vorerst auf die große Maschine, die Ursache war, daß unter den Brüdern Unlust und Untätigkeit verheerend kroch. Und eine Eingebung versetzte ihn in einen Zustand freudiger Erregung.

In der Nacht auf den Tag, da zweihundert Streikbrecher unter Begleitung von Gendarmen ins Dorf gekommen waren, gingen alle drei Dynamomaschinen. Die Förderkörbe stiegen auf und ab und in den Paternosterwerken lärmten die eisernen Schieber. Vildrac und der Ingenieur Erwin Vallotti waren allein in dem Maschinenhaus. Ihre schwarzen Schatten standen riesengroß auf den weißen Wänden. Die Bogenlampen schwammen wie in Blut, und die großen Regulatoren zerspritzten das Purpurne mit rasendgeregten Drehungen. Die Pistons ächzten unruhig einem Unfaßbaren entgegen. Durch die Fenster zwängte sich der Flor der Nacht und trieb die Außenwelt weit hinaus.

Vildrac hockte wie ein Götze auf der Plattform, und unter ihm sausten die öligen Drahtseile wie Befehle ausseinenHänden entsprungen. Die Ringe unter den Kupferbürsten liefen durch sein Gehirn, das von jeder Runde das geschöpfte Wasser zu messen schien. Der dumpfe Ton des Tumultes klang ihm wie eine Bestätigung.

Der Ingenieur Erwin Vallotti pendelte mit unruhig gelängten Schritten durch den ungeheuern Raum. Als er aber an den Schalttafeln hantierte, ließ ihn Vildrac nicht mehr aus den Augen. Eine erträumte Ahnung quoll die weißverzerrten Äpfel wie Knollen aus den Höhlen vor. Plötzlich vereinte sich dem ahnend Erdachten, zu dem ihm Hellsehen stieß, eine Tat. Er hörte etwas einschnappen und sah, daß die Armatur ihren Lauf veränderte. Kurzschluß!

Der Ingenieur Erwin Vallotti stand am Fenster und rührte sich nicht.

Da kroch Vildrac von der Plattform und untersuchte den Draht. Er ächzte und stöhnte dabei. Hielt Schläge aus, die vom Strom sprangen, und näherte sich befriedigt der Endung, als die Armatur plötzlich zurücksprang und den Körper hochriß.

Wie ein nasser Sandsack platschte er aus der Höhe auf den Steinboden zurück.

Der Ingenieur Erwin Vallotti klingelte die Heizer herein. Einer mußte den Direktor holen. Der richtete an den Ingenieur einige Fragen, die dieser mit gleichgültigem Kopfnicken bestätigte.

Unfall. Selbstverschuldet.

Man hielt sich nicht lange auf und schaffte den Leichnam hinaus. Es waren noch zwei Stunden bis zur Ablösung, und die nützte der Ingenieur Erwin Vallotti, der allein in der Halle blieb, aus zu dem rächerischen Werk, das keiner Zeugen bedurfte. Er hatte den vorerwogenen Weg, der doch zu keinem Ziele führte, endgültig verlassen und strebte darum dem Letzten zu. Er wußte: nur ein dröhnendes Signal könnte die Scharen sammeln. Und dieses furchtbare Signal wollte er geben. Denn die Brüder brauchten einen Schlachtruf zu jener Sieghaftigkeit, die ihres Willens zur Freude wert ist. Sie werden dann nicht mehr sich selber zerfühlen, zerfleischen müssen, fühlten sie erst den großen Kampf vor sich als einen halberrungenen Sieg.

Dann erst wandelte sich zur Tat jedes Mühn, wenn der es in den Ekel zerrende Zusammenhang mit der Stillung des Hungers zerrissen wäre und auch nicht mehr die Farbe des Einzelnen trüge.

Der Ingenieur Erwin Vallotti atmete erst auf, als die Patronen gelegt waren und die Drähte verbunden. Und niemand würde, das war ihm gewiß, den Plan in den ersten vierundzwanzig Stunden entdecken.

Mit gehobenen Schultern trat er ins Freie.


Back to IndexNext