Christian Holzwart

Eine solche Geringschätzung erregte Murren und Unwillen, aber Nettelbeck ließ sich nicht abhalten, zu tun, was ihm Pflicht schien. Er machte den Oberst darauf aufmerksam, welch gute Dienste in früheren Belagerungen eine Schanze auf dem hohen Berg, eine Viertelmeile außerhalb der Stadt, geleistet hatte, und er und seine Freunde seien bereit, die Schanze wiederherzustellen. Der Oberst antwortete, was außerhalb der Stadt geschähe, kümmere ihn nicht, die Festung innerhalb werde er schon zu verteidigen wissen. Und so baute Nettelbeck die Schanze, und es halfen ihm die Bürger, ihre Gesellen, ihre Lehrjungen und Dienstmägde; als die Arbeit noch immer zu langsam vonstatten ging, warb er Leute am Hafen und bezahlte sie aus seiner Tasche. Er sorgte für die Anschaffung von Lebensmittelvorräten und nahm bei Bäckern, Bauern und Branntweinbrennern ein Verzeichnis der Beständeauf. Er ging in die umliegenden Dörfer und sah nach, was an Korn und Schlachtvieh vorhanden war. Mit all seinen Papieren ging er nun zum Kommandanten, um ihn zu bewegen, daß er die Vorräte in die Stadt schaffen lasse. Der Oberst aber, als hätte die Pest an den Papieren geklebt, drückte sie ihm eilig wieder in die Hand und sagte, er brauche den Plunder nicht und damit Gott befohlen.Der Oberst hatte auch eine alte Köchin, und die war jedesmal zugegen, wenn Nettelbeck kam, und gab ihren Senf mit drein. Auch dieses Mal schimpfte und maulte sie, bis Nettelbeck die Galle überlief und er dem unverschämten Weibsbild die Meinung sagte, wodurch er aber den Obersten nur noch mehr gegen sich in Zorn setzte.Um den Magistrat und seine Anstalten stand es auch kläglich, der Untergang der Stadt schien nicht aufzuhalten, und so entschloß sich Nettelbeck, der winterlichen Jahreszeit zum Trotz, den König selbst in Königsberg oder in Memel aufzusuchen und ihm Kolbergs Lage und Not vorzustellen. Da traf aber der Kriegsrat Wissening von Treptow in Kolberg ein, ein Mann, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Der machte sich gegen Nettelbeck erbötig, selber zum König zu gehen und sein möglichstes zu tun, um den Platz zu retten. Unter den von den Truppen Versprengten, die täglich in Kolberg Zuflucht suchten, befand sich auch der Leutnant von Schill; Nettelbeck gewann ihn bald zum Freund, und der junge Offizier erklärte sich bereit, in Kolberg zu bleiben, um bei der Verteidigung zu helfen. Er stimmte mitNettelbeck darin überein, daß vor allem die Maikule, der Schlüssel zum Hafen, um jeden Preis festgehalten werden müsse, und doch war zur Verschanzung dieses entscheidenden Punktes bis jetzt noch keine Schaufel in Bewegung gesetzt worden. Es waren keine Hände da, um auch nur einige Erdaufwürfe zustande zu bringen, und Nettelbeck trieb unermüdlich in der Geldervorstadt und in allen umliegenden Ortschaften Tagelöhner und Häusler zusammen, versprach und zahlte guten Lohn und verwandte gegen vierhundert Taler aus seiner Tasche. Tag und Nacht arbeiteten etwa sechzig Menschen nach dem von Schill entworfenen Plan an den Befestigungen; weder der Kommandant noch sonst jemand fragte und kümmerte sich, was da geschafft wurde. Indessen war der Kriegsrat Wissening mit ausgedehnten Vollmachten vom König zurückgekehrt. Seine Hilfe brachte neues Leben in die Verwaltung; ganze Herden Schlachtvieh, lange Reihen Getreidewagen zogen zu den Toren ein, und Heu und Stroh im Überfluß füllte die Futtermagazine. In der Stadt wurde geschlachtet und eingesalzen und die Böden der Bürgerhäuser mit Korn beschüttet.Um die Mitte März hatten die Franzosen die Umzingelung der Festung beendet. Die Schanze auf dem hohen Berg ging unter blutigen Kämpfen verloren, auch die Anhöhen der Altstadt waren besetzt. Es war nun dringend geboten, die Überschwemmung des Geländes rings um die Festung zu bewirken, eine Absicht, die auf den hartnäckigen Widerstand der Grundeigentümer stieß. Auch der Kommandant wolltenichts davon wissen, bei der darüber geführten Unterredung mischte sich wieder die Köchin in ihrer gewohnten Weise ein. Nettelbeck schob sie ohne viel Federlesens zur Türe hinaus, der Oberst geriet in Hitze, griff nach seinem Degen und würde ihn gegen Nettelbeck gezogen haben, wenn ihm nicht dessen Begleiter, der Hauptmann von Waldenfels, mit den Worten in den Arm gefallen wäre: »Beruhigen Sie sich, Nettelbeck hat recht getan.«Die Franzosen schickten indessen einen Parlamentär, den der Oberst in aller Freundlichkeit empfing und mit dem er hinter verschlossener Tür verhandelte. Nettelbeck argwöhnte Verrat, und in der Fülle seines beklommenen Herzens schrieb er an den König: Wenn Euere Majestät uns nicht bald einen andern und braven Kommandanten zuschicken, sind wir unglücklich und verloren.Die Belagerer schritten zum Angriff, die Geldervorstadt geriet in Gefahr, Loucadou erteilte den Befehl, sie niederzubrennen, aber Schill stellte ihm das Unnützliche und Übereilte dieser Maßregel mit solchem Gewicht vor, daß er nachzugeben gezwungen war; dadurch konnten Hunderte von Menschen die beweglichen Trümmer ihres Besitzes in Sicherheit bringen, und erst als dies geschehen war, fand die Zerstörung statt. Der Kommandant aber bezichtigte Schill der Insubordination und ließ ihn in Arrest setzen. Soldaten und Bürger vernahmen mit Unwillen, was ihrem Liebling geschehen war. Es entstand ein Gemurmel, ein Reden, Fragen und Durcheinanderlaufen, das mit jeder Minute lauterund stürmischer wurde. Man wollte Schill mit Gewalt befreien und den Kommandanten zur Rechenschaft ziehen. Nettelbeck, lebhaft bestürzt und das Unselige dieser Volksbewegung erkennend, warf sich unter die Menge, bat sie, Vernunft anzunehmen und vor allen Dingen Schills eigene Meinung zu hören. Dies ward angenommen, und Nettelbeck ging zu Schill. Als der vernahm, wie die Sachen standen, erschrak er heftig, und Nettelbeck an beiden Händen ergreifend, rief er: »Freund, ich bitte Sie um alles, stellen Sie die guten Menschen zufrieden. Aufruhr wäre das letzte und größte Unglück, das uns begegnen könnte. Sagen Sie ihnen, ich sei nicht arretiert, ich sei krank, sagen Sie, was Sie wollen, wenn sich nur die Leute zur Ruhe geben.« Nettelbeck begab sich wieder auf den Markt, hielt eine Ansprache, die Leute kamen zur Besinnung und gingen friedlich auseinander. Schills Arrest blieb ein leeres Wort, das stillschweigend zurückgenommen wurde.Die feindlichen Granaten schlugen in die Stadt, und der Oberst befahl, daß die Dächer mit Dünger belegt und das Pflaster aufgerissen werden sollte, um die Geschosse unschädlicher zu machen. Nettelbeck äußerte Zweifel über das Förderliche dieses Befehls; da die Dächer eine Neigung von mehr als fünfundvierzig Grad besaßen, meinte er, der Dünger werde wohl nicht haften bleiben, auch würden die Bomben vor den so bedeckten Dächern nicht sonderlich viel Respekt zeigen; das Aufreißen des Pflasters sei aber bei den engen Gassen sogar gefährlich, weil dann bei entstandener Feuersgefahr wederSpritzen noch Wasserkufen einen Weg durch die Steinhaufen und den umgewühlten Boden finden würden. Während des Gesprächs fuhr in der Nähe eine Bombe nieder und zersprang. Der Oberst sah sich mit etwas verwirrten Blicken um und stotterte: »Meine Herren, wenn das so fort geht, so werden wir müssen doch noch zu Kreuze kriechen.« Mehr konnte er nicht hervorbringen. Nettelbeck, alle Selbstbeherrschung verlierend, fuhr auf und schrie: »Halt! Der erste, wer er auch sei, der das verdammte Wort wieder ausspricht, von zu Kreuze kriechen, stirbt des Todes von meiner Hand.« Dabei riß er den Degen aus der Scheide, sein Nebenmann faßte ihn von hinten und zog ihn von Loucadou zurück. »Arretieren,« knirschte der Oberst mit schäumendem Mund, »gleich arretieren! In Ketten und Banden.« Alles drängte sich um den Oberst zusammen; Nettelbecks Freunde schoben ihn zurück, und er ging, wenig zufrieden mit sich selbst und seinem Zorneifer, still nach Hause. Nachmittags berief der Kommandant den Landrat zu sich und teilte ihm mit, er werde Nettelbeck vor ein Kriegsgericht stellen und auf dem Glacis der Festung erschießen lassen. Der Landrat erschrak, machte eindringliche Vorstellungen, jedoch der Oberst beharrte auf seinem Sinn. Als die Bürger vernahmen, was im Werke war, geriet alles in die größte Bewegung, alles ergriff Nettelbecks Partei; der Haufen sammelte sich und ward mit jeder Minute größer, wälzte sich zu Loucadous Wohnung, umringte ihn, und die Wortführer bestürmten ihn so lange im guten und im bösen, bis sie seine Entrüstung einigermaßen milderten oder vielleichtihn ahnen ließen, daß er kein so leichtes Spiel haben werde. »Gut, gut,« sagte er endlich, »so mag der alte Bursche diesmal laufen. Hüt er sich nur, daß ich ihn nicht wieder fasse.« Nettelbeck hatte von seinem Fenster aus den Auflauf des Volkes bemerkt, hatte aber kein Arg, daß es ihn so nahe angehen könne. Erst andern Tags erfuhr er, wie schlimm es auf ihn und sein Leben gemünzt gewesen.Die Belagerung nahm ihren Fortgang, und Not und Elend stiegen von Woche zu Woche. Es war am 1. Juli, als die Franzosen endlich letzten Ernst zu machen schienen. In den Morgenstunden eröffneten sie ein furchtbares Bombardement auf die Stadt. Bald gab es nirgends ein Plätzchen mehr, wo die zagende Menge vor dem drohenden Verderben sich hätte bergen können. Überall zerschmetterte Gewölbe, einstürzende Böden, krachende Wände und aufwirbelnde Säulen von Dampf und Feuer; überall die Gassen wimmelnd von ratlos umherirrenden Flüchtlingen, die ihr Eigentum preisgegeben hatten und unter dem Gezisch der kreisenden Feuerbälle sich verfolgt sahen von Tod und Verstümmelung. Geschrei von Wehklagenden, Geschrei von Säuglingen und Kindern, Geschrei von Verirrten, die ihre Angehörigen verloren hatten, Geschrei der Menschen, die mit dem Löschen der Flammen beschäftigt waren, Lärm der Trommeln, Rasseln der Fuhrwerke, Geklirr der Waffen, es war herz- und ohrenzerreißend. Im Laufe des Tages erstürmten die Franzosen die Maikule, und mit dem Verlust dieses wichtigen Punktes war die Verteidigung gelähmt, und das Münderfortwar nun zur Beschützung des Hafens nicht mehr ausreichend, was sich zeigte, als das englische Schiff, das den Belagerten zu Hilfe gekommen war, beim Vordringen der Franzosen die Ankertaue kappte, um wieder das offene Meer zu gewinnen.Zu spät hatte der König Unterstützungsmannschaften geschickt, zu spät den unfähigen Kommandanten durch den Major von Gneisenau ersetzt; es schien, daß die Stadt nicht mehr zu retten war. Inmitten der ringsum drohenden Gefahr erzeugte sich allmählich eine Gleichgültigkeit bei vielen, die nichts mehr zu Herzen nahmen. War auch nicht der Mut, so war doch die Natur erschöpft; Anstrengung, Schlaflosigkeit, immerwährende Spannung des Gemüts und Sorgen für Weib und Kind und Eigentum fielen auf die meisten mit einem solchen Gewichte, daß sie sich in den Trümmern ihrer Wohnungen ein noch irgend erhaltenes Plätzchen ersahen, um den bis in den Tod ermatteten Gliedern einige Ruhe zu gönnen.Da geschah es, daß eine Bombe, verderblicher als alle andern, in das Rathaus fuhr, und ein hell aufflackerndes Feuer war die Folge ihres Zerspringens. Als naher Nachbar sprang Nettelbeck hin, um schnelle Anstalten zur Brandlöschung zu betreiben, aber ringsum regte sich keine menschliche Seele. Er lief zu Bekannten, braven und wackeren Männern, um sie zur Hilfe aufzurufen, doch schlaftrunken und ohne Gefühl beachteten sie sein Bitten und Ermuntern ebensowenig, wie sein Toben und Schelten. In steigender Angst rannte er auf die Brandstätte zurück und packte jedenan, der ihm begegnete. Ein vierschrötiger Kerl, dem er einen gefüllten Löscheimer aufdrängte, nahm ihn und schlug das Gefäß mit seinem nicht eben sauberen Inhalt Nettelbeck geradezu um die Ohren, so daß er fast die Besinnung verlor und von Schmutz und Ruß bedeckt eine jämmerliche Figur machte. Ohne sich darum zu kümmern eilte er in das nächste Wachhaus auf dem Walle und stürmte wild in das halbdunkle Wachzimmer. Auf der hölzernen Pritsche regte sich eine Gestalt. »Bester Mann, zu Hilfe, das Rathaus steht in Flammen!« schrie Nettelbeck. Der Offizier erhob sich, schlug die Hände zusammen und rief aus: »Ach, du armer Nettelbeck!« Jetzt erst erkannte ihn Nettelbeck; es war Gneisenau. Nun wurde die Lärmtrommel gerührt, die Soldaten erschienen, Patrouillen durchzogen die Stadt, und die Löschanstalten kamen in Bewegung. Zu gleicher Zeit hatten die Gefangenen im Stockhaus die allgemeine Verwirrung benutzt, um auszubrechen, und hatten in den Häusern zu plündern begonnen; auch Nettelbecks Haus wurde von diesem Schicksal betroffen. Durch den tätigen Eifer des Militärs wurde die Rotte wieder eingefangen und unschädlich gemacht.So besonnen, wo es zu handeln galt, so allgegenwärtig gleichsam, wo eine Gefahr nahte, und so beharrlich, wo nur die unabgespannte Kraft zum Ziele führen konnte, hatte sich der Kommandant Gneisenau immer und überall seit dem ersten Augenblick seines Auftretens erwiesen. Wochen hindurch war er so wenig in ein Bett als aus den Kleidern gekommen.Vater und Freund des Soldaten wie des Bürgers, hielt er beider Herzen durch den milden Ernst seines Wesens und durch teilnehmende Freundlichkeit gefesselt. Jeder seiner Anordnungen folgte das unbedingteste Zutrauen.Der Morgen des 2. Juli brach an. Not und Elend, Jammergeschrei und Auftritte der blutigsten Art, einstürzende Gebäude und prasselnde Flammen, das war das einzige, was bei jedem Schritt den entsetzten Sinnen sich darstellte. Gneisenaus scharfes Auge hatte mitten im gräßlichsten Tumult erkannt, daß der Feind Vorbereitungen traf, sich von der Wolfsschanze aus über das Münderfort herzustürzen. Es war drei Uhr nachmittags. Gegenanstalten wurden getroffen, Befehle flogen, alles war in der lebendigsten Spannung, plötzlich schwieg das feindliche Geschütz auf allen Batterien. Auf das Krachen eines Donners wie am Tage des Weltgerichts folgte eine lange, öde Stille. Jeder Atem stockte, niemand begriff den schnellen Wechsel, das schauerliche Erstarren so gewaltiger losgelassener Kräfte. Da nahte ein feindlicher Parlamentär, neben ihm ein preußischer Offizier, und alsbald stürzte dieser mit den atemlos hervorgestoßenen Worten in den Kreis seiner Bekannten: »Friede! Kolberg ist gerettet.«Als im Jahre 1809 der König von Memel nach Berlin zurückkehrte, hieß es zuerst, er werde seinen Weg über Kolberg nehmen; aber die Strenge der Jahreszeit gebot die kürzeste Richtung, und da es bekannt wurde, daß das königlichePaar einen Rasttag in Stargard machen wollte, schlug Nettelbeck den Kolbergern vor, eine Abordnung der Bürgerschaft dorthin zu senden. Alles war seiner Meinung, aber alles glaubte auch, daß es dafür zu spät sei, denn um rechtzeitig an Ort und Stelle zu kommen hätte man sich noch den nämlichen Abend auf den Weg machen müssen. »Und warum nicht schon in der nämlichen Stunde?« fragte Nettelbeck. »Ich bin dazu bereit, aber ich bedarf noch eines Gefährten. Wer begleitet mich?« Schweigen und Kopfschütteln ringsherum, und schon wollte der Alte im feurigen Unmut auflodern, als ihm der Kaufmann Gölckel die Hand reichte, sich ihm zum Gefährten erbot und in einer Stunde reisefertig zu sein versprach. Sie kamen nach Stargard so früh am Morgen, daß sie noch alles in Finsternis und Schlaf begraben fanden. An einem Haus stiegen sie ab, klopften an und verlangten Herberge. Die Antwort lautete, alles sei dicht besetzt und kein Unterkommen mehr möglich. »Aber liebe Leute, den alten Nettelbeck werdet ihr doch nicht auf der Straße stehen lassen!« »Nein, wahrhaftig nicht,« scholl eine weibliche Stimme dagegen, »tausendmal willkommen! Da muß sich schon ein Winkelchen finden.«Im königlichen Quartier wurde Nettelbeck von einem General erkannt und in das Empfangszimmer geführt. Der große Raum war voll von Offizieren, Damen und Standespersonen. Alles blitzte von Ordenszeichen, und es gab eine feierliche Stille, als der König und die Königin eintraten.Vor Nettelbeck und seinem Begleiter stehend, sagte der König gegen die glänzende Versammlung hin mit bewegter Stimme: »Wenn jeder so seine Pflicht getan hätte wie die Kolberger, dann wäre es uns nicht so unglücklich ergangen.«Nach einiger Wechselrede brach aus des alten Nettelbecks Munde das glühende Wort: »Verflucht sei, wer seinem König und Vaterland nicht treu ist.« Und dann: »Wir hoffen, Eure Majestät werden uns nicht sinken lassen.« Der König antwortete und streckte Nettelbeck die Hand entgegen: »Nein, nicht sinken lassen, nicht sinken lasse ich euch.«Diese Stunde war vielleicht die schönste in Nettelbecks Leben, und keine empfand er dankbarer als Lohn für alle Opfer und Mühen. Er begann nun seine Hantierung wieder und fand auch ein notdürftiges Auskommen. Doch fiel es ihm immer schwerer aufs Herz, daß er so abgesondert und verlassen dastand. Er war nun fünfundsiebzig Jahre alt und sorgte sich doch noch um die Zukunft. Zuerst lachend, dann in wohlgemeintem Ernst rieten ihm seine Freunde, es noch einmal mit dem Ehestand zu versuchen, und nach vielem Bedenken und Zögern folgte er ihrem Rat und heiratete eine uckermärkische Pfarrerstochter, an deren Seite er noch ein spätes Glück fand und die ihm sogar im nächsten Jahr eine Tochter schenkte.Sein rastloser Geist konnte nicht ruhen. Am Abend seines Lebens beschäftigte ihn noch ein Projekt, das er schon Jahrzehntezuvor gehegt, der Lieblingswunsch, Preußen auch jenseits der Weltmeere groß, geachtet und blühend zu sehen. Er verfaßte eine Denkschrift, worin er den Lenkern des Staats den Vorteil auseinandersetzte, der mit dem Erwerb von Kolonien verbunden war, ja, er machte sich trotz seiner sechsundsiebzig Jahre erbötig, das erste preußische Schiff, das solchem Zweck dienen würde, selbst zu führen. Aber wie leicht zu denken, erweckte sein Vorschlag zu jener Zeit keine ernstliche Beachtung.Im Jahre 1824, sechsundachtzig Jahre alt, endete der wunderbare Mann sein reiches Leben.Christian HolzwartAm 29. Dezember 1845, in der Morgenfrühe, kam ein Mann von der Sudenburg, einer Vorstadt Magdeburgs außerhalb der Ringmauern, und passierte in Eile durch das eben geöffnete Tor. Er war sonderbar anzusehen; ein Schlafrock hing über seinem Körper, er war ohne Stiefel, ohne Strümpfe, ohne Kopfbedeckung, und Haar und Bart waren von Flammen versengt. Seine Schritte waren ungleich und zeugten von großer Ermattung. Bei einem Hause an der Johanniskirche, wo der Wundarzt Koch wohnte, machte er endlich halt und zog hastig die Klingel. Die Straßen waren noch leer, die Leute schliefen noch, und erst auf sein wiederholtes Klingeln wurde ihm das Tor aufgemacht. Er taumelte in das Wohnzimmer und fiel ohnmächtig auf das Sofa nieder. Der Chirurgus Koch und seine Frau, die ihm beide erschrocken entgegengetreten waren, fragten gleichzeitig, was geschehen sei und von wo er in einem solchen Aufzug herkomme. Der Wundarzt nahm das Licht vom Tisch, beleuchtete ihn und sah, daß nicht nur sein sonst wohlgepflegter Bart verkohlt war, sondern daß auch seine Hände blutig waren. »Um Gotteswillen, Holzwart, was ist geschehen?« fragte er entsetzt, doch der Mann stammelte nur verworrene Antworten, sprach von Flammen und daß seine Familie, die Frau und seine fünf Kinder wohl erstickt seien. Der Wundarzt schickte seinen Sohn und den Lehrer Zimmermann sofort nach der Sudenburg hinaus, und sie kamen mit der Unglücksbotschaft zurück, daß man dorten sechs Leichen aus dem Schutt des niedergebrannten Hauses geschafft habe. Es war auch schon eine amtliche Anzeige eingegangen, und die Kriminaldeputation fand sich bei dem Wundarzt Koch ein, um von Holzwart Auskunft über die furchtbare Katastrophe zu erhalten.Sie trafen Holzwart krank und hinfällig durch den erlittenen Blutverlust, aber doch imstande, ihren Fragen Genüge zu leisten. Er erzählte, daß ihm in der Nacht ein Mensch in seinen Verkaufsladen eingetreten sei und ihm zwei Stiche in die Brust versetzt habe; er sei mit dem Menschen ins Ringen gekommen, habe ihn verfolgt, habe neue Stiche erhalten, sei dann umgekehrt und habe sein Haus in Flammen stehend gefunden. Er sei zurückgewichen und fast ohne Besinnung in die Stadt gelaufen, und da sei er vor dem Kochschen Hause angelangt.Das alles klang weniger wie Lüge, als wie die unzusammenhängenden Reden eines Fiebernden. Die Kleidungsstücke, die Holzwart am Leibe hatte, waren nicht durchstochen, und die Schnitte am Hals sprachen eher für einen Selbstmordversuch als für Verwundungen von fremder Hand. Das Haus war nicht nieder-, sondern ausgebrannt; Türen und Fenster botenden Anblick einer gewaltsamen Zerstörung. Die verkohlten und verstümmelten Leichname der Frau, des Sohnes und der vier Töchter wurden in dem Zimmer neben dem Laden gefunden, und es erwies sich bald, daß an ihnen ein zwiefaches Verbrechen begangen worden war. Die Körper zeigten deutliche Spuren der Ermordung; ihr Blut färbte die Dielen der Zimmer, tränkte die Polster des Sofas, hing in schweren Tropfen noch ungetrocknet an den Stühlen, hatte die Geschenke des Christabends, die Spielereien der unschuldigen Kleinen überspritzt.Sollte also der Vater dieser schönen, gesunden und wohlgeratenen Kinder ihr Mörder sein? Aus welchem Grund? Aus Haß? Aus Habsucht? Aus Not? Hätte er sie gehaßt, so wäre es ja leichter gewesen, sich von ihnen zu entfernen. Die Welt ist groß, und es hat schon mancher die ihm lästig gewordenen Familienbande abgeschüttelt, seine Kinder der Willkür des Geschicks preisgegeben und mit leichtsinnigem Mut in der Fremde Vergessenheit seiner Pflichten gesucht. Auch waren die Kinder schon über die Hilflosigkeit der ersten Jugend hinaus; die älteste Tochter war sechzehn, die zweite vierzehn, die dritte zehn, der Sohn neun Jahre, und nur das jüngste Kind, ein Mädchen im Alter von vier Jahren, stand in der ersten, ganz hilfsbedürftigen Jugend. Das Gerücht, daß die Kinder hätten erben sollen, erwies sich als falsch. Sie waren arm, hatten nie etwas besessen und auch keine Hoffnung auf Besitz. Daß sich die Familie in Not befand, war gewiß. Man wußte, daß Holzwarts Verhältnisse von Jahrzu Jahr zurückgegangen seien, ja daß er ein vollständig ruinierter Mann und sozusagen am Ende seiner Bahn angekommen war. Dies konnte aber keinen ausreichenden Anlaß bilden, fünf Kinder und eine Frau zu ermorden und zu verbrennen. Schon nach den ersten Tagen nannte man ihn Mörder und Mordbrenner, und daß er selbst tödlich verwundet im Gefängnisse lag und nach den Berichten der Ärzte einem Verhör noch nicht ausgesetzt werden durfte, glaubte niemand. Woher sollten ihm die Wunden gekommen sein? Sie hätten ihn in ein tragisches Licht gestellt, und man wollte von ihm nur als von einem verworfenen Mörder wissen. Was er gelitten und noch zu leiden hatte, darum kümmerte sich kein Mensch. Aber der Tag kam, wo viele in sich gingen.Am Morgen des sechsten Tages begab sich der Untersuchungsrichter zu ihm ins Gefängnis. Der Arzt hatte seinen Zustand soweit gebessert gefunden, daß eine schonende Vernehmung möglich war. Doch lag er noch im Bette, sein Äußeres zeigte große Erschöpfung. Nachdem ihn der Richter mit einigen Fragen über sein körperliches Befinden hingeleitet hatte, erkundigte er sich, ob er sich zu erinnern vermöge, was für Aussagen er am Morgen seiner Verhaftung gemacht. Ohne Zögern bejahte Holzwart, fügte aber sogleich hinzu, daß man ihm noch einige Tage Zeit gönnen möge, dann würde er sich vollständig über die ganze Begebenheit aussprechen. Der Richter wendete ein, es wäre besser, wenn er sich sogleich ausspräche, namentlich wenn er etwas auf dem Herzen hätte, und machte ihm bemerklich, daß er in seinemRichter nicht den kalten Menschen suchen solle, der mit Nichtachtung auf den Gesunkenen herabblicke, sondern einen Teilnehmenden, der mit schmerzlichem Gefühl die Herzen der Verbrecher auszuforschen beflissen sei. Ganz ruhig richtete er daran die einfache Frage: »Haben Sie sich vergangen?« Holzwart richtete sich von seinem Lager auf, stützte sich auf den rechten Arm und sah den Richter stumm an. »Sind Sie schuldig?« setzte der Richter hastig hinzu. Holzwart legte sich zurück, sein Auge ruhte fest auf dem Gesicht des Richters, und eine tiefe Bewegung malte sich in seinen Mienen, als er antwortete: »Ja, ich bin schuldig.«Mit dieser Erklärung mußte sich der Richter vorerst begnügen, wenn er das Leben des Gefangenen nicht in Gefahr bringen wollte, und erst nach mehreren Tagen schritt er zu einer eindringlicheren Forschung. Holzwart zeigte von der Stunde ab ein unbedingtes Vertrauen zu seinem Richter, und seine Aussagen stimmten so völlig mit allen Ermittlungen überein, daß man seine Wahrhaftigkeit nirgends in Zweifel ziehen konnte.»Ja, ich bin schuldig,« sagte er mit festem und ruhigem Ton; »es ist aber mein Verbrechen nicht das Werk eines augenblicklichen Einfalls. Jahrelang hatte ich erfahren müssen, daß ein Unglücksstern über mir und meiner Familie war. Diese Überzeugung hat mich geleitet, als ich die Hand gegen die Meinen erhob. Kein andrer Grund als die Liebe hätte mich veranlassen können, eine so schreckliche Tat zu begehen. Die Liebe gab mir die Kraft, sie alle, die nach meiner Einsichtbald hilflos und erniedrigt dastehen würden, auf die schnellste und schmerzloseste Weise aus der Welt zu schaffen. Sie haben unbewußt und froh die letzten Minuten ihres Daseins herannahen sehen. Ich begann die Tat mit meiner Frau und endete sie mit meiner jüngsten Tochter.« Bei dieser Erklärung durchzuckte ein furchtbarer Krampf den unglücklichen Mann, er preßte die Augen zu und war unfähig, seine innerliche Erregung mit der Kraft zu bewältigen, die er bis dahin gezeigt hatte. Erst am nächsten Tage konnte man das Verhör fortsetzen.»Ich bin an Entbehrungen gewöhnt,« sagte er, »aber zur Niedrigkeit bin ich nie hinabgesunken, habe mich nach meiner Denkungsweise immer fern von Gemeinem gehalten, und da es zuletzt mit mir so schlecht stand, daß nur Wohltaten und Almosen mir und meiner Familie das Dasein fristen konnten, sah ich keinen anderen Ausweg. Wenn mir auch nur der entfernteste Hoffnungsstrahl geleuchtet hätte, würde ich nicht die Kraft zu der Tat gefunden haben. Mit dem ersten Januar trat der Zeitpunkt ein, wo wir als Bettler vor der Welt dastanden; der Entschluß, den ich schon lange in mir trug, mußte also vor dem ersten Januar ausgeführt werden. Je näher mir die schauerliche Notwendigkeit trat, desto mutloser wurde ich, bis endlich beim Anblick des letzten Talers, den ich vor mir liegen sah, die Gewalt der Not entschied. Jetzt mußte ich.«Dieser letzte Taler, von dem er sprach, war in dem Schutt der verbrannten Wohnung wirklich gefunden worden. Er war geschwärzt und als Münze kaum zu erkennen.Der Richter wendete ein, daß er doch willens gewesen sei, nach Magdeburg zu ziehen und sogar schon ein Quartier für hundertdreißig Taler gemietet habe; wie das mit seinem Vorsatz, die Seinen durch Mord gegen Not zu schützen, zu vereinen sei. Er antwortete, dies sei nur zur Beruhigung seiner Frau geschehen; er habe nie geglaubt und nie die Absicht gehabt, das Quartier wirklich zu beziehen. »Meine Existenzmittel waren verbraucht, ich sollte bedeutende Zahlungen leisten, und es lagen nur noch drei Tage vor mir, der Sonntag, der Montag, und der Dienstag. Mein Entschluß schwankte schon seit dem Weihnachtsfeste; von einem Tag zum anderen schob ich die Ausführung hinaus. Ich hatte schon überlegt, ob ich nicht allein aus der Welt gehen sollte; mir war dann wohl nach dem fürchterlichen Kampf, aber ihnen? Ich sah sie in der Armut, der Gemeinheit und dem Laster verfallen. Nein, zusammen aus der Welt, zusammen in den Frieden. Am Sonntag erhob sich der Gedanke in mir in seiner ganzen Stärke. Um neun Uhr machte ich den Verkaufsladen zu. Meine Familie hielt sich gewöhnlich in dem Zimmer hinter dem Laden auf, ich hatte meine Wohnung daneben. Ich ging aus meiner Kammer durch den Laden und rief meine Frau. Sie folgte mir in mein Zimmer, und dort gab ich ihr einen Brief meines Bruders zu lesen. Sie saß mit dem Rücken gegen mich gewendet, ich ergriff die Axt, die ich mir bereitgestellt hatte, und schlug ihr den Schädel und die Schläfen ein. Sie war augenblicklich tot und hatte auch nicht die leiseste Ahnungihres nahen Endes gehabt. Ich legte die Leiche auf mein Sofa, wo schon mein Bett gerichtet war, doch so, daß es den Kindern nicht auffallen konnte. Dann ging ich wieder hinüber und holte meine älteste Tochter. Unter dem Vorwand, daß ich ihr etwas diktieren müsse, was sie mir aus der Apotheke holen sollte, gebot ich ihr, sich auf denselben Stuhl zu setzen, auf dem ihre Mutter gesessen war. Ich diktierte ihr, ich weiß nicht ob Kremortartari oder sonst so etwas; in dem Augenblick, wo sie sich über den Tisch bückte, schlug ich ihr ebenfalls den Schädel ein. Sie endete wie ihre Mutter ohne ein Schmerzgefühl. Ich trug die Leiche über den Flur in die Küche, und zur Sicherheit schnitt ich mit meinem Rasiermesser die Halsmuskeln durch. Dann rief ich die zweite Tochter und tötete sie auf dieselbe Weise, auf demselben Stuhl, mit demselben Beil. Die übrigen drei Kinder erschlug ich in ihrer Schlafkammer, wo sie in ihren Betten lagen und schliefen. Allen schnitt ich die Kehle zur Vorsicht durch, damit sie auf keine Weise noch einen Lebensfunken in sich spüren und Schmerz empfinden sollten. Jetzt war das Werk vollbracht und mir war leicht. Nur ich fehlte noch, nur ich und alles war gut.«Er erzählte nun, wie er die Betten angezündet, sich daneben hingesetzt und seinen Hals durchschnitten habe. Aber er starb nicht, er atmete weiter. Sein Arm erschien ihm plötzlich wie gelähmt und zurückgehalten. An Mut und Entschlossenheit habe es ihm nie gefehlt; hatte er bis dahin Kraft bewiesen, so mußte es ihm doch auch gelingen, seineigenes Leben zu zerstören. Er versetzte sich noch zwei Stiche in die Brust; es war umsonst. Sein Blut floß, aber das Leben fühlte er nicht schwinden. Von diesem Moment trat ein Zustand bei ihm ein, über den er keine Rechenschaft geben konnte. Er wußte nicht, wie lange er bei den Leichen gewesen, der Qualm, der sich verbreitete, trieb ihn schließlich auf und hinaus. Es war ihm, als fliehe ihn der Tod, als müsse er den Tod verfolgen. Du stirbst nicht, rief es in ihm, du kannst nicht sterben. Er lief fort, weg- und steglos, irrte lange durch einen Garten und kam endlich an das Haus des Wundarztes Koch.Der Richter fragte: »Was erwarten Sie denn nach einer solchen Tat?« Holzwart schaute mit einem heiteren Blick empor und antwortete ohne Zaudern: »Den Tod erwarte ich. Mit Freuden erwarte ich ihn, ich wollte ihn mir selbst geben, aber es ist mir leider nicht gelungen.«Der Richter nennt Holzwart einen ungewöhnlichen Menschen, der sich meist gewählt ausdrückte und bisweilen sogar in ein gewisses Pathos verfiel. Er war groß und von stattlichem Körperbau. Sein Gesicht war voll Ruhe, sein Blick frei, sprechend und sanft.Im Publikum erhoben sich Stimmen, die die Liebe zu den Seinigen in Zweifel stellten. Es wurde gesagt, er habe seine Kinder mit großer Strenge behandelt und barbarische Züchtigungen über sie verhängt. Bei näherer Beleuchtung verschwanden diese Anklagen. Was den Schein von Härte hatte, war Konsequenz gewesen, und es erwies sich auch, daßHolzwart von den Pflichten eines Vaters ganz andere Begriffe gehabt hatte als mancher ehrbare Bürger. Man erinnerte sich eines Aufsatzes, den er viele Jahre vorher in der Magdeburger Zeitung hatte drucken lassen und worin er die Unerläßlichkeit und heilsame Folge strenger Zucht betont hatte. Darüber waren alle Zeugen einig, daß es keine artigeren und besseren Kinder gegeben habe als Holzwarts Kinder, insbesondere das jüngste sei ein höchst anmutiges Geschöpf gewesen, der Liebling des Vaters, wurde gesagt. Dies erklärte auch die tiefe und mächtige Bewegung, die ihn durchzittert hatte, als er bekannte: »Das jüngste Kind war das letzte, das ich tötete.«Der Fleischer Wothge, der Holzwart oft Beistand in seinem Geschäftsbetrieb gewesen ist, bekundete die bemerkenswerte Tatsache, daß Holzwart nicht fähig gewesen sei, ein Schwein zu schlachten. Wenn er dabei behilflich sein sollte, so bebte er vor innerer Aufregung und Beklemmung. »Er war überhaupt ein sonderbarer Mann,« äußerte sich dieser Zeuge; »ich kann mich darüber nicht so ausdrücken, wie ich möchte, aber es scheint mir, als hätte er sich Vorbilder nach Büchern zum Muster aufgestellt. Ich habe ihn von Abd-el-Kadr, von Faust, von Ibrahim Pascha mit Lebendigkeit und Begeisterung sprechen hören. Das waren seine Leute. Er meinte immer: Großartig sterben müsse der Mensch.«Und weiter erzählte Wothge: »Im vergangenen Jahre, als das fürchterliche Gewitter über uns stand, schlachtete ich eines Abends um elf Uhr bei ihm. Mitten unter dem schauerlichenDonner sagte er zu mir: ›Ich wollte, alles wäre hin; was ich auch anfange, das Unglück ist immer hinter mir her.‹ Es war eine oftmals wiederholte Rede von ihm: ›Man muß nie müssen, sondern nur wollen. Aber alle im Staate müssen, nur einer will, das ist der König.‹ Ein andermal fragte er mich über Glaubenssachen, und als ich ihm entgegnete, ich glaubte das, was im Katechismus stehe, rief er: ›Dann sind Sie ein Tor!‹ und ging von mir fort. Er war übrigens ein sehr reeller Mann, wußte sich in Respekt zu setzen und führte immer durch, was er sich vorgenommen hatte. ›Bricht’s, so bricht’s‹, pflegte er zu sagen. Seine Lieblingsbeschäftigung war das Schachspielen. Drei Freunde aus Magdeburg haben ihn öfters besucht, bloß um mit ihm Schach zu spielen. Eines Tages kam er auf sein Elternhaus zu sprechen, und da erzählte er mir, daß zwischen ihm und seinem Vater oft wilde Szenen vorgekommen seien. Einmal bei einem Streit habe sein Vater ihm geflucht, und von diesem Augenblick an sei sein Glücksstern untergegangen.«Holzwarts Bruder erklärte dessen Vermögensverfall aus unglücklichen Konjunkturen und bekräftigte, daß er mit redlichem Willen und unermüdlichem Eifer stets danach gestrebt habe, sich und seine Familie zu ernähren. Er sei niemals arbeitsscheu gewesen, sondern es habe immer den Anschein gehabt, als solle seine Tätigkeit vergeblich sein. Er schrieb ihm eine Anlage zum Tiefsinn zu, die er vom Vater ererbt hatte. Es sei ihm nicht möglich gewesen, sich an einen Menschen zutraulich anzuschließen. In Güte hätte man aber alles vonihm erlangen können; wenn er aber Widerstand gefunden, wo er im Recht zu sein geglaubt, oder wenn er sich verkannt gesehen, habe ihn der heftigste Zorn ergriffen.»Er hatte einen streng rechtlichen Sinn und ein feines Gefühl,« äußerte sich weiterhin der Bruder bei einer Zeugenvernehmung. »Es lag ein Stolz in seinem Charakter, der es ihm unerträglich machte, die Hilfe anderer in Anspruch nehmen zu müssen. Ebenso unerträglich war ihm der Gedanke, seine Kinder, die er sehr liebte, nach seinem Tode dem Mitleid fremder Leute preisgegeben zu sehen. Außerdem hatte er die Idee gefaßt, daß seinen Sohn ein ebenso unglückliches Dasein erwarte, wie er selbst es geführt. Wie großmütig und redlich seine Denkungsart war, zeigte sein Benehmen, als er vor einigen Jahren in der Lotterie spielte. Bei der Klasseneinzahlung bot er in einer Anwandlung froher Laune und gewiß in der Überzeugung, daß er nichts gewinnen werde, seiner Schwägerin die Hälfte des Gewinnes an. Das Los kam in der letzten Ziehung mit einem Gewinn von tausend Talern heraus. Holzwart hielt sich seinem Versprechen gemäß für verpflichtet, der Schwägerin die Hälfte davon zu zahlen, obgleich sie kein Recht geltend machen und die Abmachung nur für Scherz angesehen werden konnte. Er blieb dabei, er müsse das Geld teilen, weil er es versprochen habe, und er bräche niemals sein Wort. Als ich ihm vor Jahresfrist aus einer Verlegenheit half, sagte er bewegt zu mir: »Glaube mir, es wird mir schwerer, dein Geld zu nehmen, als es dir vielleicht ist, es zu geben.«Die Geschichte seines Lebens, die Holzwart vor dem Richter erzählte, trug das unverkennbare Gepräge der Wahrheit und folgt hier mit seinen eigenen Worten.»Mein Vater hatte mich zum Seifensieder bestimmt, und da ich nun einmal nicht studieren sollte und durfte, war mir das recht. Mein Vater hatte mich so sehr an Gehorsam gewöhnt, daß es mir nicht eingefallen wäre, mich gegen seinen Befehl zu sträuben. Die Wahl des Meisters war nicht günstig für mich. Ich merkte bald, daß ich unter solcher Anleitung nichts vom Geschäft begreifen würde. Ich klagte es meinem Vater, daß mich der Lehrherr mehr zu Hausarbeiten als zum Seifensieden verwende, doch dies wurde nicht von ihm beachtet. Auch meine Mutter hörte nicht eher auf diese Klagen, als bis es zu spät war. Das Lehrgeld war weggeworfen, und nach dreijähriger Lehrzeit ging ich als Geselle aus diesem Geschäft nicht um ein Haar klüger, als ich hingekommen war. Ich trat die Wanderschaft an, fand natürlich wegen meiner Unbrauchbarkeit nirgends lange Arbeit, und um nicht in Not zu geraten, kehrte ich in die Heimat zurück. Fürs erste blieb ich im elterlichen Hause, wo man eine wünschenswerte Unterstützung an mir fand. Dann versuchte ich es noch einmal in Eisleben als Volontär in einem Seifensiedergeschäft, doch wurde dies meinen Eltern mit der Zeit zu kostspielig, ich gab die Seifensiederei für immer auf und blieb nun fünf Jahre in meines Vaters Geschäft. Ich lebte dort in drückenden, sehr unangenehmen Verhältnissen, die vornehmlich durch meines Vaters Schwäche, mit den Dienstmädchen allzu vertraulichumzugehen, herbeigeführt wurden. Mein Vater behandelte mich sehr nachlässig, was bei meinem ohnehin reizbaren Ehrgefühl eine bedeutende Wirkung auf mich ausübte. Im Hause meiner Eltern befand sich auch meine nachherige Frau; nicht eigentlich als Ladenmamsell, sondern mehr aus Gefälligkeit gegen meine Mutter, die die ganze Last des ausgebreiteten Schmälzergeschäfts allein zu tragen hatte. Ich gewann das Mädchen lieb und wünschte sie zu heiraten. Im Grunde meines Herzens trieb mich mehr die Unerträglichkeit meiner Lage als die Sehnsucht nach der Ehe zu dem Eifer, womit ich meine Eltern um Gründung eines Haushalts für mich anging. Lange sträubten sie sich gegen die Verbindung, endlich willigten sie ein und gaben mir hundert Taler Gold zur Errichtung eines Materialladens; meine Frau brachte mir ungefähr ebensoviel dazu, und mit diesem Kapital begann ich voller Hoffnung mein selbständiges Leben und meine Ehe. Die Kaufleute gewährten mir willig und gern Kredit, so sah ich trotz des geringen Vermögens einer günstigen Schicksalswendung entgegen.Aber wenn früher meine Verhältnisse drückend waren, so verfolgte mich jetzt ein Unglück nach dem andern. Mit dem besten Willen ging ich an mein Geschäft, doch schon im ersten Jahre wurde meine Frau nach der Entbindung krank und blieb volle fünf Vierteljahre in ärztlicher Behandlung. Sie mußte teure Bäder nehmen, und die Rechnungen für den Doktor und den Apotheker beliefen sich auf hundertzweiunddreißig Taler. Ich mußte Schulden machen und erkanntebald die Unmöglichkeit, mich in der Neustadt zu halten. Ehe noch ein Konkursverfahren eingeleitet werden konnte, wurde ich mit Hilfe meiner Mutter den Gläubigern gerecht und gab das Geschäft auf. Ich übernahm nun auf den Vorschlag meiner Eltern den Laden im Bonteschen Haus auf dem Markt, worin neben einem Schenklokal ein Handel mit Schmälzerwaren betrieben wurde. Ich sah gleich, daß diese Art von Wirtschaft nichts für mich war; zu einer Schenkstube gehörte ein anderes Wesen als das meine. Die Fleischwaren bekam ich aus dem elterlichen Geschäft und verkaufte sie eigentlich auf Rechnung meines Vaters, wobei mir nur der kleine Gewinn zufiel, den ich in der Schenkstube machte. Steuern für das Gewerbe, sowie Ladenmiete mußte ich aber bezahlen. Dazu kam, daß bei dem Laden keine Wohnung war und ich die Wohnung für meine Familie apart halten mußte. Es brach zu jener Zeit die Cholera in Magdeburg aus und raffte sogleich einen der beliebtesten Gäste meines Lokals, den Goldschmied Schladen, hinweg, die übrigen Männer bekamen Furcht und mieden meine Schenkstube, sie stand verödet, und ich mußte neue Gäste anzuwerben suchen. Es schlug fehl, und nach abermals zwei Jahren mußte ich das Geschäft mit einer baren Einbuße von sechshundertsechzig Talern auflösen.Viele haben den Verfall meines Hauswesens meiner Vorliebe für wissenschaftliche Beschäftigung zugeschrieben, aber damit hat man mir unrecht getan. Ich hatte allerdings großes Interesse an der Literatur, las gerne historische undnaturwissenschaftliche Werke, begann auch zur damaligen Zeit ein Tagebuch, worin ich eigene Ideen und gute aufgefundene Gedanken verzeichnete, muß auch gestehen, daß ich nach der Erzählung von Alvensleben »Der Racheschwur« ein Drama zu arbeiten anfing; aber alles dies füllte nur meine Mußestunden aus, die von anderen Männern beim Kartenspiel und Biertrinken verbracht wurden.Ich versank nun in große Not, und meine Mutter unterstützte mich ein wenig. Ich faßte den Plan, in die weite Welt zu gehen und zu versuchen, ob nicht irgendein Platz für mich zu finden sei, wo ich meinen Lebensunterhalt gewinnen konnte. Mein Blick richtete sich auf Prag, wo ein Bruder meiner Mutter, der Weißgerber Grosse, in guten Umständen lebte. Ich trennte mich von meiner Familie. Es war ein schmerzlicher Abschied, aber ich ging nicht eher von ihnen, als bis mir meine Mutter in Gegenwart meines Bruders das Versprechen geleistet hatte, mütterlich für sie zu sorgen. Man schlug mir vor, die französische Handschuhmacherei zu erlernen, und wirklich schien mir dies ein Erwerbszweig, der einträglich zu werden versprach. Mein Onkel in Prag gab das Lehrgeld her, und obwohl ich nicht mehr in den Jahren war, wo man als Lehrling in einen neuen Beruf tritt und mir die Sache sehr sauer wurde, stärkte mich doch der Gedanke an meine Familie soweit, daß ich meinen Vorsatz glücklich durchführte. Nach zehn Monaten war ich Gehilfe des Meisters, der sich redlich Mühe mit mir gegeben hatte. Wieder in der Heimat angelangt, setzte ich alles daran, ein Handschuhmachergeschäftzu gründen. Mit etwas Geldmitteln wäre es mir wohl gelungen, allein ich hatte kein Geld, mein Vater wollte mir keins geben, die Mutter gab mir fünfzig Taler. Davon mußte ich die Hälfte für Arbeitszeug verwenden, und es blieb mir nicht einmal soviel, wie zum Ledereinkauf notwendig war. Dennoch versuchte ich mein Heil und hielt mich wirklich einige Zeit. Aber schließlich ging es bergab, und mein Ruin war täglich zu erwarten. Da starb mein Vater, und ich trat jetzt in das elterliche Geschäft als Pächter ein. Anfangs machte ich gute Geschäfte, aber bald wurde der Verdienst geschmälert durch die vielen neuerrichteten Schmälzerläden. Es trat noch das Mißgeschick hinzu, daß die Schweine plötzlich sehr teuer wurden, und dies ist ein harter Schlag für den Schmälzer, da die Waren noch eine Zeitlang in den alten Preisen bleiben, also bei jedem Schlachten zugesetzt werden muß. Ich blieb mit der Miete an meine Mutter rückständig, der Magistrat erhöhte die Pacht des Ladens unter dem Rathaus von sechzig auf hundert Taler, und im dritten Jahre wurde ich bankrott. Ich übergab meiner Mutter ihr Eigentum wieder, sie verkaufte das Haus und ließ mir unter Anrechnung auf mein späteres Erbteil fünfhundert Taler zum Kauf eines kleinen Hauses in der Junkerstraße, wo ich von neuem eine Schmälzerei anlegte. Ich mußte viel Geld verbauen; es wäre aber doch gegangen, wenn nicht ein Gläubiger der zweiten Hypothek mir sein Kapital gekündigt und ich einen neuen hätte erhalten können. Ich mußte wieder verkaufen und habe großen Schaden erlitten.Jetzt war ich vollkommen herunter. Meine Mutter konnte nicht mehr helfen, mein Bruder hatte ein Gut in Lendorf gekauft und bot mir eine Freistatt. Ich ging zu ihm, als Arbeitsmann im wahren Sinn des Wortes. Fünf Monate hielt ich es aus, da trieb mich die Sehnsucht nach den Meinigen wieder zurück. Meine Frau hatte sich mit dem Schmälzerladen im Rathaus, der uns noch verblieben war, kümmerlich durchgebracht. Ich versuchte nun in Magdeburg einen neuen Erwerb und erlernte das Oblatenbacken. Meine Mutter schoß mir fünfzig Taler vor, und ich begann dies Geschäft. Aber es war, als hätte das Schicksal nur darauf gewartet, bis ich wieder Hoffnung gefaßt hatte. Kaum hatte ich einigen Vorrat liegen, so kamen die neuen Blättchen mit der Namenchiffre auf, meine Oblaten blieben als altmodisch unverkauft, und ich war wieder fertig. Da ging ich mit meiner ganzen Familie nach Lendorf zurück, und wir blieben dort ungefähr ein Jahr. Um diese Zeit verkaufte mein Bruder das Gut, und meine Mutter starb. Jetzt hatte ich freilich ein Erbteil zu erwarten, mit dem sich etwas beschaffen ließ. Ich bekam tausend Taler. Mit diesem Gelde kaufte ich ein Gehöft in Gommern, wo Gastwirtschaft betrieben wurde. Während meines Aufenthaltes in Lendorf hatte ich mich als Landwirt tüchtig geübt und Lust zum Feldbau bekommen. Die Frequenz des Gasthofs war gering, das Feld bestand nur aus zehn Morgen Ackerland, ich sah, daß nicht viel zu gewinnen sei, und da ich nach einem Jahre vorteilhaft verkaufen konnte, entledigte ich mich der Wirtschaft früh genug, umkeinen Schaden zu erleiden. Damals gewann ich auch tausend Taler in der Lotterie, von denen ich die Hälfte meiner Schwägerin gab. Ich wollte mir nun ein kleines Gütchen kaufen, dazu reichten die Mittel nicht. Obwohl ungern, entschloß ich mich endlich, wieder eine Schmälzerei zu errichten, und zwar in der Sudenburg.Ich hatte tausend Taler im Besitz. Die Herstellung des Ladens und die Anschaffung der Utensilien kosteten hundertsechzig Taler. Verdient wurde wenig. Die Schweine waren in dem Jahre sehr wohlfeil. Der Bauer hatte kein Futter für das Vieh und mußte verkaufen. Ich glaubte richtig zu spekulieren, wenn ich Schweine kaufte und steckte zweihundert Taler in den Handel, um einen ordentlichen Wintervorrat zu haben. Ich hatte mich leider verrechnet. Alle Leute hatten selbst Schweine gekauft und geschlachtet. Man holte mir nichts ab. Das Geschäft geriet ganz und gar ins Stocken. Schinken und Schlackwürste bewahrte ich für den Sommer auf. Eine entsetzliche Hitze kam und verdarb mir die Vorräte. Im nächsten Jahre stiegen die Schweine zu einem ungeheuren Preis, aber unsre Ware blieb auf dem alten Fuß. Ich hatte jetzt nur noch hundertvierzig Taler. Die Einnahme war erbärmlich; der tägliche Erlös betrug oft nur fünfzehn Silbergroschen. Wir mußten vom Kapital leben. Beim Ablauf des Jahres war ich dem Viehhändler hundertsechzig Taler schuldig. Mein Bruder erbot sich, mir vierhundert Taler zu leihen, und einer von meinen Bekannten legte hundert Taler dazu. Von diesem Gelde lebte ich mit meinerFamilie, nachdem ich den Viehhändler bezahlt hatte. Ich schlachtete immer weniger. Im Jahre 1845 war alles Geld rein aufgezehrt. Es nahte der Winter, und die Not wurde bedrohlich. Abermals mußte ich meinen armen Bruder um Hilfe ansprechen. Er sendete mir zwanzig Taler, und dann wieder zwanzig Taler, und gegen Weihnachten aus freien Stücken fünf Taler zu Geschenken für meine Kinder. Meine Schuld beim Viehhändler war wieder auf anderthalb hundert Taler gestiegen.Jetzt trat der Gedanke immer unwiderstehlicher an mich heran, mich und meine Familie schmerzlos aus der Welt zu schaffen, wo unserer nur Elend wartete, ich hatte keine Aussicht, keine Hoffnung mehr. Es blieb nur das Verhungern übrig. Ich war außerstande, die Meinen vor dem Untergang zu retten. Diese Gedanken machten mich fast krank, aber ich verriet sie nicht, und sie kehrten wie im Kreise immer wieder auf den Punkt zurück: Du bist dem Bettelstab verfallen. Vorwürfe über mein Leben und meine Geschäftstätigkeit konnte ich mir nicht machen. Ich habe immer geglaubt, richtige Maßregeln zur Verbesserung meiner Lage ergriffen zu haben, aber meine Bemühungen sind stets fehlgeschlagen. Verlust über Verlust, was ich angriff, mißlang. Bei der Erinnerung an all dies Leiden wurde mein Entschluß fester, und mein Gemüt stählte sich. Die Notwendigkeit trieb mich zur Tat.«Bei gebessertem Gesundheitszustand konnte Holzwart nach einiger Zeit in das Verhörzimmer geführt werden. Seine Erscheinung war jetzt die eines zufriedenen und ergebenenMannes. Es schien, als betrachte er das ihm neugeschenkte Leben mit einem mitleidigen Lächeln, als wollte er fragen: wozu? Er wiederholte sein Geständnis, und es war ersichtlich, daß die Schilderung der Mordnacht ihm eine unaussprechliche Pein verursachte. Und wieder behauptete er feierlich, seine Tat sei das letzte Werk der Liebe gewesen. Auf den Einwand, weshalb er bei seiner ersten Vernehmung im Kochschen Hause nicht sogleich offen bekannt, sondern eine Lüge angegeben habe, erwiderte er, es sei diese Lüge die einzige in seinem ganzen Leben. Er habe nur den Fragen genügen, lästiges Zudringen abwehren wollen, weiter nichts. Daß er verhaftet und vor dem Gesetz verantwortlich gemacht werden könnte, daran hatte er nicht gedacht. Nach seiner Meinung war er niemand auf der Erde eine Auskunft zu geben verpflichtet, und seine Tat mußte vor Gott allein verantwortet werden.Eine Tat, straf- und todeswürdig vom Standpunkte des Rechtes, verworfen und abscheulich von dem der Moral. Der fürchterliche Irrtum, eine Familie verloren zu glauben, wenn die Hilfsquellen der Existenz versiegen, beruhte hier auf Charakterfehlern nicht allein, sondern auf Gemütsanlagen, die mit tragischer Liebe Bande des Blutes als unauflöslich betrachten. Der Gedanke, daß die geliebten Menschen einzeln ihre Nahrung suchen sollten, überstieg die Geisteskraft des Vaters; bis dahin im Schoße der Familie vor dem Unheil geborgen, sollte er sie jetzt der Verführung und der Verderbnis preisgeben? Die älteste Tochter war schön, vorzeitig entwickelt, blühend in Gesundheit und reizend durch freundlichesBetragen. »Sie würde ihre Käufer schon gefunden haben,« warf Holzwart einst im Gespräch mit bitterem Hohne hin, »aber ich habe ihre Unschuld bewahrt und gerettet.« Der Richter wandte ein, das Mädchen hätte ja bei seiner Schönheit eine günstige Wendung des Geschickes erleben können. Da antwortete Holzwart: »Die Möglichkeit lag ferne, denn sie war arm; jetzt ist ihr Schicksal gesicherter.«Im Dezember des Jahres 1846 wurde Holzwart verurteilt, nach dem Richtplatze geschleift, um mit dem Rade von unten herauf vom Leben zum Tode gebracht zu werden. Mit derselben Fassung und Haltung, die er bisher gezeigt, vernahm er das Urteil. Als ihm mitgeteilt wurde, daß ihm das Rechtsmittel der Appellation zustehe, erwiderte er ohne Besinnen, er habe die Strafe erwartet und durchaus nichts dagegen einzuwenden; er wünsche in kürzester Frist zu seinem Ziele zu kommen und wolle auch nicht von seinem Rechte Gebrauch machen, des Königs Gnade um Milderung der Strafe anzurufen, um den Vollzug des Verdikts nicht zu verzögern. Bei dieser Erklärung blieb er, trotzdem sein Verteidiger ihn zu anderer Ansicht zu bringen suchte. Es blieb diesem nichts weiter übrig, als seinem Willen entgegen zu handeln und aus eigener Machtvollkommenheit sich an den König zu wenden. Damit verging Tag um Tag, Woche um Woche, und Holzwart erwartete vergeblich das Ende eines Lebens, das für ihn allen Wert und Reiz eingebüßt hatte. Er glaubte, durch seine Verzichtleistung auf jeden Einspruch alle Hindernisse am besten beseitigt zu haben, und es gewann den Anschein,als siege wieder sein altes böses Schicksal, das immer seine Hoffnungen durchkreuzt hatte. Durch die seltene Verzichtleistung wurde ein Bericht nach dem anderen nötig, eine Formalität nach der anderen; bis zum September zogen sich die Verhandlungen hin, bevor man endlich dem König das Todesurteil vorzulegen bereit war.Während der Zeit saß Holzwart geduldig im Gefängnis und harrte auf seinen Tod. Man gestattete ihm zu lesen, zu schreiben und Schach zu spielen. Er verfertigte die Schachfiguren aus Brot und malte mit Tinte ein Schachbrett auf Pappe. Es gehörte zu seiner größten Freude, wenn der Aufseher Zeit gewann, mit ihm Schach zu spielen.Unter den Aufzeichnungen, die er zu Papier brachte, fanden sich Gedichte wie dieses:

Eine solche Geringschätzung erregte Murren und Unwillen, aber Nettelbeck ließ sich nicht abhalten, zu tun, was ihm Pflicht schien. Er machte den Oberst darauf aufmerksam, welch gute Dienste in früheren Belagerungen eine Schanze auf dem hohen Berg, eine Viertelmeile außerhalb der Stadt, geleistet hatte, und er und seine Freunde seien bereit, die Schanze wiederherzustellen. Der Oberst antwortete, was außerhalb der Stadt geschähe, kümmere ihn nicht, die Festung innerhalb werde er schon zu verteidigen wissen. Und so baute Nettelbeck die Schanze, und es halfen ihm die Bürger, ihre Gesellen, ihre Lehrjungen und Dienstmägde; als die Arbeit noch immer zu langsam vonstatten ging, warb er Leute am Hafen und bezahlte sie aus seiner Tasche. Er sorgte für die Anschaffung von Lebensmittelvorräten und nahm bei Bäckern, Bauern und Branntweinbrennern ein Verzeichnis der Beständeauf. Er ging in die umliegenden Dörfer und sah nach, was an Korn und Schlachtvieh vorhanden war. Mit all seinen Papieren ging er nun zum Kommandanten, um ihn zu bewegen, daß er die Vorräte in die Stadt schaffen lasse. Der Oberst aber, als hätte die Pest an den Papieren geklebt, drückte sie ihm eilig wieder in die Hand und sagte, er brauche den Plunder nicht und damit Gott befohlen.

Der Oberst hatte auch eine alte Köchin, und die war jedesmal zugegen, wenn Nettelbeck kam, und gab ihren Senf mit drein. Auch dieses Mal schimpfte und maulte sie, bis Nettelbeck die Galle überlief und er dem unverschämten Weibsbild die Meinung sagte, wodurch er aber den Obersten nur noch mehr gegen sich in Zorn setzte.

Um den Magistrat und seine Anstalten stand es auch kläglich, der Untergang der Stadt schien nicht aufzuhalten, und so entschloß sich Nettelbeck, der winterlichen Jahreszeit zum Trotz, den König selbst in Königsberg oder in Memel aufzusuchen und ihm Kolbergs Lage und Not vorzustellen. Da traf aber der Kriegsrat Wissening von Treptow in Kolberg ein, ein Mann, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Der machte sich gegen Nettelbeck erbötig, selber zum König zu gehen und sein möglichstes zu tun, um den Platz zu retten. Unter den von den Truppen Versprengten, die täglich in Kolberg Zuflucht suchten, befand sich auch der Leutnant von Schill; Nettelbeck gewann ihn bald zum Freund, und der junge Offizier erklärte sich bereit, in Kolberg zu bleiben, um bei der Verteidigung zu helfen. Er stimmte mitNettelbeck darin überein, daß vor allem die Maikule, der Schlüssel zum Hafen, um jeden Preis festgehalten werden müsse, und doch war zur Verschanzung dieses entscheidenden Punktes bis jetzt noch keine Schaufel in Bewegung gesetzt worden. Es waren keine Hände da, um auch nur einige Erdaufwürfe zustande zu bringen, und Nettelbeck trieb unermüdlich in der Geldervorstadt und in allen umliegenden Ortschaften Tagelöhner und Häusler zusammen, versprach und zahlte guten Lohn und verwandte gegen vierhundert Taler aus seiner Tasche. Tag und Nacht arbeiteten etwa sechzig Menschen nach dem von Schill entworfenen Plan an den Befestigungen; weder der Kommandant noch sonst jemand fragte und kümmerte sich, was da geschafft wurde. Indessen war der Kriegsrat Wissening mit ausgedehnten Vollmachten vom König zurückgekehrt. Seine Hilfe brachte neues Leben in die Verwaltung; ganze Herden Schlachtvieh, lange Reihen Getreidewagen zogen zu den Toren ein, und Heu und Stroh im Überfluß füllte die Futtermagazine. In der Stadt wurde geschlachtet und eingesalzen und die Böden der Bürgerhäuser mit Korn beschüttet.

Um die Mitte März hatten die Franzosen die Umzingelung der Festung beendet. Die Schanze auf dem hohen Berg ging unter blutigen Kämpfen verloren, auch die Anhöhen der Altstadt waren besetzt. Es war nun dringend geboten, die Überschwemmung des Geländes rings um die Festung zu bewirken, eine Absicht, die auf den hartnäckigen Widerstand der Grundeigentümer stieß. Auch der Kommandant wolltenichts davon wissen, bei der darüber geführten Unterredung mischte sich wieder die Köchin in ihrer gewohnten Weise ein. Nettelbeck schob sie ohne viel Federlesens zur Türe hinaus, der Oberst geriet in Hitze, griff nach seinem Degen und würde ihn gegen Nettelbeck gezogen haben, wenn ihm nicht dessen Begleiter, der Hauptmann von Waldenfels, mit den Worten in den Arm gefallen wäre: »Beruhigen Sie sich, Nettelbeck hat recht getan.«

Die Franzosen schickten indessen einen Parlamentär, den der Oberst in aller Freundlichkeit empfing und mit dem er hinter verschlossener Tür verhandelte. Nettelbeck argwöhnte Verrat, und in der Fülle seines beklommenen Herzens schrieb er an den König: Wenn Euere Majestät uns nicht bald einen andern und braven Kommandanten zuschicken, sind wir unglücklich und verloren.

Die Belagerer schritten zum Angriff, die Geldervorstadt geriet in Gefahr, Loucadou erteilte den Befehl, sie niederzubrennen, aber Schill stellte ihm das Unnützliche und Übereilte dieser Maßregel mit solchem Gewicht vor, daß er nachzugeben gezwungen war; dadurch konnten Hunderte von Menschen die beweglichen Trümmer ihres Besitzes in Sicherheit bringen, und erst als dies geschehen war, fand die Zerstörung statt. Der Kommandant aber bezichtigte Schill der Insubordination und ließ ihn in Arrest setzen. Soldaten und Bürger vernahmen mit Unwillen, was ihrem Liebling geschehen war. Es entstand ein Gemurmel, ein Reden, Fragen und Durcheinanderlaufen, das mit jeder Minute lauterund stürmischer wurde. Man wollte Schill mit Gewalt befreien und den Kommandanten zur Rechenschaft ziehen. Nettelbeck, lebhaft bestürzt und das Unselige dieser Volksbewegung erkennend, warf sich unter die Menge, bat sie, Vernunft anzunehmen und vor allen Dingen Schills eigene Meinung zu hören. Dies ward angenommen, und Nettelbeck ging zu Schill. Als der vernahm, wie die Sachen standen, erschrak er heftig, und Nettelbeck an beiden Händen ergreifend, rief er: »Freund, ich bitte Sie um alles, stellen Sie die guten Menschen zufrieden. Aufruhr wäre das letzte und größte Unglück, das uns begegnen könnte. Sagen Sie ihnen, ich sei nicht arretiert, ich sei krank, sagen Sie, was Sie wollen, wenn sich nur die Leute zur Ruhe geben.« Nettelbeck begab sich wieder auf den Markt, hielt eine Ansprache, die Leute kamen zur Besinnung und gingen friedlich auseinander. Schills Arrest blieb ein leeres Wort, das stillschweigend zurückgenommen wurde.

Die feindlichen Granaten schlugen in die Stadt, und der Oberst befahl, daß die Dächer mit Dünger belegt und das Pflaster aufgerissen werden sollte, um die Geschosse unschädlicher zu machen. Nettelbeck äußerte Zweifel über das Förderliche dieses Befehls; da die Dächer eine Neigung von mehr als fünfundvierzig Grad besaßen, meinte er, der Dünger werde wohl nicht haften bleiben, auch würden die Bomben vor den so bedeckten Dächern nicht sonderlich viel Respekt zeigen; das Aufreißen des Pflasters sei aber bei den engen Gassen sogar gefährlich, weil dann bei entstandener Feuersgefahr wederSpritzen noch Wasserkufen einen Weg durch die Steinhaufen und den umgewühlten Boden finden würden. Während des Gesprächs fuhr in der Nähe eine Bombe nieder und zersprang. Der Oberst sah sich mit etwas verwirrten Blicken um und stotterte: »Meine Herren, wenn das so fort geht, so werden wir müssen doch noch zu Kreuze kriechen.« Mehr konnte er nicht hervorbringen. Nettelbeck, alle Selbstbeherrschung verlierend, fuhr auf und schrie: »Halt! Der erste, wer er auch sei, der das verdammte Wort wieder ausspricht, von zu Kreuze kriechen, stirbt des Todes von meiner Hand.« Dabei riß er den Degen aus der Scheide, sein Nebenmann faßte ihn von hinten und zog ihn von Loucadou zurück. »Arretieren,« knirschte der Oberst mit schäumendem Mund, »gleich arretieren! In Ketten und Banden.« Alles drängte sich um den Oberst zusammen; Nettelbecks Freunde schoben ihn zurück, und er ging, wenig zufrieden mit sich selbst und seinem Zorneifer, still nach Hause. Nachmittags berief der Kommandant den Landrat zu sich und teilte ihm mit, er werde Nettelbeck vor ein Kriegsgericht stellen und auf dem Glacis der Festung erschießen lassen. Der Landrat erschrak, machte eindringliche Vorstellungen, jedoch der Oberst beharrte auf seinem Sinn. Als die Bürger vernahmen, was im Werke war, geriet alles in die größte Bewegung, alles ergriff Nettelbecks Partei; der Haufen sammelte sich und ward mit jeder Minute größer, wälzte sich zu Loucadous Wohnung, umringte ihn, und die Wortführer bestürmten ihn so lange im guten und im bösen, bis sie seine Entrüstung einigermaßen milderten oder vielleichtihn ahnen ließen, daß er kein so leichtes Spiel haben werde. »Gut, gut,« sagte er endlich, »so mag der alte Bursche diesmal laufen. Hüt er sich nur, daß ich ihn nicht wieder fasse.« Nettelbeck hatte von seinem Fenster aus den Auflauf des Volkes bemerkt, hatte aber kein Arg, daß es ihn so nahe angehen könne. Erst andern Tags erfuhr er, wie schlimm es auf ihn und sein Leben gemünzt gewesen.

Die Belagerung nahm ihren Fortgang, und Not und Elend stiegen von Woche zu Woche. Es war am 1. Juli, als die Franzosen endlich letzten Ernst zu machen schienen. In den Morgenstunden eröffneten sie ein furchtbares Bombardement auf die Stadt. Bald gab es nirgends ein Plätzchen mehr, wo die zagende Menge vor dem drohenden Verderben sich hätte bergen können. Überall zerschmetterte Gewölbe, einstürzende Böden, krachende Wände und aufwirbelnde Säulen von Dampf und Feuer; überall die Gassen wimmelnd von ratlos umherirrenden Flüchtlingen, die ihr Eigentum preisgegeben hatten und unter dem Gezisch der kreisenden Feuerbälle sich verfolgt sahen von Tod und Verstümmelung. Geschrei von Wehklagenden, Geschrei von Säuglingen und Kindern, Geschrei von Verirrten, die ihre Angehörigen verloren hatten, Geschrei der Menschen, die mit dem Löschen der Flammen beschäftigt waren, Lärm der Trommeln, Rasseln der Fuhrwerke, Geklirr der Waffen, es war herz- und ohrenzerreißend. Im Laufe des Tages erstürmten die Franzosen die Maikule, und mit dem Verlust dieses wichtigen Punktes war die Verteidigung gelähmt, und das Münderfortwar nun zur Beschützung des Hafens nicht mehr ausreichend, was sich zeigte, als das englische Schiff, das den Belagerten zu Hilfe gekommen war, beim Vordringen der Franzosen die Ankertaue kappte, um wieder das offene Meer zu gewinnen.

Zu spät hatte der König Unterstützungsmannschaften geschickt, zu spät den unfähigen Kommandanten durch den Major von Gneisenau ersetzt; es schien, daß die Stadt nicht mehr zu retten war. Inmitten der ringsum drohenden Gefahr erzeugte sich allmählich eine Gleichgültigkeit bei vielen, die nichts mehr zu Herzen nahmen. War auch nicht der Mut, so war doch die Natur erschöpft; Anstrengung, Schlaflosigkeit, immerwährende Spannung des Gemüts und Sorgen für Weib und Kind und Eigentum fielen auf die meisten mit einem solchen Gewichte, daß sie sich in den Trümmern ihrer Wohnungen ein noch irgend erhaltenes Plätzchen ersahen, um den bis in den Tod ermatteten Gliedern einige Ruhe zu gönnen.

Da geschah es, daß eine Bombe, verderblicher als alle andern, in das Rathaus fuhr, und ein hell aufflackerndes Feuer war die Folge ihres Zerspringens. Als naher Nachbar sprang Nettelbeck hin, um schnelle Anstalten zur Brandlöschung zu betreiben, aber ringsum regte sich keine menschliche Seele. Er lief zu Bekannten, braven und wackeren Männern, um sie zur Hilfe aufzurufen, doch schlaftrunken und ohne Gefühl beachteten sie sein Bitten und Ermuntern ebensowenig, wie sein Toben und Schelten. In steigender Angst rannte er auf die Brandstätte zurück und packte jedenan, der ihm begegnete. Ein vierschrötiger Kerl, dem er einen gefüllten Löscheimer aufdrängte, nahm ihn und schlug das Gefäß mit seinem nicht eben sauberen Inhalt Nettelbeck geradezu um die Ohren, so daß er fast die Besinnung verlor und von Schmutz und Ruß bedeckt eine jämmerliche Figur machte. Ohne sich darum zu kümmern eilte er in das nächste Wachhaus auf dem Walle und stürmte wild in das halbdunkle Wachzimmer. Auf der hölzernen Pritsche regte sich eine Gestalt. »Bester Mann, zu Hilfe, das Rathaus steht in Flammen!« schrie Nettelbeck. Der Offizier erhob sich, schlug die Hände zusammen und rief aus: »Ach, du armer Nettelbeck!« Jetzt erst erkannte ihn Nettelbeck; es war Gneisenau. Nun wurde die Lärmtrommel gerührt, die Soldaten erschienen, Patrouillen durchzogen die Stadt, und die Löschanstalten kamen in Bewegung. Zu gleicher Zeit hatten die Gefangenen im Stockhaus die allgemeine Verwirrung benutzt, um auszubrechen, und hatten in den Häusern zu plündern begonnen; auch Nettelbecks Haus wurde von diesem Schicksal betroffen. Durch den tätigen Eifer des Militärs wurde die Rotte wieder eingefangen und unschädlich gemacht.

So besonnen, wo es zu handeln galt, so allgegenwärtig gleichsam, wo eine Gefahr nahte, und so beharrlich, wo nur die unabgespannte Kraft zum Ziele führen konnte, hatte sich der Kommandant Gneisenau immer und überall seit dem ersten Augenblick seines Auftretens erwiesen. Wochen hindurch war er so wenig in ein Bett als aus den Kleidern gekommen.Vater und Freund des Soldaten wie des Bürgers, hielt er beider Herzen durch den milden Ernst seines Wesens und durch teilnehmende Freundlichkeit gefesselt. Jeder seiner Anordnungen folgte das unbedingteste Zutrauen.

Der Morgen des 2. Juli brach an. Not und Elend, Jammergeschrei und Auftritte der blutigsten Art, einstürzende Gebäude und prasselnde Flammen, das war das einzige, was bei jedem Schritt den entsetzten Sinnen sich darstellte. Gneisenaus scharfes Auge hatte mitten im gräßlichsten Tumult erkannt, daß der Feind Vorbereitungen traf, sich von der Wolfsschanze aus über das Münderfort herzustürzen. Es war drei Uhr nachmittags. Gegenanstalten wurden getroffen, Befehle flogen, alles war in der lebendigsten Spannung, plötzlich schwieg das feindliche Geschütz auf allen Batterien. Auf das Krachen eines Donners wie am Tage des Weltgerichts folgte eine lange, öde Stille. Jeder Atem stockte, niemand begriff den schnellen Wechsel, das schauerliche Erstarren so gewaltiger losgelassener Kräfte. Da nahte ein feindlicher Parlamentär, neben ihm ein preußischer Offizier, und alsbald stürzte dieser mit den atemlos hervorgestoßenen Worten in den Kreis seiner Bekannten: »Friede! Kolberg ist gerettet.«

Als im Jahre 1809 der König von Memel nach Berlin zurückkehrte, hieß es zuerst, er werde seinen Weg über Kolberg nehmen; aber die Strenge der Jahreszeit gebot die kürzeste Richtung, und da es bekannt wurde, daß das königlichePaar einen Rasttag in Stargard machen wollte, schlug Nettelbeck den Kolbergern vor, eine Abordnung der Bürgerschaft dorthin zu senden. Alles war seiner Meinung, aber alles glaubte auch, daß es dafür zu spät sei, denn um rechtzeitig an Ort und Stelle zu kommen hätte man sich noch den nämlichen Abend auf den Weg machen müssen. »Und warum nicht schon in der nämlichen Stunde?« fragte Nettelbeck. »Ich bin dazu bereit, aber ich bedarf noch eines Gefährten. Wer begleitet mich?« Schweigen und Kopfschütteln ringsherum, und schon wollte der Alte im feurigen Unmut auflodern, als ihm der Kaufmann Gölckel die Hand reichte, sich ihm zum Gefährten erbot und in einer Stunde reisefertig zu sein versprach. Sie kamen nach Stargard so früh am Morgen, daß sie noch alles in Finsternis und Schlaf begraben fanden. An einem Haus stiegen sie ab, klopften an und verlangten Herberge. Die Antwort lautete, alles sei dicht besetzt und kein Unterkommen mehr möglich. »Aber liebe Leute, den alten Nettelbeck werdet ihr doch nicht auf der Straße stehen lassen!« »Nein, wahrhaftig nicht,« scholl eine weibliche Stimme dagegen, »tausendmal willkommen! Da muß sich schon ein Winkelchen finden.«

Im königlichen Quartier wurde Nettelbeck von einem General erkannt und in das Empfangszimmer geführt. Der große Raum war voll von Offizieren, Damen und Standespersonen. Alles blitzte von Ordenszeichen, und es gab eine feierliche Stille, als der König und die Königin eintraten.

Vor Nettelbeck und seinem Begleiter stehend, sagte der König gegen die glänzende Versammlung hin mit bewegter Stimme: »Wenn jeder so seine Pflicht getan hätte wie die Kolberger, dann wäre es uns nicht so unglücklich ergangen.«

Nach einiger Wechselrede brach aus des alten Nettelbecks Munde das glühende Wort: »Verflucht sei, wer seinem König und Vaterland nicht treu ist.« Und dann: »Wir hoffen, Eure Majestät werden uns nicht sinken lassen.« Der König antwortete und streckte Nettelbeck die Hand entgegen: »Nein, nicht sinken lassen, nicht sinken lasse ich euch.«

Diese Stunde war vielleicht die schönste in Nettelbecks Leben, und keine empfand er dankbarer als Lohn für alle Opfer und Mühen. Er begann nun seine Hantierung wieder und fand auch ein notdürftiges Auskommen. Doch fiel es ihm immer schwerer aufs Herz, daß er so abgesondert und verlassen dastand. Er war nun fünfundsiebzig Jahre alt und sorgte sich doch noch um die Zukunft. Zuerst lachend, dann in wohlgemeintem Ernst rieten ihm seine Freunde, es noch einmal mit dem Ehestand zu versuchen, und nach vielem Bedenken und Zögern folgte er ihrem Rat und heiratete eine uckermärkische Pfarrerstochter, an deren Seite er noch ein spätes Glück fand und die ihm sogar im nächsten Jahr eine Tochter schenkte.

Sein rastloser Geist konnte nicht ruhen. Am Abend seines Lebens beschäftigte ihn noch ein Projekt, das er schon Jahrzehntezuvor gehegt, der Lieblingswunsch, Preußen auch jenseits der Weltmeere groß, geachtet und blühend zu sehen. Er verfaßte eine Denkschrift, worin er den Lenkern des Staats den Vorteil auseinandersetzte, der mit dem Erwerb von Kolonien verbunden war, ja, er machte sich trotz seiner sechsundsiebzig Jahre erbötig, das erste preußische Schiff, das solchem Zweck dienen würde, selbst zu führen. Aber wie leicht zu denken, erweckte sein Vorschlag zu jener Zeit keine ernstliche Beachtung.

Im Jahre 1824, sechsundachtzig Jahre alt, endete der wunderbare Mann sein reiches Leben.

Am 29. Dezember 1845, in der Morgenfrühe, kam ein Mann von der Sudenburg, einer Vorstadt Magdeburgs außerhalb der Ringmauern, und passierte in Eile durch das eben geöffnete Tor. Er war sonderbar anzusehen; ein Schlafrock hing über seinem Körper, er war ohne Stiefel, ohne Strümpfe, ohne Kopfbedeckung, und Haar und Bart waren von Flammen versengt. Seine Schritte waren ungleich und zeugten von großer Ermattung. Bei einem Hause an der Johanniskirche, wo der Wundarzt Koch wohnte, machte er endlich halt und zog hastig die Klingel. Die Straßen waren noch leer, die Leute schliefen noch, und erst auf sein wiederholtes Klingeln wurde ihm das Tor aufgemacht. Er taumelte in das Wohnzimmer und fiel ohnmächtig auf das Sofa nieder. Der Chirurgus Koch und seine Frau, die ihm beide erschrocken entgegengetreten waren, fragten gleichzeitig, was geschehen sei und von wo er in einem solchen Aufzug herkomme. Der Wundarzt nahm das Licht vom Tisch, beleuchtete ihn und sah, daß nicht nur sein sonst wohlgepflegter Bart verkohlt war, sondern daß auch seine Hände blutig waren. »Um Gotteswillen, Holzwart, was ist geschehen?« fragte er entsetzt, doch der Mann stammelte nur verworrene Antworten, sprach von Flammen und daß seine Familie, die Frau und seine fünf Kinder wohl erstickt seien. Der Wundarzt schickte seinen Sohn und den Lehrer Zimmermann sofort nach der Sudenburg hinaus, und sie kamen mit der Unglücksbotschaft zurück, daß man dorten sechs Leichen aus dem Schutt des niedergebrannten Hauses geschafft habe. Es war auch schon eine amtliche Anzeige eingegangen, und die Kriminaldeputation fand sich bei dem Wundarzt Koch ein, um von Holzwart Auskunft über die furchtbare Katastrophe zu erhalten.

Sie trafen Holzwart krank und hinfällig durch den erlittenen Blutverlust, aber doch imstande, ihren Fragen Genüge zu leisten. Er erzählte, daß ihm in der Nacht ein Mensch in seinen Verkaufsladen eingetreten sei und ihm zwei Stiche in die Brust versetzt habe; er sei mit dem Menschen ins Ringen gekommen, habe ihn verfolgt, habe neue Stiche erhalten, sei dann umgekehrt und habe sein Haus in Flammen stehend gefunden. Er sei zurückgewichen und fast ohne Besinnung in die Stadt gelaufen, und da sei er vor dem Kochschen Hause angelangt.

Das alles klang weniger wie Lüge, als wie die unzusammenhängenden Reden eines Fiebernden. Die Kleidungsstücke, die Holzwart am Leibe hatte, waren nicht durchstochen, und die Schnitte am Hals sprachen eher für einen Selbstmordversuch als für Verwundungen von fremder Hand. Das Haus war nicht nieder-, sondern ausgebrannt; Türen und Fenster botenden Anblick einer gewaltsamen Zerstörung. Die verkohlten und verstümmelten Leichname der Frau, des Sohnes und der vier Töchter wurden in dem Zimmer neben dem Laden gefunden, und es erwies sich bald, daß an ihnen ein zwiefaches Verbrechen begangen worden war. Die Körper zeigten deutliche Spuren der Ermordung; ihr Blut färbte die Dielen der Zimmer, tränkte die Polster des Sofas, hing in schweren Tropfen noch ungetrocknet an den Stühlen, hatte die Geschenke des Christabends, die Spielereien der unschuldigen Kleinen überspritzt.

Sollte also der Vater dieser schönen, gesunden und wohlgeratenen Kinder ihr Mörder sein? Aus welchem Grund? Aus Haß? Aus Habsucht? Aus Not? Hätte er sie gehaßt, so wäre es ja leichter gewesen, sich von ihnen zu entfernen. Die Welt ist groß, und es hat schon mancher die ihm lästig gewordenen Familienbande abgeschüttelt, seine Kinder der Willkür des Geschicks preisgegeben und mit leichtsinnigem Mut in der Fremde Vergessenheit seiner Pflichten gesucht. Auch waren die Kinder schon über die Hilflosigkeit der ersten Jugend hinaus; die älteste Tochter war sechzehn, die zweite vierzehn, die dritte zehn, der Sohn neun Jahre, und nur das jüngste Kind, ein Mädchen im Alter von vier Jahren, stand in der ersten, ganz hilfsbedürftigen Jugend. Das Gerücht, daß die Kinder hätten erben sollen, erwies sich als falsch. Sie waren arm, hatten nie etwas besessen und auch keine Hoffnung auf Besitz. Daß sich die Familie in Not befand, war gewiß. Man wußte, daß Holzwarts Verhältnisse von Jahrzu Jahr zurückgegangen seien, ja daß er ein vollständig ruinierter Mann und sozusagen am Ende seiner Bahn angekommen war. Dies konnte aber keinen ausreichenden Anlaß bilden, fünf Kinder und eine Frau zu ermorden und zu verbrennen. Schon nach den ersten Tagen nannte man ihn Mörder und Mordbrenner, und daß er selbst tödlich verwundet im Gefängnisse lag und nach den Berichten der Ärzte einem Verhör noch nicht ausgesetzt werden durfte, glaubte niemand. Woher sollten ihm die Wunden gekommen sein? Sie hätten ihn in ein tragisches Licht gestellt, und man wollte von ihm nur als von einem verworfenen Mörder wissen. Was er gelitten und noch zu leiden hatte, darum kümmerte sich kein Mensch. Aber der Tag kam, wo viele in sich gingen.

Am Morgen des sechsten Tages begab sich der Untersuchungsrichter zu ihm ins Gefängnis. Der Arzt hatte seinen Zustand soweit gebessert gefunden, daß eine schonende Vernehmung möglich war. Doch lag er noch im Bette, sein Äußeres zeigte große Erschöpfung. Nachdem ihn der Richter mit einigen Fragen über sein körperliches Befinden hingeleitet hatte, erkundigte er sich, ob er sich zu erinnern vermöge, was für Aussagen er am Morgen seiner Verhaftung gemacht. Ohne Zögern bejahte Holzwart, fügte aber sogleich hinzu, daß man ihm noch einige Tage Zeit gönnen möge, dann würde er sich vollständig über die ganze Begebenheit aussprechen. Der Richter wendete ein, es wäre besser, wenn er sich sogleich ausspräche, namentlich wenn er etwas auf dem Herzen hätte, und machte ihm bemerklich, daß er in seinemRichter nicht den kalten Menschen suchen solle, der mit Nichtachtung auf den Gesunkenen herabblicke, sondern einen Teilnehmenden, der mit schmerzlichem Gefühl die Herzen der Verbrecher auszuforschen beflissen sei. Ganz ruhig richtete er daran die einfache Frage: »Haben Sie sich vergangen?« Holzwart richtete sich von seinem Lager auf, stützte sich auf den rechten Arm und sah den Richter stumm an. »Sind Sie schuldig?« setzte der Richter hastig hinzu. Holzwart legte sich zurück, sein Auge ruhte fest auf dem Gesicht des Richters, und eine tiefe Bewegung malte sich in seinen Mienen, als er antwortete: »Ja, ich bin schuldig.«

Mit dieser Erklärung mußte sich der Richter vorerst begnügen, wenn er das Leben des Gefangenen nicht in Gefahr bringen wollte, und erst nach mehreren Tagen schritt er zu einer eindringlicheren Forschung. Holzwart zeigte von der Stunde ab ein unbedingtes Vertrauen zu seinem Richter, und seine Aussagen stimmten so völlig mit allen Ermittlungen überein, daß man seine Wahrhaftigkeit nirgends in Zweifel ziehen konnte.

»Ja, ich bin schuldig,« sagte er mit festem und ruhigem Ton; »es ist aber mein Verbrechen nicht das Werk eines augenblicklichen Einfalls. Jahrelang hatte ich erfahren müssen, daß ein Unglücksstern über mir und meiner Familie war. Diese Überzeugung hat mich geleitet, als ich die Hand gegen die Meinen erhob. Kein andrer Grund als die Liebe hätte mich veranlassen können, eine so schreckliche Tat zu begehen. Die Liebe gab mir die Kraft, sie alle, die nach meiner Einsichtbald hilflos und erniedrigt dastehen würden, auf die schnellste und schmerzloseste Weise aus der Welt zu schaffen. Sie haben unbewußt und froh die letzten Minuten ihres Daseins herannahen sehen. Ich begann die Tat mit meiner Frau und endete sie mit meiner jüngsten Tochter.« Bei dieser Erklärung durchzuckte ein furchtbarer Krampf den unglücklichen Mann, er preßte die Augen zu und war unfähig, seine innerliche Erregung mit der Kraft zu bewältigen, die er bis dahin gezeigt hatte. Erst am nächsten Tage konnte man das Verhör fortsetzen.

»Ich bin an Entbehrungen gewöhnt,« sagte er, »aber zur Niedrigkeit bin ich nie hinabgesunken, habe mich nach meiner Denkungsweise immer fern von Gemeinem gehalten, und da es zuletzt mit mir so schlecht stand, daß nur Wohltaten und Almosen mir und meiner Familie das Dasein fristen konnten, sah ich keinen anderen Ausweg. Wenn mir auch nur der entfernteste Hoffnungsstrahl geleuchtet hätte, würde ich nicht die Kraft zu der Tat gefunden haben. Mit dem ersten Januar trat der Zeitpunkt ein, wo wir als Bettler vor der Welt dastanden; der Entschluß, den ich schon lange in mir trug, mußte also vor dem ersten Januar ausgeführt werden. Je näher mir die schauerliche Notwendigkeit trat, desto mutloser wurde ich, bis endlich beim Anblick des letzten Talers, den ich vor mir liegen sah, die Gewalt der Not entschied. Jetzt mußte ich.«

Dieser letzte Taler, von dem er sprach, war in dem Schutt der verbrannten Wohnung wirklich gefunden worden. Er war geschwärzt und als Münze kaum zu erkennen.

Der Richter wendete ein, daß er doch willens gewesen sei, nach Magdeburg zu ziehen und sogar schon ein Quartier für hundertdreißig Taler gemietet habe; wie das mit seinem Vorsatz, die Seinen durch Mord gegen Not zu schützen, zu vereinen sei. Er antwortete, dies sei nur zur Beruhigung seiner Frau geschehen; er habe nie geglaubt und nie die Absicht gehabt, das Quartier wirklich zu beziehen. »Meine Existenzmittel waren verbraucht, ich sollte bedeutende Zahlungen leisten, und es lagen nur noch drei Tage vor mir, der Sonntag, der Montag, und der Dienstag. Mein Entschluß schwankte schon seit dem Weihnachtsfeste; von einem Tag zum anderen schob ich die Ausführung hinaus. Ich hatte schon überlegt, ob ich nicht allein aus der Welt gehen sollte; mir war dann wohl nach dem fürchterlichen Kampf, aber ihnen? Ich sah sie in der Armut, der Gemeinheit und dem Laster verfallen. Nein, zusammen aus der Welt, zusammen in den Frieden. Am Sonntag erhob sich der Gedanke in mir in seiner ganzen Stärke. Um neun Uhr machte ich den Verkaufsladen zu. Meine Familie hielt sich gewöhnlich in dem Zimmer hinter dem Laden auf, ich hatte meine Wohnung daneben. Ich ging aus meiner Kammer durch den Laden und rief meine Frau. Sie folgte mir in mein Zimmer, und dort gab ich ihr einen Brief meines Bruders zu lesen. Sie saß mit dem Rücken gegen mich gewendet, ich ergriff die Axt, die ich mir bereitgestellt hatte, und schlug ihr den Schädel und die Schläfen ein. Sie war augenblicklich tot und hatte auch nicht die leiseste Ahnungihres nahen Endes gehabt. Ich legte die Leiche auf mein Sofa, wo schon mein Bett gerichtet war, doch so, daß es den Kindern nicht auffallen konnte. Dann ging ich wieder hinüber und holte meine älteste Tochter. Unter dem Vorwand, daß ich ihr etwas diktieren müsse, was sie mir aus der Apotheke holen sollte, gebot ich ihr, sich auf denselben Stuhl zu setzen, auf dem ihre Mutter gesessen war. Ich diktierte ihr, ich weiß nicht ob Kremortartari oder sonst so etwas; in dem Augenblick, wo sie sich über den Tisch bückte, schlug ich ihr ebenfalls den Schädel ein. Sie endete wie ihre Mutter ohne ein Schmerzgefühl. Ich trug die Leiche über den Flur in die Küche, und zur Sicherheit schnitt ich mit meinem Rasiermesser die Halsmuskeln durch. Dann rief ich die zweite Tochter und tötete sie auf dieselbe Weise, auf demselben Stuhl, mit demselben Beil. Die übrigen drei Kinder erschlug ich in ihrer Schlafkammer, wo sie in ihren Betten lagen und schliefen. Allen schnitt ich die Kehle zur Vorsicht durch, damit sie auf keine Weise noch einen Lebensfunken in sich spüren und Schmerz empfinden sollten. Jetzt war das Werk vollbracht und mir war leicht. Nur ich fehlte noch, nur ich und alles war gut.«

Er erzählte nun, wie er die Betten angezündet, sich daneben hingesetzt und seinen Hals durchschnitten habe. Aber er starb nicht, er atmete weiter. Sein Arm erschien ihm plötzlich wie gelähmt und zurückgehalten. An Mut und Entschlossenheit habe es ihm nie gefehlt; hatte er bis dahin Kraft bewiesen, so mußte es ihm doch auch gelingen, seineigenes Leben zu zerstören. Er versetzte sich noch zwei Stiche in die Brust; es war umsonst. Sein Blut floß, aber das Leben fühlte er nicht schwinden. Von diesem Moment trat ein Zustand bei ihm ein, über den er keine Rechenschaft geben konnte. Er wußte nicht, wie lange er bei den Leichen gewesen, der Qualm, der sich verbreitete, trieb ihn schließlich auf und hinaus. Es war ihm, als fliehe ihn der Tod, als müsse er den Tod verfolgen. Du stirbst nicht, rief es in ihm, du kannst nicht sterben. Er lief fort, weg- und steglos, irrte lange durch einen Garten und kam endlich an das Haus des Wundarztes Koch.

Der Richter fragte: »Was erwarten Sie denn nach einer solchen Tat?« Holzwart schaute mit einem heiteren Blick empor und antwortete ohne Zaudern: »Den Tod erwarte ich. Mit Freuden erwarte ich ihn, ich wollte ihn mir selbst geben, aber es ist mir leider nicht gelungen.«

Der Richter nennt Holzwart einen ungewöhnlichen Menschen, der sich meist gewählt ausdrückte und bisweilen sogar in ein gewisses Pathos verfiel. Er war groß und von stattlichem Körperbau. Sein Gesicht war voll Ruhe, sein Blick frei, sprechend und sanft.

Im Publikum erhoben sich Stimmen, die die Liebe zu den Seinigen in Zweifel stellten. Es wurde gesagt, er habe seine Kinder mit großer Strenge behandelt und barbarische Züchtigungen über sie verhängt. Bei näherer Beleuchtung verschwanden diese Anklagen. Was den Schein von Härte hatte, war Konsequenz gewesen, und es erwies sich auch, daßHolzwart von den Pflichten eines Vaters ganz andere Begriffe gehabt hatte als mancher ehrbare Bürger. Man erinnerte sich eines Aufsatzes, den er viele Jahre vorher in der Magdeburger Zeitung hatte drucken lassen und worin er die Unerläßlichkeit und heilsame Folge strenger Zucht betont hatte. Darüber waren alle Zeugen einig, daß es keine artigeren und besseren Kinder gegeben habe als Holzwarts Kinder, insbesondere das jüngste sei ein höchst anmutiges Geschöpf gewesen, der Liebling des Vaters, wurde gesagt. Dies erklärte auch die tiefe und mächtige Bewegung, die ihn durchzittert hatte, als er bekannte: »Das jüngste Kind war das letzte, das ich tötete.«

Der Fleischer Wothge, der Holzwart oft Beistand in seinem Geschäftsbetrieb gewesen ist, bekundete die bemerkenswerte Tatsache, daß Holzwart nicht fähig gewesen sei, ein Schwein zu schlachten. Wenn er dabei behilflich sein sollte, so bebte er vor innerer Aufregung und Beklemmung. »Er war überhaupt ein sonderbarer Mann,« äußerte sich dieser Zeuge; »ich kann mich darüber nicht so ausdrücken, wie ich möchte, aber es scheint mir, als hätte er sich Vorbilder nach Büchern zum Muster aufgestellt. Ich habe ihn von Abd-el-Kadr, von Faust, von Ibrahim Pascha mit Lebendigkeit und Begeisterung sprechen hören. Das waren seine Leute. Er meinte immer: Großartig sterben müsse der Mensch.«

Und weiter erzählte Wothge: »Im vergangenen Jahre, als das fürchterliche Gewitter über uns stand, schlachtete ich eines Abends um elf Uhr bei ihm. Mitten unter dem schauerlichenDonner sagte er zu mir: ›Ich wollte, alles wäre hin; was ich auch anfange, das Unglück ist immer hinter mir her.‹ Es war eine oftmals wiederholte Rede von ihm: ›Man muß nie müssen, sondern nur wollen. Aber alle im Staate müssen, nur einer will, das ist der König.‹ Ein andermal fragte er mich über Glaubenssachen, und als ich ihm entgegnete, ich glaubte das, was im Katechismus stehe, rief er: ›Dann sind Sie ein Tor!‹ und ging von mir fort. Er war übrigens ein sehr reeller Mann, wußte sich in Respekt zu setzen und führte immer durch, was er sich vorgenommen hatte. ›Bricht’s, so bricht’s‹, pflegte er zu sagen. Seine Lieblingsbeschäftigung war das Schachspielen. Drei Freunde aus Magdeburg haben ihn öfters besucht, bloß um mit ihm Schach zu spielen. Eines Tages kam er auf sein Elternhaus zu sprechen, und da erzählte er mir, daß zwischen ihm und seinem Vater oft wilde Szenen vorgekommen seien. Einmal bei einem Streit habe sein Vater ihm geflucht, und von diesem Augenblick an sei sein Glücksstern untergegangen.«

Holzwarts Bruder erklärte dessen Vermögensverfall aus unglücklichen Konjunkturen und bekräftigte, daß er mit redlichem Willen und unermüdlichem Eifer stets danach gestrebt habe, sich und seine Familie zu ernähren. Er sei niemals arbeitsscheu gewesen, sondern es habe immer den Anschein gehabt, als solle seine Tätigkeit vergeblich sein. Er schrieb ihm eine Anlage zum Tiefsinn zu, die er vom Vater ererbt hatte. Es sei ihm nicht möglich gewesen, sich an einen Menschen zutraulich anzuschließen. In Güte hätte man aber alles vonihm erlangen können; wenn er aber Widerstand gefunden, wo er im Recht zu sein geglaubt, oder wenn er sich verkannt gesehen, habe ihn der heftigste Zorn ergriffen.

»Er hatte einen streng rechtlichen Sinn und ein feines Gefühl,« äußerte sich weiterhin der Bruder bei einer Zeugenvernehmung. »Es lag ein Stolz in seinem Charakter, der es ihm unerträglich machte, die Hilfe anderer in Anspruch nehmen zu müssen. Ebenso unerträglich war ihm der Gedanke, seine Kinder, die er sehr liebte, nach seinem Tode dem Mitleid fremder Leute preisgegeben zu sehen. Außerdem hatte er die Idee gefaßt, daß seinen Sohn ein ebenso unglückliches Dasein erwarte, wie er selbst es geführt. Wie großmütig und redlich seine Denkungsart war, zeigte sein Benehmen, als er vor einigen Jahren in der Lotterie spielte. Bei der Klasseneinzahlung bot er in einer Anwandlung froher Laune und gewiß in der Überzeugung, daß er nichts gewinnen werde, seiner Schwägerin die Hälfte des Gewinnes an. Das Los kam in der letzten Ziehung mit einem Gewinn von tausend Talern heraus. Holzwart hielt sich seinem Versprechen gemäß für verpflichtet, der Schwägerin die Hälfte davon zu zahlen, obgleich sie kein Recht geltend machen und die Abmachung nur für Scherz angesehen werden konnte. Er blieb dabei, er müsse das Geld teilen, weil er es versprochen habe, und er bräche niemals sein Wort. Als ich ihm vor Jahresfrist aus einer Verlegenheit half, sagte er bewegt zu mir: »Glaube mir, es wird mir schwerer, dein Geld zu nehmen, als es dir vielleicht ist, es zu geben.«

Die Geschichte seines Lebens, die Holzwart vor dem Richter erzählte, trug das unverkennbare Gepräge der Wahrheit und folgt hier mit seinen eigenen Worten.

»Mein Vater hatte mich zum Seifensieder bestimmt, und da ich nun einmal nicht studieren sollte und durfte, war mir das recht. Mein Vater hatte mich so sehr an Gehorsam gewöhnt, daß es mir nicht eingefallen wäre, mich gegen seinen Befehl zu sträuben. Die Wahl des Meisters war nicht günstig für mich. Ich merkte bald, daß ich unter solcher Anleitung nichts vom Geschäft begreifen würde. Ich klagte es meinem Vater, daß mich der Lehrherr mehr zu Hausarbeiten als zum Seifensieden verwende, doch dies wurde nicht von ihm beachtet. Auch meine Mutter hörte nicht eher auf diese Klagen, als bis es zu spät war. Das Lehrgeld war weggeworfen, und nach dreijähriger Lehrzeit ging ich als Geselle aus diesem Geschäft nicht um ein Haar klüger, als ich hingekommen war. Ich trat die Wanderschaft an, fand natürlich wegen meiner Unbrauchbarkeit nirgends lange Arbeit, und um nicht in Not zu geraten, kehrte ich in die Heimat zurück. Fürs erste blieb ich im elterlichen Hause, wo man eine wünschenswerte Unterstützung an mir fand. Dann versuchte ich es noch einmal in Eisleben als Volontär in einem Seifensiedergeschäft, doch wurde dies meinen Eltern mit der Zeit zu kostspielig, ich gab die Seifensiederei für immer auf und blieb nun fünf Jahre in meines Vaters Geschäft. Ich lebte dort in drückenden, sehr unangenehmen Verhältnissen, die vornehmlich durch meines Vaters Schwäche, mit den Dienstmädchen allzu vertraulichumzugehen, herbeigeführt wurden. Mein Vater behandelte mich sehr nachlässig, was bei meinem ohnehin reizbaren Ehrgefühl eine bedeutende Wirkung auf mich ausübte. Im Hause meiner Eltern befand sich auch meine nachherige Frau; nicht eigentlich als Ladenmamsell, sondern mehr aus Gefälligkeit gegen meine Mutter, die die ganze Last des ausgebreiteten Schmälzergeschäfts allein zu tragen hatte. Ich gewann das Mädchen lieb und wünschte sie zu heiraten. Im Grunde meines Herzens trieb mich mehr die Unerträglichkeit meiner Lage als die Sehnsucht nach der Ehe zu dem Eifer, womit ich meine Eltern um Gründung eines Haushalts für mich anging. Lange sträubten sie sich gegen die Verbindung, endlich willigten sie ein und gaben mir hundert Taler Gold zur Errichtung eines Materialladens; meine Frau brachte mir ungefähr ebensoviel dazu, und mit diesem Kapital begann ich voller Hoffnung mein selbständiges Leben und meine Ehe. Die Kaufleute gewährten mir willig und gern Kredit, so sah ich trotz des geringen Vermögens einer günstigen Schicksalswendung entgegen.

Aber wenn früher meine Verhältnisse drückend waren, so verfolgte mich jetzt ein Unglück nach dem andern. Mit dem besten Willen ging ich an mein Geschäft, doch schon im ersten Jahre wurde meine Frau nach der Entbindung krank und blieb volle fünf Vierteljahre in ärztlicher Behandlung. Sie mußte teure Bäder nehmen, und die Rechnungen für den Doktor und den Apotheker beliefen sich auf hundertzweiunddreißig Taler. Ich mußte Schulden machen und erkanntebald die Unmöglichkeit, mich in der Neustadt zu halten. Ehe noch ein Konkursverfahren eingeleitet werden konnte, wurde ich mit Hilfe meiner Mutter den Gläubigern gerecht und gab das Geschäft auf. Ich übernahm nun auf den Vorschlag meiner Eltern den Laden im Bonteschen Haus auf dem Markt, worin neben einem Schenklokal ein Handel mit Schmälzerwaren betrieben wurde. Ich sah gleich, daß diese Art von Wirtschaft nichts für mich war; zu einer Schenkstube gehörte ein anderes Wesen als das meine. Die Fleischwaren bekam ich aus dem elterlichen Geschäft und verkaufte sie eigentlich auf Rechnung meines Vaters, wobei mir nur der kleine Gewinn zufiel, den ich in der Schenkstube machte. Steuern für das Gewerbe, sowie Ladenmiete mußte ich aber bezahlen. Dazu kam, daß bei dem Laden keine Wohnung war und ich die Wohnung für meine Familie apart halten mußte. Es brach zu jener Zeit die Cholera in Magdeburg aus und raffte sogleich einen der beliebtesten Gäste meines Lokals, den Goldschmied Schladen, hinweg, die übrigen Männer bekamen Furcht und mieden meine Schenkstube, sie stand verödet, und ich mußte neue Gäste anzuwerben suchen. Es schlug fehl, und nach abermals zwei Jahren mußte ich das Geschäft mit einer baren Einbuße von sechshundertsechzig Talern auflösen.

Viele haben den Verfall meines Hauswesens meiner Vorliebe für wissenschaftliche Beschäftigung zugeschrieben, aber damit hat man mir unrecht getan. Ich hatte allerdings großes Interesse an der Literatur, las gerne historische undnaturwissenschaftliche Werke, begann auch zur damaligen Zeit ein Tagebuch, worin ich eigene Ideen und gute aufgefundene Gedanken verzeichnete, muß auch gestehen, daß ich nach der Erzählung von Alvensleben »Der Racheschwur« ein Drama zu arbeiten anfing; aber alles dies füllte nur meine Mußestunden aus, die von anderen Männern beim Kartenspiel und Biertrinken verbracht wurden.

Ich versank nun in große Not, und meine Mutter unterstützte mich ein wenig. Ich faßte den Plan, in die weite Welt zu gehen und zu versuchen, ob nicht irgendein Platz für mich zu finden sei, wo ich meinen Lebensunterhalt gewinnen konnte. Mein Blick richtete sich auf Prag, wo ein Bruder meiner Mutter, der Weißgerber Grosse, in guten Umständen lebte. Ich trennte mich von meiner Familie. Es war ein schmerzlicher Abschied, aber ich ging nicht eher von ihnen, als bis mir meine Mutter in Gegenwart meines Bruders das Versprechen geleistet hatte, mütterlich für sie zu sorgen. Man schlug mir vor, die französische Handschuhmacherei zu erlernen, und wirklich schien mir dies ein Erwerbszweig, der einträglich zu werden versprach. Mein Onkel in Prag gab das Lehrgeld her, und obwohl ich nicht mehr in den Jahren war, wo man als Lehrling in einen neuen Beruf tritt und mir die Sache sehr sauer wurde, stärkte mich doch der Gedanke an meine Familie soweit, daß ich meinen Vorsatz glücklich durchführte. Nach zehn Monaten war ich Gehilfe des Meisters, der sich redlich Mühe mit mir gegeben hatte. Wieder in der Heimat angelangt, setzte ich alles daran, ein Handschuhmachergeschäftzu gründen. Mit etwas Geldmitteln wäre es mir wohl gelungen, allein ich hatte kein Geld, mein Vater wollte mir keins geben, die Mutter gab mir fünfzig Taler. Davon mußte ich die Hälfte für Arbeitszeug verwenden, und es blieb mir nicht einmal soviel, wie zum Ledereinkauf notwendig war. Dennoch versuchte ich mein Heil und hielt mich wirklich einige Zeit. Aber schließlich ging es bergab, und mein Ruin war täglich zu erwarten. Da starb mein Vater, und ich trat jetzt in das elterliche Geschäft als Pächter ein. Anfangs machte ich gute Geschäfte, aber bald wurde der Verdienst geschmälert durch die vielen neuerrichteten Schmälzerläden. Es trat noch das Mißgeschick hinzu, daß die Schweine plötzlich sehr teuer wurden, und dies ist ein harter Schlag für den Schmälzer, da die Waren noch eine Zeitlang in den alten Preisen bleiben, also bei jedem Schlachten zugesetzt werden muß. Ich blieb mit der Miete an meine Mutter rückständig, der Magistrat erhöhte die Pacht des Ladens unter dem Rathaus von sechzig auf hundert Taler, und im dritten Jahre wurde ich bankrott. Ich übergab meiner Mutter ihr Eigentum wieder, sie verkaufte das Haus und ließ mir unter Anrechnung auf mein späteres Erbteil fünfhundert Taler zum Kauf eines kleinen Hauses in der Junkerstraße, wo ich von neuem eine Schmälzerei anlegte. Ich mußte viel Geld verbauen; es wäre aber doch gegangen, wenn nicht ein Gläubiger der zweiten Hypothek mir sein Kapital gekündigt und ich einen neuen hätte erhalten können. Ich mußte wieder verkaufen und habe großen Schaden erlitten.

Jetzt war ich vollkommen herunter. Meine Mutter konnte nicht mehr helfen, mein Bruder hatte ein Gut in Lendorf gekauft und bot mir eine Freistatt. Ich ging zu ihm, als Arbeitsmann im wahren Sinn des Wortes. Fünf Monate hielt ich es aus, da trieb mich die Sehnsucht nach den Meinigen wieder zurück. Meine Frau hatte sich mit dem Schmälzerladen im Rathaus, der uns noch verblieben war, kümmerlich durchgebracht. Ich versuchte nun in Magdeburg einen neuen Erwerb und erlernte das Oblatenbacken. Meine Mutter schoß mir fünfzig Taler vor, und ich begann dies Geschäft. Aber es war, als hätte das Schicksal nur darauf gewartet, bis ich wieder Hoffnung gefaßt hatte. Kaum hatte ich einigen Vorrat liegen, so kamen die neuen Blättchen mit der Namenchiffre auf, meine Oblaten blieben als altmodisch unverkauft, und ich war wieder fertig. Da ging ich mit meiner ganzen Familie nach Lendorf zurück, und wir blieben dort ungefähr ein Jahr. Um diese Zeit verkaufte mein Bruder das Gut, und meine Mutter starb. Jetzt hatte ich freilich ein Erbteil zu erwarten, mit dem sich etwas beschaffen ließ. Ich bekam tausend Taler. Mit diesem Gelde kaufte ich ein Gehöft in Gommern, wo Gastwirtschaft betrieben wurde. Während meines Aufenthaltes in Lendorf hatte ich mich als Landwirt tüchtig geübt und Lust zum Feldbau bekommen. Die Frequenz des Gasthofs war gering, das Feld bestand nur aus zehn Morgen Ackerland, ich sah, daß nicht viel zu gewinnen sei, und da ich nach einem Jahre vorteilhaft verkaufen konnte, entledigte ich mich der Wirtschaft früh genug, umkeinen Schaden zu erleiden. Damals gewann ich auch tausend Taler in der Lotterie, von denen ich die Hälfte meiner Schwägerin gab. Ich wollte mir nun ein kleines Gütchen kaufen, dazu reichten die Mittel nicht. Obwohl ungern, entschloß ich mich endlich, wieder eine Schmälzerei zu errichten, und zwar in der Sudenburg.

Ich hatte tausend Taler im Besitz. Die Herstellung des Ladens und die Anschaffung der Utensilien kosteten hundertsechzig Taler. Verdient wurde wenig. Die Schweine waren in dem Jahre sehr wohlfeil. Der Bauer hatte kein Futter für das Vieh und mußte verkaufen. Ich glaubte richtig zu spekulieren, wenn ich Schweine kaufte und steckte zweihundert Taler in den Handel, um einen ordentlichen Wintervorrat zu haben. Ich hatte mich leider verrechnet. Alle Leute hatten selbst Schweine gekauft und geschlachtet. Man holte mir nichts ab. Das Geschäft geriet ganz und gar ins Stocken. Schinken und Schlackwürste bewahrte ich für den Sommer auf. Eine entsetzliche Hitze kam und verdarb mir die Vorräte. Im nächsten Jahre stiegen die Schweine zu einem ungeheuren Preis, aber unsre Ware blieb auf dem alten Fuß. Ich hatte jetzt nur noch hundertvierzig Taler. Die Einnahme war erbärmlich; der tägliche Erlös betrug oft nur fünfzehn Silbergroschen. Wir mußten vom Kapital leben. Beim Ablauf des Jahres war ich dem Viehhändler hundertsechzig Taler schuldig. Mein Bruder erbot sich, mir vierhundert Taler zu leihen, und einer von meinen Bekannten legte hundert Taler dazu. Von diesem Gelde lebte ich mit meinerFamilie, nachdem ich den Viehhändler bezahlt hatte. Ich schlachtete immer weniger. Im Jahre 1845 war alles Geld rein aufgezehrt. Es nahte der Winter, und die Not wurde bedrohlich. Abermals mußte ich meinen armen Bruder um Hilfe ansprechen. Er sendete mir zwanzig Taler, und dann wieder zwanzig Taler, und gegen Weihnachten aus freien Stücken fünf Taler zu Geschenken für meine Kinder. Meine Schuld beim Viehhändler war wieder auf anderthalb hundert Taler gestiegen.

Jetzt trat der Gedanke immer unwiderstehlicher an mich heran, mich und meine Familie schmerzlos aus der Welt zu schaffen, wo unserer nur Elend wartete, ich hatte keine Aussicht, keine Hoffnung mehr. Es blieb nur das Verhungern übrig. Ich war außerstande, die Meinen vor dem Untergang zu retten. Diese Gedanken machten mich fast krank, aber ich verriet sie nicht, und sie kehrten wie im Kreise immer wieder auf den Punkt zurück: Du bist dem Bettelstab verfallen. Vorwürfe über mein Leben und meine Geschäftstätigkeit konnte ich mir nicht machen. Ich habe immer geglaubt, richtige Maßregeln zur Verbesserung meiner Lage ergriffen zu haben, aber meine Bemühungen sind stets fehlgeschlagen. Verlust über Verlust, was ich angriff, mißlang. Bei der Erinnerung an all dies Leiden wurde mein Entschluß fester, und mein Gemüt stählte sich. Die Notwendigkeit trieb mich zur Tat.«

Bei gebessertem Gesundheitszustand konnte Holzwart nach einiger Zeit in das Verhörzimmer geführt werden. Seine Erscheinung war jetzt die eines zufriedenen und ergebenenMannes. Es schien, als betrachte er das ihm neugeschenkte Leben mit einem mitleidigen Lächeln, als wollte er fragen: wozu? Er wiederholte sein Geständnis, und es war ersichtlich, daß die Schilderung der Mordnacht ihm eine unaussprechliche Pein verursachte. Und wieder behauptete er feierlich, seine Tat sei das letzte Werk der Liebe gewesen. Auf den Einwand, weshalb er bei seiner ersten Vernehmung im Kochschen Hause nicht sogleich offen bekannt, sondern eine Lüge angegeben habe, erwiderte er, es sei diese Lüge die einzige in seinem ganzen Leben. Er habe nur den Fragen genügen, lästiges Zudringen abwehren wollen, weiter nichts. Daß er verhaftet und vor dem Gesetz verantwortlich gemacht werden könnte, daran hatte er nicht gedacht. Nach seiner Meinung war er niemand auf der Erde eine Auskunft zu geben verpflichtet, und seine Tat mußte vor Gott allein verantwortet werden.

Eine Tat, straf- und todeswürdig vom Standpunkte des Rechtes, verworfen und abscheulich von dem der Moral. Der fürchterliche Irrtum, eine Familie verloren zu glauben, wenn die Hilfsquellen der Existenz versiegen, beruhte hier auf Charakterfehlern nicht allein, sondern auf Gemütsanlagen, die mit tragischer Liebe Bande des Blutes als unauflöslich betrachten. Der Gedanke, daß die geliebten Menschen einzeln ihre Nahrung suchen sollten, überstieg die Geisteskraft des Vaters; bis dahin im Schoße der Familie vor dem Unheil geborgen, sollte er sie jetzt der Verführung und der Verderbnis preisgeben? Die älteste Tochter war schön, vorzeitig entwickelt, blühend in Gesundheit und reizend durch freundlichesBetragen. »Sie würde ihre Käufer schon gefunden haben,« warf Holzwart einst im Gespräch mit bitterem Hohne hin, »aber ich habe ihre Unschuld bewahrt und gerettet.« Der Richter wandte ein, das Mädchen hätte ja bei seiner Schönheit eine günstige Wendung des Geschickes erleben können. Da antwortete Holzwart: »Die Möglichkeit lag ferne, denn sie war arm; jetzt ist ihr Schicksal gesicherter.«

Im Dezember des Jahres 1846 wurde Holzwart verurteilt, nach dem Richtplatze geschleift, um mit dem Rade von unten herauf vom Leben zum Tode gebracht zu werden. Mit derselben Fassung und Haltung, die er bisher gezeigt, vernahm er das Urteil. Als ihm mitgeteilt wurde, daß ihm das Rechtsmittel der Appellation zustehe, erwiderte er ohne Besinnen, er habe die Strafe erwartet und durchaus nichts dagegen einzuwenden; er wünsche in kürzester Frist zu seinem Ziele zu kommen und wolle auch nicht von seinem Rechte Gebrauch machen, des Königs Gnade um Milderung der Strafe anzurufen, um den Vollzug des Verdikts nicht zu verzögern. Bei dieser Erklärung blieb er, trotzdem sein Verteidiger ihn zu anderer Ansicht zu bringen suchte. Es blieb diesem nichts weiter übrig, als seinem Willen entgegen zu handeln und aus eigener Machtvollkommenheit sich an den König zu wenden. Damit verging Tag um Tag, Woche um Woche, und Holzwart erwartete vergeblich das Ende eines Lebens, das für ihn allen Wert und Reiz eingebüßt hatte. Er glaubte, durch seine Verzichtleistung auf jeden Einspruch alle Hindernisse am besten beseitigt zu haben, und es gewann den Anschein,als siege wieder sein altes böses Schicksal, das immer seine Hoffnungen durchkreuzt hatte. Durch die seltene Verzichtleistung wurde ein Bericht nach dem anderen nötig, eine Formalität nach der anderen; bis zum September zogen sich die Verhandlungen hin, bevor man endlich dem König das Todesurteil vorzulegen bereit war.

Während der Zeit saß Holzwart geduldig im Gefängnis und harrte auf seinen Tod. Man gestattete ihm zu lesen, zu schreiben und Schach zu spielen. Er verfertigte die Schachfiguren aus Brot und malte mit Tinte ein Schachbrett auf Pappe. Es gehörte zu seiner größten Freude, wenn der Aufseher Zeit gewann, mit ihm Schach zu spielen.

Unter den Aufzeichnungen, die er zu Papier brachte, fanden sich Gedichte wie dieses:


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