2. Schelling und die Romantiker.a) Ästhetische Weltanschauung und Organismusbegriff.
Drei Phasen vonSchellingsPhilosophie sind für die Geistesgeschichte der Romantik von Wichtigkeit: erstens seine Naturphilosophie, dargelegt besonders in den „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ (1797), in der Abhandlung „Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik“ (1798), und in dem „Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ (1799); zweitens sein ästhetischer Idealismus, den seine Schrift „System des transzendentalen Idealismus“ (1800) vorträgt; drittens sein Identitätssystem, das zunächst in dem Aufsatze „Darstellung meines Systems der Philosophie“ (1801), dann aber auch in einer Reihe ergänzender Aufsätze auseinandergesetzt wurde. Auf der ersten Stufe verknüpft Schelling Fichtes Wissenschaftslehre mit Herders und Goethes vitalistischer Naturauffassung, auf der zweiten wendet er sich resolut ins Ästhetische und gelangt zu Resultaten, die an Schillers Spekulation gemahnen, die dritte Stufe ist von Spinoza bedingt.
SchellingsNaturphilosophiefaßt die Natur als ein großes System auf, das aus der Vernunft hervorgegangen ist. Die Natur wird als die unbewußte Form des Vernunftlebens genommen, der die Tendenz eignet, die bewußte Form zu erzeugen. Die Natur ist die Odyssee, in der nach mancherlei Irrwegen der Geist zuletzt schlafend seine Heimat, d. h. sich selbst findet. Philosophische Naturerkenntnis betrachtet diesmal den ganzen Naturprozeß als ein zweckmäßiges Zusammenwirken von Kräften, die von den niedersten Daseinsstufen zu den höchsten des animalischen Lebens und des Bewußtseins führen. Die Natur muß dazu als ein großer Organismus gedacht werden, dessen Teile die Aufgabe haben, Leben und Bewußtsein hervorzurufen. Die Philosophie der Natur wird zur Geschichte des werdenden Geistes, die verschiedenen Stufen des Naturlebens sind als „Kategorien der Natur“ gefaßt, als die notwendigen Zwischenformen, in denen die Vernunft aus dem Unbewußten ins Bewußte weiterschreitet.
Die Natur ist mithin die werdende Intelligenz. Die Entwickelung, die sie zu durchlaufen hat, betrachtet das Einzelding nur als notwendiges Mittel, nicht als Selbstzweck. Das Einzeldasein in der Natur ist ein vorübergehender Augenblick, in dem das Wechselspiel der Kräfte zum Stillstand kommt, umgleich wieder zu beginnen. In der Natur besteht ein Antagonismus entgegengesetzter Kräfte. Grundform alles natürlichen Geschehens ist aber nicht nur Dualismus und Polarität, sondern auch Synthese dieser antagonistischen Momente. Damit wird Fichtes triadischer Rhythmus von Thesis, Antithesis und Synthesis zum Prinzip der Deduktion der Naturphilosophie. Zugleich wird ein Lieblingsgedanke Goethes (s. oben S. 19) verwertet: Der Magnet als untrennbare Vereinigung entgegengesetzt wirkender Kräfte erscheint in Schellings Auge als der Typus der ganzen Naturkonstruktion. Diese Naturanschauung ist dynamisch wie die Kants. Was als Seiendes erscheint, ist ein Produkt des Tuns. Nicht ein Aggregat von Atomen in mechanischen Beziehungen, sondern das einheitliche Leben einer Urkraft ist das System der Natur. Die Denker, die von einer Weltseele sprachen, deren lebendige Entfaltung das Universum sei, haben ähnliches gemeint. Schellings Weltseele indes ist etwas anderes, ist das Ich, das aus dem unbewußten Triebe zum bewußten Leben kommen will und das durch alle Gestalten der anorganischen und organischen Natur zu dieser Selbsterfassung emporsteigt.
Der ethischen Metaphysik Kants und Fichtes war der Gegensatz von Natur und Geist unentbehrlich geblieben, obgleich auch sie die Vernunftbedingtheit der Natur anerkennen mußten. Schelling machte diesem Widerspruch ein Ende, indem er die Natur zu einem Vernunftprozeß stempelte.
Die Naturphilosophie ist die Lehre vom Werden des Ich, dertranszendentale Idealismusdie Lehre vom Ich selbst. Weder im Theoretischen noch im Praktischen kommt das Ich zu seiner höchsten Entwickelung; da wie dort ist es einseitig. Nur in der ästhetischen Funktion des Ich ist die Einseitigkeit jener beiden Tätigkeitsformen aufgehoben. Denn das Genie ist die bewußtlos-bewußte Tätigkeit des Ich; sein Produkt, die Kunst, ist die vollendete Darstellung vom Wesen des Ich. Die Kunst zeigt das volle Gleichgewicht der bewußtlosen und der bewußten Tätigkeit, das sonst in der Erfahrung nicht möglich, nur in der Unendlichkeit denkbar ist. In der Kunst allein decken sich sinnliche und geistige Welt; denn das Genie ist die Intelligenz, die als Natur wirkt. So wird die Kunst zum höchsten Organon der Philosophie; denn sie löst das Problem, an dem das philosophische Denken arbeitet. Jedes wahre Kunstwerk ist eine zur vollkommenen Ausgestaltung gelangte Erscheinung der absoluten Welteinheit. Inihm ist der Gegensatz des Denktriebes und des Willenstriebes aufgehoben.
Die Kunst ist die Vollendung des Weltlebens, sie ist die reifste Erscheinung des Ich, das den Urgrund aller Wirklichkeit bildet. Das ästhetische Moment ist also für die Weltauffassung Schellings bestimmend geworden.
In SchellingsIdentitätssystemwird endlich die Stufe voll anerkannt, zu der die Natur sich in den früheren Phasen seines Denkens allmählich emporgerungen hat. Sie war durch seine Behandlung selbständig geworden und stand dem Ich ebenbürtig gegenüber. Natur und Ich verlangen nunmehr nach Ableitung aus einem gemeinsamen Grunde. Spinozas Lehre legte Schelling nahe, in Natur und Geist die beiden Erscheinungsweisen des Absoluten zu erkennen; und wie Spinoza nennt er das Absolute bald Gott.
Das Absolute ist bei Schelling weder ideal noch real, weder Geist noch Natur, sondern die absolute Identität oder Indifferenz beider Bestimmungen. Wie der ganze Magnet weder Nordmagnetismus noch Südmagnetismus, sondern beides ist und in seinem Mittelpunkte ihre Indifferenz enthält, so ist das Absolute die ungeschiedene Vereinigung aller Gegensätze. Zugleich enthält das Absolute die Möglichkeit, sich zu differenzieren und zu einem System der verschiedenen Erscheinungen zu werden. In Schellings Anschauung entwickelt sich die absolute Vernunft in zwei Reihen; in der einen überwiegt die Natur, in der anderen der Geist. In keiner dieser differenzierten besonderen Erscheinungen kommt das Absolute zu voller Darstellung: im menschlichen Organismus z. B. überwiegt noch das physische, im besten Werke eines Künstlers das ideelle Moment. Vollkommene Entfaltung der absoluten Vernunft ist deshalb nur im Universum, in der Totalität der Erscheinungen, möglich. Das Universum ist mithin der vollkommenste aller Organismen und das vollkommenste Kunstwerk, es ist die Identität des absoluten Organismus und des absoluten Kunstwerkes.
Die Naturphilosophie der Renaissance hat gleichfalls das Universum als einen Organismus und als ein Kunstwerk betrachtet. Darum machte Schelling 1802 den größten italienischen Naturphilosophen Giordano Bruno zum Anwalt seiner Lehre, die Wahrheit und Schönheit gleichsetzte, und entwickelte seinen ästhetischen Pantheismus in dem Dialog: „Bruno oder über das natürliche und göttliche Prinzip der Dinge.“
Auf dieser dritten Stufe hat Schellings Philosophie die Fichtesche Form abgetan; er geht nicht weiter vom Ich aus, sondern von der Natur, also von dem, was früher von dem Ich realisiert wurde. Die Natur verlangt jetzt, unabhängig vom subjektiven Bewußtsein erkannt zu werden. —
Selbstverständlich kommen für die Frage, wie weit Schleiermachers „Reden“ und „Monologen“ von Schelling abhängig sind, nur Schriften der ersten Phase, also aus der Zeit der Naturphilosophie, in Betracht. Schleiermacher hat sie früh gelesen. Aber gewiß konnte er aus ihnen nicht entnehmen, was Schelling nachmals mit deutlicher Beziehung auf Schleiermacher als Verdienst der Naturphilosophie in Anspruch genommen hat: die Erklärung der Welt unter Voraussetzung wahrhafter Realität der in Raum, Zeit und Bewegung geordneten Außenwelt. Schelling bezeichnete später den, der „die Erklärung der Welt damit beginnt, daß er einen beträchtlichen Teil derselben gleich als nicht existierend erklärt“, als einen „Chirurgen, der ein Glied, das er heilen soll, lieber gleich abschneidet, weil dieses doch der kürzeste Weg sei, jemand von der Ungelegenheit, die es ihm verursacht, zu befreien“. Schleiermachers Ausgangspunkt, von dem aus er seine realistische Freude am Endlichen sich erobert, ist die Religion. Und dieser Ausgangspunkt war Schelling fremd. Noch mehr: Schellings Realismus kommt in der dritten Phase, im Stadium der Identitätsphilosophie, zum Durchbruch. Mag er sich früher schon vorbereiten, vielleicht sogar ankündigen, ganz gewiß hat SchleiermachervorSchelling seinen Realismus bekannt; vielleicht hat er — neben anderen — Schelling dadurch den Weg gewiesen. Wie Schleiermacher beschäftigt sich Schelling allerdings schon in seinen ersten Schriften mit dem Problem der sichtbaren Gegenwart des Unendlichen im Endlichen. Beide sind bemüht, den Weg von dem einen Pol zum anderen zu finden. Abermals aber gewinnt man den Eindruck, als ob der transzendentale Idealismus und die Identitätsphilosophie Schellings der Anschauung Schleiermachers näher ständen und die Frage, wie in endlicher Darstellung das Unendliche festzuhalten sei, stärker in den Vordergrund schöben, als die Naturphilosophie. Vielleicht ist dies unter Schleiermachers Einfluß so geworden. Ganz gewiß vollzieht sich indes in Schellings Urteil über Individualität eine Wandlung, die ihn Schleiermacher näher bringt; mindestens bekannte sich noch die Naturphilosophie zu einem Kredo, das der Individualität weit weniger günstig ist als Schleiermachers Persönlichkeitslehre. Daneben waltet freilich eine starke Übereinstimmung zwischen den „Reden“ Schleiermachers und der „Weltseele“ Schellings in der Art und Weise, wie alles besondere Dasein aus verschiedenen Mischungsverhältnissen der Gegensätze abgeleitet wird. Und an dieser Stelle kann Schleiermacher von Schelling gefördert worden sein.
Die Wendung zum Ästhetischen, die sich in der zweiten und dritten Phase von Schellings romantischer Entwickelung vollzieht, ist schon in den „Reden“ zu finden. Ausdrücklich hebt Schleiermacher die Verwandtschaft hervor, die zwischen dem religiösen Vorgang und dem ästhetischen Eindruck besteht. Richtet sich dort der Sinn auf das Wie und Was der Erscheinung, auf den ungeteilten Eindruck eines Ganzen, so findet auch das ästhetische Vermögen seine Befriedigung in der bloßen Anschauung des Kunstwerkes oder der Natur, sofern sie als künstlerisch hervorbringend gedacht wird („Reden“ 1. Auflage S. 149; vgl. Dilthey, Leben Schleiermachers S. 304). Anschauung des Universums und Anschauung des Kunstwerkes treten hier schon in Parallele. Gelernt hat Schelling an dieser Stelle freilich nichts von Schleiermacher; denn die Parallelisierung von Universum und Kunstwerk ist ihm von anderer Seite in breiterer Ausführung geboten worden; eine an Mächtigkeit die flüchtigen Bemerkungen Schleiermachers weit übertreffende Hauptquelle der Philosophie Schellings kommt hier in Betracht: Goethe. Künstlerisches Schaffen und Naturbetrachtung in eins zu schlingen, war Goethe besonders seit Italien etwas Selbstverständliches.
Am schwierigsten zu lösen ist die Frage, wieweit die Romantiker Schelling wegen seiner Fassung und Verwertung desOrganismusbegriffesverpflichtet sind. Ohne Zweifel hat keiner den Begriff so folgerichtig und so allseitig entwickelt, wie Schelling. Doch ebenso gewiß ist Fr. Schlegels Denken von Anfang an auf dasselbe Ziel gerichtet; ferner verwertet er von früh auf ästhetisch den Begriff, der ja eine lange Vorgeschichte in der Kunstlehre des 18. Jahrhunderts hat und von Goethe und Herder, aber auch von Moritz an Schelling wie an Fr. Schlegel in hochausgebildeter Form übergeben wird (s. oben S. 15 ff.).
Das Hauptmerkmal organischer Betrachtung ist der Wunsch, eine Erscheinung als Ganzes zu begreifen, auf das Ganze und Einheitliche bei der Betrachtung und Würdigung, sei’s der Welt,sei’s eines Ausschnittes aus ihr, zu dringen. Das 116. Athenaeumfragment und die Definition der romantischen Poesie, die es versucht, sind auf dem Gedanken der vereinheitlichten Ganzheit aufgebaut. Und zwar ganz gewiß, ohne daß Schelling auch nur entfernt als Anreger in Betracht käme: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist..., alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen... Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten, wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang... Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig, nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert...“ Aber noch viel früher drängt Fr. Schlegel auf das Einheitliche, Ganze im Kunstwerk. Schon Mitte Mai 1793 schreibt er an seinen Bruder (S. 86): „Es gibt nur zwei Gesetze für die Dichtkunst. Eines derselben ist — das Mannichfaltige muß zu innerer Einheit notwendig verknüpft sein. Zu Einem muß alles hinwirken, und aus diesem Einen jedes andern Dasein, Stelle und Bedeutung notwendig folgen.“ Er nennt „das, wo alle Teile sich vereinigen, was das Ganze belebt und zusammenhält“, das „Herz des Gedichtes“ und sucht es in „Hamlet“, „Götz“, „Romeo“. „Ohne Natureinheit und Vernunfteinheit... ist die höchste Schönheit der Anordnung unmöglich... Zu ihr gehört die Verteilung in kleinere Ganze... Die Teile müssen in das größere Ganze sanft verschweben, wie Wellen des Stromes.“ Die trocken verstandesmäßigen, rein schematischen ästhetischen Kategorien Einheit und Mannigfaltigkeit gewinnen unter Fr. Schlegels Hand neues Leben. Divinatorisch schreitet er in der Richtung weiter, die Herder, Lenz, Goethe in der Sturm- und Drangzeit eingeschlagen haben und in der auch K. Ph. Moritz’ Spekulation sich bewegt. Auf ästhetischem Gebiete steigert sich seine Erkenntnis und seine Verwertung der organischen Ganzheit rasch und dauernd, bis er nicht nur das einzelne Kunstwerk, sondern die ganze Kunst wie eine organische Einheit betrachtet. Stolz sagt er 1804 in der Vorrede zum ersten Bande von „Lessings Gedanken und Meinungen“ (S. 34): „Die Konstruktion und Erkenntnis des Ganzen [der Kunst und Dichtkunst]... ist von uns als die eine und wesentlichste Grundbedingung einer Kritik, welche ihre hohe Bestimmungwirklich erfüllen soll, aufgestellt worden.“ Lessing wird dabei als Vorläufer solchen Strebens in Anspruch genommen. Daß eine organische Konstruktion des Ganzen der Kunst für Fr. Schlegel zugleich auch eine historische Konstruktion bedeutete, ist selbstverständlich.
Der Wunsch, das Kunstwerk als organisches Ganze zu fassen, entspringt abermals dem metaphysischen Bedürfnisse Fr. Schlegels. Ganz wie Schopenhauer es umschreibt, möchte Fr. Schlegel das Kunstwerk in seinem innersten Zusammenhange überschauen und der Einheit sich bewußt werden, die darin zur wechselnden Erscheinung kommt. Vom einzelnen Kunstwerk schreitet er alsbald folgerichtig zum Ganzen der Kunst weiter.
Hat indessen Fr. Schlegel vielleicht von Schelling gelernt, die ganze Welt, das Universum, als Organismus zu fassen? In den „Ideen“ und im „Gespräch über die Poesie“, wo diese Anschauung immer wieder auftaucht, zeigt sie sich sofort in der Form des ästhetischen Idealismus Schellings: „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk“, sagt Lothario im „Gespräch“ (2, 364). Und gleich im Eingang des „Gespräches“ (S. 339) erscheint die Erde als das „eine Gedicht der Gottheit, dessen Teil und Blüte auch wir sind“. Das Universum ein Kunstwerk! Schlegel ist zu dieser Überzeugung doch wohl sicher in dem Augenblick gelangt, da Schleiermacher ihm das Universum wieder nahegerückt hatte. Galt es doch auch diesmal nur die alten, jetzt freilich mit neuem Lebensinhalt erfüllten Begriffe in Friedrich wachzurufen; denn von Anfang an war er gewöhnt, seine Anschauung von organischer Einheit über die Grenzen des Ästhetischen hinaus auf die Erfassung der ganzen Welt anzuwenden. Der Brief an Wilhelm vom 28. August 1793, der für die Begriffe System und Ideal eine Lanze bricht, stellt die Gleichungen auf, die dann ebenso in den „Ideen“ und im „Gespräch“ wie in Schellings ästhetischem Idealismus wiederkehren: „Was wir in Werken, Handlungen und Kunstwerken Seele heißen (im Gedichte nenne ich’s gern Herz), im Menschen Geist und sittliche Würde, in der Schöpfung Gott, — lebendigster Zusammenhang — das ist in Begriffen System. Es gibt nureinwirkliches System — die große Verborgene, die ewige Natur oder die Wahrheit. — Aber denke Dir alle menschlichen Gedanken als ein Ganzes, so leuchtet ein, daß die Wahrheit, die vollendeteEinheit das notwendige, obschon nie erreichbare Ziel alles Denken ist!“ Ohne daß der Ausdruck selbst erschienen, ist Schellings Universum als Totalität der Erscheinungen hier vorweggenommen; und diesem Universum werden die Prädikate zuerteilt, die Fr. Schlegel für das Kunstwerk gewonnen hat.
Ob und wieweit Schelling für die zweite und dritte Phase seiner romantischen Periode etwas von Fr. Schlegel gelernt hat, wird wohl nie ganz einwandfrei festzustellen sein, denn beide fußen auf der Ästhetik und Naturerkenntnis Goethes und Herders. Nur scheint Fr. Schlegel früher als Schelling die Verwandtschaft von Goethes künstlerischen und naturwissenschaftlichen Denkformen erkannt zu haben; Schelling wurde von Goethe selbst in diese Zusammenhänge eingeführt, aber nur nachdem Fr. Schlegel längst die ganze Bedeutung des Organismusbegriffes nach der Seite der Ästhetik wie nach der Seite der Naturerkenntnis erfaßt hatte.
Und so darf denn auch die Lehre vom „Mittelpunkt“, die in der organischen Weltanschauung Fr. Schlegels eine so große Rolle spielt, unmittelbar auf ihre ersten Quellen, auf Goethe und auf Moritz (vgl. Jubiläumsausgabe 36, S. XLIII), zurückgeleitet werden. Marie Joachimi möchte (S. 33 ff.) diese Lehre vom Mittelpunkte, die „Zentrumslehre“, zum eigentlichen Glaubensbekenntnis Fr. Schlegels machen. Auf ihre Ausführungen sei hier verwiesen.
Wie Schleiermacher so erscheint also heute auch Fr. Schlegel und mit ihm Novalis weniger abhängig von Schelling, als bis vor kurzem angenommen worden war. Marie Joachimi behauptet (S. 18) in Übereinstimmung mit Dilthey, daß Schlegel von der Transzendentalphilosophie nichts gelernt habe und hält umgekehrt Schlegel für den Anreger Schellings überall da, wo Schelling in romantisch-ästhetischer Richtung über Fichte hinausgeht. Spenlé (S. 238 ff.) erweitert die Kluft, die nach den äußeren Zeugnissen zwischen Hardenberg und Schelling bestand. Kircher, der schon 1903 (Euphorion 10, 313 ff.) das Unromantische in Schellings Denken angedeutet hatte, meint in seinem Buche (S. 196, 214, 219, 224, 237) die auffallende Erscheinung feststellen zu müssen, daß ein System von verwegenster Intellektualität, das die ganze Fülle des Naturlebens in sich hell und licht zu machen sucht, zu einer „romantischen Philosophie“ gestempelt worden ist. Unleugbar bleibt nur die Übereinstimmung der eigentlichen Romantiker mit Schelling auf dem Felde der Naturphilosophie; aber auch da fallen heute die Abweichungen fast stärker auf als die Gemeinsamkeiten. Olshausen (S. 13, 17) beobachtet, daß Novalis die Sphäre Schellings eng erscheinen mußte neben der Universalität von Fr. Schlegels Geist; ferner sei Novalis, als Schellings „Weltseele“ erschien, so weit in eigener Richtung fortgeschritten gewesen, daß die Schrift, der Novalis an sich nahestand, keine tiefgehende Wirkung auf ihn weiter tun konnte. H. Simon (S. IX f.) erinnert an Hardenbergs Wort, daß trotz „echter Universaltendenz“ bei Schelling „ein beschränkter Begriff der Natur“ vorausgesetzt sei. „Der theoretische Naturmonismus Schellings“, sagt Simon, „war ganz gegen Novalis’ Überzeugung von der beginnenden Mannigfaltigkeit der Natur, die erst allmählich „moralisch“ und Eins werden sollte. Für ihn ist die Natur als Objekt... gar nicht alseineNatur hinzustellen.“ Wollte Novalis doch an Stelle von Schellings „Urduplizität“ (also seiner Polarität) einen „Urinfinitismus“ der Natur annehmen. Auf der anderen Seite fanden wiederum Novalis und Fr. Schlegel keine Anerkennung. Steffens spottete (an Schelling; bei Plitt 1, 277) über den „Schlegelianismus der Naturwissenschaften“, über die Sucht, die Natur gleichsam auf witzigen Einfällen zu ertappen, Schelling selber aber erklärte 1802 angesichts der ersten Sammlung von Novalis’ Schriften (Plitt 1, 431 f.), er könne diese Frivolität gegen die Gegenstände nicht gut vertragen, an allen herumzuriechen, ohneeinenzu durchdringen.