2. KapitelEIN SELTSAMES GESCHEHNIS
Ravalette fuhr fort: »Man kann heute nicht mehr dieselben Wirkungen damit hervorbringen wie vor wenigen Jahren, denn der Mesmerismus ist entartet und stößt alle feinfühligen Menschen ab. Seine Anhänger verlieren unausbleiblich den Verstand – wenn sie überhaupt einen hatten. Die Philosophie, die sie zu finden glauben, ist reiner Anachronismus. Mesmeristen sind Betrüger oder Betrogene, oder beides. Die Sentimentalitäten eines stöhnenden, hysterischen Mädchens, das zur einen Hälfte in Verzückung, zur anderen Hälfte liebeskrank ist – wie das die meisten modernen Hellseherinnen sind – zählen in der Reihe bewiesener Wahrheiten nicht mit und die Rasereien verrückter Somnambulen haben überhaupt nichts zu bedeuten; jene tragen wenigstens noch ein wenig Poesie in sich, diese aber überhaupt nichts. Nein,nein, mein Freund, setzen Sie kein allzu großes Vertrauen darauf, daß der Magnetismus Sie bei Ihren Forschungen unterstützen könnte; Sie werden sonst sicherlich eine Enttäuschung erleben und es dann, wenn es zu spät ist, bedauern, daß Sie aus dem Stall der Natur das schlechteste Tier gewählt haben. Folgen Sie meinem Rate und nehmen Sie ein besseres!«
Als der alte Kavalier seine Philippika gegen den animalischen Magnetismus beendet hatte, der mir so viel bedeutete, schwieg ich etwa eine Minute lang und ließ dabei alle meine Erfahrungen und Kenntnisse auf diesem Gebiete Revue passieren. Das Resultat überraschte mich nicht im geringsten, denn bei ruhigem, leidenschaftslosem Zusehen fand ich, daß seine Behauptungen und Anschauungen unmöglich zu bestreiten und zu entkräften seien. Einst hatte ich diese Wissenschaft für den großen Boten des Lichtes gehalten, durch dessen Hilfe wir mühelos die Vorgänge einer so entfernten Vergangenheit erfahren können, daß die Kohlenlager der Erde im Vergleich dazu Schöpfungen von gestern sind. Und da warf Ravalette mit einem einzigen grausamen Schlag das ganze Gebäude unbarmherzig über den Haufen. Verstimmt schwieg ich eine Weile, während wir auf einer Art natürlicher Esplanade auf den Hängen der Hügel bei Parisauf und ab gingen. Mechanisch trat ich beim Hin- und Hergehen in die vorher gemachten Fußstapfen und ebenso mechanisch bemerkte ich, daß Ravalette das Gleiche tat. Dabei fiel mir, obwohl mein Geist angestrengt auf der Suche nach Argumenten zu seiner Widerlegung war, ein seltsamer Umstand auf: Die Schuhe Ravalettes waren von ganz eigenartigem Schnitt, wie ich dergleichen vorher noch nie gesehen hatte. Im oberen Teile waren sie fast dreieckig. Vorher war dies meiner Aufmerksamkeit entgangen, jetzt erschien es mir plötzlich sehr merkwürdig. Ebenso überraschend aber war der Umstand, daß seine Schuhe statt des gewöhnlichen Absatzes und der Sohle vier kreisförmige Ringe aus Messing hatten, die mit Lappen bedeckt waren; die Spur, die er auf dem weichen nachgiebigen Boden hinterließ, war in der Tat höchst ungewöhnlich. Diese Spur und die Schuhe unterbrachen fast meinen Gedankengang. Ich bemerkte nun auch, daß die Sohle seines Schuhs mit einem Kreuz, zwei Halbmonden, zwei Dreiecken und einer massiven Stange, die einen Teil des Kreuzes bildete, geschmückt war. Ich sah auf – Ravalette lächelte über meine Überraschung.
»Das ist nur eine Laune von mir«, erklärte er. »Ich habe eine besondere Verehrung für dieseFiguren, wie Sie leicht sehen können.« Dabei lenkte er meine Aufmerksamkeit auf eine große Spange oder Vorstecknadel an seiner Brust.
Dieses seltene Kleinod, das ich früher zwar gesehen, aber nicht besonders beachtet hatte, bestand aus einem Dreieck, einem Halbmond oder Viertelkreis und einem Zirkel. In der Mitte befand sich ein kleines Kreuz aus winzigen Sternen und am Schnittpunkt der beiden Kreuzbalken war eine blühende Rose, in natürlichen Farben in Email ausgeführt, angebracht. Als ich diese Busennadel mit einem starken Vergrößerungsglas untersuchte, entdeckte ich auf dem Halbmond eine Inschrift in winzig kleinen fremdartigen Buchstaben. Auf der linken Seite des Mondes war ein Pelikan, der seine Jungen mit seinem eigenen Herzblut nährt, in der Mitte eine kleine schwarze Rose und rechts eine dunkelrote.
Die Arbeit war außerordentlich fein, denn das Ganze war nicht größer als ein Golddollar. Er zeigte mir auch ein großes Siegel, das an seiner Uhr hing und auf seiner Oberfläche eine Leiter von zwölf Sprossen zeigte, von denen die erste und die fünfte zerbrochen waren. Der Fuß dieser Leiter stand auf einer zertrümmerten Säule, neben der eine Maurerkelle lag, und ihr oberes Ende lehnte sich gegen den Schaft und den Ringeines Ankers, der auf dem Kopf stand und dessen unterer Teil in einer Wolke verschwand. Nachdem ich das Siegel zur Genüge betrachtet hatte, zog er seine Uhr heraus, die an einer schönen goldenen Taukette befestigt war, und sagte mit einem halben Lächeln: »Ich habe noch mehr von der Art.«
Es war eine gewöhnliche glatte goldene Uhr mit einem Schutzgehäuse, die vielleicht 50 oder 60 Pfund Sterling wert sein mochte. Einen besonderen Wert aber erhielt sie dadurch, daß auf der Innenseite ein stilisierter Anker in Diamanten dargestellt war. Die entgegengesetzte Seite zeigte, in hervorragender Emailarbeit ausgeführt, eine Windrose: drei Sterne glänzten im Westen, ein Grabgewölbe mit halbgeöffnetem Tor stand im Osten, gebrochene Säulen zierten den Süden, und im Norden war ein von kleinen Dreiecken gebildeter Kreis, in dessen Mitte eine Rose auf den Armen eines durch Punkte angedeuteten Kreuzes schwebte. Das Ganze war in derselben Feinarbeit ausgeführt wie das Siegel und die Nadel.
Als ich fragte, was dies bedeute, gab er eine ausweichende Antwort. Er wiederholte seine vorherige Bemerkung und sagte schließlich: »Suchen Sie jetzt nicht zu erfahren, was diese Dinge bedeuten; Sie werden es in den nächstenTagen wissen. Reden wir von etwas anderem. Sie bemerkten vorhin, daß der Mesmerismus eine spirituelle Kraft sei, aber ich bin nicht ganz überzeugt, daß Sie recht haben. Nach meiner Ansicht ist er eine physische Kraft – er mag ultraphysisch oder ultramateriell sein, aber er ist eben doch physisch.«
»Wie!« rief ich erstaunt, »menschlicher Magnetismus, dieses mächtige Agens, das so gewaltige Wirkungen hervorruft, sollte physischer Natur sein? Unmöglich! Schon der Gedanke ist, verzeihen Sie, absurd; die Behauptung ist geradezu lächerlich!«
»Das dachte auch ich einmal«, sagte Ravalette. »Ich glaube es nicht mehr; und seien Sie überzeugt, die Zeit ist nicht mehr fern, da auch Sie in dieser Frage auf meiner Seite stehen werden. Ich will versuchen, Ihnen die Sache zu erläutern. Nehmen wir zum Beispiel die Schlangen. Wir wissen, daß diese Reptilien auf Vögel und andere Tiere einen Einfluß ausüben, der ganz dem eines Magnetiseurs ähnlich ist, nur mit dem Unterschied, daß die menschlichen Versuchsobjekte nicht den eigenartigen Schrecken zeigen, wie er bei den niedrigeren Arten von Lebewesen in diesem Falle auftritt. Denn das Tier hat einen sicheren Instinkt dafür, daß jene Macht zu seinerVernichtung ausgeübt wird, wovon die menschliche Versuchsperson natürlich völlig frei ist.
Wir sehen die Schlange dieselbe Kraft ausüben wie den Magnetiseur und wir bemerken bei beiden die gleichen Resultate; und doch wird es keinem Menschen einfallen, auch nur einen Augenblick lang anzunehmen, daß die Schlange ein spirituelles Wesen ist.«
»Ich will nicht sagen«, fuhr er fort, »daß die Seele des Menschen physische Natur ist, aber sein Geist ist es gewiß; – ich habe das vor über 60 Jahren völlig zufriedenstellend bewiesen. Halten Sie mich, ich bitte Sie, nicht etwa für einen Materialisten und behaupten Sie nicht, daß ich die Existenz des Geistes bestreite; das sei fern von mir! Ich glaube nicht nur an einen Geist, sondern sogar an ein großes spirituelles Reich, das viel ausgedehnter, mannigfaltiger und schöner ist als dieses unser materielles Reich; und glauben Sie mir, mein Freund, wenn ich Ihnen versichere, daß unter Zehntausenden nicht einer eine richtige Vorstellung von dem hat, was er meint, wenn er das Wort ›Geist‹ ausspricht, und daß unter der dreifachen Zahl noch nicht einer ihn genau definieren kann. Sodann gestatten Sie mir als ein Vorspiel zu dem, was Ihnen noch zustoßen wird, zu sagen, daß ich, entsprechend der modernen Philosophie und in gerademGegensatz zur populären Anschauung, der Ansicht bin, daß der Geist im Geiste nicht die Wirkungen hervorrufen kann, wie sie beim mesmerischen und den analogen Phänomenen auftreten, aber ich bezweifle keineswegs, daß die Materie diese Fähigkeit hat. Ja, mein Freund, ich bin der Überzeugung, daß die Materie allein ohne jede äußere Hilfe zur Erzeugung magnetischer Wunder und hundert anderer noch viel wunderbarerer Vorgänge fähig ist. Ich glaube zum Beispiel nicht, daß irgend eine bloß mesmerische Kraft und noch weniger die Träume des gewöhnlichen Schlafes Sie unter irgendwelchen Umständen befähigen können, die Inschriften auf den Tafeln im Louvre zu entziffern oder die Geheimnisse von Karnak, Baalbek, Niniveh oder Ampyloe zu erforschen, aber ich kann Ihnen rein materielle Kräfte nennen, die für die Ausführung dieser Aufgaben und noch viel größerer völlig ausreichen. Ich kenne ein materielles Mittel, das die Seele befähigt, vor ihrem Blick die Geheimnisse des fernsten Altertums bloßzulegen, die Vergangenheit ihrer Hülle zu entkleiden und triumphierend den Schleier zu lüften, der die Zukunft vor unserem Auge verbirgt – oder vielmehr vor Ihrem Auge.«
Der seltsame Alte hielt inne und mein Geist verharrte eine Weile bei seinen letzten Worten.Es war ganz klar, so dachte ich, daß er auf gewisse Medikamente anspielte, die lange Zeit zur Erzeugung einer Art ekstatischen Traumzustandes gebraucht worden sind, und so erwiderte ich:
»Sie haben zweifellos recht und können durch physische Kräfte eigenartige seelische Phänomene und merkwürdige Äußerungen geistiger Tätigkeit erregen, aber ohne allen Zweifel überschätzen Sie ihre Wichtigkeit, denn nicht eine einzige von ihnen ist imstande, einem klaren, starken Geist die Möglichkeit zu gewähren, sich in der Sphäre des Verborgenen aber Wirklichen zu bewegen.«
»Sie haben etwas Besonderes im Auge, mein Freund?«
»Ich habe verschiedene chemische und pflanzliche Verbindungen im Auge, so zum Beispiel jene Pflanzen, die einen großen Prozentsatz Narkotika enthalten, wie Opium, Beng und Hanf, dann die Präparate des wonnebringenden, aber gefährlichen …, die bezaubernden Abkochungen des …, nicht zu vergessen: das Haschisch, dieses verfluchte Mittel, unter dessen Einfluß im Orient Millionen in ein vorzeitiges, aber regenbogenfarbenes Grab sinken, und das in den westlichen Ländern Hunderte zu heulendenWahnsinnigen gemacht und starke Männer in geifernde Idioten verwandelt hat.«
Wir verfielen in Stillschweigen, bis Ravalette mit Eifer meine Hand ergriff und sagte:
»Mein lieber junger Freund, es gibt hier in Paris eine hohe und edle Gesellschaft, deren Haupt ich bin. Sie zählt viele Rosenkreuzer zu ihren Mitgliedern. Wie die Vereinigung, zu der Sie gehören, hat auch die unserige ihr Hauptquartier im Orient. Seit ich Sie gesehen habe, hatte ich den sehnlichen Wunsch, Sie als Bruder in unserem Orden zu wissen. Soll ich Ihre Aufnahme ins Werk setzen? Sind Sie erst einmal bei uns, so ist Ihnen kein Zweig des Wissens, des Mystischen und irgend eines anderen mehr verschlossen, und im Vergleich dazu nehmen sich selbst die Geheimnisse des dritten Tempels des Rosenkreuzes wie das Alphabet einer Enzyklopädie aus.«
Er redete mir noch weiter zu, aber ich hatte keine Sehnsucht, in seine Brüderschaft einzutreten, und erklärte ihm dies auch höflich, aber bestimmt. Daraufhin brach er unsere Unterredung ab, indem er sich erhob, wobei er noch bemerkte:
»Sie werden es bereuen, ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Die Gesellschaft existiert; wenn Sie sie brauchen, dann finden Sie sie; sie kanngefunden werden. Aber sehen Sie: Mein Reitknecht wartet schon lange mit dem Pferd; ich muß Sie jetzt verlassen. Nehmen Sie dieses Papier, öffnen Sie es, wenn es nötig ist. Sie werden Paris morgen oder in den nächsten Tagen oder wann immer Sie wollen, verlassen. Wenden Sie Ihr Antlitz nach Süden, nicht nach Norden, wie Sie vor hatten. Suchen Sie mich nicht, außer in der Stunde der höchsten Not. Inzwischen rate ich Ihnen, gehorchen Sie Ihrer höchsten Einsicht bis auf den Buchstaben! Leben Sie wohl!«
Und so trennten wir uns. Ich schätzte Ravalette hoch, aber nicht seine Brüderschaft. Die Unterhaltung, wie überhaupt das ganze Zusammensein mit ihm, war von einer eigentümlichen, zauberhaften Atmosphäre umgeben. Es war ersichtlich, daß alle seine Worte und Anspielungen einen tieferen Sinn hatten, als es zunächst schien. Seine Ausführungen hatten meine Seele mit neuen seltsamen Ideen und Erregungen erfüllt, und ich fühlte, daß er mich an dem inneren Tor eines großen Gebäudes hatte stehen lassen, nachdem er mich geschickt durch den Vorhof geführt. Was für Welten der Geheimnisse, welch tiefe und dunkle Vermutungen lagen noch dahinter verborgen? Ich empfand und wußte, daß er kein gewöhnlicher Mensch sei,und dies wurde mir später auf merkwürdige Weise bewiesen.
Da ich meine geplante Reise durch die Pikardie und die Normandie verschoben hatte, hatte ich mich mit der Hoffnung getröstet, ich könnte engere Bande der Sympathie zwischen uns knüpfen, und durch die Berührung mit einem so bedeutenden Intellekt wie dem seinigen an Weisheit zunehmen. Wie gewaltsam und plötzlich war diese Hoffnung jetzt zunichte gemacht!
Als er mich Knall und Fall verließ, nachdem er meine Seele mit einem so prächtigen Köder angelockt hatte, war ich erstaunt und bekümmert. Ein Tag in seiner Gesellschaft wäre mir ein Vermögen wert gewesen, aber leider konnte diese Gunst des Schicksals nicht einmal mit Tausenden erkauft werden.
Seine letzten Worte waren das Grabgeläute meiner Hoffnungen. Jetzt wurde ich auch einer Tatsache gewahr, die mir bisher entgangen war, nämlich, daß ein berittener Stallknecht mit einem Handpferd unter einem großen Baum am südöstlichen Ende unserer Promenade geduldig gewartet hatte. Als mir der Alte das versiegelte Papier in die Hand drückte, näherte sich der Knecht und half seinem Herrn beim Aufsteigen. Sobald die beiden im Sattel saßen, gaben sie denTieren die Sporen und jagten in gestrecktem Galopp davon, und bevor ich mich von meiner Bestürzung erholt hatte, waren sie außer Sehweite.