3. KapitelEIN GEISTERHAFTER BESUCH
Beverly fuhr folgendermaßen fort:
»Ich wußte dies alles natürlich noch nicht, als ich fünf Jahre alt war. Das einzige, was mich vollständig beherrschte, war der Verlust meiner Mutter – ihr seltsames Schweigen – der schmerzliche Blick derer, die mein Haupt streichelten und ›armes Kind‹ sagten. Ich versuchte mit aller Kraft, männlich zu sein, wie sie mir geboten, und nicht zu weinen, aber ich konnte meine Tränen doch nicht zurückhalten.
Als ich an dem Bett stand, in dem sie so still lag, fragte ich die anwesenden Trauergäste, wohin meine Mutter gegangen sei, ob sie niemals mehr zu mir reden, mich küssen und liebkosen werde. Und sie sagten ›nie mehr‹, und wiederholten diesen schrecklichen und doch unwahren Kehrreim immer wieder, bis mein armes Herz bis zum Zerspringen voll war von Kummer undTrübsal. Und dann warf ich mich über den teuren Leichnam und weinte, bis die Tränen nicht mehr fließen wollten.
Als ich an der kalten Brust meiner lieben Mutter lag, sagte eine Frau zu mir: ›Weine nicht, armes Kind, sie ist jetzt glücklich. Sie hat den Weg zum Himmel beschritten.‹ Und ich glaubte, was die Frau sagte, und sah hinaus durch das dichte Laubwerk der dicht vor dem Hause stehenden Bäume; ich blickte sehnsüchtig zum Himmel hinauf in der Erwartung, die emporsteigende Seele wahrzunehmen, und als mein Blick auf eine silberne Wolke fiel, da glaubte ich, es sei meiner Mutter geheiligte Seele. Fast glaube ich es jetzt noch, denn, als die Wolke sich in der Bläue des Himmels in Nichts auflöste, hörte ich deutlich eine Stimme, leise, zart und ein wenig traurig, gleich den sterbenden Tönen einer Äolsharfe, die sanft vom Hauch des Zephirs berührt wird, die Worte in mein Ohr flüstern – ich damals noch nicht ganz verstand –: ›Einsamer! möge dir das Leben, das du jetzt beginnst, Ruhe bringen! Laß deinen Wahlspruch sein: ›Versuch's!‹ Verzage nicht, sondern erinnere dich immer daran, daß wir dennoch glücklich sein können, trotz alledem! Lebe in Frieden, armes Kind! Du wirst von deiner Mutter bewacht und behütet!‹ ›Und von dem Fremden‹,fügte eine andere noch hellere Stimme aus der tiefen Stille des nachmittägigen Himmels hinzu. Ich erkannte diese mystische Stimme – die erste – und fühlte, daß sie von jenseits der Schwelle der Zeit kam.
Von dieser Stunde an begann für mich und in mir ein seltsames Doppelleben. Zwei in jeder Hinsicht vollkommen wahre Vorfälle will ich erzählen, von denen der eine es mir für immer zur Gewißheit machte, daß es menschliche Wesen gibt, die die Feuerprobe des Todes überleben. Nicht lange nach meinem unersetzlichen Verlust ging ich mit einigen anderen Kindern in dem Dachzimmer jenes dunklen alten Hauses zu Bett. Irgendein lustiges Geschehnis war vorhergegangen, und wir waren alle von Freude und Heiterkeit erfüllt, und unser Frohsinn war so laut, als er sein durfte bei der Furcht vor den Ogern unter uns, die die üble Angewohnheit hatten, mit Hilfe von Riemen und Birkenruten sich Ruhe zu erzwingen. Mitten im ärgsten Lärm wurden uns plötzlich ganz langsam von einer völlig unsichtbaren Macht die Bettdecken weggezogen. Wir zogen sie wieder zurück, aber immer und immer wieder wurden sie fortgezogen, und dies war von einem Getöse und Gerassel begleitet, wie wenn fünfzig Kanonenkugeln auf dem Boden umherrollten; und dasführte sogleich die Oger von unten zu uns herauf, die sehen wollten, was vorging. Soweit es uns unser Schrecken erlaubte, erklärten wir es ihnen, worauf sie schrecklich weise dreinsahen, die Bettdecken wieder in Ordnung brachten und sich zurückzogen. Kaum waren sie fort, als die Kanonenkugeln wieder über dem Boden zu rollen begannen. Und als ich den Mut aufbrachte, mich aufzurichten, um nach der Bettdecke zu haschen, die schon wieder weggezogen worden war, sah ich klar und deutlich eine weibliche Gestalt zu Füßen meines Bettes stehen, aber nicht auf dem Boden, denn sie schwebte wie eine Dunstwolke in der Luft. Es war, wenn überhaupt, nur wenig Licht in dem Raume, außer dem, welches die Erscheinung umfloß und von ihr auszugehen schien. Sie stand inmitten eines silbernen oder phosphoreszierenden Nebels, war aber in ihrem Äußern keineswegs phantastisch, sondern so klar und scharf umrissen, daß ich mich an alle einzelnen Bestandteile ihrer Kleidung erinnere, eine Tatsache, die ein Geheimnis enthält, das kein Psychologe bis jetzt zu ergründen vermochte. Die anderen Kinder, die es ebenfalls bemerkten, erschraken, ich nicht, denn ich fühlte, daß die Gestalt mir nichts tun würde, weil ja eine Mutter ihre Kinder liebt. Und diese Erscheinung war meine Mutter!
Nach diesem Vorfall verfloß eine ziemlich lange Zeit. Ich war zu einem kräftigen, lebhaften Knaben herangewachsen und hatte mich schon einige Jahre lang in der Welt umhergetrieben, als ich mich eines Tages als Schiffsjunge auf der Brigg ›Phöbe‹ aus New Bedford befand, deren Kapitän ein gewisser Alonzo Baker war, der aber nicht aus New Bedford stammte.
Auf diesem Schiff diente ich mehrere Monate, zu niemandes Zufriedenheit, auch nicht zu meiner eigenen, da ich zu klein, zu schwach und zu zart war, um die schweren Pflichten erfüllen zu können, die mir auferlegt waren, und ich mußte daher auch die üblichen Strafen dafür erleiden.
Seeleute sind stets abergläubisch, wenn auch jetzt vielleicht weniger als in der Zeit, von der ich spreche. Aber auch heute ist es trotz allen Fortschritts nicht schwer, Matrosen zu finden, die einem zwischen der Hundewache und acht Glas unter der Wetterreling ein Garn spinnen, daß sich einem die Haare sträuben wie einer zornigen Katze. – An Bord der ›Phöbe‹ befanden sich einige alte Seebären, die eine Menge Geschichten von den Geistern ermordeter Matrosen zu erzählen wußten, die mitten in fürchterlichen Stürmen erschienen, um die Maaten vor dem Mast zu ermuntern und die Seelen schuldbeladener Steuerleute und Kapitäne zu erschrecken.Dies trug natürlich dazu bei, meine abergläubischen und mystischen Neigungen zu verstärken. Oft habe ich die Nähe und die Macht des Todes oder jener, die niemals sterben, gefühlt, und oft bin ich auf geheimnisvolle Weise gerettet worden, wenn ich versucht war, an den gefährlichen Vergnügungen meiner älteren Kameraden teilzunehmen.
Seeleute lieben die Macht und freuen sich, sie über den auszuüben, den ihnen ein glücklicher oder unglücklicher Zufall in die Hände liefert; und auf jedem Schiff gibt es sicherlich einen, der die Zielscheibe kleinlicher Tyrannei und Mißhandlung ist. An Bord der ›Phöbe‹ war ich dieser eine, und da mir ein kräftiger Widerstand nicht möglich war, beschloß ich, mich zu rächen. Ich verwahrte in meiner Kiste ungefähr eine Gallone Rum, in die ich vorher etwa eine halbe Unze Krebsblumenöl aus der Medizinkiste gegossen hatte. Ich versah den Krug mit einem Zettel ›Gift‹. Krebsblumenöl ist das wirksamste gegenwärtig bekannte Abführmittel. Die Matrosen fanden den Krug, lasen den Zettel, glaubten der Aufschrift nicht, tranken die Flüssigkeit und waren folgerichtig danach für mehrere Stunden stark beschäftigt. Eine ganze Reihe von ernsten, gewandten Männern war nicht mehr zu sehen. An jenem Abend konnten sie dem Essen keinenGeschmack abgewinnen. Sie prügelten mich dafür unbarmherzig durch, aber ich war gerächt. Sie mißhandelten mich noch weiter, bis mich eines Tages ein Matrose in der Kambuse in die Nase kniff und für seine Quälerei eine halbe Gallone heißen Schmalzes auf den Unterleib bekam, die ihn sehr belästigte … Zuletzt dachte ich an Selbstmord als die einzige Erlösung, und in einem Anfall von Wut und Verzweiflung, wie sie nur einen Knaben zu überkommen pflegen, rannte ich wirklich aufs Hinterdeck, um den Gedanken auszuführen, durch einen Sprung über den Heckbord in die wogende See. Da wurde ich durch einen leisen Hauch von warmer, beinahe heißer Luft gebannt. Ich war bis in mein Innerstes durchschauert, blieb stehen und in meiner Seele wurde ein beredter und entrüsteter Widerspruch gegen meine Tollheit laut. Ich erlauschte deutlich die Worte: ›Sei geduldig! Versuch's!‹
Es ist unmöglich, all dies einer Selbsttäuschung zuzuschreiben.
Eines Abends, lange Zeit nach dem eben berichteten Ereignis, unterhielt sich eine Gesellschaft von Damen und Herren in Portland im Staate Maine in einem Hause in der Nähe des Observatoriums über das allgemeine Thema›Geister‹ und über Lohn und Strafe nach dem Tode. Als wir uns in jenem Zimmer niedersetzten, waren wir gerade dreizehn Personen. Wir waren von der Diskussion sehr in Anspruch genommen, so sehr, daß der Gastgeber den Dienern strengen Befehl gab, uns nicht zu stören und niemand einzulassen, wer es auch sei. Und so plauderten wir darauf los; die Diener saßen in der Vorhalle an der Türe und niemand wurde vorgelassen. Mitten im Austausch der Meinungen nahm einer der Anwesenden durch seine Beredsamkeit und seine ehrwürdige Erscheinung unsere ganze Aufmerksamkeit gefangen. Er sprach genau eine Stunde lang, und der Inhalt seiner Ausführungen erschütterte uns tief.
Als er geendet, schwand er uns aus den Augen und wir bemerkten nun erst, daß er der vierzehnte Gast gewesen war. Auf gegenseitiges Befragen stellte sich heraus, daß ihn keiner kannte oder früher je gesehen oder sein Fortgehen wahrgenommen hatte – nicht einmal die Dienerschaft, die erklärte, daß seit zwei Stunden niemand weggegangen sei. Man sagte ›sehr seltsam‹ und wir beschlossen, um unseres eigenen Ansehens willen die Sache zu verschweigen, doch wir kamen überein, in acht Tagen am selben Ort wieder zusammenzukommen, um dieAngelegenheit näher zu besprechen und die Meinungen zu vergleichen, zu denen die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft inzwischen kommen würden.«