Sechzehntes KapitelBei den Toten

Sechzehntes KapitelBei den Toten

Esther Borg ging an der Kirche vorbei und sah, daß sie offen war. Es war schön drinnen, und der Altar war mit Grün bekleidet. Draußen waren Tannenzweige gestreut und also ein Begräbnis zu erwarten. Es kamen Leute, und unter ihnen sah sie Graf Max, mit dem sie seit sechs Monaten nicht zusammengewesen war. Sie sah ihn, aber es war nicht er selbst, sondern einer, der ihm ähnelte. Dies nannte sie »sehen«, und nun wußte sie, daß er bald kommen werde.

Sie ging hinein, um zu warten.

Sie und der Graf waren damals auseinandergegangen, entschlossen, sich zu trennen; aber sie hatten so unter dem Bruch gelitten, daß sie wiederanknüpften. Dann hatten sie am Zusammensein gelitten und hatten wieder gebrochen, und dabei waren sie dies Jahr geblieben.

Esther ging auf die rechte Empore hinauf, warum wußte sie nicht, aber sie fühlte, daß dies der Platz sei, wo er sich wohl fühlen werde. Es sah so aus; er war nahe der Decke, hoch über der Menge, und man fühlte sich geborgen.

Nach einer Weile kam der Graf wirklich und ging ruhig auf Esther zu, als habe er sie zu einem Stelldichein bestellt.

»Hast du lange gewartet?« fragte er mit seiner gedämpften Stimme.

»Sechs Monate, wie du weißt,« antwortete Esther, »aber hast du mich heute gesehen?«

»Ja, vorhin in einer Straßenbahn; und ich sah dir in die Augen, so daß ich mit dir zu sprechen meinte.«

»Es ist seit damals viel geschehen.«

»Ja, und ich dachte, es sei aus zwischen uns.«

»Wieso?«

»Alle Kleinigkeiten, die ich von dir bekommen habe, sind zerbrochen und auf eine okkulte Art. Aber das ist eine alte Beobachtung.«

»Was du sagst! Jetzt besinne ich mich auf eine ganze Menge solcher Ereignisse, aber ich habe das für Zufälle gehalten. Ich bekam einmal einen Kneifer von meiner Großmutter, als wir gute Freunde waren. Er war aus geschliffenem Bergkristall und ausgezeichnet bei Obduktionen, ein wahres Wunderwerk, das ich sorglich hütete. Eines Tages entzweite ich mich mit der Alten, und sie wurde böse auf mich. Bei der nächsten Obduktion fiel das Glas ohne jede Ursache heraus. Ich dachte, es sei ganz einfach zerbrochen, und schickte es zum Reparieren. Nein, es verweigerte beharrlich den Dienst, wurde in eine Schublade gelegt und ist weggekommen.«

»Ach nein! Wie seltsam, daß alles, was die Augen betrifft, am empfindlichsten ist. Ich bekam voneinem Freunde ein Opernglas; es paßte so gut für meine Augen, daß die Benutzung ein Genuß war; der Freund und ich entzweiten uns. Du weißt, so etwas kommt vor, ohne ersichtliche Ursache; es ist, als dürfe man nicht harmonisch sein. Nun, als ich das nächste Mal das Glas benutzen wollte, konnte ich nicht klar sehen. Der Schenkel war zu kurz, und ich sah zwei Bilder. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß weder der Schenkel kürzer noch der Augenabstand größer geworden war! Es war ein Wunder, das alle Tage vorkommt und das schlechte Beobachter nicht bemerken. Die Erklärung? Die psychische Kraft des Hasses ist wohl größer, als wir glauben. Übrigens, der Ring, den ich von dir bekommen habe, hat den Stein verloren und läßt sich nicht reparieren, läßt sich nicht. Ebenso ist es mit dem Petschaft. Willst du dich jetzt von mir trennen?«

»Ja, du weißt, wir wollen beide, aber wir können nicht. Ich lebe den ganzen Tag so intim mit dir, daß ich deine Gegenwart kaum vermisse, und ich finde es so besser, denn wenn wir zusammenkommen, ist Unfrieden. Es ist, als wenn unsere Körper sich nicht ertragen können.«

»Ja, so scheint es. Doch deine Aura folgt mir, und ich spüre aus der Ferne deine Gemütsstimmung mir gegenüber wie drei verschiedene Düfte, von denen zwei mir äußerst angenehm sind. Der erste ist wie Weihrauch, und er kann so dicht werden, daß er wie Hexerei und Wahnsinn wirkt, der letzte ist wie frisches Obst. Der zweite in der Reihe ist schwül wie Seifenparfümund wirkt sinnlich unfreundlich. Aber in deiner Nähe spüre ich diese Düfte oder andere nie; also sind es keine Geruchswahrnehmungen im materiellen Sinne, sondern etwas wie eine Version. Und ich fühle mich nie uneins mit dir in deiner Abwesenheit; trennen wir uns nach einem Sturm, wo mein Haß so grenzenlos ist, daß mir die Worte fehlen, so legt sich, sobald du nur fort bist, der Haß, und eine stille, liebliche Ruhe tritt ein, in der ich mit dir so intim lebe, wie ich will. Alles, was ich spreche, denke oder schreibe, widme ich dir; Und wenn du mir zustimmst, habe ich deinen Geschmack im Munde, und dein Weihrauch wird Balsam. Um von dir loszukommen, suche ich bisweilen Gesellschaft, aber ich fürchte mich vor den Menschen, sie verletzen mich mit ihrer Gegenwart, sie verwirren unsere Fäden, und ich meine dir untreu zu sein – ja, liebe Freundin, das Universum hat Rätsel; aber die Menschen gehen umher – nicht wie Blinde, denn sie sehen wohl – verstehen aber nicht. – Wer du bist, wer ich bin, das wissen wir nicht. Aber als wir uns vereinigten, glaubte ich eine Leiche zu umarmen, die nicht deine war, sondern die einer andern … ich will nicht sagen, wessen.«

»Und mir war es, als seist du mein Vater, so daß ich Scham und Abscheu empfand! Was ist dies Furchtbare, Geheimnisvolle, in das wir hineingeraten sind?«

»Jetzt erst wird vielleicht die Menschheit die unlösbaren Rätsel erfahren! Sie zum mindesten ahnen. Du hast wohl oft gemerkt, wenn ich zu dir kam, daß ich finster wurde und verstummte. Du nanntest das schlechte Laune. Nein, liebe Freundin, ich kam instrahlender Stimmung und bereit, dich stundenlang zu unterhalten. Aber du sahst mich mit einem fremden Blick an, dein Zimmer war giftig, so daß ich am Ersticken war; ich mußte hinaus, das war alles, was ich wußte. – Und wenn du dann böse auf mich warst, konnte ich nicht antworten und mich nicht verteidigen. Ich glaube übrigens nicht, daß es zwei Menschen gibt, die sich verstehen. Der eine mißt dem Wort einen andern Wert bei als der andere, und außerdem, wenn man sich selbst nicht versteht, wie soll ein anderer einen verstehen können? Ich verstehe dich am besten im Schweigen und in der Ferne; dann bist du mir am nächsten, ohne Mißverständnis.«

»Ich brauche dir von meinem Leben seit damals nichts zu erzählen; denn du kennst es …«

»Ja, ich kenne es; du sehnst dich heraus aus dieser Unfreiheit, denn das ist es, für dich wie für mich; jedes Liebesverhältnis ist Unfreiheit und deshalb qualvoll …«

Jetzt legten sich zwei schwere Hände freundlich auf ihre Schultern, und Doktor Borg ließ sich hinter ihnen nieder.

»Guten Tag, Kinder, seid ihr auch hergekommen, um euch den Aufzug anzusehen? Der Antichrist soll von Christi Nachfolger bestattet werden. Schweden soll einen großen Dichter bekommen, der nie Dichter war, weil er nie gelebt hat; er beklagte selbst, daß er nichts erlebt und daher nichts zu erzählen habe. – Er hat den ersten Teil übersetzt, zu dem zweiten langte es nicht! Das war ein Schwede! Alles, was er angespienhatte, las er schließlich auf und hängte es an die Brust, alle Ideale seiner Jugend tauschte er gegen Titel und Würden ein, und diese charakterlose, knochenlose Gestalt wird schon jetzt als der charakterfeste Mann mit Rückgrat gepriesen! Wir leben ja in der Epoche des Humbugs!«

»Sprich nicht schlecht von den Toten,« flüsterte Graf Max; »sie können sich rächen!«

Jetzt kam die Prozession herein, und Max wendete sich zu Esther, mit gedämpfter Stimme, um vom Doktor nicht gehört zu werden.

»Siehst du, da gehen die Toten! Die jetzt Lebenden atmen ihre Gegenwart, nähren sich von dem Heutigen; die da unten leben um 1850, wie der Tote; sie haben Asche und Knochen gefressen, deshalb sehen sie wie Asche aus; alles, was schon konsumiert und assimiliert war, die Reste, dasCaput mortuum, ist ihre Nahrung; sie gehören dem Reich der Schatten an, und ohne Glauben an die lebendige, wachsende Allmacht machen sie sich ein tönernes Götzenbild und legen es in einen Sarg mit silbernen Füßen; aber der Tote gehörte nicht ihnen; einerlei, denn ihnen ist alles einerlei; er entstammte ihrer furchtsamen, blutlosen Nachhallzeit, und sie kennen die Ihren; sie haben seinerzeit gegen ihn gekämpft, sie haben ihn besiegt, und nun tragen sie seine Leiche im Triumph daher; der Kampf um die Leiche des Patroklus, des Patroklus, der Jahrhunderte lang tatenlos dalag, schließlich aufwachte, von Apollo selbst mit Blindheit geschlagen und von Hektor getötet wurde.«

Hier unterbrach Doktor Borg ihn: »Hört jetzt zu! Jetzt spricht ihr Riesengenie, der Mann, der nie etwas getan hat, dafür aber mit siebenunddreißig Jahren Staatsrat wurde, nie etwas vollendete, außer ein paar unvollendeten Broschüren. Die Broschüre, der Essay, das war die Form der Zeit. Er fürchtet die Kritik der Nachwelt an dem Werk des Toten, deshalb versichert er ihn gegen diesen Unglücksfall. Hört! Er, der Tote, hatte so mächtige Gedanken, daß erst in kommenden Jahrhunderten Generationen geboren werden, die imstande sind, sie zu begreifen! Ist das ein Hund! – Jetzt kommt Christi Nachfolger, der sich nicht entblödet, sich auf den Thron des Antichrist zu setzen. Versöhnlichkeit ist schön; wird sie aber mit weltlicher Ehre und irdischer Auszeichnung erkauft, dann ist sie Unsinn! – Hört, wie er die Glaubenslehre anpaßt, an den Statuten rüttelt … und jetzt! Jetzt wird das Schwarze weiß! Charakter! Charakterfest! Charakterstärke! und jetzt: Freimütig, freisinnig, warum nicht Freidenker? Nein, ich danke!«

Graf Max wendete sich zu Esther:

»Er war einer von denen, die Holger wegen der Majestätsbeleidigung verurteilten. Dies ist ein seltsames Schauspiel! Diese Aschemenschen gleichen den Lemuren und Larven, die Fausts Leiche stehlen wollen! Erinnerst du dich? Und es ist, als stände Mephistopheles hinter dem Altar und blende ihnen den Blick! Sie sehen alle Eigenschaften, die dem Toten fehlten. Ganz wie im Auerbachkeller:

Falsch Gebild und WortVerändern Sinn und Ort.«

Falsch Gebild und WortVerändern Sinn und Ort.«

»Sprichst du von den Sinnbildern des Opernkellers?« unterbrach der Doktor, der nicht recht gehört hatte.

»Sie sehen Weinberge und Trauben,« flüsterte Max Esther zu.

»Betrug war alles, Lug und Schein!

»Betrug war alles, Lug und Schein!

Aber ich finde den Oberpriester am schlimmsten; er ist unheimlich in seiner Verblendung; er scheint in einem kräftigen Irrwahn befangen zu sein, da er glaubt, daß Lüge Wahrheit ist. Erinnerst du dich, daß er Axel auf dem Totenbett der Lüge beschuldigte, als dieser die Wahrheit sagte?«

»Ja, jetzt hat Schweden einen Heiligen mehr!« schloß Doktor Borg. »Schwede in Seele und Herz nach ihrem Bilde; ein Dilettant, der nichts vollendete; ein Dürrdenker, der Leere philosophierte; ein Sänger ohne Stimme; ein vom ersten Baß künstlich in die Höhe getriebener Tenor, begann in der Opposition, endete in der Schwedischen Akademie; erst spanische Fliege, nachher weißes Pflaster. Da im Sarg liegt ja Barrabas und lächelt, der Pastor glaubt aber, es sei der Gekreuzigte! – Hört, wie er die Glaubensartikel dreht und wendet, hört, wie es im sechzehnten Stuhl knarrt; hohle Worte wie Zuckerwasser im Schein der Stearinkerze. Sie weinen, ganz wie Voltaires Kartenspieler, die Homers Tod beweinen! Wißt ihr, daß so ein Überlebter neulich den Toten als zweiten Homer bezeichnet hat, obwohl er weder eine Ilias, noch eine Odyssee geschrieben hat? Sein Leben warfreilich eine Odyssee insofern, als er so lange fort war; und als er heim kam, waren die Freier in sein Haus eingezogen. Lassen wir seine Asche in Frieden ruhen und beglückwünschen wir uns, daß eine Epoche mit ihm ihre drei Schaufeln Erde bekommt; eine Epoche, die der großen Revolution feindlich war, die die negative und wenig ehrenvolle Aufgabe hatte, zu hemmen.«

Der Doktor ging, als die Orgel zu spielen begann, denn er konnte dies Instrument nicht vertragen.

Esther und Max blieben sitzen.

»Ja,« sagte Max, »unser guter Doktor hat die Anschauungen der achtziger Jahre; aber er vergißt, daß wir in den neunzigern sind. Er versteht die neue Zeit nicht, die hereinbricht; er versteht uns Junge nicht; denn hätte er unser Gespräch vorhin gehört, so bezeichnete er es als – ja wie heißt die schöne Umschreibung?«

»Neurasthenie!«

»Ja, so hätte er es genannt! In den achtziger Jahren hatte man Magenkatarrh, der keiner war; jetzt hat man Neurasthenie. Jede Zeit hat ihre Krankheiten, die auf Veränderungen in der Seele zu beruhen scheinen, ganz wie die unerklärlichen Krankheiten der Kinder in den Wachstumsjahren. ›Erwächst‹, sagt man. Ja, wir sind gewachsen, und deshalb sind wir krank. Was ist Blinddarmentzündung? Das ist doch wohl eine Krankheit eines tierischen Organs, das überflüssig geworden ist und deshalb weggeschnitten wird. Ich wünschte, alles Tierische könnte weggeschnitten werden, und deshalb, siehst du, will ich nicht leugnen, daß meine Sympathienoft dem Toten gehörten, der bei geringer Kraft guten Willen und hohes Streben besaß. Unser Doktor dagegen – ja, er war ein Kind seiner Zeit, aber diese Zeit ist vorbei, mir ist er fremd, für mich gehört er schon zu den Toten. Die Ideale seiner Jugend sind zum Teil keine Ideale mehr, weil sie verwirklicht sind, und Ideale müssen vor uns liegen. Das Gefährliche an dem Doktor ist aber, daß er schon ein Hinderer geworden ist. Er fürchtet die Jugend und will von dem Neuen nichts hören. Er hat seine Grenzlinie gezogen: bis hierher, aber nicht weiter. Statt den Versuch zu machen, das unerklärliche Alltägliche zu erklären, verwirft er es. Er, der an Gesetzmäßigkeit und Ordnung glaubt, glaubt trotzdem an Zufälle; es ist aber eine Denkschwäche, im gleichen Atemzuge seine These zu verleugnen. Er, der an Entwickelung und Wachstum glaubt, will unserm Seelenleben die Möglichkeit, sich zu höheren Fähigkeiten zu entwickeln, abstreiten. Er glaubt an die drahtlose Telegraphie, leugnet aber die Fähigkeit der Seele, sich aus der Ferne mitzuteilen. Unser guter Doktor ist etwas primitiv! Holger dagegen kann wachsen; er scheint im Gefängnis einige Entdeckungen gemacht zu haben, schämt sich aber, darüber zu sprechen und hat Furcht, als Mystiker belächelt zu werden; er weiß auch, daß seine Zeitung an demselben Tage tot sein würde, an dem er diese Saite berührte …

›Du weißt selbst, ich kann das, was ich schreibe, nicht drucken lassen, denn man nennt es Verrücktheit; und ich muß warten, vielleicht dabei untergehen …‹«

Jetzt verließ die Prozession die Kirche.

»Es ist ein seltsamer Anblick,« sagte Esther, »wie so verschiedene Parteien sich in der Verehrung des Toten zusammenfinden.«

»Ja, liebe Freundin, das kann bedeuten, daß in aller Herzen eine Erinnerung an ein Jenseits lebt und daß das Erhöhte zu sich hinaufzieht. Ich kann die Widersprüche in seinem Leben lösen und aus den schroffen Widersprüchen die Synthese gewinnen, aber dazu gehört Erziehung und Selbstüberwindung.

Gerettet ist das edle GliedDer Geisterwelt vom Bösen;Wer immer strebend sich bemüht,Den können wir erlösen.Und hat an ihm die Liebe garVon oben teilgenommen,Begegnet ihm die selige ScharMit herzlichem Willkommen.

Gerettet ist das edle GliedDer Geisterwelt vom Bösen;Wer immer strebend sich bemüht,Den können wir erlösen.Und hat an ihm die Liebe garVon oben teilgenommen,Begegnet ihm die selige ScharMit herzlichem Willkommen.

Aber ich verstehe auch die Rolle, die berechtigte Rolle des Mephistopheles. ›Der Herr‹ legt sie so aus:

Ich habe deines Gleichen nie gehaßt.Von allen Geistern, die verneinen,Ist mir der Schall am wenigsten zur Last.

Ich habe deines Gleichen nie gehaßt.Von allen Geistern, die verneinen,Ist mir der Schall am wenigsten zur Last.

Höre jetzt genau zu!

Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen!

Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen!

Das ist die Aufgabe des Verneiners, die Berechtigung des Bösen in der Ökonomie des Lebens. Dahast du die Gleichung unseres Doktors; der Widersacher, der Fehlersucher, der seine Aufgabe wie ein Mann versieht, und der sehr nützlich ist in diesen Zeiten, da die Versöhnten einander in Schmeicheleien und gegenseitigem Lob überbieten. – Jetzt müssen wir gehen; die Kirche soll geschlossen werden!«

Sie gingen, und wie in schweigendem Einverständnis lenkten sie die Schritte nach den Inseln. Das waren ihre besten Stunden, wenn sie zusammen wanderten. Wenn sie sich im gleichen Takt vorwärtsbewegten, waren sie ja gezwungen, gleichen Schritt zu halten und sich einander anzupassen; dadurch entstand eine Harmonie, die sich auf gegenseitiges Nachgeben gründete; die Blicke der Menschen bewahrten sie vor zudringlicher Annäherung, und dadurch, daß fortwährend neue Gegenstände defilierten, wechselten die Stimmungen und damit die Unterhaltung.

Als sie sich müde gelaufen hatten, wollte Esther auf der neuen Opernterrasse sitzen. Nach einigem Zögern ging Max mit. Und nun saßen sie sich an einem Tisch gegenüber; es wurde intimer, und sie blickten sich in die Augen.

»Wie sollen wir aus dieser Sache herauskommen, Esther?« fragte Max.

»Ich weiß es nicht! Ich wünsche es, und wünsche es nicht.«

Ein plötzliches Verlangen, von etwas anderm zu sprechen, überfiel beide; sie sehnten sich wahrscheinlich nach einem Aufschub der schmerzhaften Operation. Esther sah sich um unter den vielen Menschen, umeinen zu finden, der Stoff liefern, eine Vorstellung von etwas Entlegenem wecken konnte. Da saß ein Hauptmann in Artillerieuniform, und sofort hatte sie einen Anhalt, um sie beide der Verstimmung zu entreißen:

»Erinnerst du dich,« begann sie, »im vorigen Jahr des französischen Artilleriehauptmanns, der als überführter Spion deportiert wurde?«

»Ja,« antwortete Max zerstreut.

»Es beginnt jetzt das Gerücht zu gehen, daß er unschuldig war; was glaubst du von der Sache?«

Max liebte solche Sprünge in der Unterhaltung nicht; es erschien ihm wie ein Versuch, ihn zu betrügen, seine Gedanken in Bahnen zu locken, in die er nicht wollte. Er antwortete aber, um nicht unhöflich zu sein.

»Ich war damals gerade in Paris und hatte den Eindruck, daß er schuldig sei, was ich sehr natürlich fand, da er als deutschsprechender Elsässer geboren ist und seine Heimat 1871 annektiert wurde.«

»Warum glaubst du denn, er sei schuldig gewesen?«

Der Graf suchte im Gedächtnis nach einer ihm gleichgültigen Sache und entgegnete:

»Der Hauptmann blieb Franzose, seine Verwandten in Mülhausen aber wurden Deutsche; und wenn Dreyfus, so hieß er ja wohl, sie jeden Sommer besuchte, so war es ja klar, daß er manches ausplauderte. Ich hörte auch, er habe in Fontainebleau oder irgendwo anders den Besuch eines deutschen Bruders bekommen und ihm eine Reihe neuer Erfindungen gezeigt, sofern daran überhaupt etwas zu zeigen war.«

»Nun, woraufhin wurde er denn aber verurteilt?«

»Auf Grund von Indizien; übereinstimmende Zeugenaussagen und belastende Umstände; die moderne Beweisführung nimmt auf diese Dinge mehr Rücksicht als auf materielle; und Zeugenaussagen sind ja immer falsch infolge der Unvollkommenheit des menschlichen Gedächtnisses, infolge der Abhängigkeit des vulgären Urteils von Interessen und Leidenschaften.«

»Ja, aber ich glaube mich zu erinnern, daß er auf Grund eines zweifelhaften Dokuments verurteilt wurde.«

»Du meinst den sogenannten Bordereau. Den habe ich autographiert gesehen neben einem Brief von Dreyfus, dazu das Schreiben, das der Oberst – wie hieß er doch noch – Dreyfus nach Diktat schreiben ließ. Aus diesen Schriftproben kann man nichts beweisen, denn Dreyfus hatte zwei Handschriften, eine deutsche, aus der Kindheit, und eine französische, die er in Frankreich gelernt hatte. Der Bordereau weist französische Handschrift auf, das sieht man besonders an den Ziffern, an der 4, die so,4, geschrieben ist, wie nur ein Franzose sie schreibt; ebenso an der 5.«

Er zeichnete mit seinem Bleistift auf der Marmorplatte.

»Aber in der Probeschrift nach dem Diktat des Obersten hat Dreyfus deutsche Ziffern und deutsche Datumsbezeichnung angewendet. Zum Beispiel beginnt die Schrift: Paris, 15. Octobre 1894.«

Esther machte große Augen:

»Du scheinst diesen Prozeß gründlich studiert zu haben.«

»Ja, genauer, als ich dir gegenüber zugeben darf; und … Also hier sind die Ziffern deutsch; doch er hat das Datum geändert, die 15 aus einer 13 gemacht. Warum hat er zuerst 13 geschrieben, da er doch beim Diktat leicht den Unterschied zwischen fünfzehn und dreizehn hören konnte? Ja, weil am dreizehnten etwas geschehen ist, was du nicht weißt! Die Schrift des Bordereaus ist also als Beweis wertlos, da der Mann zwei Handschriften hatte, von denen die Kindheitsschrift bei gewissen Gelegenheiten hervortrat.«

»Glaubst du denn nicht, daß er den Bordereau geschrieben hat?«

»Das weiß ich nicht! Aber da er nicht auf Grund dieses Schriftstücks verurteilt ist, sondern auf Grund einer Menge Indizien, ist es gleichgültig. Sonderbar ist, daß man eine Abschrift des Bordereaus in Dreyfus' Weste gefunden hat, als er nach derIle de Rezgebracht werden sollte. Wo hatte er die her, da er im Gefängnis keinen Zugang zum Original hatte; und was wollte er mit ihr, da sie ihn zu Fall brachte? Weiß man, ob die Kopie das Original war oder nicht?«

»Woher weißt du das?«

»Das steht doch in den Prozeßberichten, und er hat die Existenz der Kopie in der Weste nie abgeleugnet, da sie einmal gefunden worden war. Warum interessierst du dich so sehr für diesen Prozeß?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Jetzt sitzt er jedenfalls auf der Insel, die von manchendu Diable, von anderndu Salutgenannt wird. Esist kurios. Und man spricht von vorbeifahrenden Jachten, die ihn befreien wollen.«

»War er Jude?«

»Ja gewiß; aber das sprach nicht gegen ihn in dem aufgeklärten Frankreich, wo das Heer schon sechsunddreißig jüdische Offiziere hatte und wo Dreyfus, trotz seiner deutschen Herkunft, in den Generalstab aufgenommen wurde, eben weil er Jude war. Man wollte nämlich aufgeklärt und vorurteilsfrei erscheinen. – Daß aus diesem Ei etwas herauskommt, glaube ich zu wissen. Es ist wohl ein Basiliskenei!«

»Glaubst du denn, daß er schuldig ist?«

Max betrachtete Esther, und er fühlte in ihrer Frage einen Stachel des Hasses, eine Herausforderung, eine Schlinge. Er antwortete deshalb kalt:

»Ich glaube, daß er geklatscht hat, und das finde ich verzeihlich; ob er den Bordereau geschrieben hat, weiß ich nicht; ich halte es für unwahrscheinlich, daß man ein Verzeichnis seiner Verbrechen mit sich herumträgt. Wahrscheinlich ist er schuldig, aber nicht der Dinge, derentwegen er angeklagt ist. Und das ist seine Stärke. Deshalb konnte er auf dem Marsfelde bei der Degradierung freimütig ausrufen: ›Ich bin unschuldig!‹ (Im Sinne eurer dummen Anklage!)«

Es entstand eine Verstimmung, und Esther begann zu frösteln. Graf Max wurde nervös und fand die Gesellschaft am Nebentisch zu lärmend; ein unerzogener Hund ging umher und fegte die Tische mit seinem Schwanz ab; der Kellner puffte jedesmal, wenn er vorbeiging, Esther in den Rücken.

»Ich glaube, die Séance ist zu Ende,« sagte Max. »Hier ist Unlust, und das ist immer so, wenn gewisse Gespräche über niedrige Dinge zu wirken beginnen. Es ist etwas Böses in der Luft; die Toten hier in der Nähe berühren mich unangenehm, und ich sehne mich fort, hinaus; ich wünschte nur, ich könnte aus dem Körper herauskriechen und mit den Möwen ans Meer fliegen, mich in einer großen, grünen Woge baden, auf dem Rücken liegen und nur den Himmel sehen, ein Riesenwalfisch sein und mich draußen im Ozean abspülen, mit Fregatten um die Wette schwimmen und in Tangwälder hinuntertauchen.«

Jetzt begann es vom Kirchturm zu läuten.

»Und dann diese Glocken! Diese Kirche ist mir immer vorgekommen wie eine Nebenkapelle zum Opernkeller, das Portal ist in der Oststraße, der Turm über dem Salon auf denChamps de Mars. Wenn sie da oben läuten, dann klappern alle Groglöffel auf der Terrasse, und die Punschgläser klirren gegen die Tablette, die Lorbeerbäume rascheln und riechen, wie Quecksilber schmeckt; diese Terrasse erinnert übrigens an einen französischen Kirchhof, mit seinen bepflanzten Gräbern und den gestutzten Bäumen. Hu, wie mich friert; wollen wir gehen?«

Esther wußte, daß es bedeutete, sie wollten voneinander gehen; denn jetzt begann die Repulsion, der Haß, ohne bestimmte Ursache, und wenn sie darauf bestand, bei ihm zu bleiben, so würde das mordendeSchweigen eintreten, oder das unvernünftige Gezänk ausbrechen.

Sie gingen ohne Abschied auseinander, nach stillschweigendem gegenseitigem Übereinkommen, aber in der Überzeugung, sich früher oder später wiederzutreffen.


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