"Gnadenreich wird dir ausgerichtet haben", versetzte der Höfling aufgebracht, "daß ich dich nie beargwöhnte, weder ich noch Arbogast, der mir das Zusammensinken des Vaters beschrieben hat. Ich bin kein Zweifler und möchte nicht leben als ein solcher. Es gibt deren, die in jedem Zufall einen Plan, und in jedem Unfall eine Schuld wittern, doch das sind Betrogene oder selbst Betrüger. Der Himmel behüte mich vor beiden! Hätte ich aber Verdacht geschöpft und Feindseliges gegen dich gesonnen, jetzt, da ich dein Antlitz sehe, stünde ich entwaffnet, denn wahrlich du blickst nicht wie eine Mörderin. Wärest du eine Böse, woher nähmest du das Recht und die Stirn, das Böse aufzudecken und zu richten? Dawider empört sich die Natur!"
Ein Schweigen trat ein. "Aber was ist das für ein dumpfes Dröhnen, das den Boden schüttert?"
"Das ist der Strom", sagte die Richterin, "der den Felsen benagt und unter der Burg zu Tale stürzt."
"Wahr ist es, Frau", fuhr der Höfling treuherzig fort, "daß ich dich nie leiden mochte, und ich sage dir warum. Dieser Greis hier, mein Vater, war ein roher und gewaltsamer Mann. Ich sage es ungern: er hat an meinem Mütterlein mißgetan, ich glaube, er schlug es. Ich mag nicht daran denken. Ins Kloster hat er es gesperrt, sobald es abwelkte. Da ist es nicht zu wundern, wie wir Menschen sind, daß ich von dir nichts wissen wollte, die es von seinem Platze verstieß."
"Nicht ich. Hier tust du mir unrecht. Da wir so zusammensitzen, Wulfrin, warum soll ich es dir nicht erzählen? Ich habe deiner Mutter nichts zuleide getan. Kälter und lebloser als diese steinerne war meine Hand, da sie gewaltsam in die deines Vaters gedrückt wurde. Aus dem Kerker hergeschleppt, zugeschleudert wurde ich ihm von dem Judex, der mir einen zitternden und zagenden Liebling von niederer Geburt erwürgt hatte. Nicht jedes Weib würde dir solches anvertrauen, Wulfrin."
"Ich glaube dir", sagte dieser.
"Einer Gezwungenen und Entwürdigten", betonte sie, "gab dein Vater sterbend die Freiheit. Und ich wurde Herrin von Malmort. Du hast Grund, Wulfrin, dir die Sache zu besehen. Sie ist dunkel und schwer. Betrachte sie von allen Seiten! Denn, du räumst mir ein, vernichtete ich deinen Vater, so bin ich oder du bist zuviel auf der Erde."
"Verhöhnst du mich?" fuhr er auf, "doch nein, du blickst ernst und traurig. Siehe, Frau, das ewige Verhören und Richten hat dich quälend und peinlich gemacht und wahrhaftig, ich glaube"—seine Augen deuteten auf den Stein—"auch eine Frömmlerin bist du." Er hatte rings um das Frauenhaupt die Worte gelesen: "Orate pro magna peccatrice." "Das hier ist großgetan."
"Ich bin eine kirchliche Frau", antwortete Stemma, "doch wahrlich, ich bin keine Frömmlerin, denn ich glaube nur, was ich an dem eigenen Herzen erfahren habe. Dein Knecht, der Steinmetz Arbogast, fragte mich in seiner einfältigen Art, was er mir um das Haupt schreiben dürfe. In seiner schwäbischen Heimat sei bei vornehmen Frauen die Umschrift gebräuchlich: Betet für eine Sünderin." "Schreibe mir," sagte ich, "'Betet für die große Sünderin', denn, Wulfrin, du hast recht gesagt, was ich tue, tue ich groß."
"Hübsch!" rief der Höfling, aber nicht als Antwort auf diesen Selbstruhm, sondern das Haupt in die Höhe richtend, wo Palma stand und das helltönige Glöcklein zog. Sie hatte sich lange auf der Wendeltreppe gesäumt und aus den Luken nach dem ihr vorenthaltenen Bruder zurückgeblickt. In der weiten Bogenöffnung des von den ersten Sonnenstrahlen vergoldeten Turmes wiegte sich ein lichtes Geschöpf auf dem klingenden Morgenhimmel. Der Höfling sah einen läutenden Engel, wie ihn etwa in der zierlichen Initiale eines kostbaren Psalters ein farbenkundiger Mönch abbildet. Eine Innigkeit, deren er sich schämte, rührte und füllte sein Herz. Hatte ihn doch dieses lobpreisende Kind vom Tode errettet.
Inzwischen sammelte sich im Burghofe das Gesinde der Richterin, wohl einhundert Köpfe stark, Männer und Weiber, ein finsteres, sehniges, sonneverbranntes Geschlecht, das den Behelmten eher feindlich als neugierig musterte. Dieser, die wieder zur Erde gestiegene Palma darunter erblickend, machte sich Bahn, und als wollte er sich für die flüchtige Andacht rächen, welche er zu einem Geschöpf aus irdischem Stoffe empfunden, legte er ihr die Hand auf die Achsel, und den blühenden Mund findend, küßte er ihn kräftig. Sie zitterte vor Freude und wollte erwidern, doch schneller faßte die Richterin mit der Linken ihre Hand, die Rechte Wulfrin bietend, und führte die beiden in die Mitte ihres Volkes.
"Bruder und Schwester", verkündigte sie und sich auf die andere Seite wendend noch einmal: "Schwester und Bruder."
So ungefähr hatten es sich Knechte und Mägde schon zurechtgelegt, denn die Ähnlichkeit Wulfrins mit dem steinernen Comes war unverkennbar, nur daß sich der Vater in dem Sohne beseelt und veredelt hatte, des Hifthorns an der Seite Wulfrins zu geschweigen, das anschauliches Zeugnis gab von seiner Abstammung.
Nur das runzlige, stocktaube Mütterchen, die Sibylle, hatte nichts vernommen und nichts begriffen. Sie trippelte kichernd um das Mädchen, zupfte und tätschelte es, grinste zutulich und sprudelte aus dem zahnlosen Munde: "O du mein liebes Herrgöttchen! Was für einen hat dir da die Frau Mutter gekramt! Zum Wiederjungwerden. Von Paris ist er verschrieben, aus den Buben, die dem Großmächtigen dienen. Krause Haare, prächtige Ware!"
"Halt das Maul, Drud!" schrie dem Mütterchen der Knecht Dionys ins Ohr, "es ist der Bruder!", und sie versetzte. "Das sage ich ja, Dionys: der Gnadenreich ist ein tröstlicher und auferbaulicher Herr, aber der da ist ein gewaltiger, stürmender Krieger! O du glückseliges Pälmchen!", und so unziemlich schwatzte sie noch lange, wenn man sie nicht zurückgedrängt und ihr den frechen Mund verhalten hätte. Denn die Morgenandacht begann, und von einer entfernteren Gruppe wurde schon die Litanei angestimmt. Wie von selbst ordnete sich der Frühdienst, einen Halbkreis bildend, in dessen Mitte die Richterin den schleppenden Gesang leitete, der, dieselben Rhythmen und Sätze immer dringender und leidenschaftlicher wiederholend, den Himmel über Malmort anrief.
Wulfrin, welcher, er wußte nicht wie, an das eine Ende des andächtigen Kreises geraten war, erblickte sich gegenüber die Schwester. Alles hatte sich niedergeworfen, er und die Richterin ausgenommen. Seine Blicke hingen an Palma. Auf beiden Knien liegend, die Hände im Schoß gefaltet, sang sie eifrig mit den jungen rätischen Mägden. Aber das Freudefest, das sie in der vollen Brust mit dem endlich erlangten Bruder, dem neuen und guten Gesellen feierte, strahlte ihr aus den Augen und jubelte ihr auf den Lippen, daß die Litanei darüber verstummte. Die geöffneten gaben durch die Lüfte den Kuß des Bruders zurück. Und jetzt sich halb erhebend, streckte sie auch die Arme nach ihm. Nur eine flüchtige Gebärde, doch so viel Glut und Jugend ausströmend, daß Wulfrin unwillkürlich eine abwehrende Bewegung machte, als würde ihm Gewalt angetan. "Der Wildling!" lachte er heimlich. "Aber die wird dem wackern Gnadenreich zu schaffen machen! Ich muß ihm noch das wilde Füllen zähmen und schulen, daß es nicht ausschlage gegen den frommen Jüngling! Warte du nur!"
Und um die Erziehung zu beginnen, wendete er sich, da die Richterin das Amen sprach und Palma gegen ihn aufsprang, von ihr ab, geriet aber an Frau Stemma, die seine Hand ergriff, ihn feierlich in die Mitte führte und mit eherner Stimme zu reden begann: "Meine Leute! Wer von euch, Mann oder Weib, so alt ist, daß er vor jetzt sechzehn Jahren hier stand, während ich den Comes empfing, der davon herkam euren erschlagenen Herrn, den Judex, zu rächen—wer so alt ist und dabei gegenwärtig war, der bleibe! Ihr Jüngern, lasset uns, auch du, Palma!"
Sie gehorchten. Palma zog sich schmollend in den äußersten Burgwinkel zurück, eine halbrunde Bastei, die, ein paar Stufen tiefer als der Hof, über dem senkrechten Abgrunde ragte, durch welchen die Bergflut in ungeheurem Sturze zu Tale fiel. Sie setzte sich auf die breite Platte der Brüstung, blickte, den Arm vorgestützt, in den schneeweißen Gischt hinein, der ihr mit seinem feinen Regen die Wange kühlte, und hörte in dem Tumulte der Tiefe nur wieder den Jubel und die Ungeduld des eigenen Herzens.
Im Hofe hinter ihr ging inzwischen die rechtliche Handlung ihren Schritt, und Rede und Gegenrede folgte sich, rasch und doch gemessen, nach dem Winke der Richterin.
"Hier steht der Sohn des Comes. Ihr seid ihm die Wahrheit schuldig.Saget sie. Habet ihr das Bild jener Stunde?"
"Als wäre es heute"—"Ich sehe den Comes vom Rosse springen"—"Wir alle"—"Dampfend und keuchend"—"Du kredenztest"—"Drei lange Züge"—"Mit einem leerte er den Becher"—"Er sank"—"Wortlos"—"Er lag."
"Bei eurem Anteil am Kreuze?" fragte sie.
"So und nicht anders. Bei unserm Anteil am Kreuze!" antwortete der vielstimmige Schwur.
"Wulfrin, ich bitte dich, du blickst zerstreut! Wo bist du? Nimm dich zusammen!"
Hastig und unwillig erhob er die Hand.
Die Richterin faßte ihn am Arm. "Kein Leichtsinn!" warnte sie. "Frage, untersuche, prüfe, ehe du mich freigibst! Du begehst eine ernste, eine wichtige Tat!"
Wulfrin machte sich von ihr los. "Ich gebe die Richterin frei von dem Tode des Comes und will verdammt sein, wenn ich je daran rühre!" schwur er zornig.
Der Burghof begann sich zu leeren. Wulfrin starrte vor sich hin und vernahm, so überzeugt er von der Unschuld der Richterin war und so erleichtert, mit einer häßlichen Sache fertig zu sein—dennoch vernahm er aus seinem Innern einen Vorwurf, als hätte er den Vater durch seine Unmut und seine Hast preisgegeben und beleidigt. So stand er regungslos, während die Richterin langsam auf ihn zutrat, sich an seiner Brust emporrichtete und ihm Kette und Hifthorn leicht über das Haupt hob. "Als Pfand meiner Freigebung und unsers Friedens", sagte sie freundlich. "Ich kann seinen Ton nicht leiden." Und sie schritt durch den Hof die Stufen hinunter und hinaus auf die Bastei und schleuderte das Hifthorn mit ausgestreckter Rechten in die donnernde Tiefe.
Jetzt kam Wulfrin zur Besinnung und eilte ihr nach, das väterliche Erbe zurückzufordern. Er kam zu spät. In den betäubenden Abgrund blickend, der das Horn verschlungen hatte, hörte er unten einen feindlichen Triumph wie Tuben und Rossegewieher. Sein Ohr hatte sich in den Ebenen der lauten Rede entwöhnt, welche die Bergströme führen. Als er wieder aufschaute, war die Richterin verschwunden. Nur Palma stand neben ihm, die ihn umhalste und herzlich auf den Mund küßte.
"Laß mich!" schrie er und stieß sie von sich.
Drittes Kapitel
An einem Fenster von Malmort, durch welches der Talgrund mit seinen Türmen und Weilern als duftige Ferne hereinschimmerte, stand die Richterin mit Wulfrin und zeigte ihm die Größe ihres Besitzes. "Das beherrsche ich", sagte sie, "und Palma nach mir. Dich aber, Wulfrin, habe ich schon ehevor dazu ausersehen—wie es auch deine brüderliche Pflicht ist—, der Schwester, wenn ich stürbe, dieses weite Erbe zu sichern."
"Planvoll, aber ferneliegend", sagte er.
"Fern oder nahe. Du bist ihr natürlicher Beschützer. Ich kann mein Kind keinem Mächtigen dieses Landes vermählen, denn sie sind ein zuchtloses und sich selbst zerstörendes Geschlecht. Ich bände sie an den Schweif eines gepeitschten Rosses! Ringsherum keine Burg, an der nicht Mord klebte! Soll mir mein Kind in einem Hauszwist oder in einer Blutrache untergehen? Ja, fände ich für sie einen Guten und Starken wie du bist, dann wäre ich ruhig und könnte dich freigeben, du hättest weiter keine Pflicht an ihr zu erfüllen. Ich weiß ihr keinen Gatten als allein Gnadenreich, und der besitzt das Land, nach der Verheißung, als ein Sanftmütiger, kann es aber gegen die Gewalttätigen nicht behaupten, deren Zahl hier Legion ist. Erst seine Söhne werden kraft meines Blutes Männer sein. Bis diese kommen und wachsen, wirst du schon deine gepanzerte Hand über Gnadenreich und Palma halten und die Herrschaft führen müssen. Denn ewig reitest du nicht mit dem Kaiser. Vielleicht auch, wer weiß, erhebt er dich zum Grafen über diesen Gau, oder dann erhältst du von mir eine Burg, jene"—sie wies auf einen Turm am Horizonte—"oder eine andere, nach deinem Gefallen. Oder du hausest hier auf meinem eigenen festen Malmort." Sie legte ihm vertrauend die Hand auf die Schulter.
"Aber, Frau", sagte er, "du lebst!", und sie erwiderte: "Solang ich lebe, herrsche ich."
"Dann hat es keine Eile", antwortete er. "Daß der Schwester nichts geschehen darf, versteht sich und gelobe ich dir. Doch jetzt muß ich reiten, heute! in einer Stunde!"
"Zum Kaiser? Du hast ihm bereits meinen ortserfahrenen Rudio geschickt mit der sichern Kundschaft, daß die Lombarden sich am Mons Maurus befestigen und dort noch ein blutiger Sturm wird gegen sie geführt werden müssen. Herr Karl sitzt in Mediolanum, wie wir wissen. So braucht es dir nicht zu eilen."
"Ich lag schon zu lange hier, mich verlangt in den Bügel", sagte derHöfling, und die Richterin erwiderte nachgiebig: "Dann schenkst du mirnoch diesen Tag. Ich sähe es gerne, wenn du Palma verlobtest. WarumGnadenreich sich hier nicht blicken läßt? Er hält sich wohl in seinemPratum eingeschlossen, der Lombarden halber, vorsichtig wie er ist,obschon, wie ich glaube, diese hier verstoben sind. Weißt du was?Geh und bring ihn. Oder wüßtest du deiner Schwester einen bessernMann?"
"Nein, Frau, wenn sie ihn mag! Doch was habe ich dabei zu raten und zu tun? Das ist deine Sache und die des Pfaffen, der sie zusammengibt. Ich will den Rappen satteln gehen, den du mir geschenkt hast."
Sie blickte ihn mit besorgten Augen an. "Was ist dir, Wulfrin? Du siehst bleich! Ist dir nicht wohl hier? Und mit Palma gehst du um wie mit einer Puppe, du stößest sie weg, und dann hätschelst du sie wieder. Du verdirbst mir das Mädchen. Wo hast du solche Sitte gelernt?"
"Sie ist aufdringlich", sagte er. "Ich liebe freie Ellbogen und kann es nicht leiden, daß man sich an mich hängt. Sie läuft mir nach, und wenn ich sie schicke, weint sie. Dann muß ich sie wieder trösten. Es ist unerträglich! Ich habe die Gewohnheit breiter Ebenen und großer Räume—auf diesem Felsstück ist alles zusammengeschoben. Das Gebirge drückt, der Hof beengt, der Strom schüttert—an jeder Ecke, auf jeder Treppe dieselben Gesichter! Verwünschtes Malmort! Hier hältst du mich nicht. Hier lasse ich mich nicht einmauern. Mache dir keine Rechnung, Frau."
"Du tust mir wehe", sagte sie.
Die harte Rede reute ihn. "Frau, laß mich ziehen!" bat er. "Und daß du dich zufrieden gebest, hole ich dir heute noch den Gnadenreich, und wir verloben die Schwester. Wo haust er?"
"Ich danke dir, Wulfrin. Graciosus wohnt nicht ferne von hier, in Pratum." Sie deutete nach einer zerrissenen Schlucht, über welcher eine grüne Alp hoch emporstieg. "Ich gebe dir einen Führer. Den Knaben hier." Sie zeigte in den Hof hinunter, wo ein Hirtenbube sich damit beschäftigte, eine Sense zu wetzen. Palma stand neben ihm und plauderte.
"Gabriel", rief ihn die Richterin, "du führst deinen Herrn Wulfrin nach Pratum."
"Den Höfling? Mit Freuden!" jauchzte der Bube.
"Er träumt davon", erklärte die Richterin, "hinter dem Kaiser zu reiten. Besieh dir ihn."
"Darf ich mit?" fragte Palma und hob das Haupt.
"Nein", sagte die Richterin.
"Bruder!" bat sie und streckte die Hände.
"Schon wieder! Zum Teufel!" fluchte er. Ihre Augen füllten sich mitTränen. "So komm, Närrchen!"
Da die dreie barhaupt und reisefertig in dem feuchten Tore standen, während ringsum die Sonne brannte, sagte die geleitende Richterin zu Wulfrin: "Ich anvertraue dir Palma: hüte sie!"
"Halleluja! Voran, Engel Gabriel!" jubelte das Mädchen.
Unten am Burgweg sagte der Hirtenbube: "Herr, es gibt zwei Wege nach Pratum. Der eine steigt durch die Schlucht, der andere über die Alp." Er wies mit der Hand. "Wenn es dir und der jungen Herrin beliebt, so nehmen wir diesen. Oben schaut es sich weit und lustig, und es könnte trübe werden gegen Abend. Es ist ein Gewitterchen in der Luft."
"Ja, über die Alp, Wulfrin!" rief Palma. "Ich will dir dort meinenSee zeigen", und leichtgeschürzt schlug sie sich über eine lichteMatte, die bald zu steigen begann und immer steiler wurde.
Leicht wie auf Flügeln, mit frei atmender Brust ging das Mädchen bergan und blieb unter der sengenden Sonne frisch und kühl wie eine springende Quelle. Der Berg hatte an dem Kinde seine Freude. Glänzende Falter umgaukelten ihr das Haupt, und der Wind spielte mit ihrem Blondhaar.
Wulfrin schaute um nach Malmort, das grau schimmernd kaum aus der Morgenlandschaft hervortrat. "Wie geschah mir", fragte er sich, "in jenem Gemäuer dort? Wie konnte mich dieses unschuldige Geschöpf beängstigen, dieses fröhliche Gespiel, diese behende Gems mit hellen Augen und flüchtigen Füßen?" Ihm wurde wohl, und er mochte es gerne, daß der Knabe zu plaudern begann.
Gabriel erzählte von den Lombarden, welche er als Späher der Richterin beschlichen hatte. Sie seien überall und nirgends. Sie nisten in den Pässen, belauern die Boten und plündern die Säumer. Sie berauschen sich in dem geraubten heißen Weine von drüben, prahlen mit besiegten Waffen, fabeln von der Herstellung der eisernen Krone und leugnen oder lästern den Weltlauf. Sie beten den Teufel an, der das Regiment führe, "und doch", endigte der Knabe, "sind sie gläubige Christen, denn sie stehlen aus unsern Kirchen alles heilige Gebein zusammen, soviel sie davon erwischen können. Es ist Zeit, daß der Herr Kaiser zum Rechten sehe und ihnen feste Bezirke und einen Richter gebe."
Da nun Gabriel bei dem Kaiser angelangt war, dessen erneuerte Würdeihren Schimmer bis in dieses wilde Gebirge warf, begeisterten sichseine Augen und er rief: "Diesem und keinem andern will ich dienen!Ich heiße Gabriel und schlage gerne mit Fäusten, lieber hieße ichMichael und hiebe mit dem Schwerte! Recht muß dabei sein, und derKaiser hat immer Recht, denn er ist eins mit Gott Vater, Sohn undGeist. Er hat die Weltregierung übernommen und hütet, ein blitzendesSchwert in der Faust, den christlichen Frieden und das tausendjährigeReich."
Nun mußte ihm Wulfrin den Kaiser beschreiben, die Spangen seiner Krone, den blauen, langen Mantel, das tiefsinnige Antlitz, das kurzgeschorene Haupt, den hangenden Schnurrbart, "den wir Höflinge ihm nachahmen", sagte er lachend.
"Wie blickt der Kaiser?" fragte Palma, und Wulfrin antwortete ohneBesinnen: "Milde."
Die Kinder lauschten andächtig und bestaunten den Mann, der mit dem Herrn der Welt Umgang pflog; sobald aber die Höhe erreicht war, wo sich der Rasen breitete, war es mit der Andacht vorbei. Gabriel jauchzte gegen eine ernsthafte Felswand, die den Knabenjubel gütig spielend erwiderte, und Palma lief, den Höfling an der Hand, einem gründunkelklaren Gewässer entgegen, das die Wand mit ihrem Riesenschatten noch immer vor der schon hohen Sonne verbarg. Sie umwandelten das mit Felsblöcken besäte Ufer bis zu einem bemoosten Vorsprung, der weiche Sitze bot. Hier zog sie ihn nieder, und wie sie so lagerten, sagte sie: "Nun ist das Märchen erfüllt von dem Bruder und der Schwester, die zusammen über Berg und Tal wandern. Alles ist schön in Erfüllung gegangen."
"Haust hier unten auch eine?" neckte Wulfrin den Buben. Gabriel blieb die Antwort schuldig, denn er mochte sich vor dem Höfling nicht bloßstellen.
"Dumme Geschichten", lachte dieser, "es gibt keine Elben."
"Nein", sagte Gabriel bedenklich und kratzte sich das Ohr, "es gibtkeine, nur darf man sie nicht mit wüsten Worten rufen oder gar ihnenSteine ins Wasser schmeißen. Aber, Herr, wo hast du dein Hifthorn?Du trugest es an der Seite, da du nach Malmort kamst."
"Es ist in den Strom gestürzt", fertigte ihn der Höfling ab.
"Das ist nicht gut", meinte der Knabe.
"Heho, Gabriel!" rief es aus der Ferne, und ein anderer Hirtenbube wurde sichtbar. "Ein Fohlen hat sich nach Alp Grun verlaufen, kohlschwarz mit einem weißen Blatt auf der Stirn. Ich wette, es gehört nach Malmort."
Gabriel sprang mit einem Satz in die Höhe. "Heilige Mutter Gottes", rief er, "das ist unsere Magra, der muß ich nach! Lieber Herr, entlasse mich. Du wirst dich schon zurechtfinden. Ein Mensch ist vernünftiger als ein Vieh. Dort", er deutete rechts, "Siehst du dort den roten Grat? Den suche, dahinter ist Pratum. Auch weiß die kleine Herrin Bescheid." Und weg war er, ohne sich um Antwort zu kümmern.
"Palma", lachte Wulfrin, "wenn da unten eine Elbin leuchtete?"
"Mich würde es nicht wundern", sagte sie. "Oft, wenn ich hier liege, erhebe ich mich, steige sachte ans Ufer nieder und versuche das Wasser mit der Zehe. Und dann ist mir, als löse ich mich von mir selbst, und ich schwimme und plätschere in der Flut. Aber siehe!"
Sie deutete auf ein majestätisches Schneegebirge, das ihnen gegenüber sich entwölkte. Seine verklärten Linien hoben sich auf dem lautern Himmel rein und zierlich, doch ohne Schärfe, als wollten sie ihn nicht ritzen und verwunden, und waren beides, Ernst und Reiz, Kraft und Lieblichkeit, als hätten sie sich gebildet, ehe die Schöpfung in Mann und Weib, in Jugend und Alter auseinanderging.
"Jetzt prangt und jubelt der Schneeberg", sagte Palma, "aber nachts, wenn es mondhell ist, zieht er bläulich Gewand an und redet heimlich und sehnlich. Da ich mich jüngst hier verspätete, machte sich der süße Schein mit mir zu schaffen, lockte mir Tränen und zog mir das Herz aus dem Leibe. Aber siehe!" wiederholte sie.
Eine Wolke schwebte über den weißen Gipfeln, ohne sie zu berühren, ein himmlisches Fest mit langsam sich wandelnden Gestalten. Hier hob sich ein Arm mit einem Becher, dort neigten Freunde oder Liebende sich einander zu, und leise klang eine luftige Harfe. Palma legte den Finger an den Mund. "Still", flüsterte sie, "das sind Selige!" Schweigend betrachtete das Paar die hohe Fahrt, aber die von irdischen Blicken belauschte himmlische Freude löste sich auf und zerfloß. "Bleibet! oder gehet nur!" rief Palma mit jubelnder Gebärde, "Wir sind selige wie ihr! Nicht wahr, Bruder?", und sie blickte mit trunkenen Augen bis in den Grund der seinigen.
Es kam die schwüle Mittagsstunde mit ihrem bestrickenden Zauber. Palma umfing den Bruder in Liebe und Unschuld. Sie schmeichelte seinem Gelocke wie die Luft und küßte ihn traumhaft wie der See zu ihren Füßen das Gestade. Wulfrin aber ging unter in der Natur und wurde eins mit dem Leben der Erde. Seine Brust schwoll. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Feuer loderte vor seinen Augen…
Da rief eine kindliche Stimme: "Sieh doch, Wulfrin, wie sie sich in der Tiefe umarmen!"
Sein Blick glitt hinunter in die schattendunkle Flut, die Felsen und Ufer und das Geschwisterpaar verdoppelte. "Wer sind die zweie?" rief er.
"Wir, Bruder", sagte Palma schüchtern, und Wulfrin erschrak, daß er die Schwester in den Armen hielt. Von einem Schauder geschüttelt sprang er empor, und ohne sich nach Palma umzusehen, die ihm auf dem Fuße folgte, eilte er in die Sonne und dem nahen Grate zu, wo jetzt eine Figur mit einem breiten Hut und einem langen Stabe Wache zu halten schien.
"Grüß Gott! grüß Gott!" bewillkommte Gnadenreich die Geschwister, ohne einen Schritt vom Platze zu tun. Er streckte ihnen nur die Hände entgegen. "Ich habe es dem Ohm feierlich geloben müssen", erklärte er, "solange die Lombardengefahr dauert, die Grenze meiner Weiden hütend zu umwandeln, aber nicht zu überschreiten, denn Pratum ist ein Lehen des Bistums, und die Kirche hält Frieden. Sei willkommen, Wulfrin, und Palma nicht minder!" Seine Blicke liefen rasch zwischen dem Höfling und dem Mädchen: beide schienen ihm befangen. Er wurde es auch, denn er glaubte die Ursache ihres Weges zu wissen, und da sie schwiegen, begann er ein großes Geplauder.
"Sie haben dem guten Ohm böse mitgespielt", erzählte er. "Wir saßen zu dreien in der Stube beim Nachtische, denn die Richterin war nach Chur gekommen, um den Bischof gegen die Lombarden in die Waffen zu treiben, was er ihr als ein Kind des Friedens verweigern mußte. Frau Stemma und der Ohm stritten sich bei den Nüssen, wie sie zuweilen tun, über die Güte der Menschennatur. Nun hatten sich kürzlich zwei arge Geschichten ereignet. Jucunda, die junge Frau des Montafuners, welche Bischof Felix gefirmelt hatte"—
"Mit mir. Sie war sein Liebling", rief Palma, die wieder dicht neben dem Höfling schritt.
"Still!" sagte dieser ungebärdig, und das Mädchen lief nach einer Blume.—"wurde von ihrem Manne mit einem Edelknecht ertappt und durch das Burgfenster geworfen. Wenige Tage später schlug der Schamser mitten im Stiftshofe dem Bergüner nach kurzem Wortwechsel den Schädel ein, und doch hatten sie eben auf die priesterliche Zusprache des Ohms sich geküßt und miteinander den Leib des Herrn empfangen. Solches hielt ihm Frau Stemma vor, doch der Ohm erwiderte: 'Das sind Wallungen und augenblickliche Verfinsterungen der Vernunft, aber die Natur ist gut und wird durch die Gnade noch besser.' Der Ohm ist ein bißchen Pelagianer, hi, hi!"
"Pelagianer?" fragte der Höfling zerstreut, denn sein Blick rief Palma, die ihm gleich wieder zusprang; "ist das nicht eine Gattung griechischer Krieger?"
"Nicht doch, Wulfrin, es ist eine Gattung Ketzer. Also: Frau Stemma und der Ohm stritten über das Böse. Da sieht der Bischof, der kurzsichtig ist, auf Felicitas—diesen Namen hat er der nahen Höhe gegeben, wo ihm ein Sommerhaus steht—eine Flamme. Wir feiern den Abzug der Lombarden", lächelte er. Frau Stemma blickt hin und bemerkt in ihrer ruhigen Weise: 'Ich meine, sie sind es selber', und richtig tanzten sie auf dem Hügel wie Dämonen um den Brand.
Da lärmt es auf dem Platz. Ein Bösewicht fällt mit der Türe ins Haus und redet: 'Bischof, tue nach dem Evangelium und gib mir den Rock, nachdem du seine Taschen mit Byzantinern gefüllt hast, denn deine Mäntel haben wir in der Sakristei drüben schon gestohlen!' Der Ohm erstarrt. Jetzt tritt der Lombarde auf Stemma zu, welche im Halbdunkel saß, 'Die Frau da', höhnt er, 'hat einen Heiligenschein um das Haupt, her mit dem Stirnband!' Da erhebt sich Frau Stemma und durchbohrt den Menschen mit ihren fürchterlichen Augen: 'Unterstehe dich!' 'Ja so', sagt er, 'die Richterin!' und biegt das Knie. Da der arme Ohm endlich aufatmete, nach erbrochenen Kisten und Kasten, rief ihn der Höllenkerl wieder vom Domplatze her ans Fenster. Er ritt mit nackten Fersen den schönsten Stiftsgaul, dem er eine purpurne Altardecke übergelegt—sich selbst hatte er ein Meßgewand umgehangen—, und zog dem Kirchenschimmel mit dem entwendeten Krummstab von Chur einen solchen über den blanken Hinterbacken, daß er bolzgerade stieg und der Stab in Trümmer flog. 'Bischof, segne mich!' schrie der Lombarde. Der Ohm in seiner Frömmigkeit besiegte sich. 'Ziehe hin in Frieden, mein Sohn!' sprach er und hob die Hände.
'Dich, Bischof', jauchzte der Lombarde, 'hole der Teufel!'
'Und dich hole er gleichfalls!' gab der Ohm zurück. "Ich hätte es eigentlich nicht erzählen sollen", endete Gnadenreich halb reuig, "es hat den Ohm schrecklich erbost."
Palma hatte gelacht, auch der Höfling verzog den Mund, und Gnadenreich wurde immer gesprächiger und zutulicher.
"Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen, Wulfrin", sagte er. "Ich verließ Rom bald nach dir, aber was habe ich nicht dort noch erlebt! Welche Bekanntschaften habe ich gemacht! Ich ging dein Büchlein im Palaste holen und traf ihn selbst, der es geschrieben. Welch ein Kopf! Fast zu schwer für den kleinen Körper! Was da alles drinnesteckt! Kaum ein Viertelstündchen kostete ich den berühmten Mann, aber in dieser winzigen Spanne Zeit hat er mich für mein Lebtag in allem Guten befestigt. Dann pochte es ganz bescheiden und leise, und wer tritt ein?—ich bitte dich, Wulfrin!—der Kaiser. Ich verging vor Ehrfurcht. Er aber war gnädig und ergötzte sich, denke dir! an deiner Geschichte, Wulfrin, die er sich von mir erzählen ließ"—
Jetzt verstand Graciosus sein eigenes Wort nicht mehr, denn sie gerieten zwischen die Herden und das grüne Pratum wurde voller Geblöke und Gebrülle. Einer der magern und wolfähnlichen Berghunde beschnoberte den Höfling, sprang dann aber liebkosend an ihm auf und beleckte ihn, wenn Graciosus dem Tiere seine Ungezogenheit nicht verwiesen hätte. Palma aber wurde von den Hirtenmädchen umringt und mit Verwunderung angestarrt. Die junge Herrin von Malmort war leutselig und frug alle nach ihren Namen und Herden.
"Ich bin gewiß kein Plauderer", sagte Graciosus, nachdem er Raum geschafft hatte, "aber du begreifst, wenn der Kaiser befiehlt— haarklein mußte ich berichten von Horn und Becher, und zumal die erstaunliche Frau Stemma machte dem hohen Herrn zu schaffen."
Der Höfling blickte verdrießlich.
"Welch ein Mann!" lobpries Gnadenreich. "Der Inhalt und die Höhe des Jahrhunderts! Wer bewundert ihn genug? Und doch, aber doch—Wulfrin, ich habe von den Höflingen, deren Umgang ich nicht ganz meiden konnte, etwas vernommen, das mich tief betrübt, etwas von einer gewissen Regine… weißt du es?"
"Das ist seine Kebsin", fuhr Wulfrin ehrlich heraus.
"Schlimm, sehr schlimm! Ein Flecken in der Sonne! Kein vollkommenesBeispiel! Und die Karlstöchter?"
"Alle Wetter und Stürme", brauste Wulfrin auf, "wer hat mich zum Hüter der Karlstöchter bestellt?"
"Die Karlstöchter!" rief mitten aus den Herden Palma, die in der Entfernung die schallende Rede Wulfrins verstanden hatte. "Sie heißen: Hiltrud, Rotrud, Rothaid, Gisella, Bertha, Adaltrud und Himiltrud. Gnadenreich hat eine Tabelle davon verfertigt." Die rätischen Mädchen wiederholten die ihnen fremd klingenden Namen und zogen unter jubelndem Gelächter die junge Herrin mit sich fort.
Gnadenreich verlangsamte den Schritt. Traulich suchte er die Hand des Höflings. "Die Ehe ist heilig", sagte er, "und das sollte der Kaiser nicht vergessen, da er so hoch steht. Du hast erraten, Wulfrin, daß ich außer ihr geboren bin. Deshalb habe ich eine große Meinung von ihr und eine wahre Leidenschaft, in der meinigen ein Muster von Tugend zu sein. Ein gutes Mädchen führe nicht schlecht mit mir. Du kennst meine Neigung, an der ich festhalte, wenn mir auch Palma zuweilen Sorge macht. Jetzt sind wir allein—sie scheint heute lenksam—das könnte die Stunde sein—wenn es dein Wille wäre"—
"Sei nur getrost, Gnadenreich", ermutigte Wulfrin, "die Sache ist abgemacht."
Hätte einer der Gewalttätigen, welche auf den rätischen Felsen nisteten, begehrlich nach Palma gegriffen, Wulfrin möchte ihm ins Angesicht getrotzt und das Schwert aus der Scheide gerissen haben, aber Graciosus war zu harmlos, als daß er ihm hätte zürnen können. Und er selbst fühlte sich mit einem Male von einem dunkeln Schrecken getrieben, die Schwester zu vermählen.
"Abgemacht?" fragte Graciosus, "du willst sagen: zwischen dir und der Richterin? Doch wie meinst du—ist Palma nicht am Ende zu wild und groß für mich?"
"Sei nicht blöde und fackle nicht länger! Willst du sie?"
Die Schreitenden hatten eine Hügelwelle überstiegen und erblickten jetzt diejenige wieder, von der sie redeten. Sie hatte sich von den Hirtinnen getrennt und stand vor einem der tiefen und schnellströmenden Bäche, welche die Hochmatten durchschneiden. Neben ihr irrte ein blökendes Lämmchen, das die Herde verloren hatte, und am Uferrand sitzend, löste sich eine kropfige Bettlerin blutige Lumpen von ihrem wunden Fuße und wusch ihn mit dem frischen Wasser. Rasch entledigte sich das Mädchen der Schuhe, stellte dieselben mit einem mitleidigen Blick neben die Kretine, hob das Lamm in die Arme, watete mit ihm durch die Strömung und ließ es seiner Herde nachlaufen.
Da kam über Gnadenreich eine Erleuchtung. "Ich wage es! Ich nehme sie!" rief er aus. "Sie ist gut und barmherzig mit jeglicher Kreatur!"
"So gehe voraus und richte das Brautmahl! Ich werde für dich werben. Das ist doch dein Kastell?" In einiger Entfernung stieg aus einem Bezirke von Hürden und Ställen ein neugebauter Rundturm, über welchem gerade der Föhn einen ungeheuerlichen Wolkendrachen emportrieb. Gnadenreich bog seitwärts, die Brücke suchend, während der Höfling den reißenden Bach in einem Satze übersprang.
Wulfrin erreichte die Schwester. "Du läufst barfuß, Bräutchen?"
"Ich bin kein Bräutchen, und was nützen mir die Schuhe, wenn ich nicht mit dir durch die Welt laufen darf?"
"Du bist nicht die Törin, das im Ernste zu reden, und die Frau aufPratum darf nicht unbeschuht gehen."
"Gnadenreich hat nicht den Mund gegen mich geöffnet."
"Er wirbt durch den meinigen. Nimm ihn, rat ich dir, wenn du keinen andern liebst."
Sie schüttelte den Kopf. "Nur dich, Wulfrin."
"Das zählt nicht."
Sie hob die klaren Augen zu ihm auf. "Geschieht dir damit ein so großer Gefallen?"
Er nickte.
"So tue ich es dir zuliebe."
"Du bist ein gutes Kind." Er streichelte ihr die Wange. "Ich werde euch schützen, daß euch nichts Feindliches widerfahre, und bei eurem ersten Buben Gevatter stehen."
Sie errötete nicht, sondern die Augen füllten sich mit Tränen. "Nun denn", sagte sie, "aber wir wollen langsam gehen, daß es eine Stunde dauert, bis wir Pratum erreichen." Der Turm stand vor ihnen. Dem Höfling aber wurde es offenbar, jetzt da er die Schwester weggab, daß sie ihm das Liebste auf der Erde sei.
"Hier thronen wir wie die Engel", sagte Graciosus, nachdem er seine Gäste die Wendeltreppe empor durch die Gelasse seines Turmes und auf die Zinne geführt hatte, wo das Mahl bereitet war. Der Tisch trug neben den Broten eine Schüssel Milch mit dem geschnitzten Löffel und einen Krug voll schwarzdunkeln Weines, ein bischöfliches Geschirr, denn es war mit der Mitra und den zwei Krummstäben bezeichnet. Die dreie saßen auf einer Bank, das Mädchen in der Mitte. Die ringsum laufende Brüstung reichte so hoch, daß sich kaum darüber wegblicken ließ. Nur der Himmel war sichtbar, und an diesem häuften sich unheimliche schwefelgelbe Wolken.
"Die Milch für mich, für dich der Wein, Wulfrin", sagte Graciosus. "Der verreiste noch glücklich aus dem bischöflichen Keller, ehe ihn die Lombarden leerten. Aber mit wem hält es Fräulein Palma?"
"Mit dir", meinte der Höfling.
Graciosus sprach das Tischgebet. "Nun gleich auch den andern Spruch, frisch heraus, Gnadenreich!" ermunterte Wulfrin.
Da geschah es, daß der Bischofsneffe, so redegewandt er war, sich auf nichts besinnen konnte von alle dem Zärtlichen und Verständigen, was er sich für diesen entscheidenden Augenblick langeher ausgesonnen hatte. Ratlos blickte er in die warmen braunen Augen. Jetzt gedachte er des Lämmchens und der bloßen Füße und kam in eine fromme Stimmung. "Palma novella", bekannte er, "ich liebe dich von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte."
Das war hübsch. Das Mädchen wurde gerührt und reichte ihm die Hand.Auch Wulfrin mißfiel diese Werbung nicht. "Nun aber wollen wir einbißchen lustig sein!" rief er aus. "Das bringe ich euch!" Er hob denKrug und trank. Graciosus schöpfte einen Löffel Milch und bot ihn demMunde seiner Braut. Es war nicht der einzige auf Pratum, aberGnadenreich wollte eine sinnbildliche Handlung begehen.
Sie öffnete schon die roten Lippen, da sagte sie: "Heute widersteht mir die Milch. Gib du mir zu trinken, Wulfrin." Er reichte ihr den Krug, und sie schlürfte so hastig, daß er ihr denselben wieder aus den Händen nahm. Darauf schien sie ermüdet, denn sie ließ den Kopf auf die Schulter und allmählich in die Arme sinken und nickte ein. Die Föhnluft wurde zum Ersticken heiß. Wulfrin und Graciosus verstummten ebenfalls, und dieser half sich, indem er seine Milch auslöffelte und nach ländlicher Sitte zuletzt die Schüssel mit beiden Händen an den Mund hob. Wulfrin betrachtete den jungen Nacken. Er enthielt sich nicht und berührte ihn mit den Lippen. Sie erwachte.
"Aber wir sitzen auf dem Turm wie die drei Verzauberten", sagte sie. "Geh, Gnadenreich, hole uns das Buch, wo der Bruder abgebildet ist, das aus dem Stifte—weißt du—, welches du bei deinem letzten Besuche der Mutter, der ich über die Schulter blickte, gezeigt hast." Gnadenreich willfahrte ihr, aber sichtlich ungerne.
Palma suchte und fand das Blatt. Über dem lateinischen Texte war mit saubern Strichen und hellen Farben abgebildet, wie ein Behelmter den Arm abwehrend gegen ein Mädchen ausstreckt, das ihn zu verfolgen schien. Mit dem Krieger deuchte er sich nichts gemein zu haben als den Helm, doch je länger er das gemalte Mädchen beschaute, desto mehr begann es mit seinen braunen Augen und goldenen Haaren Palma zu gleichen. Um die Figur aber stand geschrieben: "Byblis."
"Erzähle und deute, Gnadenreich", bat Palma. Graciosus blieb stumm. "Nun, so will ich erklären. Das hier ist der Bruder auf Malmort, wie er anfangs war und mich wegstößt."
"Das ist nichts für dich, Palma!" wehrte Graciosus ängstlich, "laß!", und er entzog das Buch ihren Händen.
"Ihr seid beide langweilig!" schmollte sie. "Ich gehe lieber. Drüben am Hange sah ich blühende Rosen in dichten Büschen stehen. Ich will mir einen Kranz winden", und sie entsprang.
Ein blendender Blitz fuhr über Pratum weg und dem Höfling durch dieAdern. "Warum hast du ihr das Buch weggenommen?" fragte er gereizt.
"Weil es für Mädchen nicht taugt", rechtfertigte sich Gnadenreich.
"Warum nicht?"
"Die Schwester im Buche liebt den Bruder."
"Natürlich liebt sie ihn. Was ist da zu suchen?"
Graciosus antwortete mit einer Miene des Abscheus: "Sie liebt ihn sündig! sie begehrt ihn."
Wulfrin entfärbte sich und wurde totenbleich. "Schweig, Schurke!" schrie er mit entstellten Zügen, "oder ich schleudere dich über die Mauer!"
"Um Gottes willen", stammelte Graciosus, "was ist dir? Bist du verhext? Wirst du wahnsinnig?" Er war von Wulfrin und dem Buche weggesprungen, in welches dieser mit entsetzten Blicken hineinstarrte. "Ich beschwöre dich, Wulfrin, nimm Vernunft an und laß dir sagen: das hat ein heidnischer Poet ersonnen, leichtfertig und lügnerisch hat er erfunden, was nicht sein darf, was nicht sein kann, was unter Christen und Heiden ein Greuel wäre!"
"Und du liesest so gemeine Bücher und ergötzest dich an dem Bösen,Schuft?"
"Ich lese mit christlichen Augen", verteidigte sich Gnadenreich beleidigt, "zu meiner Warnung und Bewahrung, daß ich den Versucher kenne und nicht unversehens in die Sünde gleite!"
Die Hände des Höflings zitterten und krampften sich über dem Blatte.
"Bei allen Heiligen, Wulfrin, zerstöre das Buch nicht! Es ist das teuerste des Stiftes!"
"Ins Feuer mit ihm!" schrie der Höfling, und weil kein Herd da war als der lodernde des offenen Himmels, riß er das Blatt in Fetzen und warf sie hoch auf in den wirbelnden Sturm.
Es trat eine Stille ein. Graciosus betrachtete stöhnend das verstümmelte Buch, während Wulfrin mit verschlungenen Armen und unheimlichen Augen brütete. So beschlich ihn die zurückkommende Palma und setzte ihm den leichten von ihr gewundenen Kranz auf das belastete Haupt.
Er fuhr zusammen, da er das Geflechte spürte, zerrte es sich ab, riß es entzwei und warf es mit einem Fluche dem vom Laufe erhitzten Mädchen zu Füßen.
Da flammten ihr die Augen und sie streckte sich in die Höhe: "DuAbscheulicher! Tust du mir so?" Zornige Tränen drangen ihr hervor."Nun nehme ich auch den Gnadenreich nicht, dir zuleide!"
"Palma", befahl er, "gleich kehrst du nach Hause! Über die Alp! Wende dich nicht um! Ich gehe durch die Schlucht! Läufst du mir über den Weg, so werfe ich dich in den Strom!"
Sie sah ihn jammervoll an. Seine Todesblässe, das gesträubte Haar, das unglückliche Antlitz erfüllten sie mit Angst und Mitleid. Sie machte eine Bewegung gegen ihn, als wollte sie ihm mit beiden Händen die pochenden Schläfen halten. "Hinweg!" rief er und riß das Schwert aus der Scheide.
Da wandte sie sich. Er blickte über die Brüstung und sah, wie sie in wildem Laufe durch die Alp eilte. Auch er verließ das Kastell und schlug, von dem nahen Tosen des Stromes geführt, den Weg gegen die Schlucht ein, die furchtbarste in Rätien. Gnadenreich gab ihm kein Geleit.
Da er in den Schlund hinabstieg, wo der Strom wütete, und er im Gestrüppe den Pfad suchte, störte sein Fuß oder der ihm vorleuchtende Wetterstrahl häßliches Nachtgevögel auf, und eine pfeifende Fledermaus verwirrte sich in seinem Haare. Er betrat eine Hölle. Über der rasenden Flut drehten und krümmten sich ungeheure Gestalten, die der flammende Himmel auseinanderriß und die sich in der Finsternis wieder umarmten. Da war nichts mehr von den lichten Gesetzen und den schönen Maßen der Erde. Das war eine Welt der Willkür, des Trotzes, der Auflehnung. Gestreckte Arme schleuderten Felsstücke gegen den Himmel. Hier wuchs ein drohendes Haupt aus der Wand, dort hing ein gewaltiger Leib über dem Abgrund. Mitten im weißen Gischt lag ein Riese, ließ sich den ganzen Sturz und Stoß auf die Brust prallen und brüllte vor Wonne. Wulfrin aber schritt ohne Furcht, denn er fühlte sich wohl unter diesen Gesetzlosen. Auch ihn ergriff die Lust der Empörung, er glitt auf eine wilde Platte, ließ die Füße überhangen in die Tiefe, die nach ihm rief und spritzte, und sang und jauchzte mit dem Abgrund.
Da traf der starre Blick seines zurückgeworfenen Hauptes auf ein Weib in einer Kutte, das am Wege sag. "Nonne, was hast du gefrevelt?" fragte er. Sie erwiderte: "Ich bin die Faustine und habe den Mann vergiftet. Und du, Herr, was ist deine Tat?"
Lachend antwortete er: "Ich begehre die Schwester!"
Da entsetzte sich die Mörderin, schlug ein Kreuz über das andere und lief so geschwind sie konnte. Auch er erstaunte und erschrak vor dem lauten Worte seines Geheimnisses. Es jagte ihn auf, und er floh vor sich selbst. Schweres Rollen erschütterte den Grund, als öffne er sich, ihn zu verschlingen. Von senkrechter Wand herab schlug ein mächtiger Block vor ihm nieder und sprang mit einem zweiten Satz in die aufspritzende Flut.
Der Himmel schwieg eine Weile, und Wulfrin tappte in dunkler Nacht. Da erhellte sich wiederum die Schlucht, und auf einer über den Abgrund gestürzten Tanne sah er die Schwester mit nackten und sichern Füßen gegen sich wandeln, und jetzt lag sie vor ihm und berührte seine Knie.
"Was habe ich dir getan", weinte sie, "warum fliehst, warum verwünschest du mich? Bruder, Bruder, was habe ich an dir gesündigt? Ich kann es nicht finden! Siehe, ich muß dir folgen, es ist stärker als ich! Ich lief drüben, da sah ich den Steg. Töte mich lieber! Ich kann nicht leben, wenn du mich hassest! Tue, wie du gedroht hast!"
Er stieß einen Schrei aus, ergriff, schleuderte sie, sah sie im Gewitterlicht gegen den Felsen fahren, taumeln, tasten und ihre Knie unter ihr weichen. Er neigte sich über die Zusammengesunkene. Sie regte sich nicht, und an der Stirn klebte Blut. Da hob er sie auf mächtigen Armen an seine Brust und schritt, ohne zu wissen wohin, das Liebe umfangend, dem Tale zu.
Er hatte die Klus hinter sich, da sauste es an ihm vorüber, und er erblickte einen Knaben, der ein scheues Roß zu bändigen suchte. "He, Gabriel", rief er ihm nach, "sage der Richterin, sie rüste den Saal und richte das Mahl! Tausend Fackeln entzündet! Malmort strahle! Ich halte Hochzeit mit der Schwester!" Der Sturm verschlang die rasenden Worte. Malmort mit seinen Türmen stand schwarz auf dem noch wetterleuchtenden Nachthimmel.
Mit seiner Last den Burgpfad emporsteigend, sah er oben Lichter hin- und herrennen. Dann begegnete er der geängstigten Mutter, die ihm halben Weges entgegengeeilt war. "Wulfrin", flehte sie mit ausgestreckten Armen, "wo hast du Palma?" "Da nimm sie", sagte er und bot ihr die Leblose.
Viertes Kapitel
Da Wulfrin am folgenden Tage erwachte, lag er unter den schwarzschattenden Büscheln einer gewaltigen Arve, während die Matten ringsum schon in der Mittagssonne schimmerten. Er hatte eben noch, den würzigen Waldgeruch einatmend, heiter und glücklich geträumt von dem Wettspiel in einer römischen Arena und im Speerwurf einen Lorbeerkranz davongetragen. Sein Blut floß ruhig, und seine Stirne war hell.
Nachdem er gestern Palma der Mutter in die Arme gelegt, war er ins Dunkel zurückgewichen. Mit irren Füßen, in ruhelosem Laufe, kreuz und quer, hatte er das Gebiet von Malmort durchjagt, bis weit über Mitternacht hinaus, und war dann im Morgengrauen niedergestürzt und in einen bleiernen Schlaf versunken.
Er fand sich auf einer von leichtgeschwungenen Hügeln umgebenen Wiese, fernab von dem Geläute der Herdglocken, in tiefer Einsamkeit. Nur ein Specht hämmerte, und zwei Eichhörner tummelten und neckten sich in der Mitte ihres grünen Bezirkes. Wulfrin rieb sich den Schlummer aus den Augen und schaute umher. Da entdeckte er über dem Hügelrande die Giebel und Turmspitzen von Malmort. Er ließ sich auf dem Hange gleiten, und sie verschwanden.
Allmählich schlich sich das Gestern an ihn heran, er wehrte es ab, er mißtraute ihm, er wollte, er konnte es nicht glauben. War er nicht der Starke und Freie, der Fröhliche und Zuversichtliche, der dem Feinde ins Auge sah und das Irrsal mit dem Schwerte durchschnitt? Was war denn geschehen? Eine rätselhafte Frau hatte ihn übermocht, zu beschwören, was er nicht bezweifelte. Ein Mädchen, das sich in der Langenweile eines Bergschlosses den vollkommensten Bruder ausgesonnen, war ihm zugesprungen und hatte sich närrisch ihm an den Hals gehängt. Ein tückischer Becher ungewohnten Weines oder das freche Bild einer ausschweifenden Fabel oder der heiße Hauch des Föhnes oder was es sonst gewesen sein mochte, hatte ihn betört und verstört. Und was er an den Felsen geschleudert, war nicht die Schwester—wie hätte sie den gähnenden Abgrund überschritten?—, sondern irgendein Blendwerk der Gewitternacht.
"Und war es die Schwester und habe ich sie zerschmettert, so bin ich ihrer ledig", trotzte er, und zugleich ergriff ihn ein unendliches Mitleid und die inbrünstigste Liebe zu dem jungen Leben, das er mißhandelt und vernichtet hatte. Er sah sie mit allen ihren Gebärden, jedes ihrer süßen und unschuldigen Worte nahm Gestalt an, er schaute in ihre seligen Augen und in ihre wehklagenden. Jetzt fühlte er sie, die sich weinend und schmeichelnd mit ihm vereinigte, und wußte, daß sie noch lebte und atmete. "Meine Seele! Blut meiner Adern!" rief er und wieder: "Palma! Palma!"
"—Palma!" wiederholte das Echo.
"Palma mein Weib!" Das Echo entsetzte sich und verstummte.
Ein tödlicher Schauer durchrieselte sein Mark. Sich auf die Rechte stützend, hob er sich halb von der Erde und langte mit der Linken nach der blutenden Brust wie auf dem Schlachtfelde. "Es sitzt!" ächzte er. "ich bin der Schrankenlose, der Übertreter, der Verdammte! Ich muß sterben, damit die Schwester lebe! Doch womit habe ich den Himmel beleidigt? wodurch habe ich die Hölle gelockt?" Rasch übersann er sein Leben, er fand darin keinen Makel, nur läßlichen Fehl. "Nun, wen's trifft, den trifft's! Ich habe eben das schlimme Los aus dem Helme gezogen und verwundere mich nicht, kenne ich ja die Grausamkeiten der Walstatt. Es geht vorüber!" Da schien ihm denn doch das Dasein ein Gut, so leicht er es sonst wertete, jetzt da er, ob auch unter grimmigen Schrecken, seinen tiefsten Reiz und seine geheimste Lieblichkeit gekostet hatte. Er hob die starken Hände vor das Angesicht und schluchzte…
Mählich verlängerten sich die Schatten, und es wurde still über der Wiese. Da legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. Ohne das Haupt zu wenden, sagte er: "Ich komme", und wollte sich erheben, denn er wußte, es war der Tod, der zu ihm trat, um ihn an den jähesten Abgrund zu führen.
"Bleibe, Wulfrin!" sprach weich die Stimme der Richterin, "ich setze mich zu dir", und Frau Stemma ließ sich neben ihn auf das Moos gleiten in einem weiten langen Gewande, das selbst die Spitzen der Füße verhüllte.
"Berühre mich nicht!" schrie er und warf sich zurück. "Ich bin einUnseliger!"
"Ich suchte dich lange", sagte sie. "Warum bliebest du ferne? Dir ist bange für Palma? Die wurde nur leicht verwundet, hat aber in tiefer Ohnmacht gelegen. Erwachend hat sie erzählt, wie euch gestern das Gewitter in der Schlucht überraschte, wie sie glitt und die Besinnung verlor. Auf deinen Armen hast du sie getragen."
Wulfrin blieb stumm.
"Oder redete sie unwahr, und du warfest sie an den Felsen, um sie zu zerschmettern?"
Er nickte.
Sie schwieg eine Weile, dann hob sie die Hand und berührte wiederum seine Schulter. "Wulfrin, du hassest deine Schwester oder—du liebst sie!" Sie fühlte, wie der Höfling vom Wirbel zur Zehe zitterte.
"Es ist entsetzlich", stöhnte er.
"Es ist entsetzlich", sagte sie, "aber unerklärlich ist es nicht. Ihr seid ferne voneinander erwachsen, wurdet eurer Angesichter und Gestalten nicht gewöhnt, und so waret ihr euch frisch und neu, da ihr euch fandet, wie ein fremder Mann und ein fremdes Weib. Mutig! Rufe und rufe es deinen Gedanken und Sinnen zu. Palma und Wulfrin sind eines Blutes! Sie werden schaudern und erkalten und nicht länger die himmlische Flamme der Geschwisterliebe verwechseln mit dem schöpferischen Feuer der Erde."
Er antwortete nicht, kaum daß er ihre Worte gehört hatte, sondern murmelte zärtlich: "Warum hast du sie Palma novella getauft? Das ist ein gar seltsamer und schöner Name!"
Stemma erwiderte: "Ich habe sie die junge Palme genannt, weil sie ausdem Schutte des Grabes frisch und freudig aufsprießt, und, bei meinemLeben! wer an dem schlanken Stamme frevelt, den richte und töte ich!Noch ist Palma unschuldig. Deine rasende Flamme hat ihr nicht einHärchen der Wimper, nicht den äußersten Saum des Kleides versengt.Unglücklicher, wie ist ein solches Leiden über dich gekommen?"
"Wie eine Seuche, die aus dem Boden dampft! Aber mein Schutzengel warnte mich vor Malmort. Da du mich riefest, verschloß ich das Ohr. Ich bog ab und fiel in die Hände der Lombarden. Warum hast du den Pfeil des Witigis gehemmt?" Er starrte vor sich nieder. Dann schrie er verzweifelnd auf und ergriff und preßte den Arm der Richterin, die finstern Augen fest auf das ruhige Antlitz heftend: "Bei dem Haupte Gottes—"
"Bei dem Haupte Palmas", sagte sie.
"Ist sie meine Schwester?"
"Wie sonst? Ich weiß es nicht anders. Was denkst du dir?"
"Dann ist mein Haupt verwirkt und jeder meiner Atemzüge eine Sünde!" Er sprang auf, während sie ihn mit nervigen Armen umschlang, so daß er sie mit sich emporzog.
"Wohin, Wulfrin? In eine Tiefe? Nein, du darfst diesen starken Leib und dieses tapfere Herz nicht zerstören! Nimm dein Roß und reite! Reite zu deinem Kaiser! Mische dich unter deine Waffenbrüder! Ein paar Tagritte, und du bist gesundet und blickst so frei wie die andern!"
"Das geht nicht", sagte er jammervoll. "Wir leiden nicht den geringsten Makel in unserer Schar, und ich sollte verräterisch die Schande unter uns verstecken?"
"So stachle dein Roß, reite Tag und Nacht, über Berg und Fläche, springe in ein Schiff, bringe ein Meer und ein zweites zwischen sie und dich, und wenn dich Delphin und Nixe umgaukelt, tauchen vor dir aus der Bläue Inseln und Vorgebirge, verwegenes Abenteuer und die Schönheit als Beute!"
"Was hülfe es?" sagte er. "Sie zöge mit mir, die Nixe trüge ihr Angesicht, und ich umarmte sie in jedem Weibe! Denn ich bin mit ihr vermählt ewiglich. Nein, ich kann nicht leben!"
"Das ist Feigheit!" sprach sie leise.
Der Schimpf trieb ihm wie ein Schlag das Blut ins Angesicht. Er bäumte sich auf. "Du hast recht, Frau!" schrie er. "Ich darf nicht als ein Feigling umkommen, du selbst sollst mich richten und verurteilen. Am lichten Tag, unter allem Volke, will ich den Greuel bekennen und die Sühne leisten!" So rief er in zorniger Empörung, dann aber besänftigte sich sein Angesicht, denn er hatte die Lösung gefunden, die ihm ziemte.
"Unsinn!" sagte sie. "Solche verborgene Dinge bekennt man nicht dem Tage, denn du bist ein Verbrecher nur in deinen Gedanken. Die Tat aber und nur die Tat ist richtbar."
"Frau, das wird sich offenbaren! Vernimm, was ich tue. Ich wandere zu dem Kaiser und spreche zu ihm: Siehe, Wulfrin der Höfling begehrt das eigene Blut, das Kind seines Vaters! Es ist so, er kann nicht anders. Schaffe den Sünder aus der Welt! Und spricht der Kaiser: Die Tat ist nicht vollbracht, so antwortet Wulfrin: Ich vollbringe sie mit jedem Atemzuge!"
"Auf sündiger Geschwisterliebe", drohte Frau Stemma, "steht das Feuer."
Wulfrin lachte.
"Und du willst vor dem ganzen Volke dastehen in deiner Blöße?"
"Ich will dastehen", sagte er, "als der, welcher ich bin."
"So mangelt dir der Verstand und die Kraft, das Geheimnis der Sünde zu tragen?"
"Das ist Weibes Art und Weibes Lust", sagte er verächtlich.
"Und du wirst mit dem Kaiser kommen, und ich soll dich richten?"
"Du!"
"Das werde ich!" sagte sie und entfernte sich langsam.
Jetzt da Wulfrin sein Schicksal entschieden und vollendet glaubte, kam die Ruhe des Abends über ihn. Er blieb unter seiner Arve, bis die Sonne niederging und der Tag ihr folgte. Und wie sie mit gebrochenen Speeren sich legte und ihr Blut am Himmel verströmte, erlosch er mit ihr und sah sich die Schwester, wie das Spätlicht, im grünen Gewande und auf stillen Sohlen nachschreiten. Das aufgegebene Schwert reute ihn nicht. "Sie werden drüben einen Krieger brauchen", sagte er sich und wandelte schon unter den seligen Helden.
Wie es Nacht war und der Mond leuchtete, ging er sachte bergab, denn er gedachte ein Seitental zu gewinnen und seinen Kaiser zu erreichen, ohne daß er Malmort und die Stapfen der Schwester berühre. Beide wollte er nur am Gerichtstage wiedersehen. Er gelangte an den Strom, der hier ohne Gewalt und Sturz Klippen und Felsen breit überflutete. Das Mondlicht verlockte ihn, sich auf ein Felsstück zu lagern und wunsch- und schmerzlos mit den Wellen dahinzufließen. Er wurde sich selbst zum Traume.
Da sah er Elb oder Elbin tauchen. Es schwamm weiß im Strome, einNacken schimmerte, und jetzt hob der blanke Arm ein Hifthorn in dieHöhe, das der Mond versilberte. Er erkannte sein entwendetes Erbteilund trat ohne Hast und Erstaunen dem freundlichen Wunder nahe.
"Herr Wulfrin", jubelte eine Knabenstimme, "freue dich! Glück über dir! Ich halte dein Horn!", und Gabriel, der sein Hirtenhemde wieder umgeworfen hatte, sprang zu ihm empor.
"Schon heute mittag", erzählte er, "sah ich es beim Fischen auf dem Grunde. Ich kannte es gleich, doch war ich nicht allein und mußte die Nacht erwarten. Hat es schon lange gelegen?" Er schüttelte das Horn und ließ das Wasser sorgfältig aus der Bauchung abtropfen. "Wenn es nur nicht verdorben ist!" Er hob es an den Mund und stieß darein, daß die Berge widerhallten. "Hier, Herr!" sagte er. "Wahrhaftig, es hat ihm nichts getan. Ein wackeres Schlachthorn!"
Wulfrin ergriff es und hing es sich um. Als er sich aber einen Goldring—irgendein Beutestück—von der Hand ziehen wollte, um den Knaben abzulohnen, wehrte Gabriel. "Nein, Herr, lege lieber ein Wort für mich ein, daß mich der Kaiser mitreiten läßt! Doch jetzt muß ich heim! Ich habe noch in den Ställen zu tun. Kommst du mit? Ich weiß Stapfen an dem Felsen empor, und wir gelangen durch ein Hinterpförtchen noch einmal so rasch in den Hof als auf dem Burgwege."
Und Wulfrin folgte. Die Handlichkeit und Herzlichkeit des Buben hatte seine Sinne und Geister erwärmt. Der Wiedergewinn seines Erbes weckte das Bild des Vaters und die kindliche Gesinnung auf. Und obwohl aus dem Elben ein Menschenknabe geworden war, zitterte doch über dem Strom ein Schimmer von Geisterhilfe. "Am Ende ist es der Vater", sagte er sich, "und er wird mir beistehen, wenn er kann. Wenn er noch irgend da ist, läßt er mich nicht elend umkommen. Ich will ihn rufen. Vielleicht antwortet er. Es ist ein Glaube, daß der Tote aus dem Grabmal mit seinen Kindern redet. Ich wage es! Ich blase ihn wach! Dann frage ich nichts als: Vater, ist Palma dein Kind? Redet er nicht, so nickt er wohl oder schüttelt das Haupt." Obschon der Höfling an Stemma nicht zweifelte, deren Wesen über ihn Gewalt hatte, focht ihn doch der Widerspruch zwischen dem Glauben an die Lebendige und der Frage an den Toten wenig an. Er fühlte einfach, daß er den Vater—wenn dieser zu erreichen sei—befragen und beraten müsse, ehe er sich anklage und sich richten lasse. Aber seine Ruhe war weg, sein Geist gespannt, und er hörte kein Wort von dem, was der Knabe unterweges plauderte.
Ebenso unruhig schritt Stemma hinter dem erhellten Fenster, das der Emporklimmende über dem Burgfelsen aufsteigen sah. Aus der Ferne und Tiefe war ein Ton zu ihr hergedrungen, den sie haßte und den sie vernichtet zu haben glaubte. Während ihr Kind auf dem Lager schlummerte, ging sie rastlos auf und nieder. Sie vergegenwärtigte sich Wulfrin, wie er vor Kaiser und Volk eines seltenen, ja unglaublichen Frevels sich beschuldigte, und ihr wurde bange, daß sie und wie sie über ihn richten werde.
War es denkbar, daß sich die Natur so verirrte? daß ein so lauterer Mensch in eine solche Sünde verfiel? War es nicht wahrscheinlicher, daß hier Irrtum oder Lüge Bruder und Schwester gemacht hatte? So hätte die Richterin ohne Zweifel geforscht und untersucht, wäre sie nicht Stemma und Palma nicht ihr Kind gewesen. Aber sie durfte nicht untersuchen, denn sie hätte etwas Vergrabenes aufgedeckt, eine, zerstörte Tatsache hergestellt, ein Glied wieder einsetzen müssen, das sie selbst aus der Kette des Geschehenen gerissen hatte.
Jetzt begann es mit einem Male vor ihr aufzutauchen, die Sünde desUnschuldigen sei das gegen sie selbst heranschreitende Verhängnis."Gilt es mir? Wird ein Plan gegen mich geschmiedet? Ist eineVerschwörung im Werke?" rief sie ins Dunkel hinein.
Da hatte sie ein Gesicht. Sie erblickte mit den Augen des Geistes durch die dämmernde Wand, weit in der Ferne und doch ganz nahe, ein gewaltiges Weib von furchtbarer Schönheit. Diese saß in langen, blauen Gewanden, eine Tafel auf das übergelegte Knie gestützt, einen Griffel in der Hand, schreibend oder zählend, irgendeine Lösung suchend. Nach einigem Sinnen ging ein stilles langsames Lächeln über den strengen Mund und schien zu sagen: So ist es gut und siehe, es ist so einfach!
Da glaubte die Richterin eine Feindin sich gegenüber zu sehen und trotzte ihr, Weib gegen Weib. "Das bringst du nicht heraus! Du findest keine Zeugen!" Die Fremde aber hob die Tafel mit beiden Händen empor über die sonnenhellen Augen und verschwand. "Du hast keine Zeugen!" rief ihr die Richterin nach. Ihr antwortete ein erschütternder Ruf, der aus allen Wänden, aus allen Mauern drang, als werde die Posaune geblasen über Malmort.
Stemma erbebte. Sie sprang an das Lager ihres Kindes, um es fest in den Armen zu halten, wenn Malmort unterginge. Palma war nicht erwacht, sie schlief ruhig fort. Die Richterin besann sich. Hatte der grauenhafte Ton in Tat und Wahrheit diese Luft, diese Räume, diese Mauern erschüttert? Müßte Palma nicht aus dem tiefsten Schlummer aufgefahren sein? Es war unmöglich, daß der gewaltige Ruf sie nicht geweckt hätte. Frau Stemma war nicht unerfahren in solchen unheimlichen Dingen: sie kannte die Schrecken der Einbildung und die Sprache der überreizten Sinne. Sie hatte es erfahren an den Schuldigen, die sie richtete, und an sich selbst. "Das Ohr hat mir geklungen", sagte sie, die noch am ganzen Leibe zitterte.
Hätte sie durch Dielen und Mauern blicken können, so sah sie den bleichen Wulfrin, der an der Gruft des Vaters kniete, ins Horn stieß, ihn rührend beschwor, ihm herzlich zusprach, Rede zu stehen. Sie hätte gesehen, wie Wulfrin, da der Stein schwieg, das Horn zum andern Male an den Mund setzte und endlich verzweifelnd über die Mauer sprang.
Wieder schütterte Malmort in seinen Tiefen, stärker noch als das erstemal. Da war kein Zweifel mehr, es war das Wulfenhorn, das sie mitten in Gischt und Sturz geschleudert und in unzugängliche Tiefen hatte versinken sehen. Sie sann an dem ängstlichen Rätsel und konnte es nicht lösen. Sie sann, bis ihr die Stirnader schwoll und das Haupt stürmte.
Da fiel ihr zur bösen Stunde der Comes ein, wie er murmelnd im Schilfe sitze und mit dem schweren Kopfe unablässig daran herumarbeite, ob Frau Stemma ihm ein Leides getan. "Er besucht sein Grabmal und stößt in sein Horn! Er stört die Nacht! Er verwirrt Malmort! Er schreckt das Land auf! Das leide ich nicht! Ich verbiete es ihm! Ich bringe den Empörer zum Schweigen!" Und der Wahn gewann Macht über diese Stirn.
Ohne sich nach Palma umzusehen, stürzte sie zornig die Wendeltreppe hinab und betrat den Hof, wo der Comes und ihr eigenes Bild auf der Gruft lagen. Darüber webte ein ungewisser Dämmer, da eine leichte Wolke den Mond verschleierte. Der Comes ließ sein Horn zurückgleiten, und die steinerne Stemma hob die Hände, als flehe sie: Hüte das Geheimnis!
Aufgebracht stand die Richterin vor dem Ruhestörer. "Arglistiger", schalt sie, "was peinigst du mein Ohr und bringst mein Reich in Aufruhr? Ich weiß, worüber du brütest, und ich will dir Rede stehen! Keine Maid hat dir der Judex gegeben! Ich trug das Kind eines andern! Du durftest mich nie berühren, Trunkenbold, und am siebenten Tage begrub dich Malmort! Siehst du dieses Gift?" Sie hob das Fläschchen aus dem Busen. "Warum ich leben blieb, die dir den Tod kredenzte? Dummkopf, mich schützte ein Gegengift! Jetzt weißt du es! Palma novella unter meinem Herzen hat dich umgebracht! Und jetzt quäle mich nicht mehr!"
So grelle und freche Worte redete die Richterin.
Durch ihr lautes Schelten zu sich selbst gebracht, betrachtete sie wieder den Comes, der jetzt im klarsten Mondenlichte lag. Die furchtbare Geschichte kümmerte ihn nicht, er lag regungslos mit gestreckten Füßen. Jetzt sah sie, daß sie zum Steine gesprochen, und schlug eine Lache auf. "Heute bin ich eine Närrin!" sagte sie. "Ich will zu Bette gehen."
Sie wandte sich. Palma novella stand hinter ihr, weiß, mit entgeisterten Augen, das Antlitz entstellt, starr vor Entsetzen. Der zweite Hornstoß hatte sie geweckt, und sie war der Mutter auf besorgten Zehen nachgeschlichen.
Zwei Gespenster standen sich gegenüber. Dann packte Stemma den Arm des Mädchens und schleppte es in die Burg zurück. Sie selbst hatte ihrem Geheimnisse einen Mund und einen Zeugen gegeben, und dieser Zeuge war ihr Kind.
Fünftes Kapitel
Seit der Höfling aus Malmort verschwunden war, lastete auf den schweren Mauern Schweigen und Kümmernis. Das Gesinde munkelte allerlei, und Knechte und Dirnen steckten die Köpfe zusammen. Die junge Herrin sei krank. Es sei ihr angetan worden. Irgendein Zauber—ob sie einer Drude begegnet oder ein giftiges Kraut verschluckt oder aus einem schädlichen Quell getrunken—habe die Ärmste der Vernunft beraubt. Ihr mangle der Schlummer, sie weine unablässig und lasse sich weder trösten noch auch nur berühren. Ihr widerstehe Speise und Trank und sie schwinde zum Gerippe. Die Laute und Wilde sei gar still und zahm und ihr Lebensfaden zum Reißen dünn geworden. Die bekümmerte Richterin folge ihr auf Schritt und Tritt und dürfe sie nicht aus den Augen lassen.
Zwei Mägde standen am Brunnen zusammen und flüsterten. Benedicta war der jungen Herrin unversehens im Flur begegnet und wollte ihr gebührlich die Hand küssen. Palma sei angstvoll zurückgewichen und habe aufgeschrien: "Rühre mich nicht an!" Veronica hatte durch das Schlüsselloch gespäht und was erblickt? etwas ganz Unglaubliches: die stolze Frau Stemma vor ihrem Kinde niedergeworfen, ihm liebkosend die Knie umfangend und um die Gnade flehend, daß es den Mund öffne und einen Bissen berühre.
Die Mägde verstummten, hoben sich die Krüge zu Haupte und drückten sich, eine hinter der andern, während langsam die Richterin mit Palma aus der Pforte trat und die Stufen herunterschritt. Frau Stemma stützte das Mädchen, das, elend und zerstört, sich selbst nicht mehr gleichsah. Palma ging mit gebeugtem Rücken und unsichern Knien. Groß, doch ohne Strahl und Wärme, traten die Augen aus dem vermagerten Antlitz. "Komm, Kindchen", sagte Frau Stemma, "du mußt Luft schöpfen", und sie öffnete ein Gatter, das auf eine zirpende und summende Wiese führte, die einen weiten leicht geneigten Vorsprung der Burghöhe bekleidete und über die Grenzlinie der unsichtbaren Tiefe hinweg in eine lichte Ferne verlief.
Sie setzten sich auf eine Bank, und Frau Stemma betrachtete ihr Kind. Da ergrimmte sie und weinte zugleich in ihrem Herzen über die Verwüstung des einzigen, was sie liebte. Aber sie blieb aufrecht und gürtete sich mit ihrer letzten Kraft. "Wie", sagte sie sich, "Mir gelänge es nicht, dieses Gehirnchen zu betören, dieses Herzchen zu überwältigen?"
"Mein Kind", begann sie, "hier sind wir allein. Laß uns noch einmal recht klar und klug miteinander reden"—
"Wenn du willst, Mutter."—"miteinander reden von dem Wahne jener Nacht. Ich wachte, du schliefest. Da lärmt es im Hofe. Ich gehe hinunter, es war nichts, und ich lache über meinen leeren Schrecken. Ich wende mich. Du stehst vor mir nachtwandelnd, mit offenen stieren Augen. Ich ergreife dich und führe dich in das Haus zurück. Und du erwachst aus dem abscheulichen Traume, der dich jetzt peinigt und zugrunde richtet."
"Ja und nein, Mutter. Mich weckte ein Ruf, ich sehe dich hinauseilen und folge dir auf dem Fuße. Du standest im Hofe vor den Steinbildern und schaltest den Vater und erzähltest ihm"—sie hielt schaudernd inne.
"Was erzählte ich?" fragte die Richterin.
"Du sagtest"—Palma redete ganz leise—"daß ich nicht sein Kind bin. Du sagtest, daß ich schon unter deinem Herzen lag. Du sagtest, daß du und ich ihn getötet haben."
"Liebe Törin", lächelte Frau Stemma, "nimm all dein Denken zusammen und verliere keines meiner Worte. Ich hätte mit einem Steine geredet? als eine Abergläubische? oder eine Närrin? Kennst du mich so? Und du wärest nicht das Kind des Comes? Mit wem war ich denn sonst vermählt? Habe ich dir nicht erzählt, daß ich eine Gefangene war auf Malmort, bis mich der Comes freite? Und ich hätte den Gatten getötet? Ich, die Richterin und die Ärztin des Landes, hätte Gifte gemischt? Kannst du das glauben? Hältst du das für möglich?"
"Nein, Mutter, nein! Und doch, du hast es gesagt!"
"Palma, Palma, mißhandle mich nicht! Sonst müßte ich dich hassen!"
Palma brach in trostlose Tränen aus und warf sich gegen die Brust der Mutter, die das schluchzende Haupt an sich preßte. "Du bringst mich um mit deinem Weinen", sagte sie. "Glaube mir doch, Närrchen!"
Palma hob das Angesicht und blickte um sich. "Weidet hier am Rande ein Zicklein, Mutter?"
"Ja, Palma."
"Läutet dort Maria in valle?" Sie wies ein im Tale schimmerndesKloster.
"Ja, Palma."
"Ebenso wahr, als ich jetzt nicht träume und das Zicklein weidet unddas Kirchlein läutet, ebensowenig habe ich geträumt, daß du vorWulfrins Vater gestanden und ihn angeredet hast. Es war so, es ist so.Du sprächest immer die Wahrheit, Mutter."