Hinweise zur Transkription

»Lassen Sie mich, Doctor,« gab er kopfschüttelnd zur Antwort, »ich will Nichts mehr von der Welt da draußen wissen ... Sehen Sie, Doktor, wenn ich jetzt unter die Leute komme, wie es mir neulich einmal geschah, und es begegnen mir Eltern mit ihren Kindern, und wenn es der ärmste Hirt ist, dessen Hütte die letzte im Dorfe, und seine Kinder springen vor ihmher, barfuß und halbnackt, so fühle ich mich so bettelarm gegen den Mann, daß ich mich vor ihm hinter dem nächsten Busch verstecken möchte. Es ist mir Alles genommen mit dem Kinde, nur mein Körper wandelt noch auf Erden, meine Seele aber ist bei meiner Mimi.«

Und wie er grau und alt geworden war in den wenigen Wochen! Wie alle Frische des Lebens aus den Zügen des noch so jungen Mannes weggewischt war, wie das blonde Haar sich entfärbt hatte und so wirr um sein Haupt flatterte!

Seine Beschäftigung hatte er ganz und gar aufgegeben. Er lebte von seinen Ersparnissen, die einst seiner Mimi gehören sollten, einen Theil davon hatte er zu einer Stiftung für arme Kinder des Dorfes verwendet. So verging der Herbst, und der Winter kam heran und überzog die grünen Berge von Morbihan mit seinem weißen Schneegewand, und auch das kleine Grab des kleinen deutschen Mädchens auf der Düne von Morbihan überzog er mit dem Leichentuche der hinsterbenden Natur.

Und wieder war der Weihnachtsabend da, jener heilige Abend, an welchem die Freude in tausend und aber tausend fröhliche Kinderseelen und glückliche Elternherzen einzieht. Den ganzen Tag über hatte Dennhardt, zu Mutter Poisson's großer Verwunderung, in seinem Arbeitszimmer sich eingeschlossen und eine auffällige Geschäftigkeit gezeigt. Als aber der Abend hereinbrach, ein windstiller, reiner, klarer Winterabend, so ein echter Christabend mit Tausenden von funkelnden Sternen am weiten Himmelsdome, da schlug Dennhardt seinen Mantel um die Schultern und wanderte hinaus nach der Düne zu dem Grabe seiner kleinen Mimi.

Was sich da ereignete, haben die Bewohner des Dorfes nie so recht erfahren können; nur Vermuthungen und die Aussagen eines Hirten, der in später Stunde seine Heerde unweit der Düne vorüber trieb, dem aber der Schreck über den seltsamen Anblick die ruhige Beobachtung raubte, so wie einige andere sichtbare Zeichen ließen auf den muthmaßlichen Zusammenhang schließen.

»Als ich,« so erzählte der Hirt, »spät am Abend mit meinen Ziegen und Schafen unweit der Düne vorbeizog, sah ich plötzlich an der Stelle, wo das Grab des kleinen deutschen Mädchens ist, helles strahlendes Licht ... Es war mir, als ob eine Unzahl Flammen aus der Erde aufstiegen und immer höher und höher wuchsen ... Und dann sah ich eine dunkle Gestalt mit flatterndem Haar und ausgebreiteten Armen, ein Buch in der Hand, neben dem Grabe stehen, und hörte seltsame, unverständliche Töne, die mir aber einen solchen Schreck in die Glieder jagten, daß ich entsetzt über den Spuk mit meiner Heerde in eiliger Flucht den Abhang hinab nach dem Dorfe zu sprang.«

Als Dennhardt am Morgen des Weihnachtstages noch nicht wieder nach Hause zurückgekehrt war, lief Mutter Poisson zu dem Doctor Godin und theilte diesem ihre Besorgnisse mit. Dieser ging zum Maire und fuhr dann mit diesem nach dem Dünenhügel.

Beim Erblicken des kleinen Grabes stieg eine Thräne in des Arztes Auge. Der Anblick war ein traurigrührender. Der kleine Tannenbaum auf demGrabe war in einen schönen buntschimmernden Weihnachtsbaum verwandelt, an dem Nichts fehlte, weder der Erzengel von Rauschgold, noch das Zuckerwerk, noch die goldenen und silbernen Nüsse und Aepfel. Nur die gelben Wachslichter waren bis auf den Stumpf niedergebrannt. Es waren die Flammen gewesen, in welchen die abergläubische Phantasie bretagnischer Hirten böse Geister erblickt hatte. Am Fuße des Grabes, das Haupt auf den kleinen Rasenhügel gestützt, lag der deutsche Flüchtling, bleich und entseelt, aber mit dem Ausdrucke eines tiefen Seelenfriedens, ja einer gewissen Verklärung und freudigen Zuversicht in den bleichen Zügen.

Seine erstarrte Hand hielt ein aufgeschlagenes Buch; es war die Bibel. Tief bewegt beugte sich der Arzt zu dem Entschlafenen nieder, um das Buch aus der kalten Hand des Todten zu nehmen. Da traf sein Blick auf die aufgeschlagene Stelle, auf welcher wohl zuletzt das Auge des Entschlafenen geruht.

Es waren die Worte des Apostels:

»Siehe, ich sage euch ein Geheimniß: wir werden nicht Alle entschlafen, wir werden aber Alle verwandelt werden. Der Tod ist verschlungen in den Sieg.«

»Er hat das Räthsel des Lebens gelöst,« murmelte der Arzt, »er hat sein Kind wiedergefunden.«

Noch am selbigen Tage begrub man den Flüchtling an der Seite seines Kindes, seinen letzten sehnlichsten Wunsch, den er häufig im Gespräch mit dem Doctor geäußert, erfüllend.

Jahre sind seit jenem Weihnachtsabend vorüber gegangen, aber noch heute sieht man die beiden Gräber auf der Höhe von Morbihan. Und wenn die Meereswogen heranbrausen zur Düne, und die Möven über die Grabhügel hinstreichen, und es in dem Tannenbaum rauscht und flüstert, und zufällig ein Hirt mit seiner Heerde vorüberzieht, dann ergreift er nicht mehr die Flucht, sondern er pflückt eine Blume und legt sie auf das Grab des kleinen deutschen Mädchens und ihres Vaters, die hier im fernen fremden Lande jene letzte Ruhestätte fanden, welche das Ziel aller irdischen Wanderung ist.

Die Mütter des Dorfes aber führen ihre Kinder des Sonntags häufig zum Grabe der kleinen Mimi und erzählen ihnen die Geschichte von dem schönen kleinen Mädchen und von dem letzten Weihnachtsbaum, den ihr Vater auf ihr Grab pflanzte.

Und Fanny? Vergebens hat sie als Gattin des Vicomte von Grandlieu mehrere Jahre Europa nach allen Richtungen durchstreift, um Mimi zu finden.

Sie hat die Hoffnung endlich aufgegeben und sich mit ihrem Manne nach Paris zurückgezogen, wo sie, trotzdem daß der Schmerz seine leserliche Schrift in ihr schönes Antlitz gegraben, noch immer den Mittelpunkt eines glänzenden Kreises bildet, der sich um sie gesammelt.

Ob sie glücklich ist? Wir wagen es nicht zu glauben, denn eine Mutter bleibt immer Mutter, und mitten in dem Geräusch der Feste durchzuckt oft ein stechender Schmerz ihr Herz und eine düstere Trauer umflort ihre Stirn; sie bedeckt sich die Augen und ziehtsich in ihr Zimmer zurück, wo sie ihr Gemahl dann von Thränen überfluthet auffindet.

Ahnt sie vielleicht das Geschick ihres Kindes und des Mannes, der einst ihr Gatte war?

Wie dem auch sei, die Ruhe ist von ihr geflohen und sie würde vielleicht den Rest ihres Lebens dahingeben, wenn sie ihr Geschick wieder mit dem jener zwei Seelen vereinigen könnte, deren irdische Hüllen in jenen Gräbern auf der Düne von Morbihan ruhen.

Sie ruhen sanft! Und das Murmeln des Meeres ist ihr ewiges Schlummerlied!

Wien. Druck von Jacob & Holzhausen.

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Bei direkter Rede wurde, der überwiegenden Verwendung im Originalbuch folgend, das Kommazeichen einheitlich jeweils vor dem schließenden Anführungszeichen angeordnet.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "erwidern" – "erwiedern", mit folgenden Ausnahmen,

Seite5:"Aufrüher" geändert in "Aufrührer"(Verbrecher zu verhaften, einen Aufrührer und Rebellenführer)

Seite16:"berühmtensten" geändert in "berühmtesten"(in dem Atelier eines der berühmtesten Meister gearbeitet)

Seite21:"endeckte" geändert in "entdeckte"(Hier entdeckte Dennhardt, dem seine Gattin)

Seite22:"Uebezeugung" geändert in "Ueberzeugung"(meine Ueberzeugung, für Deutschlands Einheit und Freiheit)

Seite25:"«" eingefügt(ein Mann ohne Namen und ohne Zukunft gewesen wärest?«)

Seite26:"»" eingefügt(antwortete sie leidenschaftlich, »wenn Du glaubst)

Seite30:"gäng" geändert in "gang"(die unter diesen Leuten gang und gäbe waren)

Seite44:"Tühr" geändert in "Thür"(der zwanzig Schritte von der Thür hält)

Seite48:"Bellville" geändert in "Belleville"(von der Vorstadt bei Belleville weit hinein)

Seite54:"ergeizigen" geändert in "ehrgeizigen"(Es schmeichelte ihrem stolzen, ehrgeizigen Sinne)

Seite72:"Tühr" geändert in "Thür"(an jenem Abend aus der Thür ihres Hauses)

Seite84:"«" eingefügt(wo ist mein Kind ... hat er es mitgenommen?«)

Seite100:"Jügling" geändert in "Jüngling"(so wie es vielleicht ein Jüngling ist)

Seite103:"," eingefügt(wilde Schweine, Luchse und Dachse)

Seite108:"vierunzwanzig" geändert in "vierundzwanzig"(bei einem Massacre vierundzwanzig Aristos umgebracht)

Seite123:"lautlaus" geändert in "lautlos"(und lautlos vor sich hinstarrte)


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