Chapter 14

›Wir haben hier keine bleibende Statt,die zukünftige suchen wir‹ –

›Wir haben hier keine bleibende Statt,die zukünftige suchen wir‹ –

›Wir haben hier keine bleibende Statt,

die zukünftige suchen wir‹ –

nun sagte der gar nichts!

In allen Hoffnungen betrogen, erhob er sich mechanisch von der Altarstufe. Er sah nicht, daß der Blick der Mutterihn heimlich grüßte, daß auch der Vater ihm verstohlen zunickte, Freundlichkeit im Gesicht; er war ganz verstört, ganz ernüchtert, ganz benommen von dieser Enttäuschung.

Wär’s nur schon zu Ende hier! Ach, wie ermüdend war dieses lange Stillesitzen! Wolfgang war blaß und gähnte verstohlen; die durchwachte Nacht machte sich geltend, kaum daß er sich des Einschlafens enthielt. Endlich, endlich erklang das Amen, endlich, endlich brauste von der Orgel der Schlußchoral!

Strömend, wie eine nicht endenwollende Flut, ergoß sich die übergroße Menge aus der Kirche. Jedes Kind gesellte sich zu seinen Eltern; zwischen Vater und Mutter traten die Eingesegneten aus dem Portal.

Auch Wolfgang ging so, wieder wie vordem. Vor sich sah er Kullrich – nur mit seinem Vater; beide trugen noch immer den breiten Trauerflor. Da machte er sich los von den Seinen und trabte rasch hinter Kullrich her. Er hatte dem nie besonders kameradschaftlich nahegestanden, aber nun faßte er ihn bei der Hand und drückte und schüttelte sie ihm, stumm, ohne Worte, und machte dann rasch wieder kehrt.

Die impulsive Teilnahme ihres Sohnes rührte Käte tief; sie war ohnehin heute unendlich weich. Als Wolfgang wieder neben ihr schritt, sah sie ihn von der Seite an mit tiefem Gefühl: ach, er war doch gut, so gut! Und heiße Hoffnungen und Wünsche stiegen aus ihrer Seele zum Himmel empor.

Licht war der Himmel, so blau, kein Wölkchen daran.

Sie nahmen einen Wagen, um nach Hause zu fahren, denn beiden Eltern widerstrebte es, sich mit so und so viel gleichgültigen, schwatzenden Menschen in der Bahn zu drängen; sie hatten das Verlangen, mit ihrem Sohne allein zu sein. Wolfgang war schweigsam; er saß der Mutter gegenüber, ließ seine Hand, die sie auf ihren Knieen hielt, wohl in ihrer Hand,aber seine Finger erwiderten nicht den zarten, warmen Druck. Er saß so still, als sei er gar nicht zugegen.

Wieder fuhren sie am Haus vorüber, in dem Lämkes Portiers waren; beim Rollen des Wagens auf der sonnentrocknen, harten Straße sprang Frida rasch ans Fenster, lächelte und nickte wieder. Aber von Mutter Lämke war jetzt nichts zu sehn, und Wolfgang vermißte das – nun, heute nachmittag, so wie er sich losmachen konnte, würde er zu Lämkes gehen!

In der Villa warteten schon Gäste. Ein großes äußeres Fest wollte man nicht aus der Konfirmation machen, aber den guten alten Sanitätsrat, dessen Frau, und die beiden Sozien hatte man doch einladen müssen. Alles ältere Leute; Wolfgang saß zwischen ihnen, ohne viel andres zu reden als ›Ja‹ und ›Nein‹, wenn er gefragt wurde. Aber er aß und trank tüchtig; das Essen war immer gut, aber Kaviar und Kibitzeier, wie heute, gab’s doch nicht alle Tage. Immer röter wurde sein Kopf und benommener; man hatte zuletzt in Sekt auf sein Wohl getrunken, und Braumüller, der älteste Sozius, ein sehr jovialer Mann, hatte sich einen Spaß daraus gemacht, dem Gefeierten immer wieder einzuschenken.

»Na, Wolfgang, wenn Sie erst ins Geschäft eintreten! Na denn, mein Junge, prost!«

Es war schon fast fünf Uhr, als man von Tische aufstand. Die Damen setzten sich in den Salon zum Kaffee, die Herren gingen ins Rauchzimmer. Wolfgang stahl sich fort, es zog ihn mächtig zu Lämkes. Erstens wollte er die goldene Uhr zeigen, und dann wollte er auch mal fragen, was für einen Spruch Frida eigentlich bei ihrer Einsegnung bekommen hatte, und dann, dann – was wohl Mutter Lämke zu ihm sagen würde?!

›Wir haben hier keine bleibende Statt, die zukünftige suchen wir‹ – das war doch wirklich ein dummer Spruch!Und doch wollte der ihm nicht aus dem Kopfe. Wie er jetzt so langsam dahinschlenderte durch die weiche, silbrige, ahnungsvolle Frühlingsluft, grübelte er in einem fort darüber. Nein, so ganz dumm war der Spruch denn doch nicht! Nachdenklich zog er die Brauen zusammen, sah empor nach den unbewegten Wipfeln der Kiefern und dann umher – ›wir haben hier keine bleibende Stätte‹ – konnte das nicht auch bedeuten: hier ist deine Heimat nicht?! Aber wo – wo?!

Ein seltsamer Glanz kam in das dunkle Auge, ein Suchen war darin. Und dann wurde das weinrote, vom Festmahl erhitzte Gesicht blaß. Wenn es wahr wäre, was die beiden sagten?! Ach, und noch so manches andre kam ihm jetzt auf einmal in die Erinnerung: da war doch die Lisbeth gewesen, das garstige Frauenzimmer, das vor der Cilla bei ihnen gedient hatte – was hatte die Lisbeth doch immer alles geplappert, wenn sie schlechter Laune war?! ›Du hast ja gar nichts zu suchen hier‹ – ›Gnade und Barmherzigkeit‹ – allerhand so was, er brachte es jetzt nur nicht mehr recht zusammen. Schade! Damals war er eben noch zu jung und harmlos gewesen, aber jetzt – jetzt?!

»Verdammte Person!« Er ballte die Faust. Aber, ach, wenn er sie jetzt nur hier hätte! Kein Schimpfwort wollte er ihr sagen, nein, es ihr herauslocken, ganz sanft und schmeichelnd, denn wissen, wissen mußte er’s jetzt!

Ein heftiges Verlangen, eine brennende Neugier waren plötzlich in ihm erwacht, die ließen sich nun nicht mehr zurückdrängen. Etwas Wahres mußte doch daran sein, wie kämen sie sonst dazu, so zu sticheln? Und das Wahre mußte er wissen; er hatte jetzt ein Recht darauf! Seine Gestalt reckte sich. Eigenwille und Trotz gruben feste Linien um seinen Mund. Und wenn es noch so schrecklich war, wissen mußte er’s! Aber war es denn überhaupt schrecklich?! Der Zugum seine Lippen wurde milder. ›Wir haben hier keine bleibende Statt, unsre Heimat suchen wir‹ – wohlan, er würde sie suchen!

Rascher fing er an, auszuschreiten, seinen bummligen Schlendergang aufgebend. Was würde Mutter Lämke sagen?! Und wenn er sie nun fragen würde – sie meinte es ja so gut mit ihm –, wenn er sie fragen würde, wie einer gefragt wird, der schwören soll, wenn er sie fragte, ob – ja, was wollte er sie denn eigentlich fragen?!

Sein Herz klopfte. Ah, das dumme Herz! Das tat manchmal gerade so, als wäre es ein wilder Vogel, den man in ein enges Bauer eingesperrt hat!

Er war wieder ins Laufen gekommen; nun mußte er den Schritt verlangsamen. Und doch war er noch ganz außer Atem, als er die Wohnung der Lämkes betrat. Vater und Sohn waren ausgegangen; aber Mutter und Tochter saßen da, als hätten sie auf ihn gewartet.

Frida sprang auf, daß die Küchenkante, an der sie gehäkelt hatte, zu Boden flog, faßte ihn bei beiden Händen, und aus ihren blauen Augen strahlte die Bewunderung. »Nee, was biste fein, Wolfjang! Wie ’n Herr – riesig nobel!«

Er lächelte: das war mal nett von ihr!

Aber als Frau Lämke gerührt sagte: »Nee, Wolfjang, nu sage ik aber ›Sie‹ ßu Ihnen – nee, Sie sind ßu jroß! – aber ik habe Ihnen drum nich weniger jerne, weeß Jott, man is kaum ärjer uf de eijnen Jöhren« – da fühlte er eine Freude, wie er sie heute noch nicht gefühlt hatte. Sein Gesicht wurde weich in einer warmen Empfindung, und die arbeitsharte Hand, die die seine kräftig schüttelte, drückte er fest.

Dann setzte er sich zu ihnen, sie wollten erzählt haben. Er zeigte ihnen seine goldene Uhr und ließ sie repetieren;aber sonst erzählte er nicht viel, die Atmosphäre der Stube lullte ihn in ein dämmerndes Behagen, und er saß ganz still. Wieder roch es hier wie einst nach frischgebrühtem Kaffee, und der Myrtenstock am Fenster und die blasse Monatsrose mischten ihren schwächeren Duft ein. Er hatte ganz vergessen, daß er schon lange hier saß; plötzlich fiel es ihm ein mit einem jähen Schrecken: er hatte ja was zu fragen!

Mit forschenden Blicken sah er der Frau ins Gesicht. Sie sagte gerade: »Nee, wie sich deine – Ihre Mutter freuen wird, det se nu so ’n jroßen Sohn hat« – da fuhr es ihm heraus: »Bin ich denn ihr Sohn?« Und als Frau Lämke nicht antwortete, nur mit erschrockenen Augen ihn unsicher ansah, schrie er’s fast: »Bin ich denn ihr Sohn?«

Mutter und Tochter wechselten einen raschen Blick; Frau Lämke war ganz rot geworden und sehr verlegen. Mit beiden Händen hielt der Junge ihre Arme gepackt, und ganz dicht beugte er sich zur ihr hinüber. Da gab’s kein Ausweichen.

»Lügen Sie mir nichts vor,« sagte er hastig. »Ich kriege es ja doch heraus. Ich muß es herauskriegen. Ist es meine Mutter? Antwort! Und mein Vater – ist der auch mein wirklicher Vater nicht?«

»Jott in ’n Himmel, Wolfjang, wie kommen Sie ßu so was?« Mutter Lämke verbarg ihre Verlegenheit unter einem erzwungenen Lachen. »Das ’s ja allens Quatsch!«

»O nein!« Er blieb unentwegt ernsthaft. »Ich bin nun alt genug. Ich muß das wissen. Ich muß!«

Die Frau wand sich förmlich: nein, wie war ihr das unangenehm, mochte der Junge doch lieber wo anders fragen! »Die würden mir scheene uf ’n Kopp kommen, wenn ich da was quasselte,« suchte sie auszuweichen. »Fragen Sie doch bei Ihre Eltern selber an, die werden Ihnen schon Bescheidjeben. Ick wer mir hüten, mich mank so ’ne Anjelegenheiten ßu mengelieren!«

Frida machte den Mund auf, als ob sie etwas sagen wollte, aber ein warnender Blick hieß sie schweigen. Heftig fuhr die Mutter dazwischen: »Biste stille! Det fehlte jrade noch, det du de Hände einmanschtest! Was verstehn ieberhaupt so ’ne Jöhren von so was! Was Wolfjangen sein Vater is, der wird schonst wissen, woher er ’n hat. Und wenn die jnäd’ge Frau mit ßufrieden is, hat keen andrer en Wort drieber zu sagen!«

Wolfgang sah die Schwätzerin starr an. »Die Jungens sagen – die Lisbeth sagte – und nun sagen Sie – Sie auch« – er sprang auf – »ich geh und frage. Die!« Er wies mit dem Finger, als deute er irgendwohin in eine weite, ihm ganz fremde Ferne. »Jetzt muß ich’s wissen!«

»Aber Wolfjang – nee, um Jottes willen!« Ganz entsetzt drückte ihn Frau Lämke wieder auf den Stuhl nieder. »Lämke haut mir, wenn er’s ßu wissen kriegt, det ich da mank bin. Wir verlieren womöglich noch de Portjehstelle dadurch – un jetzt, wo de Kinder noch nischt verdienen! Ick habe doch nischt jesagt?! Was kann ick davor, wenn dich andre Leute ’nen Floh ins Ohr setzen! Ick kenne ja deine Mutter jar nich – und was dein Vater is, der wird ihr ooch schon längst nich mehr kennen! Laß man die janze Jeschichte jut sind, mein Junge!« Sie wollte ihn beruhigen, aber er hörte nicht darauf.

»Mein – mein Vater?!« stotterte er. »Also der ist doch mein richtiger Vater?«

Frau Lämke nickte.

»Aber meine – meine richtige M–!« Er brachte das Wort ›Mutter‹ nicht heraus. Die Hände hielt er sich vors Gesicht und zitterte am ganzen Leib. Die Sehnsucht hatteihn plötzlich übermannt, diese starke, heftige Sehnsucht nach einer Mutter, die ihn geboren hatte. Er sagte kein Wort, aber er stieß Seufzer aus, die wie Stöhnen klangen.

Frau Lämke war zu Tode erschrocken; sie wollte sich herausreden und redete sich immer tiefer hinein: »Ach was, mein juter Junge, so was kommt in ’n Leben doch öfters vor – sehr anständig, daß er dir nich verleujnet hat, det tut noch lange nich jeder! Un was die jnäd’je Frau is, die dir anjenommen hat wie ’n eijnet Kind, so kann man lange suchen, bis man so eine wieder findet. Jroßartig – einfach jroßartig!« Frau Lämke hatte sich oft genug über die vornehme Dame geärgert, aber nun fühlte sie das Bedürfnis, ihr gerecht zu werden. »So ’ne Mutter kannste in Jold fassen – so was jibt’s ja jar nich mehr!« Sie erschöpfte sich in anerkennenden Lobpreisungen. »Un wer weiß auch, ob an’n Ende noch alles wahr is!« Damit schloß sie.

Es würde schon alles wahr sein! Wolfgang war ruhig geworden; wenigstens merkte man seinem Gesichte keine sonderliche Erregung mehr an, als er jetzt die Hände herabgleiten ließ. »Ich muß jetzt gehen,« sagte er.

Frida stand sehr bedrückt da; sie hatte das alles ja längst gewußt – wer wußte das nicht?! – aber daßer’s nun wußte, das tat ihr so leid. Ihre hellen Blicke trübten sich, voll Mitleid sah sie den Freund an: ach, wie war ihre eigene Einsegnung, vorige Ostern, doch so viel schöner gewesen! Sie hatte keine goldene Uhr bekommen, nur eine ganz kleine Brosche von unechtem Gold – eine Mark fünfzig hatte die gekostet, sie hatte sich die ja selber mit Muttern ausgesucht –, aber sie war so froh gewesen, so froh!

»Was für ’n Spruch haste denn jekriegt?« fragte sie rasch, um Wolfgang auf andre Gedanken zu bringen.

»Ich weiß ihn nicht auswendig,« sagte er ausweichend,und seine verblaßten Wangen wurden purpurrot. »Aber er stimmt!« Und damit ging er aus der Türe.

Geradeswegs ging er nach Hause – was sollte er noch Zeit versäumen, es eilte! Er sah nicht die Stare aus- und einfliegen aus ihren Nistkästchen an den hohen Stangenkiefern, sah nicht, daß schon eine helle Mondsichel schwebte am dunkler werdenden Abendhimmel und ein goldener Stern daneben stand, sah nur mit Genugtuung, als er in die Halle der Villa trat, daß Mäntel und Hüte von den Haken verschwunden waren. Das war gut, die Gäste waren fort! Er stürmte gegen die Salontür, fast fiel er ins Zimmer. Da saßen Vater und Mutter noch – nein, der Vater und sie, die – die –!

»Nun, sage mal, wo hast du denn so lange gesteckt?« fragte der Vater, nicht ohne Anflug von Ärgerlichkeit in der Stimme.

»Heute, gerade heute!« sagte die Mutter. »Sie lassen dich alle grüßen, sie haben noch auf dich gewartet. Aber nun ist es ja fast schon acht Uhr!«

Unwillkürlichsah Wolfgang nach der Pendüle auf dem Kaminsims – richtig, schon bald acht! Aber das war ja nun alles gleichgültig! Und den Blick starr geradeaus gerichtet, als sähe er unverrückt nach einem Ziel, stellte er sich vor den beiden auf.

»Ich muß euch was fragen,« sagte er. Und dann – ganz unvermittelt kam’s heraus, ganz brüsk –: »Wessen Kind bin ich?!«

Da war’s gesagt! Die junge Stimme hatte hart geklungen. Oder tönte sie nur so verletzend in Kätes Ohren? Sie hörte ein furchtbares Gellen wie von mißlautendem Trompetenstoß. O Gott, da war sie, die furchtbare Frage! Eine jähe Blutwelle legte ihr einen dichten Schleier mit flimmernden Punkten vor die Augen; sie konnte ihren Knabennicht mehr sehen, sie hörte nur diese seine Frage. Hilflos, blindlings griff sie mit der Hand um sich – Gott sei Dank, da war ihr Mann, der war noch da! Und jetzt hörte sie auch ihn sprechen.

»Wie kommst du zu der Frage?« sagte Schlieben. »Unser Sohn – natürlich! Wessen Kind denn sonst?«

»Das weiß ich nicht. Das will ich ja eben von euch wissen,« sprach wieder die harte Knabenstimme.

Es war merkwürdig, wie ruhig diese Stimme klang, aber sie dünkte Käte doppelt entsetzlich in dieser sachlichen Einförmigkeit.

Nun hob sie sich ein wenig: »Gib mir doch Antwort – ich will – ich muß es wissen!«

Käte schauderte: welche Unerbittlichkeit, welche Hartnäckigkeit lag in diesem ›Ich will‹ – ›Ich muß‹ –! Der würde nie mehr aufhören, zu fragen! Wie vernichtet sank sie bebend ganz in sich zusammen.

Auch des Mannes ruhige Stimme verriet ein heimliches Beben: »Lieber Junge, dir hat mal wieder einer – ich will nicht fragen: wer, es gibt immer Klätscher und Hetzer genug – etwas in den Kopf gesetzt. Warum stellst du dich so feindlich gegen uns? Sind wir dir nicht immer wie Vater und Mutter gewesen?«

O, das war falsch –wieVater und Mutter?! Grundfalsch! Käte fuhr auf. Sie streckte die Arme aus: »Mein Junge!«

Aber er blieb stehen, als bemerkte er diese ausgestreckten Arme nicht; die Brauen finster zusammengezogen, sah er nur den Mann an. »Ich weiß wohl, daß du mein Vater bist, aber sie – die –« er warf einen flüchtigen Seitenblick – »die ist meine Mutter nicht!«

»Wer sagt das?!« Käte schrie laut auf.

»Alle Welt!«

»Nein, niemand! Das ist nicht wahr! Eine Lüge, eine Lüge! Du bist mein Kind, mein Sohn, unser Sohn! Und wer das leugnet, der lügt, betrügt, verleumdet, der –«

»Käte!« Ihr Mann sah sie sehr ernst an, und ein Vorwurf lag in seinem Ton und eine Mahnung: »Käte!«

Und dann wendete er sich zu dem jungen Menschen, der trotzig dastand, fast herausfordernd in der Haltung – den einen Fuß vorgestellt, gerade aufgerichtet, den Kopf in den Nacken geworfen – und sagte: »Die Mutter ist begreiflicherweise sehr aufgeregt, du solltest sie schonen – gerade heute! Geh jetzt, und wir werden morgen –«

»Nein, nein!« Käte ließ ihn nicht aussprechen; sie rief in höchster Erregung: »Nein, nicht aufschieben! Laß ihn doch reden – jetzt – laß ihn nur! Und antworte du ihm – jetzt – gleich – daß er unser Sohn ist, unser Sohn ganz allein! Wolfgang – Wölfchen!« Sie brauchte heute wieder seit langer Zeit den alten süßen Kinderschmeichelnamen. »Wölfchen, liebst du uns denn gar nicht mehr? Wölfchen, komm doch zu mir!«

Wieder streckte sie die Hände nach ihm aus, aber er sah wiederum nicht diese verlangenden, liebevoll gebreiteten Arme. Er war sehr blaß und sah starr vor sich nieder.

»Wölfchen, komm!«

»Ich kann nicht!«

Nichts regte sich in seinem Gesicht, und seine Stimme hatte immer noch den eintönigen Klang, der ihr so furchtbar war. Sie schluchzte auf, und ihre Blicke klammerten sich an ihren Mann – nun sollte der ihr helfen! Aber er sah sie finster an; deutlich las sie in seiner Miene den Vorwurf: ›Warum bist du mir nicht gefolgt?! Hätten wir’s ihm gesagt beizeiten –‹ nein, auch bei ihm fand sie keine Hilfe! Undjetzt – was sagte Paul jetzt gar?! Ihre Augen erweiterten sich in plötzlichem Schrecken, mit beiden Händen umklammerte sie die Seitenlehnen ihres Sessels, wollte zurücksinken und bäumte sich doch auf, sich wehrend gegen das, was nun kommen mußte. War Paul von Sinnen?! Er sprach: »Du bist nicht unser Sohn!«

»Nicht euer Sohn?!« Der Knabe stammelte. Er hatte sich durch nichts beirren lassen wollen, aber diese Antwort beirrte ihn doch. Sie verwirrte ihn; er wurde rot und blaß, und sein Blick glitt unsicher von dem Mann zur Frau, von der Frau zum Mann.

Also auch er – der – wäre nicht sein Vater?! Aber Frau Lämke hatte es doch gesagt! Aha, der wollte ihn jetzt wohl verleugnen?! Mißtrauisch sah er den Mann an, und dann wallte es wie eine Kränkung in ihm auf: wenn der da nicht sein Vater wäre, hätte er ja eigentlich hier gar kein – nein, gar kein Anrecht?!

Und einen Schritt nähertretend, sagte er hastig: »Du bist wohl mein Vater. Du willst es jetzt nur nicht sagen. Aber sie« – er nickte kurz nach dem Sessel hin – »sie ist nicht meine Mutter!« Seine Augen leuchteten; mit einem tiefen Aufatmen sagte er nun, als sei es ihm eine Erleichterung: »Das habe ich immer gewußt!«

»Du bist falsch berichtet! Wäre es nach mir gegangen, ich hätte dir längst die Wahrheit gesagt. Aber da nun einmal – leider! – der richtige Moment versäumt ist, so sage ich sie dir heute. Ich sage sie dir – so wie ein Mann zum anderen spricht, auf Ehrenwort – ich bin dein Vater nicht, ebensowenig wie sie deine Mutter ist. Von Geburt bist du uns fremd, ganz fremd. Wir haben dich aber angenommen an Kindes Statt, weil wir gerne ein Kind haben wollten und keins hatten. Wir haben dich aus dem –«

»Paul!« Wie damals, als Schlieben dem Knaben, empört über dessen Undankbarkeit, hatte etwas verraten wollen, fiel Käte ihm mit einem lauten Schrei an die Brust. Sie umklammerte ihres Mannes Nacken; hastig, heftig, mit zitterndem Hauchen raunte sie ihm ins Ohr: »Sag ihm nicht: woher! Um Gottes willen nicht, woher! Dann geht er, dann ist er mir ganz verloren! Ich ertrage es nicht – hab Mitleid, Erbarmen mit mir – sag ihm nur nicht: woher!«

Er wollte sie von sich schieben, aber sie ließ ihn nicht los. Immer dies weinende Stammeln, dies zitternde, angstvolle, verzweifelnde Beschwören: nur nicht woher, nur nicht woher!

Ein großes Mitleid mit ihr überkam ihn: seine arme Frau, so eine arme Frau – mußte ihr das geschehen?! Und ein Zorn kam dazu gegen den Knaben, der da so breitspurig stand – dreist – ja, dreist – der da forderte, wo er zu bitten hatte, und unbewegt, mit großen kalten Augen nach ihnen hinsah.

Der ernste, aber doch weiche Ton, in dem Schlieben bis jetzt zu Wolfgang gesprochen hatte, wurde streng: »Übrigens verbitte ich mir diese deine Art, zu fragen!«

»Ich habe ein Recht, zu fragen!«

»Ja, das hast du!« Der Mann war ganz betroffen: ja, der Junge hatte das Recht! Wer hier im Unrecht war, das war ganz klar! Und so sagte er einlenkend und wieder freundlicher: »Wenn du aber auch nicht unser Sohn bist in Fleisch und Blut, so denke ich doch, haben Erziehung und jahrelanges Mühen, treue Fürsorge dich im Geiste zu unserm Kinde gemacht. Komm, mein Sohn – und wenn sie alle sagen, du wärest nicht unser Sohn, ich sage dir: du bist unser Sohn, in Wahrheit!«

Er hielt dem regungslos Dastehenden die freie Handhin – mit der andern hielt er seine Frau umfaßt –, da war noch Platz an seiner Brust, hier konnte auch noch der reuige Knabe liegen. Aber langsam wich Wolfgang zurück, er nahm die gebotene Hand nicht, er ließ sich nicht ziehen.

»Nein,« sagte er. Und dann ging er, ohne Tränen, die trockenen Augen immer starr auf die, die er so lange Eltern genannt hatte, gerichtet, langsam rückwärts zur Tür.

»Junge, wohin?! Aber so bleibe doch!« Schlieben rief es ihm gütig nach – der Junge war ja auch in einer scheußlichen Situation, man mußte Geduld mit ihm haben! Und er rief noch einmal: »Wolfgang, bleibe doch!«

Aber Wolfgang schüttelte den Kopf: »Ich kann nicht. Ihr habt mich betrogen. Laß mich los!« Mit einer gewaltsamen Bewegung schüttelte er des Mannes Hand, die sich auf seinen Ärmel gelegt hatte, ab.

Und nun schrie er auf wie ein verwundetes Tier: »Was quält ihr mich noch? Laßt mich doch gehen! Ich will gehen, ich will an meine Mutter denken – wo ist sie?!«


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