Dritter TeilDie Witwe

»Herz hatte mir nun die Fragen zu beantworten:1. Kann eine klimatische Kur insofern nachhaltig wirken, daß sie die weitere Entwicklung des Übels wesentlich aufhält?Antwort: Ja.2. Ist ohne eingreifende Gegenmittel eine fortwährende Steigerung des Übels zu erwarten?Antwort: Ja.3. Kann die Kur nicht ohne Bedenken auf ein späteres Jahr verschoben werden?Antwort: Die Reaktionsfähigkeit des Organismus und folglich die Wahrscheinlichkeit, daß die Kur wirkt, nimmt mit jedem Jahr ab, und wenn man am Ende der Vierziger steht, ist es eben noch Zeit.« ...Damit war für Brater die Frage entschieden, denn für die Möglichkeit der Ausführung hatten andere gesorgt. In ergreifender Weise waren dem Kranken, noch ehe der Plan zum Entschluß gereift war, die Mittel zur Kur angetragen worden. Nicht nur von seinem treuen Onkel Meynier, sondern auch von Freunden, deren Beweggrund war, ihre nationale Gesinnung auch dadurch zu betätigen, daß sie dem Manne beistanden, der für die nationale Sache seine Kraft und Gesundheit eingesetzt hatte. Dies war ein erhebendes Gefühl für Brater und seine Frau und ein Beweis, daß nicht nur das Böse immer wieder Böses, sondern auch das Edle wieder Edles erzeugt. Das »Zuviel« wurde abgelehnt, das Nötige dankbaren Herzens angenommen. Nun handelte es sich um die Wahl des Ortes, es wurden damals Cannes, Hyères, Palermo und Montreux genannt und Erkundigungen eingezogen. Der Entscheid fiel für Cannes, die südfranzösische Stadt an der Rivièra. Eltern und Kinder bereiteten sich auf eine neue, lange Trennung vor, freundlich erklärten sich die Tanten Brater bereit, die Nichten für den Winter aufzunehmen, schon lag dieser Abschiedsschmerz schwer auf der Seele, da tat sich eine Möglichkeit auf, der Sparsamkeit und doch zugleich dem Herzenszug gerecht zu werden. Es wurde in Cannes eine möblierte Wohnung mit Küche ermittelt, in der die Familie eigeneWirtschaft führen und dadurch zu viert nicht wesentlich teurer leben würde, als zu zweit in einer Pension. Anna und Agnes, nun beide konfirmiert und der Schule entwachsen, sollten das Kochen besorgen und sich dadurch einigermaßen den interessanten Aufenthalt verdienen, der ohne eine solche Leistung nach den Grundsätzen der Eltern zu verwöhnend gewesen wäre. Die Freude der Kinder bei der Mitteilung, daß man sie auf solche Weise mit gutem Gewissen mitnehmen könne, war so überwältigend, daß dadurch diese ganze, aus trauriger Ursache unternommene Reise einen fröhlichen Charakter bekam.Zunächst wurde noch ein vierwöchentlicher Kuraufenthalt in Stuttgart genommen, wo damals für Brustkranke eine Anstalt zum Gebrauche komprimierter Luft bestand. Ein Erfolg war wohl nicht zu verzeichnen, aber angenehm wurde der Aufenthalt durch den Verkehr mit dem Bruder, Professor Heinrich Kraz und seiner Familie, auch Kolomann Pfaff lebte in Stuttgart als Professor der Mathematik und das Zusammensein mit diesen Brüdern war eine besondere Freude vor dem Antritt einer Reise, die so weit ab von allen Lieben führen sollte. Im November ging die Fahrt über Genf, Lyon, Marseille, Toulon nach Cannes.Frau Brater, die bei diesem Unternehmen nur an ihren Mann und dessen Erholung gedacht und über allem, was vor der Reise zu besorgen war, sich selbst vergessen hatte, war von einem unerwarteten Glücksgefühl überrascht bei dem Anblick des Meeres und der herrlichen südlichen Landschaft, in der nun für einen ganzen Winter ihr Aufenthaltsort sein sollte. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß ihnen ungesucht aus dem Traurigen eine Freude erwachsen war,und weit entfernt, sich dieser zu verschließen, genoß sie mit Wonne das Schöne, öffnete auch ihren Kindern die Augen dafür und beglückte dadurch ihren Mann, dem es schon oft schwer geworden war, daß durch sein Leiden ein Schatten in die Familie fiel.Auch die häuslichen Verhältnisse gestalteten sich angenehm. Dicht an dem evangelischen Kirchlein stand das Haus, dessen unteren Stock sie bewohnten und das in allen Stockwerken für Fremde eingerichtet war. Franzosen, Spanier und Engländer waren die Mitbewohner, die nun manchmal neugierig und staunend an der Parterrewohnung vorübergingen und in die offene Küche einen Blick warfen, wo die deutsche Hausfrau und ihre Töchter an der Arbeit waren. Zuerst glaubten sie wohl nicht, daß es Leute ihres Bildungsstandes sein könnten, aber allmählich wurde ihnen bekannt, daß der Herr ein Gelehrter mit dem Doktortitel sei. (Brater war kurz vorher zum Ehrendoktor der Universität Heidelberg ernannt worden.) So lernten sie deutsche Art kennen und auch hochschätzen. Und wie gerne wirtschafteten Mutter und Töchter zusammen, wie viel Neues war zu sehen, wenn sie ausgingen, um Küchenvorräte heimzuholen! Auf dem Markte standen die Metzger, um zahllose Hammelschlegel zu verkaufen, wunderliches Seegetier lag in Körben, die Gemüse waren auf dem Boden ausgebreitet. Stände mit Parfümeriewaren, Vanille und Porzellanknöpfen fehlten an keinem Markttage. Zwischen den Verkäufern trieben sich Kinder umher, bissen mit Lust in die ungeschälten Orangen, in die rohen Zwiebeln und begleiteten mit ausdrucksvollen Gebärden das Patois, das sie mit südlicher Lebhaftigkeit sprachen.In den Kaufläden konnten die Fremden französische Höflichkeit kennen lernen. So einmal, als eines der jungen Mädchen, die sich noch gar nicht als Fräulein fühlten, in ein Geschäft trat und Sago zu kaufen verlangte. Man gab ihr Bescheid, daß Sago nicht in diesem Laden, jedoch in der Nähe zu haben sei, aber sie selbst durfte sich nicht bemühen, rasch wurde ein Junge danach geschickt, der»Mamichella« (Mademoiselle)einstweilen ein Stuhl – auf die Straße gestellt, da konnte sie Platz nehmen, bis das Gewünschte zu ihr kam!Der Heimweg von solchem Ausgang führte eine Strecke weit am Meeresufer hin, das bei starkem Winde mächtig an den Steinwall brandete, der die Straße schützte. Am fernen Horizont war an solchen Tagen eine auffallende Erscheinung zu sehen: wie Berge, die aufstiegen und wieder abfielen – es waren die mächtigen Wogen der offenen See. »Bei uns ist’s so schön und herrlich« schreibt Pauline, »daß ich jeden Tag meine Freude habe, ja wären wir Menschenkinder imstande, nur der Gegenwart zu leben, so würde mir kaum etwas zu wünschen übrig bleiben, aber wir können uns eben nicht enthalten, vorwärts zu blicken!«In den ersten Wochen überwog die Freude an dem Schönen, als sich aber gegen Weihnachten noch keine Spur einer Besserung zeigen wollte, klang Leid und Sorge in jedem Brief und dieser Klang wäre vielleicht noch stärker hervorgetreten, hätte Pauline nicht die drückende Mutlosigkeit vor ihrem Manne verbergen wollen. Wie sehr sie in dieser Stimmung empfänglich war für treue, teilnehmende Worte aus der Heimat, geht aus dem nachstehenden Brief an E. Rohmer hervor.Lieber Ernst!Dein langer Brief, in der vielbeschäftigten Weihnachtszeit geschrieben, ist mit voller Anerkennung und großer Freude empfangen worden, und da es bis zum letzten Augenblick den Anschein hatte, als sollte Euer Gruß der einzige Weihnachtsgruß aus der Heimat sein, entstand namentlich in der Phantasie meiner Kinder nach und nach eine förmliche Glorie um die Treue Deines Freundeshauptes, und als dann während der Bescherung noch zwei Briefe von den untreuen Erlangern einliefen, so wurde keine Absolution erteilt, denn es sei ein Leichtsinn, hieß es, so bis zum letzten Augenblick zu warten, und der Onkel Ernst sei eben immer der einzige Mensch, auf den man sich verlassen könne... Daß Dir unsere Briefe einen guten Eindruck betreffs der Gegend und des Klimas machen, ist ganz recht, wir schreiben natürlich ganz wahrheitsgetreu und hoffen nun auch, daß Du unserm Plan zustimmen und mit Deiner Gattin für den Monat April hierher kommen wirst. Dieser Plan ist nämlich bei uns bereits zum Beschluß erhoben, da wir überzeugt sind, daß Du gar nichts Gescheiteres tun kannst, der April ist bei Euch noch so recht der Monat für Zahnweh und Rheumatismen, während man hier Sommer haben wird; dazu ist die Reise an sich schon ein Vergnügen. Die Ausgabe ist nicht so groß, für 80 fl. à Person kommst Du bequem hierher, wir haben mit dritter Klasse u. dergl. à Person 54 fl. gebraucht. Hier finde ich Euch um diese Zeit gewiß ein erwünschtes Quartier und meine Mädchen haben bis dorthin sicher so viel Fortschritte in der Kochkunst gemacht, daß ich Euch mit gutem Gewissen an unsereTafel laden kann. Also wenn Du in den nächsten Tagen Deinen Etat für das Jahr 67 machst, so hast Du ein paar hundert Gulden für eine Reise nach Cannes anzusetzen. Ein paar hübsche Ausflüge haben wir schon auf Euere Ankunft verschoben, nämlich eine Wasserfahrt nach der eine kleine Stunde entfernten Insel Marguerite, wo es wunderschön sein soll und wo seinerzeit der Mann mit der eisernen Maske residierte, und dann eine Fahrt zu Wagen auf das Kap Roux hinaus. Eine neue Zierde unserer Gegend haben wir inzwischen auf einer nahen Anhöhe entdeckt, nämlich eine ansehnliche Kette der schneebedeckten Seealpen, es sind mächtige Bergspitzen, die zum Teil 13000 Fuß erreichen. Also komm und siehe, denn Du kannst Dir eine solche Natur nicht vorstellen, die beständig im Sonntagsgewand einhergeht, und wenn ich zehn Jahre jünger und alles gesund wäre, ich glaube, ich würde den ganzen Tag nichts tun, als singen und Juhe schreien ...Unsere Feiertage sind uns recht vergnüglich vergangen, etwas ruhiger als bei Euch, das ist gewiß, es wollte mir fast komisch erscheinen, als ich für meine zwei alten Kinder einen Baum bestellte, aber es rentierte sich doch, und sie freuten sich daran wie echte Kinder und waren sehr stolz über die Bewunderung, die er bei unsern Französinnen erregte... Was die Heilwirkung der hiesigen Luft betrifft, so können wir leider noch immer nicht viel Gutes sagen, es ist mir unfaßlich, daß meines Mannes Husten nicht nachläßt, ich hatte gedacht, daß bei dieser Lebensweise in einem Zeitraum von etwa acht Wochen doch schon eine kleine Besserung eintreten würde, es ist bis jetzt abernoch nichts zu bemerken, indes hoffe ich um so zuversichtlicher, daß sich die Besserung vorbereitet und dann dauerhaft zum Vorschein kommt. Karls gutes Aussehen deutet gewiß eine solche Vorbereitung an.Nun noch meine besten Grüße an Dein ganzes Haus ... in treuer Liebe EuerePauline.Es findet sich von Braters Hand noch die Randbemerkung: »Gestern hat sich die Juchheschreierin über dem Schleppkleid einer kreolischen Hausgenossin, die bei ihr zum Besuch war, den Fuß vertreten und muß jetzt das Zimmer hüten!« Ein schönes Zeichen seines Optimismus bietet der Schluß seines eigenen Briefs, geschäftlichen und politischen Inhaltes: »Gott befohlen für das neue Jahr. Es geht in der Welt mit Ach und Krach, dochimmer und immer vorwärts!«Was Frau Brater von dem Aufenthalt in dem französischen, katholischen Luftkurort am wenigsten erwartet hätte, das wurde ihr und noch mehr ihren Kindern ganz ungesucht zuteil: eine religiöse Anregung. Die Hausbesitzerin, eine ältere Dame, und ihre nächsten Freunde gehörten der evangelischen Kirche, der»église libre«an. Sie kamen ihren protestantischen Mietsleuten als Glaubensgenossen freundlich entgegen und auf diesem Grund entstand bald eine wahre Freundschaft. Die kleine Gemeinde in Cannes hatte jenes warme Gefühl der Zusammengehörigkeit, das man immer dort trifft, wo es gilt, durch Einigkeit stark genug zu werden, um den von allen Seiten andrängenden Feindseligkeiten der übermächtigen Majoritätskirche zu widerstehen.Der sonntägliche Gottesdienst, dem jegliches Gepränge fehlte, hatte trotz oder wegen seiner Nüchternheit etwas ergreifend Ernstes und Wahres. Ohne Talar, im gewohnten schwarzen Rock, trat der Geistliche an den Tisch, der den Altar ersetzte und seiner klaren, schlichten Rede folgte jeder Zuhörer gespannt und aufmerksam. Nichts dröhnte salbungsvoll oder pathetisch über die Häupter hinweg, die Redeweise unterschied sich kaum von der des täglichen Verkehrs, es kam auch wohl vor, daß der Geistliche eine Zwischenbemerkung machte, wie etwa: »bitte die Türe zu schließen, es zieht,« daß er am Schluß der Predigt einige Bekannte aufforderte, mit ihm zu Mittag zu essen. So menschlich nahe war Frau Brater und ihren Kindern noch nie die Kirche getreten und so deutlich wie an den Gliedern der kleinen Gemeinde hatten sie nirgends sonst den vertiefenden Einfluß warmer, religiöser Überzeugung empfunden. Brater freute sich der Anregung, welche die Seinigen von diesen trefflichen Menschen empfingen, wenn ihm persönlich auch der Umgang mit ihnen durch seine geringere Kenntnis der französischen Sprache nicht möglich war. So weit ihn nicht die Kur in Anspruch nahm, führte er sein stilles Leben am Schreibtisch, versorgte aus der Ferne die politische Wochenschrift mit Beiträgen, die Redaktion des Staatswörterbuchs mit Korrekturen und lebte im Geist in seinem Vaterland.So wäre alles recht, ja über Erwarten schön gewesen, wenn nur die Hauptsache, die Besserung des Leidens, der Erfolg der Kur nicht ausgeblieben wäre. Sechs Monate waren für den Aufenthalt in Aussicht genommen, nach Verlauf von vier Monaten schreibt Frau Brater an ihre Schwägerin:Liebe Julie!Wir haben einen raschen Entschluß gefaßt und die Umstände bringen ihn zu rascher Ausführung: ich zeige Dir an, daß wir im Begriffe sind, Cannes zu verlassen und darnach trachten, in Gries bei Botzen ein Unterkommen zu finden. Die Besserung in Karls Befinden war nur eine scheinbare und es hat sich gleich darauf (ohneVeranlassung) eine dauernde Verschlimmerung eingestellt, die zwar nicht über die früheren Zustände hinausgeht, aber eben doch unerwünscht ist, so läßt mir die Befürchtung, daß für Karl ein Seeklima ungünstig ist, keine Ruhe mehr, ich habe Dir das ja schon früher einmal gesagt und Du bist am Ende über diese Neuigkeit des Übersiedelns weniger überrascht als wir selbst. Dazu kommt, daß der März hier wegen seiner Winde ein schlechter Monat ist und wenn es uns in Gries nach Wunsch gelingt, denken wir einen guten Tausch zu machen und hoffen, bei der jetzigen vorgerückten Jahreszeit keinesfalls zu verlieren. Ich habe unvermutet schnell die Wohnung angebracht und wir hoffen, die Sache mit unbedeutenden Opfern durchzubringen, doch sind wir Frauensleute alle in Tränen dagestanden, als wir den Kontrakt der Abmietung unterzeichneten. Mir tut das Herz weh den ganzen Tag und Anna hat immer die Augen voll Wasser. Das Leben hier hat uns viel Freude gebracht und wir verlassen treue Freunde, die wir wohl nie wieder sehen werden. Wir haben uns heimisch und wohl geborgen gefühlt und werden nun am Samstag schon aus unserem warmen Nest hinausgetrieben, ohne uns schon in Gedanken am zukünftigenerfreuen zu können... Wir haben eine schöne Reise vor uns, der Riviera entlang bis Genua, leider etwas teuer wegen der mangelnden Eisenbahn.Wiewir die Reise machen werden, wissen wir selbst noch nicht, ich habe die hübsche Mission, morgen nach Nice zu fahren, um wegen der verschiedenenDiligencenu. dergl. Erkundigungen einzuholen, ein gutes Stück Arbeit bei meiner Sprachfertigkeit, es ist mir nicht recht wohl bei dieser Angelegenheit.«Die Verwandten und Freunde in der Heimat mochten es leicht verstehen, wenn Pauline nicht ohne Wehmut von der herrlichen Gegend, von dem Meere schied, das je wieder zu sehen sie kaum hoffte, aber daß der Abschied von solch neuen Bekannten, überdies französischer Nation, ihr und den Töchtern wirklich schwer wurde und überhaupt in Betracht kam, gegenüber dem Wiedersehen der alten, treuen Bekannten, dies konnten sie sich wohl schwer erklären, wenn sie nicht wußten, daß ein starker Einfluß ausgegangen war von den religiösen Naturen dieser kleinen Menschengruppe in Cannes und nicht selbst schon erfahren hatten, wie sehr der Mensch an diejenigen anhänglich ist, die sein Wesen irgendwie gefördert und bereichert haben. Schmerzlich war es unter allen Umständen, den Ort zu verlassen ohne jegliche günstige Wirkung der Kur. Aber in diesen Jahren bewährte sich das Wort: »Geteiltes Leid ist halbes Leid« gar sehr bei diesem Paar. Wollte einem von beiden der Mut sinken, so half das andere mit dem seinigen aus, und indem der Leidende jede Klage aus Liebe für die Mitleidende unterdrückte, hielt er sich selbst seine Trösterin frisch und anregend.Die Reise in der kaiserlichenmessagerie, d. h. in vier-, streckenweise sechsspänniger Post auf der herrlichen, längs des Meerufers sich hinziehenden Straße über Mentone, Nizza, San Remo bis Genua war ein großer Genuß, wenn auch mit Anstrengung erkauft, denn die Fahrt ging auch bei Nacht ohne Unterbrechung weiter. Frau Brater schreibt von Bozen aus an Ernst Rohmer:»... Unsere Reise war vom Wetter begünstigt, K. hat sie glücklich zurück gelegt und wir freuen uns alle von Herzen, wieder im deutschen Vaterland zu sein, obwohl es vorderhand nur Österreich ist..... Unser Weg war Nizza, Genua, Mailand, Verona und dann vollends das Etschtal herauf; durch und durch interessant und schön, namentlich der erste Teil Nice–San Remo findet seinesgleichen selten, wir werden diese Herrlichkeit unser Lebtag nicht vergessen, das müßt Ihr sehen. – Nun sind wir in Bozen installiert und führen unsern Haushalt in einer großen, billigen Wohnung, mit aller Bequemlichkeit; daß wir vorderhand von unserm neuen Aufenthalt nicht sehr entzückt sind, ist kein Wunder, hier ist noch alles kahl, kaum einige blühende Bäume, und das Meer – wann werde ich das einmal wiedersehen, mir tut das Herz weh, wenn ich daran denke! Übrigens bin ich überzeugt, daß wir wohlgetan haben, und Karl fühlt sich hier behaglicher; Gott gebe, daß wir auch einmal von einer Besserung zu berichten haben!«Die Überlegungen und den Entschluß, ob Cannes zu verlassen und Bozen zu wählen sei, hatte Brater in der Hauptsache seiner Frau überlassen. Er selbst war wenig medizinisch veranlagt und traute ihr in diesen Dingenmehr zu als sich, auch beobachtete und verglich sie sein Befinden genauer, als er selbst es tat. Seine Gewohnheit, nicht viel an die eigene Person zu denken, aber doch gewissenhaft zu befolgen, was ihm die Ärzte verordneten, machten ihn zu einem Patienten, wie man sie selten trifft. Er behandelte seine eigene Krankheit so objektiv wie die eines anderen Menschen. War alles befolgt, was die Kur ihm vorschrieb, so hatte er auch weiter keine Gedanken mehr für sein Leiden übrig, es mochte dann gehen wie es wollte, sein ganzes Interesse wandte sich der Arbeit zu.Von Bozen aus unternahm Brater mit den Seinigen einmal einen Ausflug nach Meran. Auf dem dortigen Kirchhof war Braters Vater begraben. Als ein neunundvierzigjähriger Mann hatte er, lungenleidend, zu seiner Erholung ein bis zwei Jahre in Meran zugebracht und war dort seinem Leiden erlegen. In ernsten Gedanken stand nun der Sohn am Grabe des Vaters, fast im gleichen Alter, als dieser gewesen, an der gleichen Krankheit leidend, mit derselben Erfahrung, daß keine Kur das Übel aufhalten konnte. Es war ein ergreifender Gang! Aber mit großer Selbstbeherrschung wurde jede schmerzliche Erregung, jeder düstere Ausblick in die Zukunft unterdrückt; ergeben in sein Schicksal wandte er seine Schritte bald wieder weg von dem Orte der Trauer, der Stadt zu, deren großartige Naturschönheit er Frau und Kindern zeigen wollte.Auf Mitte Mai war die Heimkehr angesetzt. Er schreibt an Ernst Rohmer, der ihn bald zu sehen verlangte: »Morgen soll nun nach München aufgebrochen werden, wo wir am Donnerstag einzutreffen gedenken, die drei Frostheiligen sind vorüber und es kann, wenn der gute Wille vorhandenist, jetzt auch bei uns eine anständige Witterung eintreten. Der Kontrast gegen Bozen, wo wir seit einiger Zeit abends 10 Uhr 17°Rzu haben pflegen, wird immerhin ziemlich stark sein; kämen wir direkt von Cannes, so wäre es noch stärker und schon deshalb war die hiesige Zwischenstation gewiß zweckmäßig. Im ganzen komme ich, wie schon bemerkt, ziemlich unverändert zurück und es wird sich nun fragen, wie mir die Münchner Lebensart zusagt...... In München dürfen wir also erwarten, Dich bald zu sehen. Ich kann Dir unsere Wohnung nicht angeben, weil sich noch keine gefunden hat und wir uns vermutlich vorerst mit einem Interim behelfen werden. Es ist die schwere Not: ich soll nicht zu kalt und nicht zu warm, nicht hoch und nicht abgelegen, nicht im vorstädtischen Staub und nicht im städtischen Spektakel leben – wie läßt sich das machen?..... Pauline muß von München nach Erlangen gehen, um dort Geschäfte abzutun, es wird also darauf zu sehen sein, daß Ihr Euch in M. nicht verfehlt.«Auf der Heimreise über den Brenner, Mitte Mai, bekamen unsere Reisenden in diesem Jahre den ersten Schnee zu sehen. In München wurden sie von der Schwester Julie empfangen, die einstweilen für ein provisorisches Unterkommen gesorgt hatte. Die Ärzte, die nach langer Abwesenheit ihren Patienten wieder sahen und untersuchten, sprachen von einer wesentlichen Besserung, die sich eingestellt habe. Dem Kranken selber und den Seinigen kam davon allerdings nichts zum Bewußstein, aber dieser ärztliche Ausspruch belebte dennoch die Hoffnung und erweckte neuen Lebensmut, so daß sich auch Brater sofort wieder in den Mittelpunkt der politischen Tätigkeit begab. In derKammer sprach er nur noch selten, seine Stimme war schwach aber noch immer klar und wir lesen in einem Berichte jener Zeit: »Wenn er sprach, so lauschte die ganze Kammer.« Es war auch kein unnötiges Wort in seiner Rede, mußte er doch mit jedem Atemzug haushalten. Wenn er mühsam Stufe für Stufe die Treppe des Ständehauses hinaufstieg, ging jeder still und achtungsvoll grüßend an dem Manne vorbei, von dem alle erkannten, daß er seine letzte Kraft einsetzte. Seine Haupttätigkeit war die im Gesetzgebungsausschuß und diese Arbeit hielt ihn in den folgenden zwei Jahren meist in München fest, wenn auch nötige Erholungspausen ihn zeitenweise aus der Stadt hinaus ins bayerische Gebirg, einmal auch auf die Retraite, einem stillen Landsitz bei Bayreuth, führten. Während dieses Aufenthalts erhielt Frau Brater die Nachricht von dem Tode ihres Bruders Siegfried. Sie schreibt darüber: »Wie oft hatte ich meinem schwer leidenden Bruder ein sanftes Ende gewünscht. Nun ist mein Wunsch erfüllt, sanft und schmerzlos durfte er aus dieser Welt scheiden, aber so sind wir Menschen – die Freude, daß nun dieser schwer Geprüfte von allen Leiden erlöst ist, empfinde ich kaum, ich fühle nur immer und immer wieder den Schmerz des Nimmerwiedersehens....... Mein Siegfried war mir immer ein liebevoller und freundlicher Bruder, so weit ich zurück denke, und wie liebenswürdig und gemütlich war er im Verkehr, es war ein wohltuendes und behagliches Gefühl, sowie er nur ins Zimmer trat; auch meinem Mann war er immer eine liebe Erscheinung. Dies ist nun alles vorbei ..... Wie lieb man seine Geschwister hat, das weißt Du ja aus Deinem eigenen Herzen, sie sind eben das eigene Fleisch und Blut, einsist durch das andere und mit dem anderen das geworden, was es ist, sie sind ein Stück des eigenen Wesens, gemeinsam trägt man die Erinnerung an Jugend und Elternhaus, die auch dem späteren Leben noch Licht und Wärme verleiht und bei niemand baut man so sicher und rückhaltlos auf Treue und Verständnis als eben bei Geschwistern ....«Nach der Rückkehr der Familie Brater vom Land ergab sich ein längerer Aufenthalt in München, den die Eltern der Ausbildung ihrer Töchter zugute kommen ließen. Diese sollten sich auf das Examen in der französischen Sprache vorbereiten, um später Unterricht erteilen zu können. Frau Brater selbst war zwar durchaus keine Freundin von der damals noch ganz neuen Einrichtung, daß Mädchen Examen machen und sich auf einen speziellen Beruf vorbereiten sollten. Aber sie fügte sich dem Rate der beiden Schwägerinnen, denen die Kinder ihre Ausbildung verdankten, und erkannte auch, daß es ihrem Mann eine Beruhigung war, seinen Töchtern eine weitere Existenzmöglichkeit mit ins Leben zu geben. Als Gegengewicht für diese Arbeit und den ohnedies bei dem zunehmenden Leiden des Vaters ernsten Lebenszuschnitt ließ sie die jungen Mädchen auch Tanzstunden nehmen und freute sich, wenn sie dadurch unter fröhliche Jugend kamen. Das französische Examen, das heutzutage fast eine Woche in Anspruch nimmt und zu dem sich in mehreren Städten Bayerns alljährlich weit über hundert Mädchen einfinden, wurde damals nur in München, und zwar am Palmsonntag nachmittag abgehalten und außer unseren zwei Privatschülerinnen nahmen nur einige Mädchen aus dem bekannten Ascherschen Institut teil. Als die kleine Zahl um den Prüfungstisch saß, sahen die prüfenden Herrenlächelnd auf die emsig schreibenden Mädchen und der eine sprach zum andern in dem Gefühl eines noch nicht dagewesenen Erlebnisses: »Welch ein Bild des neunzehnten Jahrhunderts!«Nach einigen Wochen erhielten die Geprüften ihre Zeugnisse, und zwar hatte unseres Wissens jede der Beteiligten die NoteIbekommen. Damals galt es noch, die Mädchen zu ermutigen, daß sie von der neuen Einrichtung Gebrauch machten, nicht sie zu sichten und zu sieben, um sich vor der Überzahl zu schützen.Ein Brief von Frau Brater an Lina Rohmer läßt einen Einblick tun in ihr damaliges Münchner Leben: ».... Ich wollte Dir nur noch sagen, daß ich trotz der Massen von Bekannten und lieben Freunden doch niemand habe, dermeineAnliegen so mit mir teilen und tragen könnte wie Du (d. h. ich sehe ab von meiner Schwägerin, die mir wie eine Schwester ist). Die Menschen sind im Durchschnitt sehr egoistisch und ganz von ihren eigenen Angelegenheiten durchdrungen und manche, die eine Ausnahme machen, haben nicht so das Verständnis für andere. So bin ich hier die Vertraute und Ratgeberin für manche Freundinnen, weil ich selbst schon manches Schwere durchgemacht habe und mich in die Lage der andern versetzen kann, aber was mich auf dem Herzen drückt, das kommt da nie zur Sprache, ich dränge mich nicht auf und fühle mich viel wohler dabei, das, was mein Innerstes bewegt, nur wenigen mitzuteilen. So kommt es nun, daß mich das vielbewegte Leben in München ganz kalt läßt, denn Du weißt ja, wie ich ganz von meinem Mann und Kindern abhänge und nur in ihnen meine Freude habe und kannst Dir somit auch denken,daß mir eine Sorge um sie so nahe geht, daß ich nicht leicht davon sprechen kann. So ist mir meines Mannes Befinden ein steter Kummer, denn wir können uns nicht verhehlen, daß es von Jahr zu Jahr etwas schlimmer wird und zwar in einer Weise, die eben recht peinlich ist; die Atmungsbeschwerden sind recht lästig, es ist ihm jetzt schoneineTreppe eine Schwierigkeit, natürlich entbehrt er unter solchen Umständen alle Körperbewegung und das ist auch nicht gut und so ist er eben in allen Dingen ein Leidender und als Leidender zu pflegen und ohne Hoffnung für die Zukunft, an die wir uns aller Gedanken entschlagen müssen. Du darfst indessen nicht denken, daß es gerade in diesem Augenblick nicht gut gehe, im Gegenteil, mein Mann arbeitet sehr viel, ohne Nachteil, und ist heiter, ja seine gleichmäßige Stimmung und freundliche Teilnahme für alles und alles, was die Seinen angeht, ist mir oft auffallend und ich denke mir oft: am Ende nimmt er sich nur unserthalben so zusammen, damit nicht auch wir darunter leiden sollen, und am Ende leitet ihn auch manchmal der Gedanke, daß man sich Liebes und Gutes erzeigen soll, weil man nicht weiß, wie lange Zeit einem noch dazu vergönnt ist. So leben wir in unserem Hause friedlich und glücklich, die beiden Mädchen ahnungslos und voller Lebenslust und Freude; wer uns oft zusammen lachen und schwätzen hörte, der würde nicht glauben, wie oft ich dagegen im stillen weine; oft mache ich mir auch Vorwürfe über meine Traurigkeit, dennjetztsteht ja noch alles gut, aber das hilft nichts, daß mein Mann krank ist, fühle ich zu jeder Stunde.«Der Herbst 1869 führte die Familie wieder vorübergehend nach Erlangen und die beiden Töchter blieben auchdort zurück, als der Landtag einberufen wurde, über dessen Dauer man erst näheres erfahren mußte, um zu bestimmen, ob es sich lohne, die eigenen Möbel mitzubringen. Während nun die Mädchen in Erlangen auf nähere Weisung wartend einige Wochen dort blieben, spielten sich in München eigentümliche Landtagssitzungen ab; die neue Kammer konnte sich nicht einigen über die Präsidentenwahl, es ergab sich die gleiche Stimmenzahl für den einen Vorgeschlagenen wie für den andern. Brater, unfähig zu Fuß zu gehen, fuhr täglich ins Ständehaus, wo er mühsam Atem holend die Treppe hinaufstieg, um bei der Präsidentenwahl seine Stimme abzugeben und dann sofort wieder heimzukommen mit der Nachricht: Gleiche Stimmenzahl. So wiederholte sich der Vorgang dreimal, worauf die Kammer als beschlußunfähig aufgelöst und die Neuwahl angeordnet wurde. Die Kinder in Erlangen verfolgten diesen Hergang mit persönlichem Interesse. Ein freundliches Briefchen des Vaters vom 9. Oktober sagte ihnen, sie sollten die verlängerte Wartezeit benützen, um ein Kissen auf der Mutter Stuhl anzufertigen, zum Schmuck der eben gemieteten einfachen Wohnung in der Barerstraße. Zehn Tage später kam ihnen ein Telegramm der Mutter zu, das sie sofort nach München berief, da sich des Vaters Zustand verschlimmert habe. Unverzüglich reisten die Kinder ab, kamen in später Abendstunde an, und noch ehe der Morgen des 20. Oktober anbrach, hatten sie den Vater verloren.Dritter TeilDie WitweXI.1869–1870Unter Frau Braters Papieren findet sich ein kleines Heft, welches ihre Aufzeichnungen über die letzten Lebenstage ihres Mannes enthält. Wir entnehmen daraus folgendes:»Am Dienstag den 12. Oktober zogen wir in die mit vieler Mühe aufgefundene Wohnung; Karl freute sich daran, sein Zimmer war groß und hoch.Am Sonntag den 17. sagte er nachmittags beim Kaffee: ›heute habe ich einen schlechten Tag, ich atme gar zu schwer‹, er sah matt aus. Abends war Julie da; als wir uns zu Tische setzten, sagte er: ›es wird besser sein, wenn ich nichts esse, ich bin zu sehr beengt.‹ Er nahm während des Abends Teil an der Unterhaltung wie immer, wenn er auch weniger sprach. Um zehn Uhr, wie gewöhnlich, lag er im Bett und ich sagte ihm wenigstens insofern sorglosguteNacht, als ich nicht zweifelte, daß sie ihm mit Morphium zuteil werden würde. Ich lag im Zimmer daneben. Gegen Morgen rief er mir laut und deutlich: ›Pauline, zieh dich einmal ein wenig an‹, ich erschrak sehr, aber er hatte so sicher und ruhig gesprochen, daß ich nun doch nichts Schlimmes dachte. Als ich zu ihm hineinkam sagte er: ›es ist jetzt halb vier Uhr, ich habe schonzweiPulver genommen und habe keinen Augenblick geschlafen, hilf mir heraus in meinen Stuhl,vielleicht wird mir’s da leichter‹ – sein Atem war unendlich kurz, die Stimme klanglos und in seinen Zügen sah ich, daß er im Todeskampfe war, – ich stand da unter heißen, strömenden Tränen, sagte ihm liebe Worte, aber helfen konnte ich ihm nimmer. Während ich ihn ankleidete, sagte er lächelnd: ›du hast ja immer gesagt, ich soll dich doch rufen, wenn ich etwas brauchen kann, ich habe dir jetzt nur einmal deinen Willen getan.‹Als ich ihn in den Stuhl gebettet hatte, sagte er: ›so jetzt mach, daß du ins Bett kommst, –schlafeund weine nicht in Deinem Bett.‹ Gott weiß, ich habe nicht geschlafen, denn ich wußte nun, daß mir das treueste Herz im Sterben lag, ich sah mein ganzes, unbegrenztes Glück zerbrochen, alles, alles vorbei. Dennoch kämpfte er noch zwei Tage gegen den andringenden Tod, der ihn in der Nacht vom 19. auf den 20. erlöste.«Vom 25. Oktober ist ein Brief datiert, vielleicht der erste, den Frau Brater als Witwe schrieb, er ist an den treuesten Freund ihres Mannes, an Ernst Rohmer gerichtet; denn nicht zu den eigenen Angehörigen fühlt sich ein Trauernder vor allem hingezogen, vielmehr zu dem, der aus freier Freundschaftswahl dem teuern Verstorbenen nahe getreten war. Rohmer hatte nach der Beerdigung an Frau Brater geschrieben: »So ist es also vorüber und das treueste Herz deckt die Erde! Wenn ich daran denke, wie öde und verlassen Du Dich fühlen wirst nach so langer, tiefinnerster Lebensgemeinschaft, so blutet mir das Herz. Erscheint doch schon mir die Zukunft grau und farblos, weil nun ein Riß in mein Dasein erfolgt ist, der nicht mehr zu überbrücken ist! Ist dies persönlich so, so ist es noch viel mehr der Fall,wenn ich an unsere politischen Bestrebungen denke, deren Mittelpunkt und vornehmste Seele er war!.... Ich habe eben einen tief ergriffenen Brief von Stauffenberg erhalten. Er spricht es aus, daß Bayern seinen besten Bürger verloren hat, die Partei ihre Seele.« – Frau Brater antwortete dem Freund:Lieber Ernst!Viele teilnehmende Worte kommen mir von allen Seiten zu, aber vor allem gehen mir die Deinigen zu Herzen und ich weiß ja recht wohl warum, weil sie eben bei Dir am tiefsten aus dem Herzen kommen; so sehnte ich mich die ganze Zeit her darnach, mit Dir ein paar Worte zu sprechen, und jetzt, wo ich den ersten ruhigen Augenblick finde, ist mir’s so hohl und ausgestorben zumute, so abgespannt vom vielen Sprechen und endlosen Wiederholen dessen, wobei einem das Herz blutet und das man zuletzt fast maschinenmäßig hersagt, so daß ich mich nun beinahe besinnen muß auf das, was ich bin und was ich war und was es ist, das mir nur halb begriffen das Herz zusammenschnürt; jeden Morgen stehe ich auf mit der Sehnsucht nach dem Abend, wo ich still und allein an seinem Bett stehen kann, die leeren Kissen im Arm haltend und den Platz mit Küssen bedeckend, wo seine Hände lagen.Wie sehr ich auf diesen letzten Trennungsschmerz vorbereitet gewesen bin, erkenne ich erst jetzt... Wie oft, oft bin ich schon unter heißen Tränen im Bett gelegen, wenn ich dem Ruhelosen und Gequälten »Gute Nacht« gesagt hatte und doch so gut wußte, daß sie ihm nicht zuteil werdenwürde! Darum hat sich auch mir das Bild, das sonst der Inbegriff alles Schmerzes ist, das Bild des Toten im Sarge, das hat sich mir eingeprägt als Trost und Erlösung und wenn mich der Schmerz übermannen will, so vergegenwärtige ich mir dies Bild, wie er so ruhigliegenkonnte, zum erstenmal wieder nach langen, schweren Monaten und wie die müde Brust ausruhte vom Kampf gegen den eindringenden Tod. Ja,seineRuhe ist mein einziger Trost und das Andenken an ihn meine einzige Freude; ich wußte, wie glücklich ich war, wir wußten es ja beide, wir haben es uns oft ausgesprochen, und eben darum werde ich ihn nie entbehren lernen, weil wir so ganz einig waren bis ins innerste Herz hinein.Daß ihm der letzte Trennungsschmerz erspart war, mochte auch ich ihm wohl gönnen, aber mir fiel es gar zu schwer und doch mochte ich ihm meine Gedanken nicht offenbaren. Mit welch wunderbarer Kraft er die letzten schweren Tage durchgekämpft hat, wird Dir berichtet worden sein, diese Kraft des Geistes, die sich vom Körper nicht fesseln ließ, täuschte auch mich bis zum letzten Augenblick. Es war in dieser langen Leidenszeit keine Klage und bis zum letzten Atemzug kein Seufzer über seine Lippen gekommen und noch im letzten Augenblick, wo er husten mußte und doch die Kraft nimmer da war, tröstete er mich, »es geht schon nach und nach«, dann sank er aufs Kissen zurück, richtete den Blick in die Höhe und ich sah, daß der Geist im Scheiden war – kaum konnte ich noch die armen Kinder herbeirufen.Die Ankunft der Kinder hatte ihm noch das letzte Lächeln abgelockt und noch einmal blickten die Augentreu und seelenvoll. Ob er die Pein der letzten Stunden empfunden hat, weiß ich nicht, das Morphium verfehlte seine betäubende Wirkung nicht; als ich um zwölf Uhr einmal an seinem Bett stand, sagte er: »ich glaube ich habe geschlafen«, dann hieß er mich ins Bett gehen, weil er immer darum besorgt war, daß man sich keine Mühe um ihn mache, ich ging, verwendete aber kein Auge von ihm; um zwei Uhr war ich wieder an seinem Bett .... ich gab ihm noch warmen Wein (die letzte Flasche Steinwein von Dir) und bis zehn Minuten vor seinem Tode ahnten wir denselben nicht; er hatte noch nach der Uhr gefragt, sein Ende war ein langsames Aufhören der mühevollen Atemzüge, ich horchte noch lange und immer wieder, ob es der letzte gewesen sei, aber auch das Herz stand still, das in den letzten Tagen so stark und unruhig geklopft hatte.Daß die kranke Lunge nicht dienächsteUrsache des Todes war, hat sich bei der Sektion gezeigt, es war das miterkrankte Herz, Du wirst ja den Bericht erfahren haben; nun können wir uns »die Unruhe in der Brust« erklären, von der er so oft sprach, noch am letzten Abend legte er meine Hand auf seine Brust und sagte: »da fühle, wie es da klopft«.... Man hat mir schon von mehreren Seiten freundliche Anerbietungen gemacht und ich weiß, daß mein Mann treue Freunde hat, die seine Frau nicht in Not kommen lassen würden, aber mein Mann hat selbst der Not vorgebeugt und es käme mir wie bitterer Undank vor, wenn ich mir nicht damit genügen lassen wollte ...... Nimmermehr möchte ich im Wohlstand leben, nachdemwir zusammen gesorgt und gespart und uns manches versagt haben, aber doch, ich kann es sagen,niemit bekümmertem Herzen, es hat diese Sorge dem Glück unseres Lebens keinen Eintrag getan ...Die Freunde ließen es sich dennoch nicht nehmen, ihre edle Gesinnung für den Verstorbenen seinen Kindern gegenüber zu betätigen. »Am Mittwoch übersiedle ich zu Julie in die Schommergasse« schreibt Frau Brater, »bis dahin steht der Arbeitstisch meines Mannes unberührt, dann gibt’s einen schweren Abschied!«In einem Album, das Bilder all der Orte enthält, die für Frau Braters Leben bedeutungsvoll waren, ist auch ein Blatt, das den Münchener Kirchhof zeigt. Daneben steht der Vers:In stiller Nacht ist er von Dir geschieden,der Deine Liebe war, Dein Stolz, Dein Glück.Du fragst: was kann das Leben mir noch bieten,was soll ich noch, da er mich einsam ließ zurück?Das hellste Licht zeigt auch den dunkeln Schatten,dem größten Glück folgt tiefste Traurigkeit.Wo zwei so innig sich verwachsen hatten,da ist die Trennung schier ein unerträglich Leid.Ja, schier unerträglich erschien ihr der Gedanke an eine Trennung für Lebenszeit. Wußte sie doch, wie schwer sie an jeder vorübergehenden Trennung getragen hatte, trotz der Aussicht auf baldiges Wiedersehen, und nun sollte dieser Zustand dauern, immerzu dauern, eine Trauer ohne Ende dünkte ihr das vor ihr liegende Leben. Sie hatte völlig verlernt, sich allein für etwas zu interessieren, sich ohne ihn zufreuen. Wenn teilnehmende Menschen sie auf die Kinder hinwiesen, die sie noch besaß, die mit ganzer Liebe an ihr hingen, so wies sie auch diesen Trost ab, auch die Freude an den Kindern schien ihr unmöglich, wenn sie nicht vom Gatten geteilt wurde. Wohl beherrschte sie äußerlich ihren Schmerz, aber innerlich beugte sie sich nicht unter ihn. Stille Ergebung lag nicht in ihrer Natur, vielmehr war sie gewöhnt, anzukämpfen gegen das Übel; in allen schweren Lebenslagen, in den knappen Verhältnissen, im Unbehagen des Wanderlebens, in den Krankheitszuständen ihres Mannes, immer war sie mit geschärften Geisteskräften und mit praktischer Tätigkeit auf Abhilfe, Verbesserung, Erleichterung bedacht gewesen, hatte sich um so tapferer gewehrt, je größer das Übel war. Aber hier kam ein Leid, dem nicht beizukommen war, es ließ sich nicht umbiegen, nicht wenden, daß eine gute Seite herauskäme, es lockte nicht ihren Tätigkeitstrieb, sondern hemmte ihn vielmehr, es reizte nicht ihre Widerstandskraft, nein es lähmte sie.In dieser trostlosen Verfassung kam ihr ein Brief ihres Bruders Hans zu. Er, der ähnlichen Schmerz erfahren hatte, empfand die wärmste Teilnahme für sie und er wußte auch, daß seine Schwester nicht in Untätigkeit Trost finden würde. Er bat sie zu kommen, für immer die beiden halbverwaisten Haushaltungen zu vereinigen und ihn dadurch so glücklich zu machen, wie er es nie mehr gehofft hatte zu werden. Aber ihre Antwort war ein »Nein«, ein schmerzlicher Aufschrei »ich kann nicht, wenigstens jetzt noch nicht, gönne mir Zeit, mich zu fassen«. Es tat ihr weh, dem Bruder das zu schreiben, aber sie lag zu tief darnieder,um sich so schnell aufraffen zu können. Sie blieb den Winter in München bei ihrer Schwägerin Julie, die dort wohnte und die drei betrübten Gäste bei sich aufnahm. Sie führten gemeinsame Wirtschaft, die Mädchen besorgten die Küche und lernten noch weiter, die Tante gab französischen Unterricht und Frau Brater saß in ihrem kleinen Zimmer und durchlebte in den stillen Wintertagen und vielen schlaflosen Nächten die tiefste Trübsal. Nur das konnte ihr Interesse erwecken, was mit ihrem Manne zusammenhing, und bezeichnend ist für sie, wie sich in ihren Briefen die alte Frische und Tatkraft zeigte, wenn sie in ihres Mannes Geist und an seinem Werk arbeiten konnte. In den letzten Jahren war ihnen beiden ein früherer Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung persönlich näher getreten,Dr.Nagel, der ähnlich wie Brater keine feste Anstellung hatte und später als Verfasser eines tief durchdachten religiösen Buches bekannt geworden ist. Über diesen gemeinsamen Bekannten schreibt sie an Rohmer: »Ich lege Dir einen Brief von Nagel bei, wegen dessen was er über seine Angelegenheiten schreibt; mir scheint, es wäre jetzt vielleicht der Augenblick gekommen, wo man diese tüchtige Kraft für Bayern wieder gewinnen könnte; Du weißt, er hat weiland in der Süddeutschen Zeitung Artikel geschrieben, von denen Karl sagte, daß er sie ohne weiteres für seine eigenen erklären könnte, und Karl hat auch mehrfach geäußert, wie erwünscht es ihm schiene, wenn Nagel zu haben wäre. Aber welche Stellung und Aufgabe könnte man ihm denn zuweisen? Die Wochenschrift? oder wäre an der Süddeutschen Presse ein Wirkungskreis? – Überlege Dir’s doch und schmiede das Eisen so lange es warm ist; Nagels religiöser Standpunkt ist gewißkein Hindernis, war er’s doch auch nicht bei Hofmann[8], und überhaupt, wenn die Bestrebungen einer Partei nicht die Probe der Religion Jesu aushalten, so sind sie gewiß irrig, wenigstens nach meinem schwachen weiblichen Urteil; an meines Mannes Reden und Handeln hat man diese Probe jederzeit anlegen können... Nagel hat immer ein schneidiges Wort geführt. Mich hat sein Brief in eine förmliche Aufregung versetzt, weil ich überzeugt bin, Karl würde Nagel festnehmen.«[8]Professor der Theologie in Erlangen, Mitglied der Fortschrittspartei in Bayern.Manches erhebende, tröstende Wort durfte die Witwe lesen, in Briefen, welche die Freunde des Verstorbenen an sie richteten, in Nekrologen, die nicht nur in Zeitungen Gleichgesinnter, sondern auch in Blättern erschienen, die seine Richtung immer bekämpft hatten und trotzdem seiner Person die Anerkennung nicht versagten. Hatte doch schon das ehrenvolle Trauergeleite zur letzten Ruhestätte gezeigt, wie sich dieser viel angefeindete Mann durchgerungen und zur Geltung gebracht hatte. Wer hätte zehn Jahre früher für möglich gehalten, daß die königlichen Staatsminister teilnehmen würden an seinem Leichenbegängnis! Er hatte seine Grundsätze nicht verleugnet und sich nicht gebeugt vor den Mächtigen, aber die gute Sache, der er mit Hingebung gedient hatte, die war es, die ihn mit in die Höhe gehoben hatte.Worte wie die folgenden mußten der Witwe wohltun, wenngleich auch die Anerkennung nach dem Tode etwas unendlich Wehmütiges für die Hinterbliebenen hat.Prof.Dr.Ad.Wagnerschrieb ihr: »... Ihnen muß es Stolz und Freude sein zu sehen, wie allgemein der Verlust Ihres Gemahls als ein schwerer für die Partei, für das Vaterland empfunden wird. Möge auch über seinen Tod hinaus sein Wirken von Einfluß bleiben und Früchte für Deutschland tragen, das wird ihm das schönste Denkmal sein...«Nagelschrieb: »... Wohl wissen Alle, daß wir an ihm eine staatsmännische Intelligenz ersten Ranges, ein unersetzliches Führertalent an ihm verloren haben. Den meisten ist es nicht minder bekannt, daß in diesem schwächlichen Körper – zum leuchtenden Zeugnis für die Herrschaft des Willens, der moralischen Kraft über die Materie – ein stählener Charakter, ein Mann im vollen und ganzen Sinne des Wortes, in der Tat und Wahrheit eine Römerseele gewohnt hat; aber nur wir, die wir das Glück seines persönlichen Umgangs genossen, haben auch seine allgemein menschliche Seite, das Edle, Zarte, Reine seines Wesens vollkommen schätzen und lieben lernen können. Auchdaskonnten nur die näheren Bekannten völlig erkennen, wie bei ihm die Sache Alles, das Persönliche Nichts war; wie der Gedanke an das Ganze, die Hingabe an Staat und Vaterland ihn so völlig beherrschte und erfüllte, daß es einfach nicht möglich war, irgend ein persönliches Interesse, sei es auch noch so feiner und versteckter Art, sei es auch nur ganz unbewußt im Hintergrunde des Denkens und Wollens liegend, bei ihm vorauszusetzen. Diese reine und unbedingte Sachlichkeit war unter allen seinen seltenen Eigenschaften vielleicht die seltenste ...«Prof. H.Baumgarten: »... Ich verfolge nun seit mehr als zwanzig Jahren die schweren Kämpfe unseresVolkes, um ein gesundes Dasein wieder zu gewinnen, ich habe im Süden und Norden einen großen Teil der Männer kennen gelernt, welche an dieser Arbeit einen hervorragenden Anteil genommen haben. Wenn ich aber sagen sollte, wer von allen diesen Männern einer großen Sache am reinsten, uneigennützigsten, unverdrossensten mit schwachem Leib und in bewegten Verhältnissen gedient habe, so würde ich keinen Augenblick anstehen zu erklären: Karl Brater... Ein so edles Leben so lange mit so ganzer Hingebung begleitet und mit voller Liebe gestützt zu haben, wie Sie getan, das ist ein schönes, beneidenswertes Los, und wie groß Ihr Schmerz sein muß, daß Sie nun von einem so guten und lieben Menschen getrennt sind,Sie sind doch unendlich viel glücklicher als Millionen, die heiter ein inhaltsleeres Leben führen. Wer so vom Leben gebildet worden ist wie Sie, der wird nicht klagen...«»Sie sind unendlich viel glücklicher als Millionen?« ... In den Tagen, da sie diesen Brief erhielt, konnte Frau Brater dies nicht fassen, nicht zugeben, ihr ganzes Herz widersprach dem: Nein, nein, unter Millionen ist keine sounglücklichwie ich! Dies war der Schrei ihres Herzens. Aber Baumgarten hatte doch recht und wußte, was er sagte. Nicht nur die Erinnerung an das schönste Lebensglück meinte er, die ja ein unverlierbarer Schatz ist, nicht nur an die Schar treuer Freunde dachte er, die ihr und ihren Kindern zur Seite standen; ihm schwebte die höchste Errungenschaft vor, die sie aus diesem Bunde mit dem edeln Manne in sich trug, die Verwandlung ihres eigenen Wesens, die Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Hoch war sie durch ihn erhoben worden über alles Kleinliche, Selbstsüchtige,Unwahre, für das Große und Gute hatte er ihr Herz und Sinn erschlossen und dieses inneren Reichtums wegen war sie wohl glücklich zu preisen, auch jetzt, in der Stunde der Trauer. Und sie versank auch nicht in dem unendlichen Leid. Sie suchte nach dem, was sie darüber erheben konnte. In einem Brief an Rohmer preist sie alle diejenigen glücklich, die fest durchdrungen sind von dem Glauben an ein Wiedersehen im Jenseits und wünscht sehnlich, auch zu diesen zu gehören, da sie so viel Trost entbehre durch den Mangel an festem Glauben. »Aber ganz ohne Hoffnung bin ich nicht«, schließt sie diese Betrachtungen.In dieser Stimmung kam ihr einer der Freunde zu Hilfe, der, selbst eine tiefreligiöse Natur und von lebendigem Glauben erfüllt, für Suchende und Schwankende einen Halt bieten konnte; es war Nagel. Gleich in seinem ersten Brief nach Braters Tod berührte er die Frage, welche, wie er ahnte, die Frau seines Freundes jetzt am tiefsten bewegen mußte.Er schrieb: »Ich weiß nicht, ob Sie geneigt sind, die einzigen echten und wahren Trostgründe, die einzigen, welche das Menschenherz wirklich versöhnen können mit den Leiden und Schrecken des Daseins, ja selbst mit der furchtbaren Tatsache des Todes – ob Sie diese Gründe gelten lassen, unsere Anschauungen hierüber gehen ja wohl auseinander, doch vielleicht sind auch Sie von dem endlichen Wiedersehen überzeugt – was auch alles die bettelstolze Schulweisheit unserer Tage vorbringen möge, um den Menschen auch um diese Hoffnung ärmer zu machen. Und doch können wir diese Hoffnung zu unzweifelhafter Gewißheit erheben – wenn wir nämlichwollen.«Diese Ansicht – wirkönnenglauben, wenn wirwollen–, der Einfluß des Willens auf die Überzeugung, auf Glauben oder Unglauben, war Nagels tiefe Überzeugung und stand auch im Mittelpunkte seines später erschienenen Buches: »Der christliche Glaube und die menschliche Freiheit«. Diesem von warmer Überzeugung beseelten Manne sprach Frau Brater alle ihre Zweifel und religiösen Kämpfe aus und seine Briefe, sowie später seine Schriften gewannen für ihr Leben Bedeutung und warfen ein Licht in die dunkle Trauerzeit dieses ersten Winters, den sie als Witwe erlebte. Nach verzweiflungsvollem Ringen mit ihrem tiefen Schmerz raffte sie ihre Kraft zusammen, um den Kampf mit dem Leben, der ihr an der Seite des geliebten Mannes so leicht geworden war, nun allein weiter zu führen. Sie schrieb an ihren Bruder, daß sie seinem Rufe folgen und im März zu ihm kommen wolle.Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sie noch zusammen mit der Schwägerin, die ihre Trauer teilte, und mit den Töchtern dem Andenken des Verstorbenen leben, und ergreifend ist es zu lesen, wie sie noch mit lebhafter Empfindung die politischen Kämpfe der Partei verfolgt, zu deren Führern Brater gehört hatte. Sie schreibt an Rohmer: »Daß die Adreßdebatte nun zum Schluß gekommen, ist gar nicht mir zu wahrer Befriedigung ..... Mir scheint, unsere Leute haben da und dort den Anstand verletzt und sind auf das Niveau der Gegner herabgestiegen, das sie doch so sehr verachteten; natürlich mußte angegriffen, gestritten und das Herz an diesem Ort ausgeschüttet werden, aber kurz und bündig und ohne sich dann weiter in die Balgerei einzulassen, denn daß sie damit etwaserreichenwürden, hatdoch wohl keiner gedacht. Mir ist immer, als wäre es anders gegangen, wenn Karl noch als ›stiller Wächter‹ dabei gestanden wäre, die beiden Parteienmüssenja doch nebeneinander stehen, Karl hätte gewiß den möglichen Standpunkt erkannt und unwiderleglich bezeichnet für diebeidenParteien und die unwürdige Debatte wäre abgeschnitten worden ..... Ich habe den Eindruck, als ob über die Saat, die er ausgestreut hat, bereits ein böser Tau gefallen sei, und ich kann Dir gar nicht sagen, in welchem Maße mich dies schmerzt, es ist mir, als ob sein einziger geliebter Sohn ihm Unehre mache ..... Es wäre mir ein Trost, wenn Du oder andere die Angelegenheit nicht so schlimm aufgefaßt hätten wie ich .....«Allmählich findet sie sich darein, ihren Mann diesen Kämpfen entrückt zu sehen:»Die gegenwärtige Kammertätigkeit steht im grellen Widerspruch mit dem friedlich stillen Bilde, das ich im Herzen trage, und wenn ich diesen Kampfplatz auch noch immer für unser eigenstes Revier halten möchte, so durchdringt mich doch mehr und mehr der Gedanke, daß diese reine Seele nun zu einem höheren und vollkommenern Leben hindurchgedrungen ist.«XII.1870–1875Als Frau Brater im Frühjahr 1870 mit ihren beiden Töchtern nach Erlangen übersiedelte, stand sie im dreiundvierzigsten Lebensjahr. Ihre flinke, bewegliche Art ließ sie eher noch jünger erscheinen, so wie auch ihre frische Gesichtsfarbe auf kräftigere Gesundheit schließen ließ, als sie tatsächlich besaß. Die heitere Umgangsform, die ihr von Natur eigen und in den Jahren tief innerlichen Glückes zur Lebensgewohnheit geworden war, blieb ihr auch in der Trauerzeit treu und so konnte jeder oberflächliche Beobachter glauben, sie sei der Aufgabe, den Haushalt des Bruders zu übernehmen, in jeder Hinsicht gewachsen. Und doch war dem nicht so, vielmehr gingen ihr die mannigfaltigen Anforderungen körperlich und gemütlich oft über die Kraft, und ihre Aufgabe war in der Tat keine kleine. Wieder galt es, sich möglichst sparsam einzurichten. Die Haushälterin wurde entlassen und nur ein Dienstmädchen beibehalten. Anna, die tüchtig gewesen wäre, mit anzugreifen in der Haushaltung, wurde zunächst zur Unterstützung einer befreundeten Familie nach Weimar berufen, Agnes war bald durch französischen Unterricht in Anspruch genommen, den zu erteilen sich günstige Gelegenheit bot. So lag viel auf der Hausfrau. Ihre vier Pflegekinder, zwei Knaben und zweiMädchen, standen nun im Alter von acht bis zwölf Jahren, und es galt vor allem, sie wieder an die neue Ordnung zu gewöhnen. So leicht sich nun einzelne Kinder einzugewöhnen pflegen, wenn sie aus ihrer Umgebung herausgenommen und in eine fremde versetzt werden, so schwer ist es, wenn so ein Trüppchen beisammen in den gewohnten Verhältnissen bleibt und doch plötzlich ein anderes Regiment über sie kommt. Wer kann es ihnen verargen, daß sie sich in der gewohnten Freiheit beschränkt, in allen Rechten verkürzt, im täglichen Leben beengt fühlen? Mit einem tiefen Seufzer klagte die kleine Julie eines Abends bei Agnes: »Es gibt eben jetzt so viel, ach so arg viel, was wir nimmer tun dürfen und was wir vorher gedurft haben.« Und wer kann es andererseits der gebildeten Frau verargen, wenn sie mit den Forderungen des Gehorsams, der Wahrhaftigkeit und der Ordnung herantritt an ihre Pflegebefohlenen? Mußte sie es nicht tun, wenn ihr das Wohl dieser Kinder am Herzen lag, wie das ihrer eigenen? Aber eine Erziehung, die jahrelang gefehlt hat und dann plötzlich einsetzt, wird von Kindern schwerlich als Liebe empfunden. Traurig äußerte sie in jener Zeit: »Die Kinder, die mir so zugetan waren wie eigene, sind mir ganz entfremdet worden. Mit Furcht und Mißtrauen stehen sie mir gegenüber und verheimlichen all ihr Tun vor mir.«Das waren große Schwierigkeiten und nur einer im Hause blieb wunderbar unberührt davon, Bruder Hans. Er setzte in seine Schwester das größte Vertrauen und hatte für seine Kinder eine rührende Liebe. Von der Stunde an, wo er Schwester und Kinder beisammen wußte, fühlte er sich glücklich und war voll der besten Zuversicht. Nachseiner Überzeugung mußten die Kinder die Tante lieben, und diese würde an der Erziehung alles gut machen, was versäumt war, die finanziellen Angelegenheiten ruhten bei ihr in besten Händen, also war allem Elend abgeholfen und man ließ ihn künftig in Ruhe mit Heiratsprojekten. Leichteren Herzens als seit Jahren ging er in sein Kolleg, paßte ihn doch die Haushälterin nimmer an der Treppe ab, um ihre Klagen über die Kinder und die Geldnot vor ihn zu bringen; fröhlich wanderte er durch Hof und Garten, die merkwürdig sauber aussahen, seitdem Pauline zwei Wagen voll Schutt hatte hinausschaffen lassen, zerbrochene Ofenteile, verdorbenen Hausrat, zersprungenes Geschirr, was alles in Jahren durch das Fenster in den Hof geflogen oder durch die Kinder in den Garten geraten war. Wenn er abends mit der Schwester im Garten saß, fühlte er sich glücklich und Pauline mochte ihn nicht behelligen mit Klagen über die mannigfaltigen Schwierigkeiten, gönnte sie es ihm doch so von Herzen, daß es ihm auch noch einmal gut ging im Leben. Hingegen schilderte sie in Briefen an Anna die unerfreulichen Zustände, die sie und Agnes im Hause vorgefunden hatten. Aber als sie aus Annas Briefen erkannte, daß diese infolgedessen sich gar nicht auf ihre bevorstehende Heimkehr von Weimar freuen konnte, suchte sie ihr wieder Lust und Mut zu machen und schrieb der Tochter:..... »Du fragst, ob ich auch jetzt noch des Onkels Haus als unsern Aufenthalt wählen würde, und ich bin darüber keinen Augenblick zweifelhaft, so sehr sich auch oft das Herz abwendet von Verhältnissen, die mit den vergangenen so ganz im Widerspruch stehen.Es würde uns wenig Erleichterung bringen, könnten wir auch die Form von ehedem noch mehr bewahren, wir würden dennoch jede Stunde inne werden, daß das Licht und die Sonne fehlt, die unser Leben bis hierher so glänzend erleuchtet haben. – Wenn ich manchmal hinuntergehe in des Vaters (früheres) Stübchen, wo sein Tisch und Stuhl steht, da wird es mir immer nur so untröstlich zumute, daß ich glaube, man kämpft sich leichter durch, wenn man sich entschließt, in Gottes Namen alles und alles dahinzugeben, da uns ja doch alles nur an den Verlust mahnt. Wenn wir des VatersBeispielbefolgen wollen, so können wir auch nicht zweifelhaft sein, daß wir hier am rechten Platze sind. Sei überzeugt: wenn ich den Vater hätte fragen können, so hätte er uns das geraten, was ich nun getan habe, hat denn nicht auch er sich immer an den Posten gestellt, wo die Arbeit notwendig und dringend war, ohne Rücksicht auf die eigene Bequemlichkeit; ja wenn wir in diesem Hause tun, was in unsern Kräften steht, so leben wir nach seinem Geist und Vorbild und werden darin unser Glück finden. Daß man aus einem arbeitsvollen Leben mehr Segen und Befriedigung zieht, als wenn man seiner Neigung und Bequemlichkeit folgen kann, das ist ja eine Wahrheit, die nicht ich erst erfunden, wohl aber in reichem Maße erprobt habe. Für euch beide glaube ich, daß es auch jetzt schon am bestenhierist, habt ihr doch im Umgang mit eurem Onkel immer eine Anregung, die ihr außerdem schwer entbehren würdet, und oft denke ich daran, wie vielen Grund zur Dankbarkeit wir haben, daß er uns seine treue Liebe so zuwendet. Als neulich Frau Professor Thiersch eine von euch engagieren wollte, sprachsich der Onkel mit aller Heftigkeit dagegen aus, zuletzt sagte er noch: ›ich kann’s so nicht erwarten, bis die Anna wieder kommt, ich zähle jeden Tag.‹ Im ganzen sind wir doch auch schon ein wenig heimisch hier geworden und schwer ist nur die Kinderunruhe, die man eben den ganzen Tag hat und bei der man nicht zu Worte kommen kann, doch in Jahresfrist werden sie ein wenig wohlgezogen sein. Immerhin ist es aber gut, wenn Du Dir vergegenwärtigst, daß es hier zunächst einiges Entsagen gilt, Du wirst Dich dennoch da heimisch fühlen, wo ich bin .....«Ganz allmählich besserte sich das Verhältnis zu den Kindern. Der älteste ihrer Pflegebefohlenen, Robert, ein sehr begabter Knabe, fühlte, daß ihm der Verkehr mit der Tante ganz ungewohnte geistige Anregung bot, und besprach sich gern mit ihr; bei dem jüngsten, dem kleinen Wilhelm, einem herzensguten Kind, hatte das Mißtrauen nie feste Wurzel gefaßt, er wandte sich bald wieder zutraulich an die Tante und diese Wandlung der Brüder blieb nicht ohne Einfluß auf die Schwestern. Doch wird sich bei Mädchen nie so leicht ein kindliches, vertrauensvolles Verhältnis bilden, weil sie viel zugänglicher sind für die Einreden törichter oder gewissenloser Leute, die in solch schwierigen Verhältnissen nie fehlen. Niemand hatte es je Frau Brater übel gedeutet, wenn sie die eigenen Kinder einfach hielt, aber bei Neffen und Nichten war das anders, und jedermann glaubte sich berechtigt, sich einzumischen. Derartige Schwierigkeiten lassen sich nicht in Wochen und Monaten überwinden, man muß da mit Jahren rechnen, ja es ist Lebensarbeit und wir sind alle unvollkommeneArbeiter. Frau Brater wäre die erste gewesen, das zuzugeben, nie war sie der Meinung, jederzeit den richtigen Ton getroffen zu haben. In späteren Jahren, aus der Ferne zurückblickend, glaubte sie manchen Fehler zu erkennen und war um so dankbarer dafür, daß schließlich alles gut geworden und sie in ihren alten Tagen die volle Liebe derer genießen durfte, denen sie Mutterstelle ersetzt hatte. In den Briefen aus der Zeit der größten Schwierigkeiten tut sie deren kaum Erwähnung, nur die Trauer, die unverändert in ihrem Herzen lebte, spricht sie manchmal ergreifend aus. So an Ernst Rohmer nach einem Besuch ihres gemeinsamen Freundes Nagel: »Ich habe Dich während Nagels Anwesenheit oftmals zu uns gewünscht ... Was mich vor allem mit wahrer Sympathie zu ihm hinführt, das ist die Ähnlichkeit, die er trotz aller Verschiedenheit im letzten Grunde mit meinem Mann hat, es ist dieses ernste, unermüdliche Wollen und dieses unbestechliche Anerkennen und Voranstellen der Wahrheit. Mich hat dieser tiefe moralische Ernst sehr bewegt, denn er hat mir das Beispiel meines lieben Mannes wieder lebhaft vor Augen geführt, ich sehe sein unermüdliches Arbeiten, auch wo es ihm schwer wurde, und so fühle ich mich veranlaßt, auch auf meinem traurigen Wege nicht schwach die Hände sinken zu lassen. – Ach, man muß eben ein ganz anderer Mensch werden, wenn man einen solchen Verlust erlitten hat, und wie lange, wie lange wird das dauern! Noch habe ich so gar nichts zustande gebracht, noch hängt mein Herz so ganz und ausschließlich an ihm, daß ich mir noch gar nichtdenkenkann, daß es anders werden wird; es ist ja nicht, als ob ich mich der Gegenwart verschlösse und gewaltsam die Vergangenheitfesthalten wollte, im Gegenteil, ich seufze oft förmlich nach Erleichterung dieses bittern, bittern Schmerzes.«Dieser Brief ist vom 12. Juni datiert. Allen denen, die in jener Zeit im eigenen Leid versunken sich sehnten, darüber hinaus gehoben zu werden, kam eine mächtige Hilfe von außen: einen Monat später wurde der deutsch-französische Krieg erklärt. Es läßt sich denken, wie dieses Ereignis, das auch die schläfrigsten unter den Deutschen aufzurütteln vermochte, in der patriotischen Familie des Hauses Pfaff-Brater widerhallte! Entrüstet über die leichtfertige Kriegserklärung der Franzosen schreibt Frau Brater: »Könnte man doch den Groll der deutschen Frauen nutzbar machen fürs Vaterland!« Was aber sie, wie alle national gesinnten Deutschen zunächst am meisten bewegte, war die Frage, ob Süddeutschland einig mit Preußen gegen Frankreich ziehen würde. Wir können uns heutzutage kaum mehr vorstellen, welche feindselige Gesinnung gegen Preußen damals noch in breiten Schichten des bayerischen Volkes herrschte. In einem Artikel des Volksboten vom Oktober 1868 finden wir folgende Stelle: »Wir tragen kein unnötiges Verlangen, an der Seite Frankreichs gegen unsere einzigen Feinde, die Preußen, in den Krieg zu ziehen, solange Frankreich allein fertig werden kann mit unsern Quälgeistern; wir wollen nicht Knechte und Vasallen werden, weder der Franzosen noch der Preußen; aber das wird man nicht verwehren können, daß viele in den Franzosen ihre einzigen Schützer gegen preußische Vergewaltigung, ihre einzigen Helfer in der Not, ihre Retter von der Annexion 1866 und – wenn Gott es will – ihre dereinstigen Befreier von dem unerträglichen Joche des brutalenPreußentums sehen. Frankreich bedarf unserer Hilfe nicht, solange es allein imstande ist, den tönernen nordischen Koloß zu demütigen, wenn nicht zu zerschlagen.«Wir begreifen, daß bei solcher Gesinnung ein Zusammengehen aller deutschen Stämme gegen den äußeren Feind keineswegs gesichert war, ja in Frankreich war bei der Kriegserklärung zuversichtlich auf die deutsche Uneinigkeit gebaut worden. Daß sich unsere Feinde darin verrechnet haben, daß das nationale Bewußtsein doch den Sieg davon trug ist gewiß zum Teil auch das Verdienst solch treuer Vorkämpfer wie Brater, die ihr ganzes Leben dem Erwecken der nationalen Gesinnung geopfert haben. Als die Kunde von dem einmütigen Vorgehen der Deutschen kam und bald darnach die ersten Siegesnachrichten einliefen, drang der Jubel und das Dankgefühl auch der trauernden Witwe ins Herz.In heller Begeisterung schreibt Frau Brater nach dem ersten Sieg bei Weißenburg an Rohmer:

»Herz hatte mir nun die Fragen zu beantworten:1. Kann eine klimatische Kur insofern nachhaltig wirken, daß sie die weitere Entwicklung des Übels wesentlich aufhält?Antwort: Ja.2. Ist ohne eingreifende Gegenmittel eine fortwährende Steigerung des Übels zu erwarten?Antwort: Ja.3. Kann die Kur nicht ohne Bedenken auf ein späteres Jahr verschoben werden?Antwort: Die Reaktionsfähigkeit des Organismus und folglich die Wahrscheinlichkeit, daß die Kur wirkt, nimmt mit jedem Jahr ab, und wenn man am Ende der Vierziger steht, ist es eben noch Zeit.« ...

»Herz hatte mir nun die Fragen zu beantworten:

1. Kann eine klimatische Kur insofern nachhaltig wirken, daß sie die weitere Entwicklung des Übels wesentlich aufhält?

Antwort: Ja.

2. Ist ohne eingreifende Gegenmittel eine fortwährende Steigerung des Übels zu erwarten?

Antwort: Ja.

3. Kann die Kur nicht ohne Bedenken auf ein späteres Jahr verschoben werden?

Antwort: Die Reaktionsfähigkeit des Organismus und folglich die Wahrscheinlichkeit, daß die Kur wirkt, nimmt mit jedem Jahr ab, und wenn man am Ende der Vierziger steht, ist es eben noch Zeit.« ...

Damit war für Brater die Frage entschieden, denn für die Möglichkeit der Ausführung hatten andere gesorgt. In ergreifender Weise waren dem Kranken, noch ehe der Plan zum Entschluß gereift war, die Mittel zur Kur angetragen worden. Nicht nur von seinem treuen Onkel Meynier, sondern auch von Freunden, deren Beweggrund war, ihre nationale Gesinnung auch dadurch zu betätigen, daß sie dem Manne beistanden, der für die nationale Sache seine Kraft und Gesundheit eingesetzt hatte. Dies war ein erhebendes Gefühl für Brater und seine Frau und ein Beweis, daß nicht nur das Böse immer wieder Böses, sondern auch das Edle wieder Edles erzeugt. Das »Zuviel« wurde abgelehnt, das Nötige dankbaren Herzens angenommen. Nun handelte es sich um die Wahl des Ortes, es wurden damals Cannes, Hyères, Palermo und Montreux genannt und Erkundigungen eingezogen. Der Entscheid fiel für Cannes, die südfranzösische Stadt an der Rivièra. Eltern und Kinder bereiteten sich auf eine neue, lange Trennung vor, freundlich erklärten sich die Tanten Brater bereit, die Nichten für den Winter aufzunehmen, schon lag dieser Abschiedsschmerz schwer auf der Seele, da tat sich eine Möglichkeit auf, der Sparsamkeit und doch zugleich dem Herzenszug gerecht zu werden. Es wurde in Cannes eine möblierte Wohnung mit Küche ermittelt, in der die Familie eigeneWirtschaft führen und dadurch zu viert nicht wesentlich teurer leben würde, als zu zweit in einer Pension. Anna und Agnes, nun beide konfirmiert und der Schule entwachsen, sollten das Kochen besorgen und sich dadurch einigermaßen den interessanten Aufenthalt verdienen, der ohne eine solche Leistung nach den Grundsätzen der Eltern zu verwöhnend gewesen wäre. Die Freude der Kinder bei der Mitteilung, daß man sie auf solche Weise mit gutem Gewissen mitnehmen könne, war so überwältigend, daß dadurch diese ganze, aus trauriger Ursache unternommene Reise einen fröhlichen Charakter bekam.

Zunächst wurde noch ein vierwöchentlicher Kuraufenthalt in Stuttgart genommen, wo damals für Brustkranke eine Anstalt zum Gebrauche komprimierter Luft bestand. Ein Erfolg war wohl nicht zu verzeichnen, aber angenehm wurde der Aufenthalt durch den Verkehr mit dem Bruder, Professor Heinrich Kraz und seiner Familie, auch Kolomann Pfaff lebte in Stuttgart als Professor der Mathematik und das Zusammensein mit diesen Brüdern war eine besondere Freude vor dem Antritt einer Reise, die so weit ab von allen Lieben führen sollte. Im November ging die Fahrt über Genf, Lyon, Marseille, Toulon nach Cannes.

Frau Brater, die bei diesem Unternehmen nur an ihren Mann und dessen Erholung gedacht und über allem, was vor der Reise zu besorgen war, sich selbst vergessen hatte, war von einem unerwarteten Glücksgefühl überrascht bei dem Anblick des Meeres und der herrlichen südlichen Landschaft, in der nun für einen ganzen Winter ihr Aufenthaltsort sein sollte. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß ihnen ungesucht aus dem Traurigen eine Freude erwachsen war,und weit entfernt, sich dieser zu verschließen, genoß sie mit Wonne das Schöne, öffnete auch ihren Kindern die Augen dafür und beglückte dadurch ihren Mann, dem es schon oft schwer geworden war, daß durch sein Leiden ein Schatten in die Familie fiel.

Auch die häuslichen Verhältnisse gestalteten sich angenehm. Dicht an dem evangelischen Kirchlein stand das Haus, dessen unteren Stock sie bewohnten und das in allen Stockwerken für Fremde eingerichtet war. Franzosen, Spanier und Engländer waren die Mitbewohner, die nun manchmal neugierig und staunend an der Parterrewohnung vorübergingen und in die offene Küche einen Blick warfen, wo die deutsche Hausfrau und ihre Töchter an der Arbeit waren. Zuerst glaubten sie wohl nicht, daß es Leute ihres Bildungsstandes sein könnten, aber allmählich wurde ihnen bekannt, daß der Herr ein Gelehrter mit dem Doktortitel sei. (Brater war kurz vorher zum Ehrendoktor der Universität Heidelberg ernannt worden.) So lernten sie deutsche Art kennen und auch hochschätzen. Und wie gerne wirtschafteten Mutter und Töchter zusammen, wie viel Neues war zu sehen, wenn sie ausgingen, um Küchenvorräte heimzuholen! Auf dem Markte standen die Metzger, um zahllose Hammelschlegel zu verkaufen, wunderliches Seegetier lag in Körben, die Gemüse waren auf dem Boden ausgebreitet. Stände mit Parfümeriewaren, Vanille und Porzellanknöpfen fehlten an keinem Markttage. Zwischen den Verkäufern trieben sich Kinder umher, bissen mit Lust in die ungeschälten Orangen, in die rohen Zwiebeln und begleiteten mit ausdrucksvollen Gebärden das Patois, das sie mit südlicher Lebhaftigkeit sprachen.

In den Kaufläden konnten die Fremden französische Höflichkeit kennen lernen. So einmal, als eines der jungen Mädchen, die sich noch gar nicht als Fräulein fühlten, in ein Geschäft trat und Sago zu kaufen verlangte. Man gab ihr Bescheid, daß Sago nicht in diesem Laden, jedoch in der Nähe zu haben sei, aber sie selbst durfte sich nicht bemühen, rasch wurde ein Junge danach geschickt, der»Mamichella« (Mademoiselle)einstweilen ein Stuhl – auf die Straße gestellt, da konnte sie Platz nehmen, bis das Gewünschte zu ihr kam!

Der Heimweg von solchem Ausgang führte eine Strecke weit am Meeresufer hin, das bei starkem Winde mächtig an den Steinwall brandete, der die Straße schützte. Am fernen Horizont war an solchen Tagen eine auffallende Erscheinung zu sehen: wie Berge, die aufstiegen und wieder abfielen – es waren die mächtigen Wogen der offenen See. »Bei uns ist’s so schön und herrlich« schreibt Pauline, »daß ich jeden Tag meine Freude habe, ja wären wir Menschenkinder imstande, nur der Gegenwart zu leben, so würde mir kaum etwas zu wünschen übrig bleiben, aber wir können uns eben nicht enthalten, vorwärts zu blicken!«

In den ersten Wochen überwog die Freude an dem Schönen, als sich aber gegen Weihnachten noch keine Spur einer Besserung zeigen wollte, klang Leid und Sorge in jedem Brief und dieser Klang wäre vielleicht noch stärker hervorgetreten, hätte Pauline nicht die drückende Mutlosigkeit vor ihrem Manne verbergen wollen. Wie sehr sie in dieser Stimmung empfänglich war für treue, teilnehmende Worte aus der Heimat, geht aus dem nachstehenden Brief an E. Rohmer hervor.

Lieber Ernst!Dein langer Brief, in der vielbeschäftigten Weihnachtszeit geschrieben, ist mit voller Anerkennung und großer Freude empfangen worden, und da es bis zum letzten Augenblick den Anschein hatte, als sollte Euer Gruß der einzige Weihnachtsgruß aus der Heimat sein, entstand namentlich in der Phantasie meiner Kinder nach und nach eine förmliche Glorie um die Treue Deines Freundeshauptes, und als dann während der Bescherung noch zwei Briefe von den untreuen Erlangern einliefen, so wurde keine Absolution erteilt, denn es sei ein Leichtsinn, hieß es, so bis zum letzten Augenblick zu warten, und der Onkel Ernst sei eben immer der einzige Mensch, auf den man sich verlassen könne... Daß Dir unsere Briefe einen guten Eindruck betreffs der Gegend und des Klimas machen, ist ganz recht, wir schreiben natürlich ganz wahrheitsgetreu und hoffen nun auch, daß Du unserm Plan zustimmen und mit Deiner Gattin für den Monat April hierher kommen wirst. Dieser Plan ist nämlich bei uns bereits zum Beschluß erhoben, da wir überzeugt sind, daß Du gar nichts Gescheiteres tun kannst, der April ist bei Euch noch so recht der Monat für Zahnweh und Rheumatismen, während man hier Sommer haben wird; dazu ist die Reise an sich schon ein Vergnügen. Die Ausgabe ist nicht so groß, für 80 fl. à Person kommst Du bequem hierher, wir haben mit dritter Klasse u. dergl. à Person 54 fl. gebraucht. Hier finde ich Euch um diese Zeit gewiß ein erwünschtes Quartier und meine Mädchen haben bis dorthin sicher so viel Fortschritte in der Kochkunst gemacht, daß ich Euch mit gutem Gewissen an unsereTafel laden kann. Also wenn Du in den nächsten Tagen Deinen Etat für das Jahr 67 machst, so hast Du ein paar hundert Gulden für eine Reise nach Cannes anzusetzen. Ein paar hübsche Ausflüge haben wir schon auf Euere Ankunft verschoben, nämlich eine Wasserfahrt nach der eine kleine Stunde entfernten Insel Marguerite, wo es wunderschön sein soll und wo seinerzeit der Mann mit der eisernen Maske residierte, und dann eine Fahrt zu Wagen auf das Kap Roux hinaus. Eine neue Zierde unserer Gegend haben wir inzwischen auf einer nahen Anhöhe entdeckt, nämlich eine ansehnliche Kette der schneebedeckten Seealpen, es sind mächtige Bergspitzen, die zum Teil 13000 Fuß erreichen. Also komm und siehe, denn Du kannst Dir eine solche Natur nicht vorstellen, die beständig im Sonntagsgewand einhergeht, und wenn ich zehn Jahre jünger und alles gesund wäre, ich glaube, ich würde den ganzen Tag nichts tun, als singen und Juhe schreien ...Unsere Feiertage sind uns recht vergnüglich vergangen, etwas ruhiger als bei Euch, das ist gewiß, es wollte mir fast komisch erscheinen, als ich für meine zwei alten Kinder einen Baum bestellte, aber es rentierte sich doch, und sie freuten sich daran wie echte Kinder und waren sehr stolz über die Bewunderung, die er bei unsern Französinnen erregte... Was die Heilwirkung der hiesigen Luft betrifft, so können wir leider noch immer nicht viel Gutes sagen, es ist mir unfaßlich, daß meines Mannes Husten nicht nachläßt, ich hatte gedacht, daß bei dieser Lebensweise in einem Zeitraum von etwa acht Wochen doch schon eine kleine Besserung eintreten würde, es ist bis jetzt abernoch nichts zu bemerken, indes hoffe ich um so zuversichtlicher, daß sich die Besserung vorbereitet und dann dauerhaft zum Vorschein kommt. Karls gutes Aussehen deutet gewiß eine solche Vorbereitung an.Nun noch meine besten Grüße an Dein ganzes Haus ... in treuer Liebe EuerePauline.

Lieber Ernst!

Dein langer Brief, in der vielbeschäftigten Weihnachtszeit geschrieben, ist mit voller Anerkennung und großer Freude empfangen worden, und da es bis zum letzten Augenblick den Anschein hatte, als sollte Euer Gruß der einzige Weihnachtsgruß aus der Heimat sein, entstand namentlich in der Phantasie meiner Kinder nach und nach eine förmliche Glorie um die Treue Deines Freundeshauptes, und als dann während der Bescherung noch zwei Briefe von den untreuen Erlangern einliefen, so wurde keine Absolution erteilt, denn es sei ein Leichtsinn, hieß es, so bis zum letzten Augenblick zu warten, und der Onkel Ernst sei eben immer der einzige Mensch, auf den man sich verlassen könne... Daß Dir unsere Briefe einen guten Eindruck betreffs der Gegend und des Klimas machen, ist ganz recht, wir schreiben natürlich ganz wahrheitsgetreu und hoffen nun auch, daß Du unserm Plan zustimmen und mit Deiner Gattin für den Monat April hierher kommen wirst. Dieser Plan ist nämlich bei uns bereits zum Beschluß erhoben, da wir überzeugt sind, daß Du gar nichts Gescheiteres tun kannst, der April ist bei Euch noch so recht der Monat für Zahnweh und Rheumatismen, während man hier Sommer haben wird; dazu ist die Reise an sich schon ein Vergnügen. Die Ausgabe ist nicht so groß, für 80 fl. à Person kommst Du bequem hierher, wir haben mit dritter Klasse u. dergl. à Person 54 fl. gebraucht. Hier finde ich Euch um diese Zeit gewiß ein erwünschtes Quartier und meine Mädchen haben bis dorthin sicher so viel Fortschritte in der Kochkunst gemacht, daß ich Euch mit gutem Gewissen an unsereTafel laden kann. Also wenn Du in den nächsten Tagen Deinen Etat für das Jahr 67 machst, so hast Du ein paar hundert Gulden für eine Reise nach Cannes anzusetzen. Ein paar hübsche Ausflüge haben wir schon auf Euere Ankunft verschoben, nämlich eine Wasserfahrt nach der eine kleine Stunde entfernten Insel Marguerite, wo es wunderschön sein soll und wo seinerzeit der Mann mit der eisernen Maske residierte, und dann eine Fahrt zu Wagen auf das Kap Roux hinaus. Eine neue Zierde unserer Gegend haben wir inzwischen auf einer nahen Anhöhe entdeckt, nämlich eine ansehnliche Kette der schneebedeckten Seealpen, es sind mächtige Bergspitzen, die zum Teil 13000 Fuß erreichen. Also komm und siehe, denn Du kannst Dir eine solche Natur nicht vorstellen, die beständig im Sonntagsgewand einhergeht, und wenn ich zehn Jahre jünger und alles gesund wäre, ich glaube, ich würde den ganzen Tag nichts tun, als singen und Juhe schreien ...

Unsere Feiertage sind uns recht vergnüglich vergangen, etwas ruhiger als bei Euch, das ist gewiß, es wollte mir fast komisch erscheinen, als ich für meine zwei alten Kinder einen Baum bestellte, aber es rentierte sich doch, und sie freuten sich daran wie echte Kinder und waren sehr stolz über die Bewunderung, die er bei unsern Französinnen erregte... Was die Heilwirkung der hiesigen Luft betrifft, so können wir leider noch immer nicht viel Gutes sagen, es ist mir unfaßlich, daß meines Mannes Husten nicht nachläßt, ich hatte gedacht, daß bei dieser Lebensweise in einem Zeitraum von etwa acht Wochen doch schon eine kleine Besserung eintreten würde, es ist bis jetzt abernoch nichts zu bemerken, indes hoffe ich um so zuversichtlicher, daß sich die Besserung vorbereitet und dann dauerhaft zum Vorschein kommt. Karls gutes Aussehen deutet gewiß eine solche Vorbereitung an.

Nun noch meine besten Grüße an Dein ganzes Haus ... in treuer Liebe Euere

Pauline.

Es findet sich von Braters Hand noch die Randbemerkung: »Gestern hat sich die Juchheschreierin über dem Schleppkleid einer kreolischen Hausgenossin, die bei ihr zum Besuch war, den Fuß vertreten und muß jetzt das Zimmer hüten!« Ein schönes Zeichen seines Optimismus bietet der Schluß seines eigenen Briefs, geschäftlichen und politischen Inhaltes: »Gott befohlen für das neue Jahr. Es geht in der Welt mit Ach und Krach, dochimmer und immer vorwärts!«

Was Frau Brater von dem Aufenthalt in dem französischen, katholischen Luftkurort am wenigsten erwartet hätte, das wurde ihr und noch mehr ihren Kindern ganz ungesucht zuteil: eine religiöse Anregung. Die Hausbesitzerin, eine ältere Dame, und ihre nächsten Freunde gehörten der evangelischen Kirche, der»église libre«an. Sie kamen ihren protestantischen Mietsleuten als Glaubensgenossen freundlich entgegen und auf diesem Grund entstand bald eine wahre Freundschaft. Die kleine Gemeinde in Cannes hatte jenes warme Gefühl der Zusammengehörigkeit, das man immer dort trifft, wo es gilt, durch Einigkeit stark genug zu werden, um den von allen Seiten andrängenden Feindseligkeiten der übermächtigen Majoritätskirche zu widerstehen.Der sonntägliche Gottesdienst, dem jegliches Gepränge fehlte, hatte trotz oder wegen seiner Nüchternheit etwas ergreifend Ernstes und Wahres. Ohne Talar, im gewohnten schwarzen Rock, trat der Geistliche an den Tisch, der den Altar ersetzte und seiner klaren, schlichten Rede folgte jeder Zuhörer gespannt und aufmerksam. Nichts dröhnte salbungsvoll oder pathetisch über die Häupter hinweg, die Redeweise unterschied sich kaum von der des täglichen Verkehrs, es kam auch wohl vor, daß der Geistliche eine Zwischenbemerkung machte, wie etwa: »bitte die Türe zu schließen, es zieht,« daß er am Schluß der Predigt einige Bekannte aufforderte, mit ihm zu Mittag zu essen. So menschlich nahe war Frau Brater und ihren Kindern noch nie die Kirche getreten und so deutlich wie an den Gliedern der kleinen Gemeinde hatten sie nirgends sonst den vertiefenden Einfluß warmer, religiöser Überzeugung empfunden. Brater freute sich der Anregung, welche die Seinigen von diesen trefflichen Menschen empfingen, wenn ihm persönlich auch der Umgang mit ihnen durch seine geringere Kenntnis der französischen Sprache nicht möglich war. So weit ihn nicht die Kur in Anspruch nahm, führte er sein stilles Leben am Schreibtisch, versorgte aus der Ferne die politische Wochenschrift mit Beiträgen, die Redaktion des Staatswörterbuchs mit Korrekturen und lebte im Geist in seinem Vaterland.

So wäre alles recht, ja über Erwarten schön gewesen, wenn nur die Hauptsache, die Besserung des Leidens, der Erfolg der Kur nicht ausgeblieben wäre. Sechs Monate waren für den Aufenthalt in Aussicht genommen, nach Verlauf von vier Monaten schreibt Frau Brater an ihre Schwägerin:

Liebe Julie!Wir haben einen raschen Entschluß gefaßt und die Umstände bringen ihn zu rascher Ausführung: ich zeige Dir an, daß wir im Begriffe sind, Cannes zu verlassen und darnach trachten, in Gries bei Botzen ein Unterkommen zu finden. Die Besserung in Karls Befinden war nur eine scheinbare und es hat sich gleich darauf (ohneVeranlassung) eine dauernde Verschlimmerung eingestellt, die zwar nicht über die früheren Zustände hinausgeht, aber eben doch unerwünscht ist, so läßt mir die Befürchtung, daß für Karl ein Seeklima ungünstig ist, keine Ruhe mehr, ich habe Dir das ja schon früher einmal gesagt und Du bist am Ende über diese Neuigkeit des Übersiedelns weniger überrascht als wir selbst. Dazu kommt, daß der März hier wegen seiner Winde ein schlechter Monat ist und wenn es uns in Gries nach Wunsch gelingt, denken wir einen guten Tausch zu machen und hoffen, bei der jetzigen vorgerückten Jahreszeit keinesfalls zu verlieren. Ich habe unvermutet schnell die Wohnung angebracht und wir hoffen, die Sache mit unbedeutenden Opfern durchzubringen, doch sind wir Frauensleute alle in Tränen dagestanden, als wir den Kontrakt der Abmietung unterzeichneten. Mir tut das Herz weh den ganzen Tag und Anna hat immer die Augen voll Wasser. Das Leben hier hat uns viel Freude gebracht und wir verlassen treue Freunde, die wir wohl nie wieder sehen werden. Wir haben uns heimisch und wohl geborgen gefühlt und werden nun am Samstag schon aus unserem warmen Nest hinausgetrieben, ohne uns schon in Gedanken am zukünftigenerfreuen zu können... Wir haben eine schöne Reise vor uns, der Riviera entlang bis Genua, leider etwas teuer wegen der mangelnden Eisenbahn.Wiewir die Reise machen werden, wissen wir selbst noch nicht, ich habe die hübsche Mission, morgen nach Nice zu fahren, um wegen der verschiedenenDiligencenu. dergl. Erkundigungen einzuholen, ein gutes Stück Arbeit bei meiner Sprachfertigkeit, es ist mir nicht recht wohl bei dieser Angelegenheit.«

Liebe Julie!

Wir haben einen raschen Entschluß gefaßt und die Umstände bringen ihn zu rascher Ausführung: ich zeige Dir an, daß wir im Begriffe sind, Cannes zu verlassen und darnach trachten, in Gries bei Botzen ein Unterkommen zu finden. Die Besserung in Karls Befinden war nur eine scheinbare und es hat sich gleich darauf (ohneVeranlassung) eine dauernde Verschlimmerung eingestellt, die zwar nicht über die früheren Zustände hinausgeht, aber eben doch unerwünscht ist, so läßt mir die Befürchtung, daß für Karl ein Seeklima ungünstig ist, keine Ruhe mehr, ich habe Dir das ja schon früher einmal gesagt und Du bist am Ende über diese Neuigkeit des Übersiedelns weniger überrascht als wir selbst. Dazu kommt, daß der März hier wegen seiner Winde ein schlechter Monat ist und wenn es uns in Gries nach Wunsch gelingt, denken wir einen guten Tausch zu machen und hoffen, bei der jetzigen vorgerückten Jahreszeit keinesfalls zu verlieren. Ich habe unvermutet schnell die Wohnung angebracht und wir hoffen, die Sache mit unbedeutenden Opfern durchzubringen, doch sind wir Frauensleute alle in Tränen dagestanden, als wir den Kontrakt der Abmietung unterzeichneten. Mir tut das Herz weh den ganzen Tag und Anna hat immer die Augen voll Wasser. Das Leben hier hat uns viel Freude gebracht und wir verlassen treue Freunde, die wir wohl nie wieder sehen werden. Wir haben uns heimisch und wohl geborgen gefühlt und werden nun am Samstag schon aus unserem warmen Nest hinausgetrieben, ohne uns schon in Gedanken am zukünftigenerfreuen zu können... Wir haben eine schöne Reise vor uns, der Riviera entlang bis Genua, leider etwas teuer wegen der mangelnden Eisenbahn.Wiewir die Reise machen werden, wissen wir selbst noch nicht, ich habe die hübsche Mission, morgen nach Nice zu fahren, um wegen der verschiedenenDiligencenu. dergl. Erkundigungen einzuholen, ein gutes Stück Arbeit bei meiner Sprachfertigkeit, es ist mir nicht recht wohl bei dieser Angelegenheit.«

Die Verwandten und Freunde in der Heimat mochten es leicht verstehen, wenn Pauline nicht ohne Wehmut von der herrlichen Gegend, von dem Meere schied, das je wieder zu sehen sie kaum hoffte, aber daß der Abschied von solch neuen Bekannten, überdies französischer Nation, ihr und den Töchtern wirklich schwer wurde und überhaupt in Betracht kam, gegenüber dem Wiedersehen der alten, treuen Bekannten, dies konnten sie sich wohl schwer erklären, wenn sie nicht wußten, daß ein starker Einfluß ausgegangen war von den religiösen Naturen dieser kleinen Menschengruppe in Cannes und nicht selbst schon erfahren hatten, wie sehr der Mensch an diejenigen anhänglich ist, die sein Wesen irgendwie gefördert und bereichert haben. Schmerzlich war es unter allen Umständen, den Ort zu verlassen ohne jegliche günstige Wirkung der Kur. Aber in diesen Jahren bewährte sich das Wort: »Geteiltes Leid ist halbes Leid« gar sehr bei diesem Paar. Wollte einem von beiden der Mut sinken, so half das andere mit dem seinigen aus, und indem der Leidende jede Klage aus Liebe für die Mitleidende unterdrückte, hielt er sich selbst seine Trösterin frisch und anregend.

Die Reise in der kaiserlichenmessagerie, d. h. in vier-, streckenweise sechsspänniger Post auf der herrlichen, längs des Meerufers sich hinziehenden Straße über Mentone, Nizza, San Remo bis Genua war ein großer Genuß, wenn auch mit Anstrengung erkauft, denn die Fahrt ging auch bei Nacht ohne Unterbrechung weiter. Frau Brater schreibt von Bozen aus an Ernst Rohmer:

»... Unsere Reise war vom Wetter begünstigt, K. hat sie glücklich zurück gelegt und wir freuen uns alle von Herzen, wieder im deutschen Vaterland zu sein, obwohl es vorderhand nur Österreich ist..... Unser Weg war Nizza, Genua, Mailand, Verona und dann vollends das Etschtal herauf; durch und durch interessant und schön, namentlich der erste Teil Nice–San Remo findet seinesgleichen selten, wir werden diese Herrlichkeit unser Lebtag nicht vergessen, das müßt Ihr sehen. – Nun sind wir in Bozen installiert und führen unsern Haushalt in einer großen, billigen Wohnung, mit aller Bequemlichkeit; daß wir vorderhand von unserm neuen Aufenthalt nicht sehr entzückt sind, ist kein Wunder, hier ist noch alles kahl, kaum einige blühende Bäume, und das Meer – wann werde ich das einmal wiedersehen, mir tut das Herz weh, wenn ich daran denke! Übrigens bin ich überzeugt, daß wir wohlgetan haben, und Karl fühlt sich hier behaglicher; Gott gebe, daß wir auch einmal von einer Besserung zu berichten haben!«

Die Überlegungen und den Entschluß, ob Cannes zu verlassen und Bozen zu wählen sei, hatte Brater in der Hauptsache seiner Frau überlassen. Er selbst war wenig medizinisch veranlagt und traute ihr in diesen Dingenmehr zu als sich, auch beobachtete und verglich sie sein Befinden genauer, als er selbst es tat. Seine Gewohnheit, nicht viel an die eigene Person zu denken, aber doch gewissenhaft zu befolgen, was ihm die Ärzte verordneten, machten ihn zu einem Patienten, wie man sie selten trifft. Er behandelte seine eigene Krankheit so objektiv wie die eines anderen Menschen. War alles befolgt, was die Kur ihm vorschrieb, so hatte er auch weiter keine Gedanken mehr für sein Leiden übrig, es mochte dann gehen wie es wollte, sein ganzes Interesse wandte sich der Arbeit zu.

Von Bozen aus unternahm Brater mit den Seinigen einmal einen Ausflug nach Meran. Auf dem dortigen Kirchhof war Braters Vater begraben. Als ein neunundvierzigjähriger Mann hatte er, lungenleidend, zu seiner Erholung ein bis zwei Jahre in Meran zugebracht und war dort seinem Leiden erlegen. In ernsten Gedanken stand nun der Sohn am Grabe des Vaters, fast im gleichen Alter, als dieser gewesen, an der gleichen Krankheit leidend, mit derselben Erfahrung, daß keine Kur das Übel aufhalten konnte. Es war ein ergreifender Gang! Aber mit großer Selbstbeherrschung wurde jede schmerzliche Erregung, jeder düstere Ausblick in die Zukunft unterdrückt; ergeben in sein Schicksal wandte er seine Schritte bald wieder weg von dem Orte der Trauer, der Stadt zu, deren großartige Naturschönheit er Frau und Kindern zeigen wollte.

Auf Mitte Mai war die Heimkehr angesetzt. Er schreibt an Ernst Rohmer, der ihn bald zu sehen verlangte: »Morgen soll nun nach München aufgebrochen werden, wo wir am Donnerstag einzutreffen gedenken, die drei Frostheiligen sind vorüber und es kann, wenn der gute Wille vorhandenist, jetzt auch bei uns eine anständige Witterung eintreten. Der Kontrast gegen Bozen, wo wir seit einiger Zeit abends 10 Uhr 17°Rzu haben pflegen, wird immerhin ziemlich stark sein; kämen wir direkt von Cannes, so wäre es noch stärker und schon deshalb war die hiesige Zwischenstation gewiß zweckmäßig. Im ganzen komme ich, wie schon bemerkt, ziemlich unverändert zurück und es wird sich nun fragen, wie mir die Münchner Lebensart zusagt...... In München dürfen wir also erwarten, Dich bald zu sehen. Ich kann Dir unsere Wohnung nicht angeben, weil sich noch keine gefunden hat und wir uns vermutlich vorerst mit einem Interim behelfen werden. Es ist die schwere Not: ich soll nicht zu kalt und nicht zu warm, nicht hoch und nicht abgelegen, nicht im vorstädtischen Staub und nicht im städtischen Spektakel leben – wie läßt sich das machen?..... Pauline muß von München nach Erlangen gehen, um dort Geschäfte abzutun, es wird also darauf zu sehen sein, daß Ihr Euch in M. nicht verfehlt.«

Auf der Heimreise über den Brenner, Mitte Mai, bekamen unsere Reisenden in diesem Jahre den ersten Schnee zu sehen. In München wurden sie von der Schwester Julie empfangen, die einstweilen für ein provisorisches Unterkommen gesorgt hatte. Die Ärzte, die nach langer Abwesenheit ihren Patienten wieder sahen und untersuchten, sprachen von einer wesentlichen Besserung, die sich eingestellt habe. Dem Kranken selber und den Seinigen kam davon allerdings nichts zum Bewußstein, aber dieser ärztliche Ausspruch belebte dennoch die Hoffnung und erweckte neuen Lebensmut, so daß sich auch Brater sofort wieder in den Mittelpunkt der politischen Tätigkeit begab. In derKammer sprach er nur noch selten, seine Stimme war schwach aber noch immer klar und wir lesen in einem Berichte jener Zeit: »Wenn er sprach, so lauschte die ganze Kammer.« Es war auch kein unnötiges Wort in seiner Rede, mußte er doch mit jedem Atemzug haushalten. Wenn er mühsam Stufe für Stufe die Treppe des Ständehauses hinaufstieg, ging jeder still und achtungsvoll grüßend an dem Manne vorbei, von dem alle erkannten, daß er seine letzte Kraft einsetzte. Seine Haupttätigkeit war die im Gesetzgebungsausschuß und diese Arbeit hielt ihn in den folgenden zwei Jahren meist in München fest, wenn auch nötige Erholungspausen ihn zeitenweise aus der Stadt hinaus ins bayerische Gebirg, einmal auch auf die Retraite, einem stillen Landsitz bei Bayreuth, führten. Während dieses Aufenthalts erhielt Frau Brater die Nachricht von dem Tode ihres Bruders Siegfried. Sie schreibt darüber: »Wie oft hatte ich meinem schwer leidenden Bruder ein sanftes Ende gewünscht. Nun ist mein Wunsch erfüllt, sanft und schmerzlos durfte er aus dieser Welt scheiden, aber so sind wir Menschen – die Freude, daß nun dieser schwer Geprüfte von allen Leiden erlöst ist, empfinde ich kaum, ich fühle nur immer und immer wieder den Schmerz des Nimmerwiedersehens....... Mein Siegfried war mir immer ein liebevoller und freundlicher Bruder, so weit ich zurück denke, und wie liebenswürdig und gemütlich war er im Verkehr, es war ein wohltuendes und behagliches Gefühl, sowie er nur ins Zimmer trat; auch meinem Mann war er immer eine liebe Erscheinung. Dies ist nun alles vorbei ..... Wie lieb man seine Geschwister hat, das weißt Du ja aus Deinem eigenen Herzen, sie sind eben das eigene Fleisch und Blut, einsist durch das andere und mit dem anderen das geworden, was es ist, sie sind ein Stück des eigenen Wesens, gemeinsam trägt man die Erinnerung an Jugend und Elternhaus, die auch dem späteren Leben noch Licht und Wärme verleiht und bei niemand baut man so sicher und rückhaltlos auf Treue und Verständnis als eben bei Geschwistern ....«

Nach der Rückkehr der Familie Brater vom Land ergab sich ein längerer Aufenthalt in München, den die Eltern der Ausbildung ihrer Töchter zugute kommen ließen. Diese sollten sich auf das Examen in der französischen Sprache vorbereiten, um später Unterricht erteilen zu können. Frau Brater selbst war zwar durchaus keine Freundin von der damals noch ganz neuen Einrichtung, daß Mädchen Examen machen und sich auf einen speziellen Beruf vorbereiten sollten. Aber sie fügte sich dem Rate der beiden Schwägerinnen, denen die Kinder ihre Ausbildung verdankten, und erkannte auch, daß es ihrem Mann eine Beruhigung war, seinen Töchtern eine weitere Existenzmöglichkeit mit ins Leben zu geben. Als Gegengewicht für diese Arbeit und den ohnedies bei dem zunehmenden Leiden des Vaters ernsten Lebenszuschnitt ließ sie die jungen Mädchen auch Tanzstunden nehmen und freute sich, wenn sie dadurch unter fröhliche Jugend kamen. Das französische Examen, das heutzutage fast eine Woche in Anspruch nimmt und zu dem sich in mehreren Städten Bayerns alljährlich weit über hundert Mädchen einfinden, wurde damals nur in München, und zwar am Palmsonntag nachmittag abgehalten und außer unseren zwei Privatschülerinnen nahmen nur einige Mädchen aus dem bekannten Ascherschen Institut teil. Als die kleine Zahl um den Prüfungstisch saß, sahen die prüfenden Herrenlächelnd auf die emsig schreibenden Mädchen und der eine sprach zum andern in dem Gefühl eines noch nicht dagewesenen Erlebnisses: »Welch ein Bild des neunzehnten Jahrhunderts!«

Nach einigen Wochen erhielten die Geprüften ihre Zeugnisse, und zwar hatte unseres Wissens jede der Beteiligten die NoteIbekommen. Damals galt es noch, die Mädchen zu ermutigen, daß sie von der neuen Einrichtung Gebrauch machten, nicht sie zu sichten und zu sieben, um sich vor der Überzahl zu schützen.

Ein Brief von Frau Brater an Lina Rohmer läßt einen Einblick tun in ihr damaliges Münchner Leben: ».... Ich wollte Dir nur noch sagen, daß ich trotz der Massen von Bekannten und lieben Freunden doch niemand habe, dermeineAnliegen so mit mir teilen und tragen könnte wie Du (d. h. ich sehe ab von meiner Schwägerin, die mir wie eine Schwester ist). Die Menschen sind im Durchschnitt sehr egoistisch und ganz von ihren eigenen Angelegenheiten durchdrungen und manche, die eine Ausnahme machen, haben nicht so das Verständnis für andere. So bin ich hier die Vertraute und Ratgeberin für manche Freundinnen, weil ich selbst schon manches Schwere durchgemacht habe und mich in die Lage der andern versetzen kann, aber was mich auf dem Herzen drückt, das kommt da nie zur Sprache, ich dränge mich nicht auf und fühle mich viel wohler dabei, das, was mein Innerstes bewegt, nur wenigen mitzuteilen. So kommt es nun, daß mich das vielbewegte Leben in München ganz kalt läßt, denn Du weißt ja, wie ich ganz von meinem Mann und Kindern abhänge und nur in ihnen meine Freude habe und kannst Dir somit auch denken,daß mir eine Sorge um sie so nahe geht, daß ich nicht leicht davon sprechen kann. So ist mir meines Mannes Befinden ein steter Kummer, denn wir können uns nicht verhehlen, daß es von Jahr zu Jahr etwas schlimmer wird und zwar in einer Weise, die eben recht peinlich ist; die Atmungsbeschwerden sind recht lästig, es ist ihm jetzt schoneineTreppe eine Schwierigkeit, natürlich entbehrt er unter solchen Umständen alle Körperbewegung und das ist auch nicht gut und so ist er eben in allen Dingen ein Leidender und als Leidender zu pflegen und ohne Hoffnung für die Zukunft, an die wir uns aller Gedanken entschlagen müssen. Du darfst indessen nicht denken, daß es gerade in diesem Augenblick nicht gut gehe, im Gegenteil, mein Mann arbeitet sehr viel, ohne Nachteil, und ist heiter, ja seine gleichmäßige Stimmung und freundliche Teilnahme für alles und alles, was die Seinen angeht, ist mir oft auffallend und ich denke mir oft: am Ende nimmt er sich nur unserthalben so zusammen, damit nicht auch wir darunter leiden sollen, und am Ende leitet ihn auch manchmal der Gedanke, daß man sich Liebes und Gutes erzeigen soll, weil man nicht weiß, wie lange Zeit einem noch dazu vergönnt ist. So leben wir in unserem Hause friedlich und glücklich, die beiden Mädchen ahnungslos und voller Lebenslust und Freude; wer uns oft zusammen lachen und schwätzen hörte, der würde nicht glauben, wie oft ich dagegen im stillen weine; oft mache ich mir auch Vorwürfe über meine Traurigkeit, dennjetztsteht ja noch alles gut, aber das hilft nichts, daß mein Mann krank ist, fühle ich zu jeder Stunde.«

Der Herbst 1869 führte die Familie wieder vorübergehend nach Erlangen und die beiden Töchter blieben auchdort zurück, als der Landtag einberufen wurde, über dessen Dauer man erst näheres erfahren mußte, um zu bestimmen, ob es sich lohne, die eigenen Möbel mitzubringen. Während nun die Mädchen in Erlangen auf nähere Weisung wartend einige Wochen dort blieben, spielten sich in München eigentümliche Landtagssitzungen ab; die neue Kammer konnte sich nicht einigen über die Präsidentenwahl, es ergab sich die gleiche Stimmenzahl für den einen Vorgeschlagenen wie für den andern. Brater, unfähig zu Fuß zu gehen, fuhr täglich ins Ständehaus, wo er mühsam Atem holend die Treppe hinaufstieg, um bei der Präsidentenwahl seine Stimme abzugeben und dann sofort wieder heimzukommen mit der Nachricht: Gleiche Stimmenzahl. So wiederholte sich der Vorgang dreimal, worauf die Kammer als beschlußunfähig aufgelöst und die Neuwahl angeordnet wurde. Die Kinder in Erlangen verfolgten diesen Hergang mit persönlichem Interesse. Ein freundliches Briefchen des Vaters vom 9. Oktober sagte ihnen, sie sollten die verlängerte Wartezeit benützen, um ein Kissen auf der Mutter Stuhl anzufertigen, zum Schmuck der eben gemieteten einfachen Wohnung in der Barerstraße. Zehn Tage später kam ihnen ein Telegramm der Mutter zu, das sie sofort nach München berief, da sich des Vaters Zustand verschlimmert habe. Unverzüglich reisten die Kinder ab, kamen in später Abendstunde an, und noch ehe der Morgen des 20. Oktober anbrach, hatten sie den Vater verloren.

Unter Frau Braters Papieren findet sich ein kleines Heft, welches ihre Aufzeichnungen über die letzten Lebenstage ihres Mannes enthält. Wir entnehmen daraus folgendes:

»Am Dienstag den 12. Oktober zogen wir in die mit vieler Mühe aufgefundene Wohnung; Karl freute sich daran, sein Zimmer war groß und hoch.

Am Sonntag den 17. sagte er nachmittags beim Kaffee: ›heute habe ich einen schlechten Tag, ich atme gar zu schwer‹, er sah matt aus. Abends war Julie da; als wir uns zu Tische setzten, sagte er: ›es wird besser sein, wenn ich nichts esse, ich bin zu sehr beengt.‹ Er nahm während des Abends Teil an der Unterhaltung wie immer, wenn er auch weniger sprach. Um zehn Uhr, wie gewöhnlich, lag er im Bett und ich sagte ihm wenigstens insofern sorglosguteNacht, als ich nicht zweifelte, daß sie ihm mit Morphium zuteil werden würde. Ich lag im Zimmer daneben. Gegen Morgen rief er mir laut und deutlich: ›Pauline, zieh dich einmal ein wenig an‹, ich erschrak sehr, aber er hatte so sicher und ruhig gesprochen, daß ich nun doch nichts Schlimmes dachte. Als ich zu ihm hineinkam sagte er: ›es ist jetzt halb vier Uhr, ich habe schonzweiPulver genommen und habe keinen Augenblick geschlafen, hilf mir heraus in meinen Stuhl,vielleicht wird mir’s da leichter‹ – sein Atem war unendlich kurz, die Stimme klanglos und in seinen Zügen sah ich, daß er im Todeskampfe war, – ich stand da unter heißen, strömenden Tränen, sagte ihm liebe Worte, aber helfen konnte ich ihm nimmer. Während ich ihn ankleidete, sagte er lächelnd: ›du hast ja immer gesagt, ich soll dich doch rufen, wenn ich etwas brauchen kann, ich habe dir jetzt nur einmal deinen Willen getan.‹

Als ich ihn in den Stuhl gebettet hatte, sagte er: ›so jetzt mach, daß du ins Bett kommst, –schlafeund weine nicht in Deinem Bett.‹ Gott weiß, ich habe nicht geschlafen, denn ich wußte nun, daß mir das treueste Herz im Sterben lag, ich sah mein ganzes, unbegrenztes Glück zerbrochen, alles, alles vorbei. Dennoch kämpfte er noch zwei Tage gegen den andringenden Tod, der ihn in der Nacht vom 19. auf den 20. erlöste.«

Vom 25. Oktober ist ein Brief datiert, vielleicht der erste, den Frau Brater als Witwe schrieb, er ist an den treuesten Freund ihres Mannes, an Ernst Rohmer gerichtet; denn nicht zu den eigenen Angehörigen fühlt sich ein Trauernder vor allem hingezogen, vielmehr zu dem, der aus freier Freundschaftswahl dem teuern Verstorbenen nahe getreten war. Rohmer hatte nach der Beerdigung an Frau Brater geschrieben: »So ist es also vorüber und das treueste Herz deckt die Erde! Wenn ich daran denke, wie öde und verlassen Du Dich fühlen wirst nach so langer, tiefinnerster Lebensgemeinschaft, so blutet mir das Herz. Erscheint doch schon mir die Zukunft grau und farblos, weil nun ein Riß in mein Dasein erfolgt ist, der nicht mehr zu überbrücken ist! Ist dies persönlich so, so ist es noch viel mehr der Fall,wenn ich an unsere politischen Bestrebungen denke, deren Mittelpunkt und vornehmste Seele er war!.... Ich habe eben einen tief ergriffenen Brief von Stauffenberg erhalten. Er spricht es aus, daß Bayern seinen besten Bürger verloren hat, die Partei ihre Seele.« – Frau Brater antwortete dem Freund:

Lieber Ernst!Viele teilnehmende Worte kommen mir von allen Seiten zu, aber vor allem gehen mir die Deinigen zu Herzen und ich weiß ja recht wohl warum, weil sie eben bei Dir am tiefsten aus dem Herzen kommen; so sehnte ich mich die ganze Zeit her darnach, mit Dir ein paar Worte zu sprechen, und jetzt, wo ich den ersten ruhigen Augenblick finde, ist mir’s so hohl und ausgestorben zumute, so abgespannt vom vielen Sprechen und endlosen Wiederholen dessen, wobei einem das Herz blutet und das man zuletzt fast maschinenmäßig hersagt, so daß ich mich nun beinahe besinnen muß auf das, was ich bin und was ich war und was es ist, das mir nur halb begriffen das Herz zusammenschnürt; jeden Morgen stehe ich auf mit der Sehnsucht nach dem Abend, wo ich still und allein an seinem Bett stehen kann, die leeren Kissen im Arm haltend und den Platz mit Küssen bedeckend, wo seine Hände lagen.Wie sehr ich auf diesen letzten Trennungsschmerz vorbereitet gewesen bin, erkenne ich erst jetzt... Wie oft, oft bin ich schon unter heißen Tränen im Bett gelegen, wenn ich dem Ruhelosen und Gequälten »Gute Nacht« gesagt hatte und doch so gut wußte, daß sie ihm nicht zuteil werdenwürde! Darum hat sich auch mir das Bild, das sonst der Inbegriff alles Schmerzes ist, das Bild des Toten im Sarge, das hat sich mir eingeprägt als Trost und Erlösung und wenn mich der Schmerz übermannen will, so vergegenwärtige ich mir dies Bild, wie er so ruhigliegenkonnte, zum erstenmal wieder nach langen, schweren Monaten und wie die müde Brust ausruhte vom Kampf gegen den eindringenden Tod. Ja,seineRuhe ist mein einziger Trost und das Andenken an ihn meine einzige Freude; ich wußte, wie glücklich ich war, wir wußten es ja beide, wir haben es uns oft ausgesprochen, und eben darum werde ich ihn nie entbehren lernen, weil wir so ganz einig waren bis ins innerste Herz hinein.Daß ihm der letzte Trennungsschmerz erspart war, mochte auch ich ihm wohl gönnen, aber mir fiel es gar zu schwer und doch mochte ich ihm meine Gedanken nicht offenbaren. Mit welch wunderbarer Kraft er die letzten schweren Tage durchgekämpft hat, wird Dir berichtet worden sein, diese Kraft des Geistes, die sich vom Körper nicht fesseln ließ, täuschte auch mich bis zum letzten Augenblick. Es war in dieser langen Leidenszeit keine Klage und bis zum letzten Atemzug kein Seufzer über seine Lippen gekommen und noch im letzten Augenblick, wo er husten mußte und doch die Kraft nimmer da war, tröstete er mich, »es geht schon nach und nach«, dann sank er aufs Kissen zurück, richtete den Blick in die Höhe und ich sah, daß der Geist im Scheiden war – kaum konnte ich noch die armen Kinder herbeirufen.Die Ankunft der Kinder hatte ihm noch das letzte Lächeln abgelockt und noch einmal blickten die Augentreu und seelenvoll. Ob er die Pein der letzten Stunden empfunden hat, weiß ich nicht, das Morphium verfehlte seine betäubende Wirkung nicht; als ich um zwölf Uhr einmal an seinem Bett stand, sagte er: »ich glaube ich habe geschlafen«, dann hieß er mich ins Bett gehen, weil er immer darum besorgt war, daß man sich keine Mühe um ihn mache, ich ging, verwendete aber kein Auge von ihm; um zwei Uhr war ich wieder an seinem Bett .... ich gab ihm noch warmen Wein (die letzte Flasche Steinwein von Dir) und bis zehn Minuten vor seinem Tode ahnten wir denselben nicht; er hatte noch nach der Uhr gefragt, sein Ende war ein langsames Aufhören der mühevollen Atemzüge, ich horchte noch lange und immer wieder, ob es der letzte gewesen sei, aber auch das Herz stand still, das in den letzten Tagen so stark und unruhig geklopft hatte.Daß die kranke Lunge nicht dienächsteUrsache des Todes war, hat sich bei der Sektion gezeigt, es war das miterkrankte Herz, Du wirst ja den Bericht erfahren haben; nun können wir uns »die Unruhe in der Brust« erklären, von der er so oft sprach, noch am letzten Abend legte er meine Hand auf seine Brust und sagte: »da fühle, wie es da klopft«.... Man hat mir schon von mehreren Seiten freundliche Anerbietungen gemacht und ich weiß, daß mein Mann treue Freunde hat, die seine Frau nicht in Not kommen lassen würden, aber mein Mann hat selbst der Not vorgebeugt und es käme mir wie bitterer Undank vor, wenn ich mir nicht damit genügen lassen wollte ...... Nimmermehr möchte ich im Wohlstand leben, nachdemwir zusammen gesorgt und gespart und uns manches versagt haben, aber doch, ich kann es sagen,niemit bekümmertem Herzen, es hat diese Sorge dem Glück unseres Lebens keinen Eintrag getan ...

Lieber Ernst!

Viele teilnehmende Worte kommen mir von allen Seiten zu, aber vor allem gehen mir die Deinigen zu Herzen und ich weiß ja recht wohl warum, weil sie eben bei Dir am tiefsten aus dem Herzen kommen; so sehnte ich mich die ganze Zeit her darnach, mit Dir ein paar Worte zu sprechen, und jetzt, wo ich den ersten ruhigen Augenblick finde, ist mir’s so hohl und ausgestorben zumute, so abgespannt vom vielen Sprechen und endlosen Wiederholen dessen, wobei einem das Herz blutet und das man zuletzt fast maschinenmäßig hersagt, so daß ich mich nun beinahe besinnen muß auf das, was ich bin und was ich war und was es ist, das mir nur halb begriffen das Herz zusammenschnürt; jeden Morgen stehe ich auf mit der Sehnsucht nach dem Abend, wo ich still und allein an seinem Bett stehen kann, die leeren Kissen im Arm haltend und den Platz mit Küssen bedeckend, wo seine Hände lagen.

Wie sehr ich auf diesen letzten Trennungsschmerz vorbereitet gewesen bin, erkenne ich erst jetzt... Wie oft, oft bin ich schon unter heißen Tränen im Bett gelegen, wenn ich dem Ruhelosen und Gequälten »Gute Nacht« gesagt hatte und doch so gut wußte, daß sie ihm nicht zuteil werdenwürde! Darum hat sich auch mir das Bild, das sonst der Inbegriff alles Schmerzes ist, das Bild des Toten im Sarge, das hat sich mir eingeprägt als Trost und Erlösung und wenn mich der Schmerz übermannen will, so vergegenwärtige ich mir dies Bild, wie er so ruhigliegenkonnte, zum erstenmal wieder nach langen, schweren Monaten und wie die müde Brust ausruhte vom Kampf gegen den eindringenden Tod. Ja,seineRuhe ist mein einziger Trost und das Andenken an ihn meine einzige Freude; ich wußte, wie glücklich ich war, wir wußten es ja beide, wir haben es uns oft ausgesprochen, und eben darum werde ich ihn nie entbehren lernen, weil wir so ganz einig waren bis ins innerste Herz hinein.

Daß ihm der letzte Trennungsschmerz erspart war, mochte auch ich ihm wohl gönnen, aber mir fiel es gar zu schwer und doch mochte ich ihm meine Gedanken nicht offenbaren. Mit welch wunderbarer Kraft er die letzten schweren Tage durchgekämpft hat, wird Dir berichtet worden sein, diese Kraft des Geistes, die sich vom Körper nicht fesseln ließ, täuschte auch mich bis zum letzten Augenblick. Es war in dieser langen Leidenszeit keine Klage und bis zum letzten Atemzug kein Seufzer über seine Lippen gekommen und noch im letzten Augenblick, wo er husten mußte und doch die Kraft nimmer da war, tröstete er mich, »es geht schon nach und nach«, dann sank er aufs Kissen zurück, richtete den Blick in die Höhe und ich sah, daß der Geist im Scheiden war – kaum konnte ich noch die armen Kinder herbeirufen.

Die Ankunft der Kinder hatte ihm noch das letzte Lächeln abgelockt und noch einmal blickten die Augentreu und seelenvoll. Ob er die Pein der letzten Stunden empfunden hat, weiß ich nicht, das Morphium verfehlte seine betäubende Wirkung nicht; als ich um zwölf Uhr einmal an seinem Bett stand, sagte er: »ich glaube ich habe geschlafen«, dann hieß er mich ins Bett gehen, weil er immer darum besorgt war, daß man sich keine Mühe um ihn mache, ich ging, verwendete aber kein Auge von ihm; um zwei Uhr war ich wieder an seinem Bett .... ich gab ihm noch warmen Wein (die letzte Flasche Steinwein von Dir) und bis zehn Minuten vor seinem Tode ahnten wir denselben nicht; er hatte noch nach der Uhr gefragt, sein Ende war ein langsames Aufhören der mühevollen Atemzüge, ich horchte noch lange und immer wieder, ob es der letzte gewesen sei, aber auch das Herz stand still, das in den letzten Tagen so stark und unruhig geklopft hatte.

Daß die kranke Lunge nicht dienächsteUrsache des Todes war, hat sich bei der Sektion gezeigt, es war das miterkrankte Herz, Du wirst ja den Bericht erfahren haben; nun können wir uns »die Unruhe in der Brust« erklären, von der er so oft sprach, noch am letzten Abend legte er meine Hand auf seine Brust und sagte: »da fühle, wie es da klopft«.

... Man hat mir schon von mehreren Seiten freundliche Anerbietungen gemacht und ich weiß, daß mein Mann treue Freunde hat, die seine Frau nicht in Not kommen lassen würden, aber mein Mann hat selbst der Not vorgebeugt und es käme mir wie bitterer Undank vor, wenn ich mir nicht damit genügen lassen wollte ...... Nimmermehr möchte ich im Wohlstand leben, nachdemwir zusammen gesorgt und gespart und uns manches versagt haben, aber doch, ich kann es sagen,niemit bekümmertem Herzen, es hat diese Sorge dem Glück unseres Lebens keinen Eintrag getan ...

Die Freunde ließen es sich dennoch nicht nehmen, ihre edle Gesinnung für den Verstorbenen seinen Kindern gegenüber zu betätigen. »Am Mittwoch übersiedle ich zu Julie in die Schommergasse« schreibt Frau Brater, »bis dahin steht der Arbeitstisch meines Mannes unberührt, dann gibt’s einen schweren Abschied!«

In einem Album, das Bilder all der Orte enthält, die für Frau Braters Leben bedeutungsvoll waren, ist auch ein Blatt, das den Münchener Kirchhof zeigt. Daneben steht der Vers:

In stiller Nacht ist er von Dir geschieden,der Deine Liebe war, Dein Stolz, Dein Glück.Du fragst: was kann das Leben mir noch bieten,was soll ich noch, da er mich einsam ließ zurück?Das hellste Licht zeigt auch den dunkeln Schatten,dem größten Glück folgt tiefste Traurigkeit.Wo zwei so innig sich verwachsen hatten,da ist die Trennung schier ein unerträglich Leid.

In stiller Nacht ist er von Dir geschieden,der Deine Liebe war, Dein Stolz, Dein Glück.Du fragst: was kann das Leben mir noch bieten,was soll ich noch, da er mich einsam ließ zurück?Das hellste Licht zeigt auch den dunkeln Schatten,dem größten Glück folgt tiefste Traurigkeit.Wo zwei so innig sich verwachsen hatten,da ist die Trennung schier ein unerträglich Leid.

Ja, schier unerträglich erschien ihr der Gedanke an eine Trennung für Lebenszeit. Wußte sie doch, wie schwer sie an jeder vorübergehenden Trennung getragen hatte, trotz der Aussicht auf baldiges Wiedersehen, und nun sollte dieser Zustand dauern, immerzu dauern, eine Trauer ohne Ende dünkte ihr das vor ihr liegende Leben. Sie hatte völlig verlernt, sich allein für etwas zu interessieren, sich ohne ihn zufreuen. Wenn teilnehmende Menschen sie auf die Kinder hinwiesen, die sie noch besaß, die mit ganzer Liebe an ihr hingen, so wies sie auch diesen Trost ab, auch die Freude an den Kindern schien ihr unmöglich, wenn sie nicht vom Gatten geteilt wurde. Wohl beherrschte sie äußerlich ihren Schmerz, aber innerlich beugte sie sich nicht unter ihn. Stille Ergebung lag nicht in ihrer Natur, vielmehr war sie gewöhnt, anzukämpfen gegen das Übel; in allen schweren Lebenslagen, in den knappen Verhältnissen, im Unbehagen des Wanderlebens, in den Krankheitszuständen ihres Mannes, immer war sie mit geschärften Geisteskräften und mit praktischer Tätigkeit auf Abhilfe, Verbesserung, Erleichterung bedacht gewesen, hatte sich um so tapferer gewehrt, je größer das Übel war. Aber hier kam ein Leid, dem nicht beizukommen war, es ließ sich nicht umbiegen, nicht wenden, daß eine gute Seite herauskäme, es lockte nicht ihren Tätigkeitstrieb, sondern hemmte ihn vielmehr, es reizte nicht ihre Widerstandskraft, nein es lähmte sie.

In dieser trostlosen Verfassung kam ihr ein Brief ihres Bruders Hans zu. Er, der ähnlichen Schmerz erfahren hatte, empfand die wärmste Teilnahme für sie und er wußte auch, daß seine Schwester nicht in Untätigkeit Trost finden würde. Er bat sie zu kommen, für immer die beiden halbverwaisten Haushaltungen zu vereinigen und ihn dadurch so glücklich zu machen, wie er es nie mehr gehofft hatte zu werden. Aber ihre Antwort war ein »Nein«, ein schmerzlicher Aufschrei »ich kann nicht, wenigstens jetzt noch nicht, gönne mir Zeit, mich zu fassen«. Es tat ihr weh, dem Bruder das zu schreiben, aber sie lag zu tief darnieder,um sich so schnell aufraffen zu können. Sie blieb den Winter in München bei ihrer Schwägerin Julie, die dort wohnte und die drei betrübten Gäste bei sich aufnahm. Sie führten gemeinsame Wirtschaft, die Mädchen besorgten die Küche und lernten noch weiter, die Tante gab französischen Unterricht und Frau Brater saß in ihrem kleinen Zimmer und durchlebte in den stillen Wintertagen und vielen schlaflosen Nächten die tiefste Trübsal. Nur das konnte ihr Interesse erwecken, was mit ihrem Manne zusammenhing, und bezeichnend ist für sie, wie sich in ihren Briefen die alte Frische und Tatkraft zeigte, wenn sie in ihres Mannes Geist und an seinem Werk arbeiten konnte. In den letzten Jahren war ihnen beiden ein früherer Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung persönlich näher getreten,Dr.Nagel, der ähnlich wie Brater keine feste Anstellung hatte und später als Verfasser eines tief durchdachten religiösen Buches bekannt geworden ist. Über diesen gemeinsamen Bekannten schreibt sie an Rohmer: »Ich lege Dir einen Brief von Nagel bei, wegen dessen was er über seine Angelegenheiten schreibt; mir scheint, es wäre jetzt vielleicht der Augenblick gekommen, wo man diese tüchtige Kraft für Bayern wieder gewinnen könnte; Du weißt, er hat weiland in der Süddeutschen Zeitung Artikel geschrieben, von denen Karl sagte, daß er sie ohne weiteres für seine eigenen erklären könnte, und Karl hat auch mehrfach geäußert, wie erwünscht es ihm schiene, wenn Nagel zu haben wäre. Aber welche Stellung und Aufgabe könnte man ihm denn zuweisen? Die Wochenschrift? oder wäre an der Süddeutschen Presse ein Wirkungskreis? – Überlege Dir’s doch und schmiede das Eisen so lange es warm ist; Nagels religiöser Standpunkt ist gewißkein Hindernis, war er’s doch auch nicht bei Hofmann[8], und überhaupt, wenn die Bestrebungen einer Partei nicht die Probe der Religion Jesu aushalten, so sind sie gewiß irrig, wenigstens nach meinem schwachen weiblichen Urteil; an meines Mannes Reden und Handeln hat man diese Probe jederzeit anlegen können... Nagel hat immer ein schneidiges Wort geführt. Mich hat sein Brief in eine förmliche Aufregung versetzt, weil ich überzeugt bin, Karl würde Nagel festnehmen.«

[8]Professor der Theologie in Erlangen, Mitglied der Fortschrittspartei in Bayern.

[8]Professor der Theologie in Erlangen, Mitglied der Fortschrittspartei in Bayern.

[8]Professor der Theologie in Erlangen, Mitglied der Fortschrittspartei in Bayern.

Manches erhebende, tröstende Wort durfte die Witwe lesen, in Briefen, welche die Freunde des Verstorbenen an sie richteten, in Nekrologen, die nicht nur in Zeitungen Gleichgesinnter, sondern auch in Blättern erschienen, die seine Richtung immer bekämpft hatten und trotzdem seiner Person die Anerkennung nicht versagten. Hatte doch schon das ehrenvolle Trauergeleite zur letzten Ruhestätte gezeigt, wie sich dieser viel angefeindete Mann durchgerungen und zur Geltung gebracht hatte. Wer hätte zehn Jahre früher für möglich gehalten, daß die königlichen Staatsminister teilnehmen würden an seinem Leichenbegängnis! Er hatte seine Grundsätze nicht verleugnet und sich nicht gebeugt vor den Mächtigen, aber die gute Sache, der er mit Hingebung gedient hatte, die war es, die ihn mit in die Höhe gehoben hatte.

Worte wie die folgenden mußten der Witwe wohltun, wenngleich auch die Anerkennung nach dem Tode etwas unendlich Wehmütiges für die Hinterbliebenen hat.

Prof.Dr.Ad.Wagnerschrieb ihr: »... Ihnen muß es Stolz und Freude sein zu sehen, wie allgemein der Verlust Ihres Gemahls als ein schwerer für die Partei, für das Vaterland empfunden wird. Möge auch über seinen Tod hinaus sein Wirken von Einfluß bleiben und Früchte für Deutschland tragen, das wird ihm das schönste Denkmal sein...«

Nagelschrieb: »... Wohl wissen Alle, daß wir an ihm eine staatsmännische Intelligenz ersten Ranges, ein unersetzliches Führertalent an ihm verloren haben. Den meisten ist es nicht minder bekannt, daß in diesem schwächlichen Körper – zum leuchtenden Zeugnis für die Herrschaft des Willens, der moralischen Kraft über die Materie – ein stählener Charakter, ein Mann im vollen und ganzen Sinne des Wortes, in der Tat und Wahrheit eine Römerseele gewohnt hat; aber nur wir, die wir das Glück seines persönlichen Umgangs genossen, haben auch seine allgemein menschliche Seite, das Edle, Zarte, Reine seines Wesens vollkommen schätzen und lieben lernen können. Auchdaskonnten nur die näheren Bekannten völlig erkennen, wie bei ihm die Sache Alles, das Persönliche Nichts war; wie der Gedanke an das Ganze, die Hingabe an Staat und Vaterland ihn so völlig beherrschte und erfüllte, daß es einfach nicht möglich war, irgend ein persönliches Interesse, sei es auch noch so feiner und versteckter Art, sei es auch nur ganz unbewußt im Hintergrunde des Denkens und Wollens liegend, bei ihm vorauszusetzen. Diese reine und unbedingte Sachlichkeit war unter allen seinen seltenen Eigenschaften vielleicht die seltenste ...«

Prof. H.Baumgarten: »... Ich verfolge nun seit mehr als zwanzig Jahren die schweren Kämpfe unseresVolkes, um ein gesundes Dasein wieder zu gewinnen, ich habe im Süden und Norden einen großen Teil der Männer kennen gelernt, welche an dieser Arbeit einen hervorragenden Anteil genommen haben. Wenn ich aber sagen sollte, wer von allen diesen Männern einer großen Sache am reinsten, uneigennützigsten, unverdrossensten mit schwachem Leib und in bewegten Verhältnissen gedient habe, so würde ich keinen Augenblick anstehen zu erklären: Karl Brater... Ein so edles Leben so lange mit so ganzer Hingebung begleitet und mit voller Liebe gestützt zu haben, wie Sie getan, das ist ein schönes, beneidenswertes Los, und wie groß Ihr Schmerz sein muß, daß Sie nun von einem so guten und lieben Menschen getrennt sind,Sie sind doch unendlich viel glücklicher als Millionen, die heiter ein inhaltsleeres Leben führen. Wer so vom Leben gebildet worden ist wie Sie, der wird nicht klagen...«

»Sie sind unendlich viel glücklicher als Millionen?« ... In den Tagen, da sie diesen Brief erhielt, konnte Frau Brater dies nicht fassen, nicht zugeben, ihr ganzes Herz widersprach dem: Nein, nein, unter Millionen ist keine sounglücklichwie ich! Dies war der Schrei ihres Herzens. Aber Baumgarten hatte doch recht und wußte, was er sagte. Nicht nur die Erinnerung an das schönste Lebensglück meinte er, die ja ein unverlierbarer Schatz ist, nicht nur an die Schar treuer Freunde dachte er, die ihr und ihren Kindern zur Seite standen; ihm schwebte die höchste Errungenschaft vor, die sie aus diesem Bunde mit dem edeln Manne in sich trug, die Verwandlung ihres eigenen Wesens, die Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Hoch war sie durch ihn erhoben worden über alles Kleinliche, Selbstsüchtige,Unwahre, für das Große und Gute hatte er ihr Herz und Sinn erschlossen und dieses inneren Reichtums wegen war sie wohl glücklich zu preisen, auch jetzt, in der Stunde der Trauer. Und sie versank auch nicht in dem unendlichen Leid. Sie suchte nach dem, was sie darüber erheben konnte. In einem Brief an Rohmer preist sie alle diejenigen glücklich, die fest durchdrungen sind von dem Glauben an ein Wiedersehen im Jenseits und wünscht sehnlich, auch zu diesen zu gehören, da sie so viel Trost entbehre durch den Mangel an festem Glauben. »Aber ganz ohne Hoffnung bin ich nicht«, schließt sie diese Betrachtungen.

In dieser Stimmung kam ihr einer der Freunde zu Hilfe, der, selbst eine tiefreligiöse Natur und von lebendigem Glauben erfüllt, für Suchende und Schwankende einen Halt bieten konnte; es war Nagel. Gleich in seinem ersten Brief nach Braters Tod berührte er die Frage, welche, wie er ahnte, die Frau seines Freundes jetzt am tiefsten bewegen mußte.

Er schrieb: »Ich weiß nicht, ob Sie geneigt sind, die einzigen echten und wahren Trostgründe, die einzigen, welche das Menschenherz wirklich versöhnen können mit den Leiden und Schrecken des Daseins, ja selbst mit der furchtbaren Tatsache des Todes – ob Sie diese Gründe gelten lassen, unsere Anschauungen hierüber gehen ja wohl auseinander, doch vielleicht sind auch Sie von dem endlichen Wiedersehen überzeugt – was auch alles die bettelstolze Schulweisheit unserer Tage vorbringen möge, um den Menschen auch um diese Hoffnung ärmer zu machen. Und doch können wir diese Hoffnung zu unzweifelhafter Gewißheit erheben – wenn wir nämlichwollen.«

Diese Ansicht – wirkönnenglauben, wenn wirwollen–, der Einfluß des Willens auf die Überzeugung, auf Glauben oder Unglauben, war Nagels tiefe Überzeugung und stand auch im Mittelpunkte seines später erschienenen Buches: »Der christliche Glaube und die menschliche Freiheit«. Diesem von warmer Überzeugung beseelten Manne sprach Frau Brater alle ihre Zweifel und religiösen Kämpfe aus und seine Briefe, sowie später seine Schriften gewannen für ihr Leben Bedeutung und warfen ein Licht in die dunkle Trauerzeit dieses ersten Winters, den sie als Witwe erlebte. Nach verzweiflungsvollem Ringen mit ihrem tiefen Schmerz raffte sie ihre Kraft zusammen, um den Kampf mit dem Leben, der ihr an der Seite des geliebten Mannes so leicht geworden war, nun allein weiter zu führen. Sie schrieb an ihren Bruder, daß sie seinem Rufe folgen und im März zu ihm kommen wolle.

Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sie noch zusammen mit der Schwägerin, die ihre Trauer teilte, und mit den Töchtern dem Andenken des Verstorbenen leben, und ergreifend ist es zu lesen, wie sie noch mit lebhafter Empfindung die politischen Kämpfe der Partei verfolgt, zu deren Führern Brater gehört hatte. Sie schreibt an Rohmer: »Daß die Adreßdebatte nun zum Schluß gekommen, ist gar nicht mir zu wahrer Befriedigung ..... Mir scheint, unsere Leute haben da und dort den Anstand verletzt und sind auf das Niveau der Gegner herabgestiegen, das sie doch so sehr verachteten; natürlich mußte angegriffen, gestritten und das Herz an diesem Ort ausgeschüttet werden, aber kurz und bündig und ohne sich dann weiter in die Balgerei einzulassen, denn daß sie damit etwaserreichenwürden, hatdoch wohl keiner gedacht. Mir ist immer, als wäre es anders gegangen, wenn Karl noch als ›stiller Wächter‹ dabei gestanden wäre, die beiden Parteienmüssenja doch nebeneinander stehen, Karl hätte gewiß den möglichen Standpunkt erkannt und unwiderleglich bezeichnet für diebeidenParteien und die unwürdige Debatte wäre abgeschnitten worden ..... Ich habe den Eindruck, als ob über die Saat, die er ausgestreut hat, bereits ein böser Tau gefallen sei, und ich kann Dir gar nicht sagen, in welchem Maße mich dies schmerzt, es ist mir, als ob sein einziger geliebter Sohn ihm Unehre mache ..... Es wäre mir ein Trost, wenn Du oder andere die Angelegenheit nicht so schlimm aufgefaßt hätten wie ich .....«

Allmählich findet sie sich darein, ihren Mann diesen Kämpfen entrückt zu sehen:

»Die gegenwärtige Kammertätigkeit steht im grellen Widerspruch mit dem friedlich stillen Bilde, das ich im Herzen trage, und wenn ich diesen Kampfplatz auch noch immer für unser eigenstes Revier halten möchte, so durchdringt mich doch mehr und mehr der Gedanke, daß diese reine Seele nun zu einem höheren und vollkommenern Leben hindurchgedrungen ist.«

Als Frau Brater im Frühjahr 1870 mit ihren beiden Töchtern nach Erlangen übersiedelte, stand sie im dreiundvierzigsten Lebensjahr. Ihre flinke, bewegliche Art ließ sie eher noch jünger erscheinen, so wie auch ihre frische Gesichtsfarbe auf kräftigere Gesundheit schließen ließ, als sie tatsächlich besaß. Die heitere Umgangsform, die ihr von Natur eigen und in den Jahren tief innerlichen Glückes zur Lebensgewohnheit geworden war, blieb ihr auch in der Trauerzeit treu und so konnte jeder oberflächliche Beobachter glauben, sie sei der Aufgabe, den Haushalt des Bruders zu übernehmen, in jeder Hinsicht gewachsen. Und doch war dem nicht so, vielmehr gingen ihr die mannigfaltigen Anforderungen körperlich und gemütlich oft über die Kraft, und ihre Aufgabe war in der Tat keine kleine. Wieder galt es, sich möglichst sparsam einzurichten. Die Haushälterin wurde entlassen und nur ein Dienstmädchen beibehalten. Anna, die tüchtig gewesen wäre, mit anzugreifen in der Haushaltung, wurde zunächst zur Unterstützung einer befreundeten Familie nach Weimar berufen, Agnes war bald durch französischen Unterricht in Anspruch genommen, den zu erteilen sich günstige Gelegenheit bot. So lag viel auf der Hausfrau. Ihre vier Pflegekinder, zwei Knaben und zweiMädchen, standen nun im Alter von acht bis zwölf Jahren, und es galt vor allem, sie wieder an die neue Ordnung zu gewöhnen. So leicht sich nun einzelne Kinder einzugewöhnen pflegen, wenn sie aus ihrer Umgebung herausgenommen und in eine fremde versetzt werden, so schwer ist es, wenn so ein Trüppchen beisammen in den gewohnten Verhältnissen bleibt und doch plötzlich ein anderes Regiment über sie kommt. Wer kann es ihnen verargen, daß sie sich in der gewohnten Freiheit beschränkt, in allen Rechten verkürzt, im täglichen Leben beengt fühlen? Mit einem tiefen Seufzer klagte die kleine Julie eines Abends bei Agnes: »Es gibt eben jetzt so viel, ach so arg viel, was wir nimmer tun dürfen und was wir vorher gedurft haben.« Und wer kann es andererseits der gebildeten Frau verargen, wenn sie mit den Forderungen des Gehorsams, der Wahrhaftigkeit und der Ordnung herantritt an ihre Pflegebefohlenen? Mußte sie es nicht tun, wenn ihr das Wohl dieser Kinder am Herzen lag, wie das ihrer eigenen? Aber eine Erziehung, die jahrelang gefehlt hat und dann plötzlich einsetzt, wird von Kindern schwerlich als Liebe empfunden. Traurig äußerte sie in jener Zeit: »Die Kinder, die mir so zugetan waren wie eigene, sind mir ganz entfremdet worden. Mit Furcht und Mißtrauen stehen sie mir gegenüber und verheimlichen all ihr Tun vor mir.«

Das waren große Schwierigkeiten und nur einer im Hause blieb wunderbar unberührt davon, Bruder Hans. Er setzte in seine Schwester das größte Vertrauen und hatte für seine Kinder eine rührende Liebe. Von der Stunde an, wo er Schwester und Kinder beisammen wußte, fühlte er sich glücklich und war voll der besten Zuversicht. Nachseiner Überzeugung mußten die Kinder die Tante lieben, und diese würde an der Erziehung alles gut machen, was versäumt war, die finanziellen Angelegenheiten ruhten bei ihr in besten Händen, also war allem Elend abgeholfen und man ließ ihn künftig in Ruhe mit Heiratsprojekten. Leichteren Herzens als seit Jahren ging er in sein Kolleg, paßte ihn doch die Haushälterin nimmer an der Treppe ab, um ihre Klagen über die Kinder und die Geldnot vor ihn zu bringen; fröhlich wanderte er durch Hof und Garten, die merkwürdig sauber aussahen, seitdem Pauline zwei Wagen voll Schutt hatte hinausschaffen lassen, zerbrochene Ofenteile, verdorbenen Hausrat, zersprungenes Geschirr, was alles in Jahren durch das Fenster in den Hof geflogen oder durch die Kinder in den Garten geraten war. Wenn er abends mit der Schwester im Garten saß, fühlte er sich glücklich und Pauline mochte ihn nicht behelligen mit Klagen über die mannigfaltigen Schwierigkeiten, gönnte sie es ihm doch so von Herzen, daß es ihm auch noch einmal gut ging im Leben. Hingegen schilderte sie in Briefen an Anna die unerfreulichen Zustände, die sie und Agnes im Hause vorgefunden hatten. Aber als sie aus Annas Briefen erkannte, daß diese infolgedessen sich gar nicht auf ihre bevorstehende Heimkehr von Weimar freuen konnte, suchte sie ihr wieder Lust und Mut zu machen und schrieb der Tochter:

..... »Du fragst, ob ich auch jetzt noch des Onkels Haus als unsern Aufenthalt wählen würde, und ich bin darüber keinen Augenblick zweifelhaft, so sehr sich auch oft das Herz abwendet von Verhältnissen, die mit den vergangenen so ganz im Widerspruch stehen.

Es würde uns wenig Erleichterung bringen, könnten wir auch die Form von ehedem noch mehr bewahren, wir würden dennoch jede Stunde inne werden, daß das Licht und die Sonne fehlt, die unser Leben bis hierher so glänzend erleuchtet haben. – Wenn ich manchmal hinuntergehe in des Vaters (früheres) Stübchen, wo sein Tisch und Stuhl steht, da wird es mir immer nur so untröstlich zumute, daß ich glaube, man kämpft sich leichter durch, wenn man sich entschließt, in Gottes Namen alles und alles dahinzugeben, da uns ja doch alles nur an den Verlust mahnt. Wenn wir des VatersBeispielbefolgen wollen, so können wir auch nicht zweifelhaft sein, daß wir hier am rechten Platze sind. Sei überzeugt: wenn ich den Vater hätte fragen können, so hätte er uns das geraten, was ich nun getan habe, hat denn nicht auch er sich immer an den Posten gestellt, wo die Arbeit notwendig und dringend war, ohne Rücksicht auf die eigene Bequemlichkeit; ja wenn wir in diesem Hause tun, was in unsern Kräften steht, so leben wir nach seinem Geist und Vorbild und werden darin unser Glück finden. Daß man aus einem arbeitsvollen Leben mehr Segen und Befriedigung zieht, als wenn man seiner Neigung und Bequemlichkeit folgen kann, das ist ja eine Wahrheit, die nicht ich erst erfunden, wohl aber in reichem Maße erprobt habe. Für euch beide glaube ich, daß es auch jetzt schon am bestenhierist, habt ihr doch im Umgang mit eurem Onkel immer eine Anregung, die ihr außerdem schwer entbehren würdet, und oft denke ich daran, wie vielen Grund zur Dankbarkeit wir haben, daß er uns seine treue Liebe so zuwendet. Als neulich Frau Professor Thiersch eine von euch engagieren wollte, sprachsich der Onkel mit aller Heftigkeit dagegen aus, zuletzt sagte er noch: ›ich kann’s so nicht erwarten, bis die Anna wieder kommt, ich zähle jeden Tag.‹ Im ganzen sind wir doch auch schon ein wenig heimisch hier geworden und schwer ist nur die Kinderunruhe, die man eben den ganzen Tag hat und bei der man nicht zu Worte kommen kann, doch in Jahresfrist werden sie ein wenig wohlgezogen sein. Immerhin ist es aber gut, wenn Du Dir vergegenwärtigst, daß es hier zunächst einiges Entsagen gilt, Du wirst Dich dennoch da heimisch fühlen, wo ich bin .....«

Ganz allmählich besserte sich das Verhältnis zu den Kindern. Der älteste ihrer Pflegebefohlenen, Robert, ein sehr begabter Knabe, fühlte, daß ihm der Verkehr mit der Tante ganz ungewohnte geistige Anregung bot, und besprach sich gern mit ihr; bei dem jüngsten, dem kleinen Wilhelm, einem herzensguten Kind, hatte das Mißtrauen nie feste Wurzel gefaßt, er wandte sich bald wieder zutraulich an die Tante und diese Wandlung der Brüder blieb nicht ohne Einfluß auf die Schwestern. Doch wird sich bei Mädchen nie so leicht ein kindliches, vertrauensvolles Verhältnis bilden, weil sie viel zugänglicher sind für die Einreden törichter oder gewissenloser Leute, die in solch schwierigen Verhältnissen nie fehlen. Niemand hatte es je Frau Brater übel gedeutet, wenn sie die eigenen Kinder einfach hielt, aber bei Neffen und Nichten war das anders, und jedermann glaubte sich berechtigt, sich einzumischen. Derartige Schwierigkeiten lassen sich nicht in Wochen und Monaten überwinden, man muß da mit Jahren rechnen, ja es ist Lebensarbeit und wir sind alle unvollkommeneArbeiter. Frau Brater wäre die erste gewesen, das zuzugeben, nie war sie der Meinung, jederzeit den richtigen Ton getroffen zu haben. In späteren Jahren, aus der Ferne zurückblickend, glaubte sie manchen Fehler zu erkennen und war um so dankbarer dafür, daß schließlich alles gut geworden und sie in ihren alten Tagen die volle Liebe derer genießen durfte, denen sie Mutterstelle ersetzt hatte. In den Briefen aus der Zeit der größten Schwierigkeiten tut sie deren kaum Erwähnung, nur die Trauer, die unverändert in ihrem Herzen lebte, spricht sie manchmal ergreifend aus. So an Ernst Rohmer nach einem Besuch ihres gemeinsamen Freundes Nagel: »Ich habe Dich während Nagels Anwesenheit oftmals zu uns gewünscht ... Was mich vor allem mit wahrer Sympathie zu ihm hinführt, das ist die Ähnlichkeit, die er trotz aller Verschiedenheit im letzten Grunde mit meinem Mann hat, es ist dieses ernste, unermüdliche Wollen und dieses unbestechliche Anerkennen und Voranstellen der Wahrheit. Mich hat dieser tiefe moralische Ernst sehr bewegt, denn er hat mir das Beispiel meines lieben Mannes wieder lebhaft vor Augen geführt, ich sehe sein unermüdliches Arbeiten, auch wo es ihm schwer wurde, und so fühle ich mich veranlaßt, auch auf meinem traurigen Wege nicht schwach die Hände sinken zu lassen. – Ach, man muß eben ein ganz anderer Mensch werden, wenn man einen solchen Verlust erlitten hat, und wie lange, wie lange wird das dauern! Noch habe ich so gar nichts zustande gebracht, noch hängt mein Herz so ganz und ausschließlich an ihm, daß ich mir noch gar nichtdenkenkann, daß es anders werden wird; es ist ja nicht, als ob ich mich der Gegenwart verschlösse und gewaltsam die Vergangenheitfesthalten wollte, im Gegenteil, ich seufze oft förmlich nach Erleichterung dieses bittern, bittern Schmerzes.«

Dieser Brief ist vom 12. Juni datiert. Allen denen, die in jener Zeit im eigenen Leid versunken sich sehnten, darüber hinaus gehoben zu werden, kam eine mächtige Hilfe von außen: einen Monat später wurde der deutsch-französische Krieg erklärt. Es läßt sich denken, wie dieses Ereignis, das auch die schläfrigsten unter den Deutschen aufzurütteln vermochte, in der patriotischen Familie des Hauses Pfaff-Brater widerhallte! Entrüstet über die leichtfertige Kriegserklärung der Franzosen schreibt Frau Brater: »Könnte man doch den Groll der deutschen Frauen nutzbar machen fürs Vaterland!« Was aber sie, wie alle national gesinnten Deutschen zunächst am meisten bewegte, war die Frage, ob Süddeutschland einig mit Preußen gegen Frankreich ziehen würde. Wir können uns heutzutage kaum mehr vorstellen, welche feindselige Gesinnung gegen Preußen damals noch in breiten Schichten des bayerischen Volkes herrschte. In einem Artikel des Volksboten vom Oktober 1868 finden wir folgende Stelle: »Wir tragen kein unnötiges Verlangen, an der Seite Frankreichs gegen unsere einzigen Feinde, die Preußen, in den Krieg zu ziehen, solange Frankreich allein fertig werden kann mit unsern Quälgeistern; wir wollen nicht Knechte und Vasallen werden, weder der Franzosen noch der Preußen; aber das wird man nicht verwehren können, daß viele in den Franzosen ihre einzigen Schützer gegen preußische Vergewaltigung, ihre einzigen Helfer in der Not, ihre Retter von der Annexion 1866 und – wenn Gott es will – ihre dereinstigen Befreier von dem unerträglichen Joche des brutalenPreußentums sehen. Frankreich bedarf unserer Hilfe nicht, solange es allein imstande ist, den tönernen nordischen Koloß zu demütigen, wenn nicht zu zerschlagen.«

Wir begreifen, daß bei solcher Gesinnung ein Zusammengehen aller deutschen Stämme gegen den äußeren Feind keineswegs gesichert war, ja in Frankreich war bei der Kriegserklärung zuversichtlich auf die deutsche Uneinigkeit gebaut worden. Daß sich unsere Feinde darin verrechnet haben, daß das nationale Bewußtsein doch den Sieg davon trug ist gewiß zum Teil auch das Verdienst solch treuer Vorkämpfer wie Brater, die ihr ganzes Leben dem Erwecken der nationalen Gesinnung geopfert haben. Als die Kunde von dem einmütigen Vorgehen der Deutschen kam und bald darnach die ersten Siegesnachrichten einliefen, drang der Jubel und das Dankgefühl auch der trauernden Witwe ins Herz.

In heller Begeisterung schreibt Frau Brater nach dem ersten Sieg bei Weißenburg an Rohmer:


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