SECHZEHNTES KAPITEL.

SECHZEHNTES KAPITEL.

Der Herzog hatte sich in seinem Schlafzimmer eingeschlossen und sich die Ohren verstopft, um nicht die Hammerschläge zu hören, die vom Zunageln der Packkisten, die die beiden alten Diener fertig machten, herüberhallten. Jeder Schlag traf sein Herz und schlug ihm eine tiefe Wunde ins volle Fleisch.

Der Ausspruch des Arztes verwirklichte sich. Die Furcht, nochmals die Schmerzen, die er ertragen hatte, durchmachen zu müssen und die Angst vor einem grässlichen Todeskampf hatten mächtiger auf den Herzog gewirkt, als der Hass der niederträchtigen Existenz, zu welcher ihn das Urteil des Arztes verdammte.

„Und doch giebt es Leute,“ murmelte er, „die zurückgezogen leben, ohne mit jemand zu sprechen, die sich fern von der Welt verzehren,so wie die Zuchthäusler und die Trappisten, und nichts beweist, dass diese Unglücklichen, wie auch die Weisen wahnsinnig oder schwindsüchtig werden.“

Er hatte diese Beispiele dem Doktor ohne Erfolg angeführt. Dieser hatte ihm in trocknem Ton wiederholt, der keine Einrede zuliess, dass seine Ansicht, die übrigens durch die Ansicht aller Krankheitsbeschreiber des Nervenleidens bestätigt wurde, dass allein Zerstreuung, Vergnügen, Freude auf die Krankheit Einfluss haben könnte, die richtige wäre. Ungeduldig gemacht durch die Gegenklagen seines Kranken, hatte er ein für allemal erklärt, dass er sich weigere, seine Behandlung fortzusetzen, wenn er nicht einwillige, die Luft zu wechseln und nach den neuen Vorschriften der Gesundheitslehre zu leben.

Herzog Jean hatte sich nach Paris begeben und andere Specialisten zu Rate gezogen, ihnen unparteiisch seinen Fall vorgelegt, und nachdem alle ohne Zögern die Verschreibungen ihres Fachgenossen gebilligt, hatte er eine leere Wohnung in einem neuen Hause gemietet, war nach Fontenay zurückgekehrt und hatte,ausser sich vor Wut, den alten Dienern befohlen, die Koffer zu packen.

Tief in seinen Sessel gedrückt, grübelte er jetzt über die Wandlung nach, die seine Pläne umstürzte, die die Neigungen seines jetzigen Lebens zerstörte, seine zukünftigen Projekte begrub. Er musste diesen Hafen, der ihn schützte, verlassen, wieder von neuem in den Sturm von Albernheiten hinaustreten, der ihn früher niedergeworfen hatte!

Die Ärzte sprachen von Vergnügungen, Zerstreuungen; ja aber mit wem und womit sollte er sich denn erheitern und zerstreuen?

Hatte er sich nicht selbst aus der Gesellschaft gestossen? Kannte er einen Menschen, der es versuchen möchte, so wie er sich in Betrachtungen zu verbannen, sich in Träumereien zu verlieren? Kannte er auch nur einen Menschen, der imstande war, den Scharfsinn eines Satzes, die Feinheit einer Malerei, die Quintessenz eines Gedankens zu schätzen, einen Menschen, dessen Seele fein genug war, einen Mallarmé zu verstehen, einen Verlaine zu lieben?

Wo, wann und in welcher Gesellschaft sollteer suchen, einen Geistesgenossen zu finden, einen Geist, abgesondert von allen Gemeinplätzen, der das Schweigen wie eine Wohlthat, den Undank wie eine Erleichterung, das Misstrauen wie einen Schutz, wie einen Hafen segnete? In der Welt, in der er vor seiner Abreise nach Fontenay gelebt hatte? – Die meisten dieser Junker, mit denen er verkehrt, hatten sich seit jener Zeit noch mehr in den Salons verdummt, waren noch mehr an den Spieltischen versumpft, an den Küssen der Dirnen noch mehr verliedert. Die meisten mochten sogar verheiratet sein.

„Welch hübscher Wechsel, welch schöner Tausch war doch diese von der sonst so prüden Gesellschaft angenommene Gewohnheit!“ träumte der Herzog vor sich hin.

War denn nicht auch der alte Adel in Fäulnis geraten? War die Aristokratie nicht dem Stumpfsinn und der Versumpfung anheimgefallen? Sie erlosch in der Herabgekommenheit ihrer Nachkommen, deren Fähigkeiten bei jeder Generation schwächer wurden und deren Gorilla-Instinkte eines Stallknechtes und Jockeys würdig waren.

Die Klöster waren in Apotheken und Likörfabriken verwandelt. Sie verkauften Rezepte oder machten sie selbst: der Orden der Cistercienser zum Beispiel Schokolade; Trappisten Nudeln und aromatische Weingeistarnika; die Dominikanermönche fabrizierten gegen den Schlagfluss wirkende Elixiere; die Jünger des heiligen Benedikt Benediktiner-Likör; die Mönche des heiligen Bruno Chartreuse.

Der Handel hatte die Klöster überschwemmt: statt der Chorbücher standen grosse Handels-Register auf den Kirchenpulten. Dem Aussatze gleich zerstörte die Gier die Kirche, sie beugte die Mönche über die Inventuren und Rechnungen, verwandelte die Kirchenväter in Zuckerbäcker und Quacksalber, die Laienbrüder und Klosterdiener in gewöhnliche Packer und Krukenverschliesser.

Und dennoch waren es nur noch die Geistlichen, bei denen der Herzog Verbindungen erhoffen konnte, die bis auf einen gewissen Grad seinem Geschmack gleichkamen. In der Gesellschaft der Stiftsherren, im allgemeinen gelehrt und wohlerzogen, würde er einige angenehme und interessanteAbende verbringen können. Aber dazu war es nötig, dass er ihren Glauben teilte, dass er nicht zwischen skeptischen Ideen und Überzeugungssprüngen schwankte, die von Zeit zu Zeit, durch die Erinnerungen seiner Kindheit unterstützt, auftauchten.

Er hätte identische Meinungen hegen müssen und nicht, wie er es gern in den Augenblicken der Erregung that, einen mit etwas Magie gesalzenen Katholizismus anerkennen dürfen.

Dieser besondere Klerikalismus, dieser verderbte und künstlich lasterhafte Mystizismus, auf welchen er in gewissen Stunden lossteuerte, konnte sogar mit einem Priester nicht besprochen werden, der ihn nicht begriffen und ihn sofort mit Entsetzen verbannt haben würde.

Zum zwanzigsten Mal erregte ihn dies unlösliche Rätsel. Er hätte gewünscht, dass dieser argwöhnische Zustand, gegen den er vergeblich in Fontenay gekämpft hatte, ein Ende nähme, jetzt, wo er aus sich herausgehen sollte; er hätte sich zwingen mögen, den wahren Glauben zu besitzen, sich ihn tief einzuprägen, sobald er ihn halten würde, ihn mit Klammern in seiner Seelezu befestigen, ihn endlich in Sicherheit zu bringen vor allen Grübeleien, die ihn schwankend machten.

„Könnte man doch jedes Grübeln aufgeben!“ murmelte der Herzog mit einem schmerzlichen Seufzer; „man müsste die Augen schliessen können, sich durch die Strömung forttreiben lassen und diese verfluchten Entdeckungen vergessen können, die das religiöse Gebäude seit zwei Jahrhunderten von oben bis unten erschüttert haben.“

„Und noch dazu sind es nicht einmal die Ungläubigen, noch die Physiologen,“ seufzte er, „die den Katholizismus niederreissen; es sind die Priester selbst, deren ungeschickte Werke die hartnäckigsten Überzeugungen ausrotten können.

Hatte sich nicht ein Doktor der Theologie, ein Predigerbruder, der hochwürdige Pater Rouard de Card, erdreistet, in einer Broschüre: ‚Die Fälschungen der sakramentalen Substanzen‘ unumstösslich zu beweisen, dass der grösste Teil der Messen aus dem Grunde nicht gültig war, weil die dem Kultus dienenden Stoffe durch die Verkäufer gefälscht waren?“

Seit Jahren waren die heiligen Öle mit Hühnerfett, das Wachs mit verkalkten Knochen, dasWeihrauch mit gewöhnlichem und altem Benzoeharz verfälscht worden.

Aber was noch schlimmer, war, dass Substanzen, die dem heiligen Opfer unentbehrlich waren, verfälscht wurden; der Wein durch mannigfaltiges Verschneiden, durch unerlaubte Einführung von Fernambukoholz, Attichbeeren, Alkohol, Alaun, Salicylsäure, Bleiglätte; das Brot, dies Brot des heiligen Abendmahls, das aus dem feinsten Weizen geknetet werden soll, durch Erbsenmehl, Pottasche und Pfeifenerde.

Ja man war noch weiter gegangen, man hatte gewagt, das Korn vollständig wegzulassen und schamlose Händler fabrizierten fast alle Hostien aus Kartoffelmehl!

Ach! die Zeit war fern, wo Radegonde, Königin von Frankreich, selbst das für den Altar bestimmte Brot bereitete, wo nach den Gebräuchen von Cluny drei Priester oder drei Diakonen, nüchtern, mit weissem Chorhemd und Achseltüchern bekleidet, sich das Gesicht und die Hände wuschen und den Weizen Korn für Korn aussuchten, ihn unter dem Mühlstein zermalmten, den Teig in kaltem reinen Wasser kneteten und ihn selbstauf einem hellen Feuer backten und Psalme dabei sangen!

Diese Betrachtungen verdüsterten noch mehr die Aussicht auf sein künftiges Leben und färbten seinen Horizont noch drohender und dunkler.

Wahrlich, ihm blieb keine Rhede, kein Ufer offen! Was würde aus ihm werden in diesem Paris, wo er weder Familie noch Freunde besass? Kein Band verknüpfte ihn mehr mit dem Faubourg Saint-Germain, das vor Altersschwäche zitterte, sich im Staub des Verfalls abbröckelte und in einer neuen Gesellschaft wie eine zerbrochene, leere Schale dalag!

Und welch eine Verbindung konnte zwischen ihm und der bürgerlichen Klasse existieren, die nach und nach emporgestiegen war, die Vorteil aus allen Missgeschicken zog, um sich zu bereichern?

Nach der Aristokratie der Geburt war es jetzt die Geldaristokratie, der Despotismus des Handels mit feilen und engherzigen Ideen, eitlen und schurkischen Instinkten.

Gemeiner, ruchloser als der entartete Adel und die gesunkene Geistlichkeit war das Bürgertum,das ihnen ihre eitlen Prahlereien, ihre einfältige Ruhmredigkeit entlehnte, die es durchseinen Mangel an Lebensart erniedrigte, während es ihre Fehler in heuchlerische Laster verwandelte. Und wie herrisch und tückisch, wie niedrig und feige schoss es mitleidslos auf seinen ewigen und doch unentbehrlichen Geprellten, den Pöbel, seine Kartätschen ab, dem es selbst den Maulkorb abgenommen und entmündigt hatte, um den alten Ständen den Garaus zu machen.

Das war jetzt eine abgemachte Thatsache. Nun, wo seine Arbeit gethan, hatte man gesundheitshalber den Pöbel bis aufs Blut geschröpft; und der nun beruhigte Bürger herrschte vergnügt durch die Macht des Geldes und die Ansteckung seiner Dummheit.

Die Folge seiner Erhebung war die Vernichtung aller Intelligenz, die Verneinung aller Rechtschaffenheit, der Tod jeder Kunst. So lagen die verächtlichen Künstler auf den Knieen und küssten inbrünstig die Füsse der hohen Pferdehändler und gemeinen Satrapen, deren Almosen sie ernährte!

Es war über die Malerei eine Sintflut vonkraftlosen Albernheiten, in der eine Völlerei glatten Stils und feiger Ideen herrschte, hereingebrochen. Denn der Geschäftsintrigant will Rechtschaffenheit; der Freibeuter will Tugend; wer nach einer Mitgift für seinen Sohn jagt, sträubt sich, sie für seine Tochter zu zahlen; der Anhänger Voltaires sucht keusche Liebe; wer die Geistlichkeit der Notzucht beschuldigt, treibt sich dumm und heuchlerisch in den unordentlichen Zimmern der Dirnen herum.

Es war die grosse Galeere Amerikas, die nach Europa verschlagen war. Es war die ungeheure und unerhörte Anmassung des Geldmenschen und Emporkömmlings, die wie eine gemeine Sonne über die götzendienerische Stadt strahlte, die im Staube vor dem ruchlosen Tabernakel der Bankhäuser zotige Gesänge ausstösst.

„Stürze doch zusammen, Gesellschaft! Stirb doch, alte Welt!“ rief der Herzog empört über das gemeine Schauspiel, das er heraufbeschwor; dieser Schrei brach den Alp, der ihn bedrückte.

„Ach!“ seufzte er, „und sich sagen zu müssen,dass dies alles kein Traum ist! Dass ich wieder in das schändlich gemeine Gewühl des Jahrhunderts hineingeworfen werde!“ Um sich zu beschwichtigen, rief er die tröstenden Lebensregeln Schopenhauers zu Hilfe; er wiederholte sich den schmerzlichen Grundsatz Pascals: „Die Seele sieht nichts, was sie nicht betrübt, wenn sie daran denkt.“ Aber die Worte hallten in seinem Gehirn wider wie Laute ohne Sinn; sein Verdruss zersplitterte sie, entzog ihnen jede Bedeutung, jede beruhigende Wirkung, jede wirkliche und sanfte Kraft.

Er sah schliesslich ein, dass die Beweisgründe des Pessimismus ohnmächtig waren ihn zu erleichtern, dass der unmögliche Glaube an ein zukünftiges Leben allein beruhigend wirken würde.

Ein Wutausbruch fegte gleich einem Orkan seine Versuche der Entsagung und der Gleichgültigkeit hinweg. Er konnte es sich nicht mehr verhehlen, es gab nichts, garnichts mehr. Alles war vernichtet!

Würde der schreckliche Gott der Schöpfung und der blasse Losgenagelte von Golgathanicht einmal wirklich zeigen, dass er existierte, nicht die Sintfluten wieder erneuern, die Flammenregen wieder anzünden, die einst die verdammten und toten Städte verzehrt hatten!?

Würde dieser Schlamm fortfahren zu fliessen und mit seinem Pesthauch die alte Welt vergiften, wo nur noch Saaten von Frevelthaten und Ernten von Schande aufgingen!? – – –

Plötzlich ging die Thür auf. In der Ferne, von den Thürpfosten umrahmt, sah man kräftige Männer in Arbeitstracht, die grosse Kisten und Möbel auf den breiten Nacken hinaustrugen. Dann schloss sich die Thür wieder hinter dem alten Diener, der Packete mit Büchern geholt hatte.

Der Herzog fiel vernichtet auf einen Stuhl.

„In zwei Tagen werde ich in Paris sein,“ murmelte er, „nun ist alles zu Ende! Wie eine Springflut steigen die Wogen der menschlichen Mittelmässigkeit bis zum Himmel und sie werden den Zufluchtsort verschlingen, dessen Dämme ich wider meinen Willen öffnen muss. Ach! Mir fehlt der Mut!

Jesus Christus habe Mitleid mit dem Christen, der zweifelt, mit dem Ungläubigen, der glauben möchte, dem Sklaven des Lebens, der allein hinaussteuert in die Nacht unter einen Himmel, an dem keine tröstenden Sterne alter Hoffnungen mehr leuchten.“


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