VIERZEHNTES KAPITEL.

VIERZEHNTES KAPITEL.

Einige Tage lang war sein Zustand erträglich, dank der Mittel, die er seinem Magen anbot. Aber eines Morgens wollte er die marinierten Gerichte nicht mehr annehmen, und der Herzog fragte sich beunruhigt, ob seine grosse Schwäche nicht noch zunehmen und ihn nötigen würde, das Bett zu hüten.

Es fiel ihm plötzlich ein, dass einer seiner Freunde es mit Hilfe eines gewissen Nahrungsmittels erreicht hatte, seiner Blutarmut Einhalt zu thun und sich das bisschen Kraft zu erhalten.

Er schickte schnell seinen Diener nach Paris, um sich dieses kostbare Mittel zu verschaffen; nach dem Prospekt, den der Fabrikant beigelegt hatte, unterrichtete er selbst seine Köchin, wie das Rindfleisch in kleine Stücke zu schneiden und zuzubereiten sei.

Den durch diese Prozedur gewonnenen Saft nahm er löffelweise ein.

Durch diese Kur wurde das Nervenleiden aufgehalten und der Herzog sagte sich:

„Das hätten wir immerhin erreicht; vielleicht dass die Temperatur sich ändert und der Himmel etwas Asche auf diese abscheuliche Sonne wirft, die mich völlig erschöpft, und dass ich mich ohne grosse Schwierigkeit bis zur ersten Kälte durchschlagen werde.“

In dieser Erschlaffung und müssigen Langeweile, in die er versunken, ärgerte ihn seine Bibliothek, deren Ordnung unvollendet geblieben war; da er nicht mehr aus seinem Lehnstuhl aufstehen konnte, hatte er unaufhörlich seine profanen Bücher vor sich, die wie Kraut und Rüben in den Fächern standen und lagen. Die Unordnung verletzte ihn um so mehr, da sie zu der sorgfältigen Ordnung der religiösen Bibliothek in schreiendem Widerspruch stand.

Er versuchte dieser Verwirrung ein wenig abzuhelfen, aber nachdem er zehn Minuten gearbeitet, war er wie in Schweiss gebadet; die Anstrengung erschöpfte ihn. Wie gebrochenlegte er sich aufs Sofa und klingelte seinem Diener.

Auf seine Angabe hin machte sich der alte Mann ans Werk, ihm einzeln die Bücher zuzutragen, die er prüfte und deren Platz er bezeichnete.

Diese Arbeit war von kurzer Dauer, denn die Bibliothek des Herzogs Jean schloss nur eine ausserordentlich kleine Zahl moderner weltlicher Werke ein.

Er war nämlich zu dem Resultat gelangt, dass er nicht mehr ein Buch entdecken könne, das seinen geheimen Wünschen entsprach; und seine Bewunderung liess sogar für diejenigen Bücher nach, die dazu beigetragen hatten, seinen Geist zu schärfen und ihn so argwöhnisch und so wählerisch zu machen.

In der Kunst waren seine Ideen von dem eigentlich selbständigen Standpunkt ausgegangen: für ihn existierten keine Schulen, das Temperament des Schriftstellers allein war für ihn massgebend. Die Arbeit seines Gehirns interessierte ihn, welches Thema er sich auch gestellt haben mochte.

Leider war in Wahrheit diese Schätzung, eines La Palisse würdig, beinahe undurchführbar, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil jeder, wenn er es auch wünscht, sich von allen Vorurteilen loszumachen, und sich jeder Parteinahme zu enthalten sucht, sich aber doch mit Vorzug zu den Werken hingezogen fühlt, die mit seinem Temperament am meisten übereinstimmen.

Dieser Prozess der Auswahl hatte sich langsam in ihm vollzogen; er hatte vor kurzem noch den grossen Balzac angebetet, aber zur selben Zeit, als sein Organismus aus dem Gleichgewicht geriet und seine Nerven die Herrschaft übernahmen, hatten sich auch seine Neigungen modifiziert und seine Bewunderungen vermindert.

Seit kurzem sogar, und obwohl er sich Rechenschaft von seiner Ungerechtigkeit gegen den trefflichen Verfasser der „menschlichen Komödie“ ablegte, war er dahin gekommen, seine Werke nicht mehr zu öffnen. Andere Wünsche bewegten ihn jetzt, die kaum definierbar waren.

Er sah bei einiger Prüfung zwar ein, dass ein Werk, das ihn anziehen sollte, den Stempel der Seltsamkeit tragen müsse, wie zum BeispielEdgar Poës Kunst; aber er wagte sich häufig noch weiter vor auf diesem Wege.

Er wollte durchaus ein Kunstwerk, das für sich Bedeutung hatte. Er wollte ihm folgen, wie gestützt und getragen von einem freundlichen Helfer, in eine Sphäre, in der ihm die erhabenen Empfindungen eine ungeahnte Sensation einflössten, bei denen er lange nach der Ursache forschen konnte.

Er entfernte sich mehr und mehr von der Wirklichkeit und besonders von der heutigen Gesellschaft, gegen die er einen wachsenden Abscheu empfand. Dieser Hass hatte notgedrungen auf seinen litterarischen und künstlerischen Geschmack gewirkt, und er wandte sich soviel wie möglich von den Bildern und Büchern ab, deren in der Stoffwahl eng begrenzte Themata sich auf das moderne Leben beschränkten.

Somit verlor er die Fähigkeit, die Schönheit, unter welcher Form sie sich auch darbot, gleichgültig zu bewundern und zog bei Flaubert „die Versuchung des heiligen Antonius“ der „sentimentalen Erziehung“, bei Goncourt „die Faustina“ der „Germinie Lacerteux“, bei Zola „die Schuld des Abtes Mouret“ dem „Assommoir“ vor.

Dieser Gesichtspunkt schien ihm logisch. Diese weniger unmittelbar wirkenden, aber so mächtigen, so menschlichen Werke liessen ihn tiefer in den Schacht des Temperamentes dieser Meister eindringen, die mit aufrichtiger Ungezwungenheit die geheimnisvollsten Erregungen ihres Wesens offenbarten.

Und so trat er in vollständige Ideenübereinstimmung zu ihren Verfassern, weil sie sich wohl in einer gleichen Geistesverfassung wie er befunden haben mochten.

Bei Flaubert waren es die feierlichen, ungeheuren Gemälde, grossartiger Prunk in barbarisch prachtvoller Umrahmung, auf welchen entzückend zarte, geheimnisvolle und stolze Wesen Leben annahmen: Frauen in höchster Vollendung ihrer Schönheit, mit kranken Seelen, in ihrem Innern schreckliche Verwüstungen und wahnsinnige Wünsche.

Das ganze Temperament des grossen Künstlers zeigte sich in den unvergleichlichen Seiten der „Versuchung des heiligen Antonius“ und in „Salambo“, wo er weit ab von unserm armseligen Leben den Glanz der alten Zeiten heraufbeschwormit ihren mystischen Gebeten, ihrem Verfall und ihren Grausamkeiten.

Bei Edmond de Goncourt war es das Heimweh nach dem vorigen Jahrhundert, eine Rückkehr zu der Eleganz einer für immer verschwundenen Gesellschaft; der begeisterte Lobgesang auf das Meer, das sich an den Hafendämmen bricht. Die Wüsten, die sich in endloser Ferne unter dem heissen Himmel verlieren, existierten nicht in seinem Heimweh-Werk, das sich in einen königlichen Park oder in ein Boudoir zurückzog, das durch die wollüstigen Ausströmungen eines Weibes mit müdem Lächeln, lüsternem Mund und sinnenden Augen erwärmt wird. Die Seele, mit denen Goncourt seine Menschen belebte, war nicht die Seele, die Flaubert seinen Geschöpfen eingab.

Obgleich sie unter uns gelebt hatte, obgleich sie ganz Leben und Körper unserer Zeit, war die Faustina dennoch durch erbliche Einflüsse ein Wesen des vergangenen Jahrhunderts, von dem sie die Würze der Seele, die geistige Müdigkeit und die sinnliche Ausschweifung hatte.

Dieses Buch von Goncourt war eins derLieblingsbücher des Herzogs. Sein Verlangen, über einem Werke träumen zu können, wurde in diesem Werke gestillt, wo man überall zwischen den Zeilen lesen konnte.

Es war nicht die Sprache Flauberts, diese Sprache unnachahmlicher Pracht, sondern es war ein durchsichtig-krankhaft-nervöser Stil, ein Stil, der fähig war, die komplizierten Nüancen einer Epoche auszudrücken, welche an und für sich schon ausserordentlich verwickelt waren.

In Paris war das in der Litteraturgeschichte beinahe Unglaubliche geschehen: die mit dem Tode ringende Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts, das Maler, Bildhauer, Musiker, Architekten in Fülle hervorgebracht hatte, die von seinem Stil durchdrungen und seinen Doktrinen erfüllt waren, hatte nicht einen wirklichen Schriftsteller gehabt, der seine morbide Grazie darzustellen verstand. Man hatte das Auftreten Goncourts abwarten müssen, dessen Kunst aus Erinnerungen bestand, aus wieder aufgefrischten Klagen über den leidigen Anblick des geistigen Elends und des niedrigen Trachtens seiner Zeit, damit er, nicht nur in seinen Geschichtsbüchern,sondern auch in seinem Heimweh-Werk, wie die „Faustina“, die Seele dieser Epoche wieder auferwecken, ihre nervösen Zartheiten in dieser Künstlerin verkörpern konnte.

Bei Zola war das Heimweh nach dem Jenseits anders geartet.

In ihm war nicht der Wunsch nach Auswanderung in verschwundene Regionen, nicht das Bedürfnis, in vergangene Zeiten zu flüchten. Sein mächtiges zielbewusstes Temperament, verliebt in die Üppigkeiten des Lebens, in die sanguinischen Kräfte und moralische Gesundheit, liess ihn sich von den künstlichen Reizen und der geschminkten Blutarmut des vergangenen Jahrhunderts fern halten, wie auch von der hierarischen Feierlichkeit, der brutalen Grausamkeit und den verweichlichten, zweideutigen Träumereien des alten Orients.

An dem Tage, an dem auch er von diesem Heimweh, von dem Bedürfnis und Sehnen erfasst worden war, das im Grunde die Poesie selbst ist, da hatte er sich in ein ideales Gefilde gestürzt, wo der Saft in voller Sonne schäumte; er hatte von der phantastischen Brunst des Himmels,von dem berauschenden Entzücken der Erde, von dem befruchtenden Regen des Blütenstaubes, der in die lechzenden Organe der Blumen fällt, geträumt. So war er zu einem riesenhaften Pantheismus gekommen, hatte, gegen seinen Willen vielleicht, mit diesem paradiesischen Milieu, in das er seinen Adam und seine Eva stellte, eine wunderbare indische Dichtung geschaffen, in einem Stil, dessen kühne, roh aufgetragene Farbe einen seltsamen Glanz, wie die der indischen Malerei hatte, indem er die Hymne der Fleischeslust anstimmte, das belebte und lebende Sinnliche feierte und durch das Betonen des Fortpflanzungsdranges der menschlichen Kreatur die verbotene Frucht der Liebe, ihre instinktiven Liebkosungen, ihre natürliche Stellung offenbarte.

Mit Baudelaire waren diese drei Meister in der französischen modernen profanen Litteratur diejenigen, die den Geist des Herzogs am meisten gefesselt hatten; aber dadurch, dass er sie zu oft gelesen, war er von diesen Werken übersättigt.

Er kannte sie auswendig, und um sich noch wieder in sie versenken zu können, hatte er sichbemüht, sie zu vergessen und sie einige Zeit in ihren Fächern ruhen zu lassen.

Deshalb öffnete er sie auch kaum, als der Diener sie ihm jetzt hinhielt. Er begnügte sich, den Platz zu bezeichnen, den sie einnehmen sollten, nur beachtend, dass sie auch richtig und gut geordnet wurden.

Der Diener brachte ihm einen neuen Stoss Bücher. Es waren dies zwar weniger bedeutende Werke, zu welchen er aber doch nach und nach eine Neigung gefasst hatte.

Gerade ihre Unvollkommenheiten gefielen ihm, vorausgesetzt, dass sie nicht unselbständig waren; und vielleicht enthält die Behauptung eine Dosis Wahrheit, welche meint, dass uns der Schriftsteller zweiten Ranges, der wohl eine Individualität darstellt, aber seiner Selbständigkeit noch nicht bewusst geworden ist, einen noch kräftigeren Trank zumutet, als der Künstler derselben Zeit, der wirklich gross und wirklich vollkommen ist.

Daher wendete er sich notgedrungen von den Meistern ab und den Schriftstellern zu, die ihm dadurch noch teurer wurden, dass sie das Publikum, das sie nicht verstand, verachtete.

Einer von ihnen, Paul Verlaine, hatte mit einem Band Verse „Poèmes Saturniens“ debütiert, einem ziemlich schwachen Werk, in dem sich die Nachahmungen von Leconte de Lisle und romantische Rhetorik berührten, aber in dem schon in gewissen Teilen, wie in dem Sonett: „Rêve familier“ die wirkliche Persönlichkeit des Poeten durchschimmerte.

Beim Studium seiner frühen Gedichte erkannte der Herzog unter seinen unselbständigen Versuchen ein Talent, das schon von Baudelaire tief durchdrungen war, dessen Einfluss sich später noch mehr geltend machte, ohne dass er ein erdrückender geworden wäre.

Seine späteren Bücher, die „Bonne Chanson“, die „Fêtes galantes“, die „Romances sans paroles“, schliesslich sein letzter Band „Sagesse“ enthielten Gedichte, in denen sich der originelle Schriftsteller offenbarte und sich von dem grossen Haufen seiner Kollegen glänzend abhob.

Im Gegensatz zu Verlaine, der direkt von Baudelaire abstammte und besonders durch die psychologische Seite, durch die köstliche Färbung des Gedankens, durch die gelehrte Quintessenzdes Gefühls mit ihm verwandt war, näherte sich Théodore Hannon besonders dem Meister in der plastischen Form, in der äusserlichen Erscheinung der Wesen und Dinge.

Seine entzückende Korruption stimmte merkwürdig mit den Neigungen des Herzogs überein, der bei Nebel und Regentagen sich in den von dem Poeten erdachten Schmollwinkel einschloss und seine Augen an dem Schillern seiner Stoffe, an dem Funkeln seiner Edelsteine, an der ausschliesslich materiellen Pracht berauschte, die zu den Aufreizungen des Gehirns beitrugen.

Mit Ausnahme dieses Poeten und Stéphane Mallarmé’s, die er seinem Diener beiseite zu legen befahl, um sie abseits aufzustellen, fühlte sich der Herzog nur wenig von den Dichtern angezogen.

Trotz ihrer prächtigen Form, trotz der imposanten Wendung seiner Verse, die sich mit solchem Glanz ausbreiteten, dass die Hexameter von Hugo sogar im Vergleich düster und klanglos schienen, konnte ihn Leconte de Lisle jetzt nicht mehr befriedigen.

Das Altertum, das Flaubert so wunderbarwieder belebt hatte, blieb unter seinen Händen leblos und kalt. Es war kein Blut in diesen Versen, alles war nur Aussenseite; nichts atmete in diesen öden Gedichten,deren kaltblütige Mythologieen ihn schliesslich erstarrten.

Auch an Gautiers Werken fand er kein Interesse mehr, nachdem er ihn lange gern gehabt hatte; seine Bewunderung für einen so unvergleichlichen Maler, wie dieser Mann es war, war von Tag zu Tag mehr verschwunden, und jetzt war er erstaunter als entzückt über diese indifferenten Beschreibungen.

Zweifellos liebte der Herzog die Werke dieser beiden Poeten, wie er seltene und kostbare Steine liebte, aber keine der Variationen dieser vollkommenen Instrumentisten konnte ihn mehr entzücken, denn keine war dem Träumen zugänglich, keine zeigte, wenigstens nicht für ihn, einen jener lebhaften Durchblicke, die ihm erlaubten, den langsamen Flug der Stunden zu beschleunigen.

Er ging hungrig von diesen Büchern weg; ähnlich erging es ihm bei Victor Hugo.

Die psychologischen Labyrinthe Stendhals, die analytischen Irrgänge Durantys lockten ihn,aber ihre farblose, steife Sprache, gut genug für die gewöhnlichen Theaterstücke, stiess ihn andrerseits ab.

Um sich an einem Werk zu erfreuen, das nach seinem Geschmack einen prägnanten Stil mit einer scharfsinnig-katzenhaften Beweisführung verband, musste er auf Edgar Poë zurückgreifen, für den seine Liebe nur gewachsen war, seitdem er sich öfter mit ihm beschäftigt hatte.

Mehr als jeder andere entsprach gerade dieser durch eine geistige Verwandtschaft den Träumereien des Herzogs.

Dem Tod, den alle Dramatiker so sehr gemissbraucht hatten, hatte er ein anderes Aussehen gegeben; es war eigentlich weniger der wirkliche Todeskampf eines Sterbenden, den er beschrieb, sondern der moralische Todeskampf des Überlebenden, der vor dem elenden Bett von grässlichen Hirngebilden, welche der Schmerz und die Ermüdung erzeugt, erfasst wird. Mit grausamem Zauber hob er besonders die Handlungen des Entsetzens, den Zusammenbruch des Willens hervor, begründete sie kaltblütig, schnürte nach und nach die Kehle des keuchendenerstickenden Lesers vor diesem künstlich zurecht gemachten Alpdrücken des heissen Fiebers zu. Von erblichem Nervenleiden krampfhaft verzerrt, halb wahnsinnig von dem moralischen Veitstanz lebten seine Kreaturen nur durch die Nerven; seine Frauengestalten, wie Morella, Ligeia, besassen eine ungeheure Gelehrsamkeit, durchdrungen von dem Nebel der deutschen Philosophie und den kabbalistischen Geheimnissen des alten Orients, und alle hatten sie Knabenbrüste und waren geschlechtslos.

Baudelaire und Poë, diese beiden Geister, die man oft zusammengestellt hatte wegen ihrer poetischen Berührungspunkte, ihrer gleichen Neigung in dem Vorwurfe geistiger Krankheiten, waren vollständig verschieden durch ihre Auffassungen vom Gemüt, das in ihren Werken einen so grossen Platz einnahm. Baudelaire mit seiner gierigen Liebe, deren grausame Lust an die Verfolgungen einer Inquisition erinnert; Poë mit seinen keuschen ätherischen Leidenschaften, in denen keine Sinnlichkeit lebte, in denen das Gehirn allein Geltung hatte, ohne Zusammenhang mit den Organen, die, wenn sie überhauptvorhanden waren, nur kalt und jungfräulich blieben.

Diese Klinik, in der der geistreiche Chirurg in einer bedrückenden Atmosphäre Gehirne zerlegte, war für den Herzog eine Quelle unermüdlichen Nachdenkens; aber seitdem sein Nervenleiden zugenommen hatte, gab es Tage, wo diese Lektüre ihn vollständig niederwarf, Tage, wo er mit zitternden Händen ängstlich lauschend dasass und sich, wie der verzweifelte Usher, von einer unsinnigen Todesangst, einem dumpfen Schrecken erfasst fühlte.

Notgedrungen musste er sich schonen und diese fürchterlichen Reizmittel vermeiden. Ebenso vermochte er nicht mehr ungestraft sein rotes Vorzimmer zu besichtigen und sich an dem Anblick der Unheimlichkeiten Odilon Redons und den Martern Jan Luykens zu berauschen.

Und doch schien ihm, wenn er in dieser Geistesverfassung war, jede Litteratur ungeniessbar nach diesem amerikanischen Poeten.

Er wendete sich dann wohl zu Villiers de l’Isle-Adam, in dessen zerfahrenem Werke er wohl noch Anreizendes fand, das ihn jedoch nichtmehr wirklich packte, mit Ausnahme allerdings seiner Claire Lenoir, einem wahrhaft beunruhigenden Scheusal.

Es existierte wohl kein anderes Buch in Frankreich in diesem Stil des ernsten und zugleich herben Spottes, ausser der Novelle von Charles Cros: „la science de l’amour“. Diese konnte noch durch ihren stichelnden Humor und ihre kalt spasshaften Beobachtungen auffallen, aber das Vergnügen war nur relativ, denn die Ausführung liess alles zu wünschen übrig.

„Mein Gott! mein Gott! giebt es doch wenig Bücher, die man zweimal lesen kann,“ seufzte der Herzog, seinem Diener zusehend, der vom Schemel herunterstieg, indem er zur Seite ging, damit der Herzog alle Fächer überblicken konnte.

Herzog Jean nickte Genehmigung mit dem Kopfe. Es blieben nur noch zwei dünne Einbände auf dem Tische. Eine Handbewegung verabschiedete den alten Diener. Er ergriff eines der Bücher, das in Eselshaut gebunden war, eingehüllt in eine Schutzdecke aus altem chinesischen Seidenstoff, der verblasst war und den Reiz verblassterStoffe hatte, wie sie Mallarmé in einem entzückenden Gedichte rühmte.

Das Buch bestand aus nur neun Seiten und enthielt Auszüge aus Mallarmés ersten beiden Büchern. Sie waren auf Pergament gedruckt und unter dem Titel: „Einige Verse von Mallarmé“ vereinigt. Sie waren von einem geschickten Kalligraphen in goldenen und farbigen Buchstaben mit der Hand im Stil der alten Handschriften gemalt.

Einige dieser Stücke interessierten ihn, aber besonders ein Bruchstück der Herodias wusste ihn in gewissen Stunden wie durch einen Zauber zu bannen.

Wie oft hatte er sich nicht des Abends unter der Lampe, die mit ihrem gedämpften Licht das stille Zimmer beleuchtete, hingerissen gefühlt von dieser Herodias, die in dem Bilde Gustav Moreaus, das jetzt im Schatten hing, nur noch die undeutlichen Umrisse ihres Körpers durch ihren Behang von Edelsteinen durchblicken liess.

Die Dunkelheit unterdrückte das Leben, dämpfte die Reflexe und den goldigen Hintergrund, warf Schatten auf den Tempel, bedecktedie Nebenpersonen, begrub sie in ihren toten Farben, und nun das Weisse des Bildes verschwand, liess sie das Weib aus ihrem Juwelenbehang noch leuchtender heraustreten und sie noch nackter erscheinen.

Unwillkürlich hob er zu ihr das Auge empor, erkannte sie in ihren unvergesslichen Umrissen und sie wurde wieder lebendig und rief auf ihren Lippen die seltsamen und süssen Verse wach, die ihr Mallarmé eingiebt.

Er liebte diese Verse, wie er die Werke dieses Dichters liebte, der im Jahrhundert des allgemeinen Wahlrechts und in einer Zeit der Geldgier abseits vom litterarischen Wege lebte, geschützt durch seine Verachtung vor der ihn umgebenden Dummheit. Er gefiel sich, fern von dem Treiben der Welt in dem wechselnden Spiel des Verstandes, in den Visionen des Gehirns, indem er noch mit den schon an sich gekünstelten Gedanken jonglierte und ihnen byzantinische Lichterchen aufsetzte.

Von allen Formen der Litteratur war die des Gedichtes in Prosa diejenige, die der Herzog am meisten liebte. Von einem Genie gehandhabt,musste sie in ihrem kleinen Raum die Gewalt eines Romans, dessen zergliederte Längen und beschreibende unnütze Wiederholungen sie wegliess, einschliessen.

Schon oft hatte der Herzog über das grosse Problem nachgegrübelt, einen Roman in wenige Sätze zusammengedrängt zu schreiben, die die kondensierte Last von hunderten von Seiten enthielten. Dann würden die gewählten Worte an ihrem richtigen Platze stehen, so, dass man keines umstellen könnte.

Der auf diese Weise abgefasste Roman, in eine oder zwei Seiten zusammengedrängt, würde eine Gedankenübereinstimmung zwischen dem Dichter und dem idealen Leser, eine geistige Zusammenarbeit zwischen wenigen auserwählten Personen, die in der Welt zerstreut sind, ein nur wenigen Feinsinnigen zugänglicher Genuss werden.

Mit einem Wort, das Gedicht in Prosa stellte für den Herzog den Extrakt der Litteratur, das Rückgrat der Kunst vor.

Dieser auf ein Minimum kondensierte Extrakt existierte schon bei Baudelaire und ebenfallsin den Gedichten von Mallarmé, den er mit tiefem Entzücken in sich sog.

Als er dieses letzte Buch zuklappte, sagte sich der Herzog, dass sich jetzt wohl seine Bibliothek nie mehr vermehren würde.


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