Chapter 9

Paradoxien des Zenon; Anaxagoras, Oinopides.

Das Mathematikerverzeichnis desProkloserwähnt den Zeno nicht, es wertet die »Begriffsmathematiker« nicht, sondern grade so wie noch heute, zählt es nur die doch gegen jene sekundären »Problemmathematiker«, die geschickten Handwerker der Mathematik, zu den wirklichen Mathematikern. Zunächst wirdAnaxagoraserwähnt, aber nicht als Philosoph, nicht wegen des monotheistischen Prinzipes, der Vernunft, des νους, der die Welt geordnet hat, sondern weil er sich im Gefängnis mit der Quadratur des Zirkels beschäftigt hat. Danach wirdOinopidesgenannt, der die Konstruktion des zu fällenden Lotes aus Ägypten importiert haben soll, und es fährt dann mit Hippokrates aus Chios fort, den man nicht mit Hippokrates aus Kos, dem Vater der Medizin, verwechseln darf. Proklos sagt: »Nach diesen wurdenHippokrates der Chier, der die Quadratur der Möndchen fand, undTheodorosaus Kyrene in der Mathematik berühmt.«

Hippokrates von Chios und seine Möndchen.

Hippokratesgehörte dem Pythagoräischen Kreise an,Aristoteleserwähnt seiner als eines Menschen, der im gewöhnlichen Leben unbeholfen und stumpfsinnig gewesen, »βλαξ και άφρων,« und doch ein tüchtiger Mathematiker. (Übrigens auch heute noch nichts Seltenes.) Nach Verlust seines Vermögens soll er in Athen von mathematischem Unterricht gelebt haben. Ob er wirklich Mitglied des Bundes war, ist nicht sicher, jedenfalls knüpft seine Beschäftigung mit der Quadratur und der Winkelteilung an den Gedankenkreis der Pythagoräer an. Seine Blütezeit fällt etwa um 430 v. Chr.

Lunulae Hippocratis.

Ihnen allen sind ja die Lunulae Hippocratis bekannt. Sie haben den Satz gelernt in der Form: die beiden Halbmonde, begrenzt von den Halbkreisen über den Katheten nach aussen und dem über der Hypotenuse nach innen sind gleich dem rechtwinkligen Dreieck. Und dieser Satz steht als Satz des Hippokrates selbst in der 6. Aufl. des einzigen in bezug auf historische Angaben zuverlässigen Elementarbuches, das ich kenne, »die Elemente der Mathematik« vonR. Baltzer, ja selbst imRouchévon 1900.

Hippokrateshat nur einen Mond (Meniskos, lunula) quadriert und zwar zuerst den, dessen äusserer Bogen der Halbkreis, dessen innerer der Quadrant ist. Den allgemeinen Satz von den Lunulae gleich dem rechtwinkligen Dreieck fand ich weder beiHeron, nochPappos, noch bei Cardano, Vieta, Clavius, Gregorius a. St. Vincentio, und Sturm, wohl aber in der Ausgabe desTaquetvonWhistonund zwar schräg gedruckt, also nicht von Taquet herrührend, und noch früher in der 4. Ausgabe der Elemente der Geometrie von 1683 beiPardies, Soc. Jesu. Der Satz ist aber zweifelsohne erheblich älter. — Die Arbeit des Hippokrates ist durch einen Glücksfall erhalten.

Simpliciusaus Kilikien, der Neuplatoniker, der zu den von Justinian 529 vertriebenen Professoren der Hochschule Athen gehörte, hat einen umfangreichen Kommentar zur Physik des Aristoteles verfasst und uns darin ein Bruchstück aus desEudemosGeschichte der Mathematik aufbewahrt. Es ist zuerst vonBretschneidergriechisch und deutsch 1870 publiziert nach der lateinischen AusgabeL. Spengel's: »Eudemi Rhodii Peripatetici Fragmenta quae supersunt.« Berlin 1865, 2. Aufl. 1870, während der Kommentar des Simplicius schon 1526 bei Aldus Manutius in Venedig gedruckt ist und 1882 in dem grossen Kommentar der Aristoteles-Ausgabe der Berliner Akademie vonH. Diels.

Die wichtigste neuere Arbeit zur Simpliciusfrage ist die vonRudio1902 in der Bibliotheca mathematica von Eneström:»Der Bericht des Simplicius über die Quadraturen des Antiphon und des Hippokrates.«

Aristoteles bekämpft in seiner Physik im 1. Buch an einer Stelle die eleatische Weltanschauung, die das Seiende als eins und unwandelbar auffasste, und erklärt dabei, dass man nicht alle falschen Sätze widerlegen müsse, sondern nur solche, die nicht schon von vornherein gegen die Prinzipien verstossen, und als Beispiel gibt er an: So ist zum Beispiel der Geometer verpflichtet, die Quadratur (sc. des Zirkels) mittelst der Segmente zu widerlegen, die des Antiphon aber nicht. Und hierzu gibt Simplicius einen Bericht über die genannten Quadraturen, der für uns vorn historischen Standpunkt aus gradezu unschätzbar ist.

Es istRudiogelungen, nach Vorarbeiten vonP. Tannery, dem vor kurzem gestorbenen grossen Kenner hellenischer Mathematik und hellenischer Wissenschaft, undAllman, seinem englischen Nebenbuhler, den Text des Eudemos wohl so ziemlich endgültig festgestellt zu haben. Rudio hat durch eine einzige, ganz nahe liegende, schlagend einfache Konjunktur Licht und Klarheit in den ganzen Bericht und zugleich in den Gedankengang des Hippokrates gebracht und zugleich sein Urteil über Simplicius als eines durchaus tüchtigen Mathematikers, wie dies ja von Simplicius dem Philosophen schon feststand, begründet. Es handelt sich um das Wort τμήμα, das von τεμνω schneiden herkommt und allgemein irgend einen Abschnitt, im speziellen Kreissegment, bezeichnet, aber auch, wie Rudio bemerkt, den Sektor und an der entscheidenden Stelle kann es nur Sektor heissen; dann lautet die Stelle nach Rudio:

»Aber auch die Quadraturen der Möndchen, die als solche von nicht gewöhnlichen Figuren erschienen wegen der Verwandtschaft mit dem Kreise, wurden zuerst von Hippokrates beschrieben und schienen nach rechter Art auseinandergesetzt zu sein, deshalb wollen wir uns ausführlicher mit ihnen befassen und sie durchnehmen. Er bereitete sich nun eine Grundlage undstellte als ersten der hierzu dienenden Sätze den auf, dass die ähnlichen Segmente der Kreise dasselbe Verhältnis haben wie ihre Grundlinien in der Potenz (δύναμις), d. h. im Quadrat. Dies bewies er aber dadurch, dass er zeigte, dass die Durchmesser in der Potenz dasselbe Verhältnis haben wie die Kreise. Wie sich nämlich die Kreise verhalten, so verhalten sich auch die ähnlichen Sektoren (τμήματα). Ähnliche Sektoren nämlich sind die, die denselben Teil des Kreises ausmachen wie z. B. Halbkreis und Halbkreis und Drittelkreis und Drittelkreis; deswegen nehmen die ähnlichen Segmente auch gleiche Winkel auf. Und zwar sind die aller Halbkreise rechte und die der grösseren kleiner als rechte, und zwar um so viel, um wie viel die Segmente grösser als Halbkreise sind, und die der kleineren grösser und zwar um so viel, um wie viel die Segmente kleiner sind.«

Sie sehen, Hippokrates kannte die Sätze vom Peripheriewinkel ganz genau; er hat den wichtigen Satz Euklid, Elem. XII, 2; k : k´ = d2: d´2bewiesen, vermutlich wie Euklid, ihm war die Ähnlichkeitslehre völlig vertraut wie allerdings schon den Pythagoräern, er kannte, wie aus dem folgenden hervorgeht, auch den sogenanntenerweitertenPythagoras.

Was nun die Quadratur der Halbmonde betrifft, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass Hippokrates von folgender von Tannery, aber auch schon einige Jahrhunderte früher vonVieta, angegebenen Erwägung ausgegangen ist:

ε : i = p : q z. B. 5 : 3;ε5=i3undεp=iq

Dann sind die Segmente e1und i1, welche von den kleinen Sehnen abgeschnitten werden, ähnlich und es ist e1: i1= re2: ri2. Wenn nun re2: ri2gleich q : p gemacht wäre, so wäre e1: i1= q : p (hier 3 : 5) und damit pe1= qi1, d. h. aberder Sehnenzug im äusseren Bogen schneidet so viel an Fläche ab, als der des inneren hinzubringtund das Möndchen ist gleich der von des beiden Sehnenzügen begrenzten geradlinigen Figur. Damit aber der Halbmond quadrierbar sei, istnötig, dass die Figur mit Zirkel und Lineal konstruiert werden könne, und dies tritt ein fürpq=21;31;32;51;53.

Sie sehen aus der Gleichung Winkelεi=pq= ri2/re2oder re2. ε = ri2i, dass die Sektoren AEB und AJB flächengleich sein müssen, dazu ist AB = AB, also resinε/2= risini/2, also haben wir die entscheidende Gleichung: √p. sini/2= √q. sinε/2.

Die elementare Behandlung findet sich beiVieta(Variorum de rebus mathem. responsorum liber VIII 1593).Hippokrateshat die Fälle 2/1, 3/1, 3/2 erledigt; die Fälle 5/1 und 5/3 vonTh. Clausen, Crelle 21 (1840). Sämtliche 5 quadrierbare Möndchen finden sich aber schon in der Dissertation von M.J. Wallenius(Abveae 1766). Vgl. den Artikel 6 beiM. Simon, Über die Entwicklung der El. Geom. im 19. Jh. p. 73 (1906). Der Fall 2/1 ist der bekannteste, er sichert Hippokrates das Verdienst, die erste krummlinige Figur quadriert zu haben. Den Fall 3/2 findet man ausführlich beiF. EnriquesQuestioni riguardanti la Geom. elem. (1900) p. 518, er bietet, trigonometrisch behandelt, keinerlei Schwierigkeit. Den Fall 4/1 behandeltVieta. Er führt auf eine reine Gleichung 3. Grades und damit auf dieVerdoppelung des Würfels, und dass Hippokrates diesen Weg gegangen, das geht klar daraus hervor, dass er nach dem Zeugnis desProklos-Geminosund dem wichtigeren desEratosthenesdas Problem auf die Einschiebung zweier mittleren Proportionalen zwischen a und 2a zurückgeführt hat, a : x = x : y = y : 2a und so Proklos zufolge das erste Beispiel einer απαγωγή, einer Zurückführung eines Problems auf ein anderes,noch dazu in einem über das Elementare hinausgehenden Fall geliefert hat.Hippokratesist auch der erste Grieche, der »Elemente« geschrieben hat, wie Proklos im Mathematikerverzeichnis angibt, und sie können nach dem Muster von Hippokrates Darstellung aus des Simplicius Kommentar in der Form nicht sehr wesentlich vom Euklid verschieden gewesen sein, wenn nicht Eudemos (oder Simplicius) redigiert haben. Hippokrates hat dann auch noch, wie wir bei Simplicius lesen, die Summe eines Mondes und eines Kreises quadriert, den Zirkel selbst natürlich nicht, obwohl er höchstwahrscheinlich bei der Suche nach dieser Quadratur auf seine Monde gekommen ist.

Antiphon.Bryson.

Der gleichzeitig erwähnteAntiphon, ein Sophist, Zeitgenosse des Sokrates, glaubte die Quadratur des Zirkels dadurch gefunden zu haben, dass er in den Kreis ein reguläres Polygon, z. B. ein Quadrat einschrieb, dann über die Seiten gleichschenklige Dreiecke u. s. f., und annahm, dass eines dieser Polygone dem Kreise gleich sein müsste. Wenn nun auch Aristoteles die Annahme des Antiphon als gegen die Prinzipien der Logik verstossend scharf getadelt hat, so hat dochHankelvollständig recht, wenn er sagt: er verdient einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Geometrie, denn er hat, als der erste, den völlig richtigen Weg betreten, um den Flächeninhalt eines krummlinigen Raumes zu ermitteln, indem er ihn durch Vielecke von immer wachsender Seitenzahl zu erschöpfen (exhaurire) suchte. Der gleichzeitig mit ihm genannteBrysonhat dann das umgeschriebene Polygon hinzugefügt; lächeln wir auch heute über seinen Schluss, »weil der Kreis zwischen dem ein- und umgeschriebenen Quadrate 2r2und 4r2so schön in der Mitte liege, wie 3 zwischen 2 und 4, so müsste der Kreis gleich 3r2sein,« so haben doch Antiphon und Bryson den Weg gewiesen, auf dem dannArchimedesgegangen und der das Riesenproblem beherrscht hat, bis er schliesslich Vieta zu dem unendlichen Produkt für π/2 führte.

Auf Hippokrates und seine Elemente folgt bei Proklos unmittelbarPlaton, aber eine Geschichte der Mathematik, welchezugleich auf die Begriffsbildung Wert legt, darf an den beiden ihm an Tiefe ebenbürtigen VorgängernHeraklitundDemokritnicht vorübergehen.

Heraklit.

Heraklit, Ηράκλειτος, aus Ephesos in Kleinasien, aus der angesehenen Familie des Gründers von Ephesos, des Kodriden Androklos, war ein Zeitgenosse des Xenophanes, er hat seine Blütezeit um 500. Wir haben als Hauptquellen für seine Lehre die Fragmente seiner einzigen Schrift περι φύσεως (Von der Natur, ed. vonH. Diels1901) und Platons DialogKratylos, fernerAristotelesund seine Kommentatoren. Daneben kommenPlutarchundDiogenes Laertiosin Betracht. Eine für ihre Zeit ausgezeichnete Darstellung gab der bekannteFerdinand Lassallein seiner Schrift »Die Philosophie Herakleitos des Dunkeln,« Bd. 2, Berlin 1858, aus neuester Zeit nenne ichW. Kinkel, l. c. 1906.H. Diels, Her. von Eph., Berl. 1901,P. Natorp, Neue Heraklitforschung, Ph. Monatsh. 24. Heraklit, der Dunkle, ὁ σκοτεινός, war kein Systematiker, aber vor seinen tiefsinnigen, orakelhaften Weisheitssprüchen stand das ganze Altertum voll staunender Ehrfurcht. Er erinnert anNietzsche, der formaliter und materialiter sehr viel von Heraklit entlehnt hat. Am bekanntesten ist das πάντα ῥεῖ, alles fliesst; πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει, alles weicht und nichts bleibt; — πόλεμος πατήρ πάντων, der Streit ist der Vater der Dinge. In der Kosmologie knüpft Heraklit zunächst an seine Ionischen Landsleute, an Anaximander und besonders an dessen schwächeren Nachfolger Anaximenes an, der die Luft als Grundstoff (ὑλη) ansah. Heraklit nimmt das Feuer als Substanz aller Dinge an, aber ein ideales Feuer, das zugleich die Weltvernunft, derLogos, die Weltseele ist. Im bewussten Gegensatz zu den Eleaten, insbesondere zu Xenophanes, denn Parmenides ist jünger, leugnet er alles Sein, und erfasst die Welt als in beständiger Veränderung, in ewigem Wechsel befindlich. »Wir steigen nicht zweimal in denselben Strom.« Ein Schein des Beharrens wird nur dadurch erzeugt, dass Abfluss und Zufluss des Feuers annähernd gleich ist. Er ist innoch höherem Masse und mit voller Klarheit Pantheist als Xenophanes. Das Urfeuer oder die Gottheit, ist, in beständiger Umwandlung begriffen, in allem, soweit es überhaupt ist. »Dieses Weltganze (Kosmos) hat keiner von allen Göttern und keiner von allen Menschen geschaffen, sondern es war, ist und wird sein ein ewig lebendiges Feuer, das sich entzündet und verlöscht nach bestimmter Ordnung.« Man sieht, es ist dieKategorie Bewegung, die er, etwa wie seinerzeitAd. Trendelenburg, als das Bleibende im Wechsel setzt, während die Eleaten grade die Bewegung leugneten. Und indem ihm der Widerspruch im Begriff des Werdens, das zugleich ein Sein und Nicht-sein ist, nicht entging, fasste er eben diesen Widerspruch als »Vater der Dinge«.Hegelhat in seiner Logik an Heraklit angeknüpft, der Widerspruch, überall vorhanden und doch für uns undenkbar, erfordert seine Auflösung und Versöhnung als unsere geistige Arbeit. Die späteren Stoiker schliessen sich direkt an Heraklit an wie auchPhilonvon Alexandria in seiner Logos-Lehre. Für uns kommt vom Standpunkt der exakten Wissenschaft besonders in Betracht, dass sich bei ihm der erste Gedanke einesphysikalischen Kreisprozessesfindet. »In dieselben Ströme und aus denselben steigen wir.«

Rein mathematisch ist von Bedeutung die grosse Betonung der Veränderlichkeit aller Werte und Grössen; auffallend ist es, dass er, der kein Entstehen und Vergehen der Materie, sondern eine beständige Bewegung gelehrt hat, das Zeitproblem, wie es scheint, nie gestreift hat.

Die Dunkelheit des Heraklit erklärt sich zum Teil daraus, dass er für seine tiefe Lehre vom Logos keine termini technici vorfand, welche begriffliches Denken mitteilsam machen, immerhin ist er der erste Philosoph, welcher das Problem der Erkenntnis als solches empfunden hat, »εδιζησαμην εμαυτον« (ich suchte mir mich selbst zu verschaffen).

Empedokles, Sophisten.

Ich übergeheEmpedoklesaus Agrigent, so wichtig er auch für die Physiker und Chemiker ist, denn er hat zuerst die4 Elemente, Feuer, Wasser, Luft und Erde, als qualitativ und quantitativ unveränderliche Urstoffe aufgestellt, um mich zu den sogen. Atomikern zu wenden zum Leukipp und seinem grossen SchülerDemokrit. Vorher aber noch ein paar Worte über die so übel berüchtigten »Sophisten«, deren Bekämpfung das Leben des Sokrates galt, und zugleich der Tod. Denn dadurch, dass er jene mit ihrer eignen Waffe, der Dialektik, bekämpfte, hielt ihn das Volk für den Hauptsophisten, und er fiel dem Aufbäumen des Volksgeistes gegen die unsittliche Lehre der Sophisten zum Opfer.

Das geistige Haupt der Sophisten istProtagorasaus Abdera, von 480–410; von Zeno, Heraklit und Leukipp beeinflusst, war er an sich von durchaus ernster, wissenschaftlich nicht unbedeutender Beschaffenheit, so schildert ihn auch der gleichnamige Dialog des Platon, ein Kunstwerk ersten Ranges.

Indem Protagoras ganz wieKantempfand, dass wir das Ding an sich nicht erkennen, sondern nur unsere Wahrnehmung, kam er zu dem Faustischen: »Seh ein, dass wir nichts wissen können,« wenigstens nichts von allgemeiner, sondern nur etwas von subjektiver Wahrheit. Und indem er ausspricht, dassunsereWahrnehmung, fürunswahr ist, formulierte er den Satz: »Der Mensch ist das Mass der Dinge.« Von diesem Standpunkt aus kamen seine Nachfolger Gorgias, Hippias etc. zu einer Verwerfung aller sittlichen Normen und von allen Wissenschaften blieb nur die Dialektik übrig oder die Rhetorik, die Kunst, den eignen Willen, das eigene Mass, den anderen aufzuzwingen. Zeitlich traf ihre Blüte mit dem grossen Aufschwung des öffentlichen Lebens in Hellas nach den Perserkriegen zusammen, wodurch eine zweckmässige Vorbildung der Staatsmänner nötig wurde. Die Sophisten fanden daher als Lehrer der Redekunst gewinnreiche Tätigkeit, Protagoras selbst war ein sehr geschätzter Wanderlehrer. So haben die Sophisten, die prinzipiellen Gegner des Wissens, dennoch die Wissenschaft der Satzbildung, der Grammatik, des Wohlklangs gradezu geschaffen, und was sie für unsMathematiker wichtig macht, sie haben die Lehre vom Beweis mächtig gefördert.

Ich komme zu den Atomikern. VomLeukippwissen wir so wenig, dassEpikurmeinen konnte, er habe gar nicht existiert. Das Zeugnis desAristotelesist aber unanfechtbar. Leukipp ist wohl der Urheber des Grundgedankens, aber in der überragenden Persönlichkeit seines SchülersDemokritist er verschwunden. Zeller fasst beide zusammen als Atomiker.

Demokrit.

Demokritist inAbderaetwa um 470 geboren, und ist zwischen 90 und 100 Jahre alt geworden. An umfassender Bildung nur dem Aristoteles vergleichbar, hat er das Wissen, das er auf vielen Reisen, insbesondere nach Ägypten und Babylonien, erworben, in einer Reihe von Schriften niedergelegt, von denen leider zurzeit nur wenige Bruchstücke, meist ethischen Inhalts, erhalten sind. Glücklicherweise hat sichAristotelessehr viel mit Demokrit beschäftigt, während Platon in auffallender Weise über ihn schweigt. Platon neigt überhaupt nicht zu literarischen Angaben in seinen Dialogen, und wird wohl in seinen Vorlesungen sich genügend mit Demokrit beschäftigt haben, auch konnte er die Lehre des Demokrit zu seiner Zeit als bekannt voraussetzen. Jedenfalls ist beim Charakter Platons irgendwelche böswillige Absichtlichkeit zurückzuweisen. Soviel steht fest, je tiefer die Quellenforschung ging, um so höher ist die Gestalt des Demokrit emporgewachsen, den wir jetzt neben Platon und Aristoteles als den dritten grossen Hellenischen Philosophen werten. Trotz des geringen Umfangs der erhaltenen Fragmente können wir uns von der Fülle und Kühnheit seiner Gedanken ein ziemlich deutliches Bild machen.

Mit denEleatenhat er die Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Seienden gemeinsam, die Überzeugung von der Unzerstörbarkeit der Materie. AberHeraklitmissverstehend, fassten jene sein »Werden« als ein Vergehen und Entstehen der Materie und nicht als einen Wechsel der Form im Kreisprozess, und da sie den Unterschied zwischen »Werden« und »Veränderung«verfehlten, leugneten sie schlankweg die Bewegung und damit die ganze erkenntnistheoretische Physik der Erscheinung, welche ja in der reinen Bewegungslehre besteht. Hier setzen Leukipp undDemokritein, sie müssen den Begriff der Materie umarbeiten, um die Bewegung begreiflich zu machen. Das Seiende ist ihnen nicht, wie demParmenides, die kugelförmig gedachte, lückenlose Masse alles reell Existierenden, sondern es sind die unteilbaren, αδιαιρητα, Atome, ὁι ατομοι, die er hochmodern als der ουσια, dem Wesen nach, ganz gleich denkt, nur mathematisch, d. h. in bezug auf Figur, Grösse und Zahl verschieden. Leukipp und Demokrit haben den Begriff des Atoms geschaffen, diesen Hilfsbegriff, den Physik und Chemie bis auf den heutigen Tag und in alle Zukunft nicht entbehren können; ein sehr bekannter Chemiker sagte mir: »WasDemokritüber die Atome gesagt, bildet die beste Einleitung zu einem modernen Lehrbuch der Chemie.«

Und vonHeraklitentnahm er den Gedanken der beständigen Bewegung und Veränderung in der Zusammensetzung der Atome zu Molekülen. Die Atome bewegen sich ewig und anfangslos, weil das in ihrem Wesen liegt, nach einem Grund dieser Bewegung zu fragen, erklärt er für töricht, wie etwa die Frage, warum ein Löwe Fleisch frisst. Dass aber die Atome sichbewegen können, das liegt daran, dass sie voneinander durch denleeren Raumgetrennt werden, und auch dieser für die Mathematik so entscheidend wichtige Grenzbegriff des leeren Raumes und der Porosität hat bei Demokrit seine Formulierung gefunden, denn »das Leere« (το κενόν) der Pythagoräer ist wohl nur ein Synonym für Raum überhaupt, obwohl selbstverständlich Keime für Demokritische Gedanken bei den Pythagoräern liegen.

Dieser leere Raum, von dem er mit ironischer Anpassung an des Parmenides »ἔστι γὰρ εἶναι, μηδὲν δ΄ οὐκ ἔστι« (Es gibt ein Sein, ein Nichtsein gibt es nicht) sagt, dass er das Nichts ist, ermöglicht alles wirkliche Sein der Aussenwelt.Aristoteles, Metaph. I, 4, 985b: Λευκιππος δε και ὁ ἑταιρος αυτου Δημοκριτος στοιχεια μεν το πληρες και το κενον ειναι φασι, λεγοντες τι μεν ον το δε μη ον, το 'των δε τι μεν πληδες και στερεον το ον, το δε κενον γε και μανον το μη ον, αιτια δε των οντων ταιτα ως ὑλην. Leukipp und Demokrit, sein Genosse, erklären das Volle und das Leere als die Elemente und nennen jenes das Seiende, dieses das Nichtseiende, und diese beiden sind die Ursache, der Stoff, alles Wahrnehmbaren. Ja mit bewundernswerter Kühnheit der Spekulation sagt Demokrit: »το δεν ον μαλλον εστι η το μηδέν.« Das Nichts ist ebenso existenzberechtigt als das »Ichts«.

Wie das Atom nichts anderes ist als dasDifferential, der Ursprung der Masse, so ist dieses »μηδέν« nichts anderes, als dasDifferential, der Ursprung des Raumes. Dass dies keine leere Vermutung ist, dassDemokritals der erste erreichbare Urheber derDifferentialrechnunganzusehen ist, dafür haben wir jetzt einen Beweis in dem 1907 vonHeibergaus dem Palimpsest entzifferten »εφόδιον« (so viel wie Methode) desArchimedes, welcheH. Zeuthenübersetzt hat. Die Formel für das Volumen der Pyramide und des Kegels, die nach der Angabe des Archimedes vonEudoxosstreng d. h. euklidisch bewiesen, die habe, steht im Ephodion,Demokritgefunden aber nicht bewiesen d. h. nicht streng, grade so wie Archimedes seine mit Differentialrechnung gefundenen Formeln nur für wahrscheinlich aber nicht für streng bewiesen erachtet. Das Verfahren des Demokrit kann kein anderes gewesen sein als das desCavalieri, das Volumen ist das Integral, die Summe der unzählig vielen unendlich kleinen Prismen, deren Grundflächen die veränderlichen Querschnitte sind. Man vergleiche dazu die Angabe Plutarchs, Diels Fragmente 155 (auch Anmerkung S. 723): »Es machte ihm nämlich die Frage Schwierigkeiten, ob, wenn man einen Kegel parallel der Basis durchschnitte, die so entstehenden Schnittflächen einander gleich seien oder nicht. SchonAristoteleshat darauf hingewiesen, wie stark mathematisch durchtränkt die Lehre des Demokrit gewesen,der sich, Plutarch zufolge, rühmte, selbst die Ägyptischen Harpedonapten in der Reisskunst zu übertreffen. Bisher schwebte diese Angabe in der Luft, jetzt ist sie durch den Palimpsest bestätigt worden. Ich mache auch auf den uns erhaltenen Titel der Schrift: περι διαφορης γνωμης η περι ψαυσεως κυκλου και σφαιρας und auf seinen Einfluss aufArchimedesund dadurch aufGalileiaufmerksam. Dass sich Demokrit eingehend mit dem Problem der Kontinuität beschäftigt hat geht aus dem erhaltenen Titel der verlorenen Schrift: περι αλογων γραμμων και ναστων (über irrationale Strecken und das Kontinuum) hervor.

Demokritist von Grund aus Naturforscher im Gegensatz zuPlaton, dem Dichter und Metaphysiker, er hat zum ersten Male versucht ernsthaft eine mechanische Welttheorie durchzuführen. Seine Wirbelbewegung treffen wir beiDescarteswieder, wie auch seine Unterscheidung der primären Qualitäten (Schwere, Härte, mathematische Gestalt etc.), der Eigenschaften der Atome, von den sekundären, wie Farbe, Geschmack etc. Die Zahl und die Figur der Atome ist es, welche die wesentliche Verschiedenheit der Dinge bewirkt, mit der Trias, Atom, leerer Raum, Bewegung haben Leukipp undDemokritdie mathematische Naturerkenntnis geschaffen. Das Atom sowohl wie der leere Raum sindIdeen, das Wort rührt von Demokrit her, und an Demokrit knüpft die Platonische Ideenlehre an.H. Cohenzählt in seinem vorzüglichen Marburger Programm Demokrit mit vollem Recht zu den Idealisten und zum recht eigentlichen Vorgänger von Platon. Wie dieser bezeichnet er die Sinneswahrnehmung als dunkele, die logische als klare Erkenntnis;W. Kinkelsagt, es ist schwer begreiflich wie man ihn hat zum Materialisten stempeln können. Ich möchte aber bemerken, dass der Idealismus sowohl des Demokrit als der übrigen idealistischen Philosophen im Grunde eine Doppelnatur besitzt, eineskeptische, insofern er die Realität der Sinneswahrnehmung leugnet, und eine supranaturalistische, insofern er die Realität des Geistigen lehrt. Daher ist es ganz begreiflich,dass von Demokrit eine Schule der Materialisten ausgehen konnte, wie von Platon Skeptizismus und insbesondere Mystizismus (Plotin, Augustin). Jedenfalls ist die »tyche« D.'s nicht der blinde Zufall, sondern das Schicksal als eine durchaus vernünftige Gesetzmässigkeit des in Erscheinung tretenden (der Phänomena). Nicht bloss auf metaphysischem Gebiet ist Demokrit ein Vorläufer des Platon, sondern auch auf ethischem Gebiet, in der Auffassung des Menschen als μικρόκοσμος — das Wort ist demokritisch — in der Wertung der Erziehung berührt er sich mit Platon. Ich nenne hier ausser Zeller und Kinkel nochP. Natorp, Forsch. z. Gesch. des Erkenntnisproblems im Altertum;G. Hart, Zur Seelen- und Erkenntnislehre des Dem., Progr. Mühlhausen (im Elsass) 1886;P. Natorp, Die Ethik des Dem., Marburg 1893.

Platon.

Platon, der Göttliche, wie ihn Schopenhauer bezeichnet, ist im Todesjahre des Perikles 429 aus vornehmster Familie geboren, mit ihm erreicht die Hellenische Philosophie ihren Höhepunkt. Wie in einem Brennpunkt fasst er alle bedeutenden Gedanken seiner Vorgänger, der Pythagoräer, der Eleaten, des Heraklit und vor allem des Demokrit zusammen, um sie als Bausteine seiner Theorie des Erkennens zu verwenden. Es ist das Kennzeichen der Allergrössten, dass sie über den Parteien stehen, oder richtiger, wieLangein der Geschichte des Materialismus sagt, dass sie die Gegensätze ihrer Epoche in sich zur Versöhnung bringen. Er ist mitKantder grösste Idealist aller Zeiten, und keiner hat auf Kant solchen Einfluss geübt, nicht einmal Hume, wie Platon.

Ich verstehe aber unterIdealismusin der Philosophie diejenige Weltanschauung, welche die Welt der Dinge nur insofern als seiend auffasst, als sie Gegenstand oder Objekt der Erkenntnis eines erkennenden Subjektes ist. Sagt dochPlatonoft gradezu (z. B. Rep. 529, Phaed. 833, Tim. 513) das Seiende ist das Unsichtbare, das von uns nicht Wahrnehmbare, sondern nur Gedachte, das was das Bewusstsein selbst bei sich selbstsieht. UnterRealitätder Erscheinung versteht man im idealistischen Sinne diejenige Eigenschaft derselben, vermöge derer sie zu in Zeit und Raum geordneten Gegenständen der Erfahrung werden. Es ist Platons ewiges Verdienst, dass er das Problem des Erkennens als das eigentliche Grundproblem der Philosophie in diese Wissenschaft eingeführt hat, die er mit der Frage τι εστι επιστήμη, was ist Wissen, eigentlich erst als Wissenschaft geschaffen hat.

Kanttrifft auch darin mitPlatonzusammen, dass beide für ihre Erkenntnistheorie von der Frage nach dem Erkenntniswert der Mathematik ausgingen. Ich nehme hier Gelegenheit den Dank auszusprechen, den ich für das Verständnis des Philosophen Platon der trefflichen JugendschriftH. Cohens, Plato und die Mathematik, Marburg 1878 schulde. Platon den Dichter und Gottsucher schildert eine BroschüreWindelbandsin hervorragender Weise.

Viel schuldete er seinem LehrerSokrates, sowohl in bezug auf das Interesse an der Ethik, an den sittlichen Gesetzen und Idealen der Menschheit, als besonders hinsichtlich des Bestrebens die einzelnen Begriffe scharf zu definieren. Nach dem Tode des Sokrates floh er aus Athen, und brachte etwa 10 Jahre auf Reisen zu, überall den Verkehr mit den geistigen Grössen suchend. In Cyrene hat er beim PythagoräerTheodoros, dessen wir schon bei Gelegenheit des Theätet gedacht haben, sich das mathematische Wissen der Pythagoräer angeeignet, in Unteritalien den grossenArchytasvon Tarent kennen gelernt, und in Sizilien ebenfalls viel mit Pythagoräern verkehrt; dass er von Sizilien aus Ägypten besucht hat, ist sehr wahrscheinlich.

Nach Athen zurückgekehrt, gründete er dort den Freund- und Schülerbund derAkademie, ein Gymnasium bei Athen, nach dem attischen Heros Ακάδημος benannt, wo Platon ein Landgut besass. Ein glücklicher Zufall hat uns das Testament des Platon erhalten, es findet sich beiDiogenes Laertiosund ist vonU. v. Wilamowitzund Kiessling Phil. Unters. IV. ediert.

Schon 2000 Jahre vor den Amerikanischen Multimillionären hat hier ein Privatmann aus seinen Mitteln eine Universität gegründet, die Universität Athen, die bedeutendste des Altertums, an der Euklid und Cicero studierten, welche etwa 900 Jahre blühte, bis sie Justinian 529 n. Chr. aufhob, teils um sich ihren Besitz anzueignen, teils weil die Professoren auf Seiten der Gemahlin des Kaisers, derTheodora, standen, und das Heidentum oder richtiger den Neuplatonischen Mystizismus unterstützten, während der Kaiser das Christentum oder das Gottesgnadentum des Monarchen als Staatsreligion durchführen wollte.

Eine zweite Reise nach Sizilien 367 ist wohl von Dion, dem Freunde des Platon und Schwager des Dionys I., der s. Z. Platon seiner Freimütigkeit wegen als Sklaven verkaufen liess, veranlasst. Platon sollte den jungen Dionysios II. nach den in der »Republik« niedergelegten ethischen und politischen Prinzipien erziehen.

Aber wie fast alle Theoretiker der Pädagogik war er kein glücklicher Praktiker. Noch einmal 361 unterbrach eine zugunsten des Dion unternommene Reise seine im höchsten Grade erfolgreiche akademische Lehrtätigkeit, die bis zu seinem 347 im 80. Jahre eingetretenen Tode angehalten haben soll.

Was nun Platon als Mathematiker von Fach betrifft, so ist die Legende von Platons Leistungen in der speziellen Problemmathematik schon vonC. Blassin seiner Dissertation »de Platone mathematico«, Bonn 1861, zerstört worden; als reinen Mathematiker haben ihn seine ZeitgenossenArchytas,Theätetund besonders der grosseEudoxosvonKnidossicher weit übertroffen, er ist von der Philosophie zur Mathematik gekommen und nicht umgekehrt. Platon hat nicht die Philosophie der Mathematik geschaffen, wie M. Cantor sagt, — das würde weit eher auf Demokrit und Eudoxos passen —, aber was eben so wertvoll ist, er hat die Bedeutung der Mathematik für die Philosophie erfasst, und es bedarf nicht des seitMelanchthonimmer wieder zitierten μηδεις αγεωμετρητος εισιτω μου την στεγην,»Kein der Mathematik Unkundiger betrete meine Schwelle«, aus der zweifelhaften Quelle desTzetzes, um uns darüber zu belehren. Platon erkannte, dass die Mathematik für die Philosophie dieselbe Bedeutung als Hilfswissenschaft hat, welche der Physik für die Mathematik zukommt. Einerseits liefert sie für die Logik die einfachsten und schlagendsten Beispiele, wie uns denn Aristoteles den Beweis der Pythagoräer für die Irrationalität der Wurzel aus 2 als Beispiel eines indirekten Beweises erhalten hat, andrerseits liefert sie für die Erkenntnistheorie die Probleme, an deren Lösung sich die Philosophie entwickelt hat. Und Platon gab mit der Betonung dieser Bedeutung der Mathematik den mächtigen Impuls, der die Blütezeit der Hellenischen Mathematik im 3. Jahrhundert herbeiführte. Ganz besonders sind die erkenntnistheoretischen Probleme, welche die inkommensurabeln Streckenbrüche geben, von Platon und seinen Schülern und Mitarbeitern, vonTheätetund insbesondere vonEudoxosbearbeitet worden.

Platon und die Mathematik.

Und noch in einer zweiten Richtung sind wir Platon den grössten Dank schuldig; ohne ihn und die scharfen Worte, mit denen er den gewaltigen Wert der Mathematik für die Bildung der Jugend dargelegt hat, würde wahrscheinlich die Mathematik ihre Stellung als Hauptfach in unseren Gymnasien weder erhalten noch behauptet haben. In seiner Schrift vom Staate, der »πολιτεια«, der bedeutsamsten Utopie, die je geschrieben, in der er als der Erste den grossen Plan einer idealen staatlichen Erziehung der Jugendins Einzelnedurchgeführt, entwirft, sogar bis auf die Schulzimmer, vergleicht er die Bedeutung, welche die Mathematik in seiner Zeit hat, mit der, welche sie haben sollte. Er geht in seiner Wertung der Mathematik als Bildungsmittel von dem Fundamentalsatz aus: die Wahrnehmungen zerfallen in zwei Klassen, die einen finden eine Ergänzung durch das reine Denken, die andern nicht. Politeia 523 heisst es: »Ich zeige dir also, wenn du es (ein)siehst, einiges was gar nicht die Vernunft herbeiruft, es wird schon durch die Wahrnehmung hinlänglichbeurteilt, andres hingegen, was auf alle Weise die Wahrnehmung zu untersuchen auffordert. (Ähnlich Timäos § 46.) Und diese Untersuchung der Wahrnehmung, welche sie umprägt in Erfahrung im Kantischen Sinne, bewirkt in erster Linie die Mathematik. Sie ist ihm der »Paraklet«, der Wecker der reinen, vernünftigen, der wahren Erkenntnis.

Zunächst die Arithmetik, d. h. nicht die praktische Rechenkunst, die Logistik, sondern die wissenschaftliche Zahlenlehre, deren Hauptteil die Lehre von der relativen Zahl, von den Verhältnissen, bildet, die »θεά«, die innere Schau, der Zahlenverhältnisse. Und dasjenige in der Wahrnehmung, was solche Verhältnisse liefert, das ist dadurch, das es uns veranlasst, über die Gründe dieser Verhältnisse nachzudenken, der Herbeirufer, der Paraklet, der reinen Vernunft. Die Betonung der dritten Quelle, aus der unser Zahlbegriff fliesst, der Kategorie oder Konstituente des Bewusstseins Relation, bildet ein grosses Verdienst Platons um die Begriffsbildung in der Mathematik. Aus zahlreichen Stellen (man vgl. auch Theon Smyrneus trad. du Grec en Français p. J. Dupuis 1892) geht hervor, dass ihm die Zahl vorzugsweise relative Zahl oder Masszahl ist, auf der alle Erweiterungen des Zahlbegriffs beruhen, da die Cardinalzahl, die Vieleinheit, und die Ordinalzahl, die Reihungszahl, eine Begriffserweiterung nicht zulassen.

Die gleiche Bedeutung wie der Arithmetik erkennt er derGeometriezu. Er weiss sehr wohl, dass ihr Ursprung, der Veranlassung nach, die Wahrnehmung, d. h. der sinnliche Eindruck ist, und spricht dies nicht nur in der Republik, sondern auch im Timäos ganz unumwunden aus. Aber, sagt er, der Begriff des Gleichen, dieIdeeGleichheit, steckt nicht in der Wahrnehmung gleicher Steine, obwohl wir ihn ohne diese Wahrnehmung nicht hätten. [Die gleichen Steine dienten als Rechenpfennige, daher ψηφιζειν lat. calculare für »rechnen«.] Und er warnt nachdrücklich davor, die Wertung der Geometrie von ihrem Nutzen für die Praxis abhängig zu machen, sondern sie lehrtund erleichtert uns die Erkenntnis »του οντως οντος« des Wahrhaft-Seienden, der Idee, ja sie bewirkt, dass die höchste Idee, die Idee des Guten leichter geschaut werde.

Platonische Ideen.

Da es Platon ist, der zuerst die Bedeutung der Idealisierung für die reine Geometrie erkannt hat, wird es nötig auf die so viel umstrittene Platonische Ideenlehre näher einzugehen. Sie ist der Grundstein seiner Philosophie, und zugleich von Anfang an grade durch seinen bedeutendsten Schüler, durchAristotelesmissverstanden, verspottet und entwertet worden. Nur aus dem Verständnis der Platonischen Idee lässt sich einsehen wie viel Kant für seine transzendentale Ästhetik des Raumes aus Platon entnommen hat. Über die Beziehung zwischen Kant und Platon verweise ich auf einen kleinen Aufsatz in den Philos. Arbeiten, her. vonH. CohenundP. NatorpBd. 2 Heft 1 1908 »Über Mathematik«.

Vom Sokrates nahm er die Betrachtung, dass dem allgemeinen (Gattungs) Begriff jeder einzelne Gegenstand, von dem er abstrahiert wird, zukommt. Von den Pythagoräern das Interesse für die geistigen Prozesse der Mathematik, von den Eleaten den Grundgedanken, dass nur dem durch die Vernunft erkannten bleibendes Sein zukommt, von den Atomikern die Erkenntnis, dass die Zahl- und Raumbegriffe, grade weil sie vom sinnlichen Standpunkt aus Nichts sind, das wirkliche Sein repräsentieren und schmolz alles zusammen in seiner Idee. Durch eine wahrhaft göttliche Eigenschaft der Vernunft wird dieselbe, und zwar am leichtesten durch Vermittlung der Mathematik, angeregt, in den einzelnen Erfahrungen, die das Daseiende (τὰ όντα) liefert, das dauernd Seiende (το οντως ον), die Urbilder, die Ideen zu erschauen, Hypothesen oder Grundlegungen der reinen Vernunft. Von ihnen als dem ewig Seienden, obwohl in keiner einzelnen Erscheinung verkörpert, empfängt das Daseiende sein Sein, seine Essenz, seine Substanz.

Sind die Ideen wie die des Gleichen, des Schönen, des Wahren, und die höchste Idee, welche alle andern trägt, die desGuten erschaut, denn Idee, ἰδέα, kommt von ιδείν (schauen), so werden ihnen die Erscheinungen untergeordnet, und nun wird im einzelnen die Idee geschaut, im breiten Strich die Gerade, im Ball die Kugel etc. Beim reifen Menschen geht die Idee der sinnlichen Erscheinung voraus. »Ehe wir also anhuben zu sehen und zu hören und die Aussenwelt wahrzunehmen, mussten wir in uns, irgend woher genommen, die Erkenntnis des Gleichen angetroffen haben, das, worauf wir die aus den Wahrnehmungen stammenden Gleichheiten beziehen können« (Phaedon p. 758, Theätet p. 186 c). Die Platonische Idee nähert sich, wie aus dieser Darstellung hervorgeht, der (idealistisch aufgefassten) Kategorie derSubstanzeinerseits, und berührt sich andererseits mit dem Begriff derKraft, denn z. B. die Idee des Guten ist die Ursache aller Vollkommenheit, sie ist gradezu die göttliche schöpferische Vernunft. Die Idee, wie z. B. Sophist 248 A beweist, hat Bewegung, Leben, Seele, wie dieLeibnizsche Monade, sie wird öfters gradezu ἑνας oder μόνας, Einheit genannt.

Die Stellung, welche Platon der Mathematik anweist, erinnert unwillkürlich an Kant, auch bei Platon hat die Mathematik eine Zwischenstellung zwischen Sinnlichkeit und Logik, auch bei ihm ist sie »reine Sinnlichkeit a priori«, die in das Objekt der sinnlichen Wahrnehmung, Zahl und Gestalt hineinsieht und als Ewig-Seiendes, die »im barbarischen Schlamme der Sinnlichkeit« steckende Seele hinleitet, im Abbilde das Urbild das wahrhaft Seiende zu sehen. In der Republ. 529 D, 520 C, im Timäos 28 heisst es: Das, was ihr Wirklichkeit nennt, die bunten Gestalten am Himmel und auf Erden, sind nur die Abbilder von den Urbildern in der Erkenntnis und dem Bewusstsein. In seiner Lehrtätigkeit, welche der Hauptfaktor seines Einflusses auf seine Zeitgenossen war, unterschied er Empfindung; Anschauung; Hinzuziehung von Mass und Zahl — διάνοια; und Hinzuziehung der Idee, die transzendentale Erkenntnis, die νόησις.

Raum bei Platon.

Platon hat das Kategorische des Raumbegriffes oder besser die Idealität des Raumes, die ja schon die »richi« der Inder empfunden haben, scharf hervorgehoben, während er Zeit und Bewegung nicht hinlänglich geschieden hat. Die bekannteste Stelle findet sich 50–52 des Timäos, des schwierigsten Dialogs, welcher beweist, wie völlig Platon im Alter unter den Bann pythagoräischer Gedankenkreise geraten war (vgl. den zitierten Aufsatz von 1908). Es heisst da: Der Raum ist die aufnehmendeMutter, die Idee, das reine Erzeugnis der Vernunft, derVaterder Gegenstände der Wahrnehmung der Natur (50 D). Er bildet die 3. Art der Erkenntnis, der ewige unvergängliche Raum (52 B), der uns durch nichtsinnliche Wahrnehmung (μεθ' αναισθησιας) durch eine Art von unechter Vernunfttätigkeit mühsam klar wird, den wirmit offenen Augen träumen. Das ist nichts anderes als der ideale Raum Kants, die reine Form des äusseren Seins für das erkennende Bewusstsein als solches, losgelöst von aller Individualität.

Seit Aristoteles und durch Aristoteles ist die Meinung verbreitet, dass Platon Raum und Materie identifiziert hat, undFr. Asthat dies 1816, Plat. Leben und Schriften Note p. 362 in feiner Weise aus dem Gedankengang Platons abzuleiten versucht. Dass ich anderer Meinung bin, habe ich schon in dem erwähnten Aufsatz der Marburger philosophischen Arbeiten von 1908 gesagt, es handelt sich bei der Ableitung der Körperwelt im Timäos im wesentlichen um eine Kombination Pythagoräischer und Demokritischer Gedanken. Auf Demokrit weist auch die so wichtige Auffassung des Punktes alsStreckendifferential, als »αρχή γραμμής«, Ursprung der Linie.Proklos(Friedlein S. 88) sagt, »aber es liegt in ihm verborgen eine unbegrenzte Macht Längen zu erzeugen.«

So hoch das Verdienst Platons um die erkenntniskritische Untersuchung des Raumbegriffs zu veranschlagen ist, so muss doch auch die Sage von Platon als dem Erfinder stereometrischer Sätze als unbegründet zurückgewiesen werden. Er hat dies selbst,so drastisch als man es nur wünschen kann, getan. In der bekannten Stelle der Republik heisst es: »Ausserdem aber legen sie (die Griechen) hinsichtlich der Messung von allem was Länge, Breite, Tiefe hat eine bei allen Menschen vorhandene, eben so lächerliche als schmähliche Unwissenheit an den Tag.«

Kleinias fragt: Welche und wie beschaffene meinst du?

Sokrates-Platon: Mein lieber Kleinias, habe ich doch selbsterst spätdavon gehört, wie es mit uns in dieser Hinsicht bestellt ist, nämlich meiner Ansicht nach, nicht wie es sich für Menschen gehört, sondern fürSchweine.

Wie es mit den Griechen in dieser Hinsicht bestellt war, erfahren wir aus Thukydides, wo die Griechen den Inhalt einer Insel dem Umfang proportional setzen. Platon ist sicher kein Erfinder stereometrischer Sätze gewesen, sein Verdienst ist auch hier ein methodisches. Durch seinen Umgang mitArchytasundEudoxoshat er die Bedeutung der Stereometrie erkannt, und die ihm zuteil gewordene Anregung auf seine Schüler übertragen, die denn auch nicht ermangelten die Stereometrie zu fördern.


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