The Project Gutenberg eBook ofLebenswende

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This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online atwww.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: LebenswendeAuthor: Walter von MoloRelease date: May 6, 2017 [eBook #54671]Most recently updated: October 23, 2024Language: GermanCredits: Produced by Peter Becker and the Online DistributedProofreading Team at http://www.pgdp.net

Title: Lebenswende

Author: Walter von Molo

Author: Walter von Molo

Release date: May 6, 2017 [eBook #54671]Most recently updated: October 23, 2024

Language: German

Credits: Produced by Peter Becker and the Online DistributedProofreading Team at http://www.pgdp.net

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KRONENBÜCHER

Romane erster Schriftsteller

Roman

von

Walter v. Molo

RUDOLF MOSSE(KRONEN-VERLAG)BERLIN SW 68

Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung, vorbehaltenNachdruck verbotenCopyright 1918 by Rudolf Mosse, Berlin SW 19

Lebenswende

erschien im Jahre 1908 unter dem Titel »Klaus Tiedemann, der Kaufmann«; vorliegende Ausgabe ist vom Autor neu durchgesehen und in mancher Hinsicht verändert worden.

erschien im Jahre 1908 unter dem Titel »Klaus Tiedemann, der Kaufmann«; vorliegende Ausgabe ist vom Autor neu durchgesehen und in mancher Hinsicht verändert worden.

»Willst du noch ein Butterbrot?« fragte zum zweitenmal Hilde Tiedemann ihren jüngeren Bruder Leo und sah über den Frühstückstisch.

Als wieder keine Antwort kam, stellte sie klirrend die Tasse nieder, die sie in der Hand gehalten hatte, und trat zu dem Knaben, der mit starren Augen vor sich niedersah. »Leo!« Sie rüttelte die schwächliche Gestalt, daß die beinahe vornüber fiel, und strich ihm das seidenweiche Haar aus der Stirn. »Was ist mit dir?«

Langsam richtete sich der kränkliche Achtzehnjährige auf; er kniff mißmutig die Brauen zusammen: »Ich mag nichts, hab' ich gesagt!« Es klang verhaltener Aerger aus der lügenden Stimme.

»Du hastnichtsgesagt,« antwortete sie und sah zu der Uhr, die über dem Kamin in bedächtigem Gang ihr Pendel schwang. »Du solltest schon lange in der Schule sein!«

Leo zog ärgerlich die Schultern: »Laß dasmeineSorge sein und kümmer' dich um andere!« Seine Augen gewannen an Glanz, weil er eine Waffe gegen seine Schwester gefunden zu haben meinte: »ZumBeispiel um deinen Hansen, der ist gewiß jetzt noch im Bett.« Er lachte, und die Schadenfreude saß um seinen blassen Mund.

Hilde war rot geworden und gab keine Antwort, nur mit dem Löffel stocherte sie in der Tasse, trotzdem der Zucker schon lange vergangen war. Dann stand sie jäh auf, mit plötzlichem Entschluß. »Stichle, solange du willst, es ist mir gleich,« sagte sie, hochatmend holte sie Luft, »aber das eine muß ich dir sagen, wenn du so weiter machst, Leo, dann nimmt es ein schlechtes Ende mit dir!«

Leo hatte sich im Sessel zurückgelehnt und sah mit einem Blick, der unbefangen sein sollte, aber doch widerwilliges, ängstliches Eingestehen zeigte, auf seine Schwester. Er versuchte ein verlegenes Lächeln: »Waswird ein schlechtes Ende nehmen, bei mir oder bei dir?« sagte er.

»Du!« ihr Fuß stampfte entrüstet auf, »du weißt ganz gut, was ich meine! Sei nicht so häßlich mit mir!« Unwillig warf er die Serviette auf den Tisch:

»Ich bin kein kleiner Bub, der dir über alles Rechenschaft geben muß.«

»Das will ich auch nicht, aber schonen sollst du dich und deine Gesundheit; mußt du dennjetztschon alles mitmachen, immer dein Erwachsenen-Spielen! Du hast doch dasganzeLeben vor dir? Wenn Papa wüßte, wann duheutenacht wieder nach Hause gekommen bist!«

Erschreckt blickte er sie an. »Du wirst es doch nicht sagen?« fragte er hastig.

»Nein, gewiß nicht, aber du solltest Vernunft annehmen.«

»Was heißt Vernunft annehmen! — Das ist ein blödes Wort für euch Mädels, für uns kann das Leben nicht früh genug anfangen.« Seine bleichen Wangen bekamen Farbe; er erhob sich. »Erzählte Papa nicht selbst, wie er schon als kleiner Bub alles mitgemacht hat, wie er mit achtzehn Jahren allein in die Welt hinauszog? Und ich soll immer hinter dem Ofen hocken?«

»Das war ein anderes Leben, Leo, von dem Papa spricht! Das war Arbeit, und nicht Vergnügen wie bei dir.«

Er ließ die Hand heftig auf den Tisch fallen »Herrgott ja, aber soll ich mich plagen, wenn ich es nicht notwendig habe? Papa war arm und mußte arbeiten, wir aber sind, Gott sei Dank, reich.«

»Wie du daherredest,« ihre Stimme zitterte in Erregung: »Arbeiten muß jeder Mensch.«

»Ja, tu' ich ja auch! Ich habe Kopfweh!«

Sie faßte seine schmale Hand: »Wenn dir nicht gut ist, lege dich ins Bett, aber geh nicht so viel lumpen, du bist noch zu jung!«

Er fuhr zornig auf: »Kommst du schon wieder mit dem Alter, als ob alles davon abhinge! Der eine ist eben früher reif, der andere später — das verstehst du nicht!« Er drehte ihr den Rücken zu und begannvor sich hin zu pfeifen. Dann sagte er leichthin über die Schulter: »Görnemann war vorhin da und suchte Fred.«

»Wo ist Fred?«

»Weiß ich's?«

Sie sah wieder zur Uhr und schüttelte den Kopf: »Neun, und er ist noch nicht auf!«

»Aufgestanden ist er schon lange, aber er ist gleich weggefahren. Sie probieren heute bei der Morgenarbeit den ‚Franklin’,« sagte Leo wichtig, dessen älterer Bruder einen Rennstall hielt, und unterdrückte ein Gähnen.

Als Hilde keine Antwort gab, sondern den Tisch abzuräumen begann, setzte er sich auf den Diwan und sah ihr zu: Hilde Tiedemann war mit ihren zwanzig Jahren ein hübsches Mädchen, das gestand sich ihr Bruder jetzt, wie schon oft, wohlgefällig zu, und sein Blick, der ihre schlanken Formen und flinken Bewegungen verfolgte, wurde freundlicher. »Du solltest, Hilde, nicht alles selbst tun! Wozu haben wir denn unsere Dienstboten?«

Hilde hielt in der Arbeit inne:

»Warum soll ich das nicht tun? Das schadet doch nichts?«

»Schadet nicht, aber die Leute bekommen eine falsche Meinung von uns. Sie müssen sehen und spüren, daß wir die Herren sind.«

»Das merken sie viel eher, wenn man aus freien Stücken mitarbeitet, als wenn man sie, wie ihr esliebt, allein schalten und walten läßt und dabei alles verkommt.«

»Du bist köstlich, als ob bei uns so etwas vorkommen würde!«

Hilde strich die letzten Brotkrumen vom Tisch und erwiderte: »Ich kann's als Mädel nicht ändern.«

Leo rückte unruhig herum: »Lächerlich, einfach lächerlich! Wenn es nach dir ginge, dürfte man sich überhaupt keine Freude gönnen! Du siehst in einem fort Gespenster! Papa, Fred und ich sind lustig und guter Dinge, du predigst immer Gefahr. Ich möchte nur wissen, woher eine solche für uns kommen sollte?«

Hilde Tiedemann schüttelte den Kopf; sie sagte: »Das ist es ja, Leo, daß ihr alle so sicher seid und mich mit meinen Sorgen auslacht! Ihr glaubt, weil wir Geld haben, kann uns nichts geschehen. Schau, Leo,« sie trat ganz nahe zu ihm und dämpfte, in eindringlicher Liebe, ihre Stimme: »Du arbeitest viel zu wenig für deine Schlußprüfung, du verläßt dich ganz auf das Schwindeln mit dem Schuldiener — wenn's nun nicht gelingt?«

Er lachte selbstsicher: »Er bekommt genug Geld, eswirdgelingen.«

»Dukannstes nicht wissen. Und selbst, wenn es gelingt; schämst du dich denn nicht vor deinen Mitschülern, die sich ehrlich plagen müssen? Weißt du, ich verstehe ja nichts davon, aber ich — wenn ich an deiner Stelle wäre — ich würde lieber durchfallen, aber ehrlich arbeiten, als durch Betrug Erfolg haben zu wollen.«

Leo bekam vor Aerger wieder rote Wangen: »Du redest so gut, wie du es verstehst — du bist furchtbar unpraktisch,« er nahm einen überlegenen Ton an: »merk' dir, Hilde, was man erreichen kann, soll man erreichen, die Mittel dazu sind gleich — wenn man es sich bequemer machen kann, dann soll man's erst recht tun — alles andere ist Unsinn ...« Er hielt inne und sah mit plötzlich belebtem Blick auf das Stubenmädchen, das eingetreten war und meldete: »Herr Görnemann ist da!«

Hilde ging lebhaft zur Tür; sie fragte: »Warum kommt er denn nicht herein?« Sie rief: »Herr Görnemann! Herr Görnemann, kommen Sie doch zu uns herein!«

Die magere, peinlich gekleidete, lange Gestalt des Prokuristen, mit weißem Kopf und rosigen Wangen, schob sich in die Türöffnung; sie sagte bescheiden:

»Guten Morgen, Fräulein Hilde, ich wollte nicht stören. Ist Herr Fred schon da?«

Belustigt reichte ihm Hilde die Hand. »Wie formell Sie geworden sind! Sie wollten nicht ‚stören’? Wen denn?«

Er hüstelte und sah hinter den weißen Wimpern scharf auf sie. »Der junge Herr hat dem Personal verboten, in die Privatwohnung zu kommen.«

»Das gilt aber doch nicht fürSie!«

»Mein liebes Fräulein, die Zeiten ändern sich. Es ist besser, man gewöhnt sich daran.« Er bemerkte Leound nickte ihm freundlich zu. »Guten Morgen, Herr Leo!« Der gab keine Antwort, so daß dem alten Mann das Blut ins Gesicht stieg.

»Brauchen Sie meinen Bruder notwendig, Herr Görnemann?« fragte Hilde und nestelte mit nervösen Fingern an ihrer Bluse.

»Ja — es sind Briefe zu unterschreiben und Wechsel für Frau von Lecart zu unterfertigen.« Seine Stimme war unsicher.

»Für Clo?«

»Ja, Ihre Frau Schwester hat schon zweimal hergeschickt, ich kann die Wechsel aber nicht allein hinausgeben, weil die Summe zu hoch ist.« Er machte eine rasche Wendung, als brenne plötzlich der Boden unter seinen Füßen: »Ich werde eben noch warten und dann wieder heraufsehen,« sagte er hastig. »Guten Morgen, Fräulein Hilde!«

Hilde wollte den alten Mann versöhnen, darum fragte sie noch rasch. »Wie geht es Ihnen immer, Herr Görnemann?«

Der stand schon auf der Schwelle. »Gut, ich danke.«

Als der Prokurist die Tür lautlos hinter sich zugezogen hatte, fragte Hilde vorwurfsvoll ihren Bruder: »Warum hast du ihm nicht gedankt, als er dich grüßte?«

»Laß mich in Ruhe! Er könnt' sich 'mal auch schon angewöhnen, zu mirHerr Tiedemannzu sagen, statt mich, wie ein Kind, ewig mit dem Vornamen anzusprechen!«

»Gegen ihn bist du doch auch ein Kind! Du solltest ihn überhaupt zuerst grüßen.«

»Er ist doch nur ein Angestellter von Papa?!«

»Seit mehr als vierzig Jahren! Er hat Papa gekannt, als der noch arm war und hat ihm geholfen, sein Geld zu verdienen.«

»Dafür hat er sein Gehalt bekommen.«

Sie wollte heftig widersprechen, doch sie schwieg und horchte auf den festen Tritt, der von dem Schlafzimmer ihres Vaters herüberkam und vor der Tür zögerte. Dann klang die Türschnalle. »Guten Morgen, Kinder!«

Klaus Tiedemann küßte seine Tochter auf den Mund und trat zu Leo, der langsam aufgestanden war und lässig sagte: »Morgen, Pa!« Leo schloß für einen Augenblick die Lider und beugte sich herab, damit ihn seines Vaters Mund erreichen konnte. Der küßte ihn auf die Stirn:

»Frisch beisammen und ausgeschlafen, mein Junge?« fragte Klaus Tiedemann.

»Ja, Pa!« Leo suchte seiner Stimme Klang zu geben. »Mir ist wieder ganz gut.«

»Kein Kopfweh mehr?«

»Nein, ganz wenig.«

»So ist's recht, und nun Hilde: meinen Tee!« Er trat zum Fenster und sah aufs Thermometer, während Leo sich an Hilde heranmachte und flüsterte:

»Nichts sagen, du hast es mir versprochen!«

Sie schüttelte unwillig den Kopf.

Klaus Tiedemann ließ sich schwer in den gepolsterten Sessel fallen und sah seinen Jüngsten an. »Ein wenig blaß bist du doch noch! Gehe heute lieber nicht in die Schule!« sagte er.

»Meinst du, Papa?«

»Was du da drinnen versäumst, kannst du noch hundertmal einholen, bleib' daheim!«

»Danke, Pa!« Leo schaute triumphierend zu seiner Schwester hinüber. »Dann lege ich mich aber noch ein wenig hin, denn ich bin recht müde; jetzt kann ich's ja sagen!«

»Tue das!«

»Servus! Kommst du ein bißchen zu mir hinauf, damit wir plaudern können?«

»Gewiß, mein Kind!«

Es lag väterlicher Stolz und Liebe in dem Ton der Worte und dem Blick, den Klaus Tiedemann der hoch aufgeschossenen Gestalt seines Sohnes nachsandte, bis sie verschwunden war. Dann meinte er zu Hilde mit einer entschuldigenden Färbung in der Stimme: »Die Schulmeister täten mir den Buben ganz ruinieren, wenn ich nicht hier und da einen Riegel vorschieben würde.«

»Ja,« antwortete sie; und ihr kamen die Worte nur schwer aus der Kehle, weil sie an den ewigen Irrtum und die allzu große Nachsicht ihres Vaters denken mußte, »aber Leo sollte sich auchselbstmehr schonen!«

»Das tut er so Hilde; sieh darauf, daß er immer Wein trinkt!«

Er faltete die Zeitung auseinander; aus alter Gewohnheit begann er zuerst mit dem rückwärtigen, volkswirtschaftlichen Teil. Dadurch schien er an das Geschäft und mit diesem an Fred erinnert zu werden. »Ist Fred schon dagewesen?« fragte er.

»Nein, Papa!« Hilde wartete vergeblich auf Antwort. Nur die Zeitung knisterte.

Sie schüttelte den Kopf: daß er Fred so blind vertraute! Er hatte doch eigentlich keinen Grund dazu! Der Aelteste hatte nie viel Lust für das Werk seines Vaters empfunden und ging oft nur ins Kontor, weil ihn sein Vater dazu zwang. Als Fred vom Militär zurückgekommen war — am liebsten wäre er dabei geblieben —, hatte sein Vater darauf bestanden, daß er in die Firma eintrat. Es war ein harter Kampf gewesen, doch Klaus Tiedemann hatte gesiegt! Da es die Sicherung seines Lebenswerkes, seines Hauses galt, war er ein anderer als sonst: er gab nicht nach! Fred fügte sich seufzend in sein Schicksal, um das ihn Millionen Aufstrebender beneidet hätten. Doch von der Zeit an schien sein Vater jede Lust zum Geschäfte verloren zu haben; er sehnte sich plötzlich nach Ruhe: Wenn Fred schon Kaufmann sein mußte, so sollte er auchChefsein. Als Fred Lust am Geschäft zu finden schien, trat sein Vater zurück. Er war schließlich 70 Jahre alt, da kam die Jugend ins Recht!

Hilde saß mit hängenden Armen und wartete, ob der Vater etwas benötigen sollte.

Es vergingen stille Minuten.

In der Ruhe, die sie umgab, schlichen ihre Gedanken wieder in die Ferne. Sie dachte: ihre Mutter — vor Jahresfrist war sie gestorben! — sie trugen noch die Trauergewänder für sie — war eine Frau gewesen, die sich nicht viel um die Kinder bekümmerte, die ihr halbes Leben auf der Chaiselongue verbrachte, mit Kopfweh und Nervenzuständen. Klaus Tiedemann mochte nicht der richtige Mann für sie gewesen sein, etwas zu selbstherrlich und zu gewaltsam, wenigstens die ersten Jahre der Ehe. Das schien mit der Zeit von ihm gefallen zu sein. Hilde erinnerte sich mancher garstiger Szene zwischen den Eltern in früheren Jahren. Mama sprach stets mit gewisser Rückhaltung von Papa, der eben ausanderenKreisen stammte als sie, die Tochter des Konsuls. Das hörte ihr Vater nicht gern, denn er versuchte seine Vergangenheit zu vergessen, obgleich sie ihm aus eigener Kraft zu Ansehen und Reichtum verholfen hatte. Schon seiner Kinder wegen wollte er nicht daran erinnert werden; sie hatten ihn stets nur als einen reichen und — nach Klaus Tiedemanns Meinung — daher vornehmen Mann gekannt, und er war ängstlich bemüht, sie dabei zu lassen.

Der Kinder wegen war ihm nichts zu viel, an denen hing er mit rührender Liebe: weniger an den Töchtern, über die Frauen hatte er überhaupt seine eigene Meinung, die auch zu seiner Ehe geführt und seine ältere Tochter Clotilde, heute Clo Baronin Lecart, zu ihrer Wahl geleitet hatte. Aber seine Söhne warenihm alles; diese eleganten jungen Leute, denen jeder Salon offen stand, konnten alles von ihm haben. Willig ordnete er sich ihnen unter. Hilde fuhr zusammen und sah auf: Vater hatte mit hastigem Ruck ein Blatt der Zeitung umgeschlagen. Ohne daß sie hinblickte, wußte sie, daß es die Kunst- und Theaternachrichten waren. Ihr Denken erhielt eine neue Richtung: Warum spielte Leo stets auf Hansen, seinen früheren Lehrer, an, wenn er sie kränken oder in Verlegenheit bringen wollte? Glaubte er, daß sie für den Karikaturenzeichner Sympathie empfände? Und wenn, was ging das ihn an? Sie bewegte trotzig den Kopf: was ging das ihn an? Vater merkte nichts, sonst hätte er gesprochen, der hatte andere Pläne mit ihr, das wußte Hilde! Klaus Tiedemanns Schwiegersöhne mußten Namen von Klang haben und in der Gesellschaft etwas gelten; das war beides bei J. A. Hansen nicht der Fall. Der hatte nur eine alte Mutter und seine freche Hand, die den Menschen an der schwächsten Seite zu packen wußte — an der Eitelkeit. Das vergab ihm niemand. Hilde seufzte: Es mußte wohl so im Leben sein, daß manchem sein Können schadete und ihm Feinde schuf! War nicht auch Gerhard unbeliebt, trotzdem er, wie Vater selbst zugab, dem Geschäft in einem kurzen Jahr unentbehrlich geworden war? Gerhard stammte aus ihres VatersersterEhe.

Es mußten unangenehme Erinnerungen sein, die Klaus Tiedemann an diese Zeit im Herzen trug, denn nie sprach er davon. Seine erste Frau war früh gestorbenund Gerhard war in fremden Händen aufgewachsen. Erst nach dem Tode seiner zweiten Frau hatte sich der Vater an seinen Sohn aus erster Ehe erinnert. Des Konsuls Tochter hätte es nicht zugegeben, und Klaus Tiedemann hatte durch seiner Frau Widerstand einen ihm lieben Entschuldigungsgrund gefunden, sein Kind nicht wiederzusehen. So war Gerhard spät in seines Vaters fremdes Haus gekommen.

Draußen schellte die Glocke und tönten Stimmen, Säbelklirren und Sporenklang.

Hastig faltete Klaus Tiedemann die Zeitung zusammen. »Es ist Fred,« sagte er hochachtungsvoll. »Er bringt jemanden mit,« in sorgender Eile überflog sein Blick den gedeckten Tisch, »nimm die Eierschalen weg und gib die Zuckerzange her.« Er fuhr herum: die Tür ging auf, Freds Hand wurde sichtbar, die den Flügel hielt, um dem Gast den Vortritt zu lassen: ein Offizier; er schlug die Sporen zusammen, verneigte sich und sagte: »Die Herrschaften verzeihen meinen Ueberfall!«

Klaus Tiedemann hob devot die Hand. »Bitte, bitte recht sehr, doch einzutreten.«

»Freiherr von Olthoff« stellte sich der Gast vor und verneigte sich. Hilde sah einen tadellosen Scheitel, der sich nach hinten im spärlichen Haar verlor, das schwarz und fett auf dem Kopfe haftete; leises Unbehagen beschlich sie, als er ihre Hand zum Munde führte. Sein langer Blick überflog sie.

»Servus, Fred,« im Vorübergehen klopfte der alteTiedemann seinem Sohne liebkosend auf den Arm, dann riß er die Portiere zur Seite: »Bitte hier in den Salon!«

»Der Dame den Vortritt.« Olthoff ließ Hilde vorangehen und musterte in Eile die schweren eichenen Möbelstücke, die von dem sezessionistischen Tand der übrigen Einrichtung sonderbar abstachen. »Ich sehe, man liebt hier das Neue.« Klaus Tiedemann hörte gern das Lob seiner Bemühungen, er war angenehm berührt von des anderen Art.

»Man geht mit dem Fortschritt! Uebrigens das ist Freds Verdienst.«

»Alsodubist der Künstler?« Olthoff wendete sich für einen Augenblick zu Fred, der sich eine Zigarette anzündete, dann entschuldigte er sich neuerlich: »Ich mache mir wirklich Vorwürfe, daß ich so ohne weiteres die Herrschaften inkommodiere, aber wir waren so lustig zusammen, weil ‚Franklin’ so gut bestanden hatte, daß ich mich leicht überreden ließ.«

»Mache doch keine Umstände,« Fred Tiedemann sprach mit hoher, gesucht vertraulicher Stimme, »meine Leute freuen sich, dich kennenzulernen, nachdem ich ihnen schon viel von dir erzählt habe!«

»Gewiß, Herr Baron, wir sind Fred sehr verbunden, daß er uns Ihre werte Bekanntschaft vermittelte,« sagte Klaus Tiedemann schnell.

Olthoff verneigte sich, daß die Sporen klangen. »Sehr angenehm.«

»Wollen Herr Baron nicht eine Erfrischung zu sich nehmen?«

»Nein, danke, wir haben reichlich gefrühstückt.«

»Vielleicht könntest du, Hilde, ein Glas Wein an ...« Hilde war langsam aufgestanden, doch schon versperrte ihr Olthoff den Weg:

»Sehr liebenswürdig, aber ich danke wirklich! Bitte doch Platz zu behalten. Bitte!« Als sie wieder saßen, nickte er Hilde zu: »Gnädiges Fräulein müssen die Stelle der Hausfrau vertreten?«

Seine Reden klangen konventionell und gezwungen, ein leichter Hauch von der Ueberlegenheit des Mannes war darin und: Oberflächlichkeit. Hilde merkte mit scharfen Sinnen: das war einer, der ihr gegenüber die Art ihrer Leute hatte, nun begriff sie Freds Sympathie!

Der suchte stets Bekanntschaften, die ihm in der Gesellschaft durch Namen oder Aehnliches nützen konnten! Sie zuckte die Achseln und sagte: »Natürlich!«

»Gnädiges Fräulein haben noch einen zweiten Bruder?«

»Ja!« Klaus Tiedemann, der mit Zigarrenkistchen im Arm vorüberging, streichelte ihr die Wangen; seine Worte kamen oft verspätet:

»Nur nicht zu bescheiden sein, Mädel!« Hilde zuckte zusammen, ihr tat die gutgemeinte Berührung in Gegenwart des Fremden weh. Der wendete sich zu Klaus Tiedemann:

»Ein herber Verlust, wenn den Kindern die Mutter entrissen wird; auch meine Mama starb früh.«

Klaus Tiedemann nickte. »Es ist übermorgen einJahr; meine arme Frau; sie war eine GeborenevonWesenheim.«

Olthoffs verwittertes Gesicht überflog für eine Zehntelsekunde ein Lächeln, das sein gelbes Antlitz unter dem schwarzen Schnurrbart häßlich verzog. »Sie haben einen guten Ersatz,« er sah mit kecken Augen auf Hilde, die befangen vor sich niederblickte.

»Darüber ließe sich streiten,« warf Fred Tiedemann ein.

»Nicht doch, Hilde hilft uns in vielem.«

Fred lenkte ab, ihm mochte die Wendung des Gespräches nicht behagen: »Also, Olthoff, sage mal, du als Kavallerist, ob ‚Franklin’ nicht wirklich Chancen hat? — Papa glaubt's nämlich nicht.«

Wie elektrisiert fuhr der Angesprochene herum. »Ich sage Ihnen, nur der, derihnschlägt, gewinnt das Rennen.«

»Na also,« lachte Fred Tiedemann wegwerfend.

»Mich soll es freuen, wenn du mit deinen Rennfarben gleich von Anfang an Glück hast,« sprach bedächtig Klaus Tiedemann.

»Uebrigens, Papa: wir haben außerdem einen anderen famosen Gaul in Aussicht!«

»Du willst schon wieder ein Pferd kaufen?« Des alten Tiedemanns Stimme erhielt etwas Kleinlich-nörgelndes. »Du mußt ja schon ein Dutzend beisammen haben?«

»Sogar mehr!«

Olthoff mischte sich ins Gespräch: »Ihr Herr Sohnfängt die Sache mit Geschick an: man würde gar nicht glauben, daß er der erste ist, der in der Familie diese Passion hat.«

»Ich habe nie besonders dafür geschwärmt,« beeilte sich der Alte zu sagen und faltete nervös die Hände zusammen, »doch ihr Jungen seid uns ja heute in allem über.«

»Du hattest keine Zeit dazu!« Hildes Stimme klang heiser und kampfbereit: glaubte Papa wirklich, daß seine Söhne höher stünden? Fred winkte ihr mißbilligend ab: »Warum hätte Papa keine Zeit haben sollen?« sagte er. »Wir Kinder haben ihn nicht gehindert: und das Geschäft läuft von selbst weiter.«

Es klopfte jemand an die Tür. Fred rief: »Herein.«

Eine breite, muskelkräftige Gestalt, mittelgroß, die unverkennbare Aehnlichkeit mit dem alten Tiedemann trug, trat über die Schwelle; eine sichere Stimme sagte kurz: »Guten Morgen.« Die Aussprache hatte englischen Akzent. Gerhard Tiedemann ging mit schweren Schritten auf seinen Stiefbruder zu und sagte sachlich:

»Wir brauchen dich drunten im Kontor, zum Unterschreiben, wir können die Sachen nicht länger liegen lassen.«

Unwillig hatte sich Fred im Sessel herumgeworfen. Nun galt es, den Chef zu zeigen. Er zog die Stirn in Falten. »Ich komme; so lange wird es wohl noch Zeit haben!?«

Gerhards energisches Gesicht blieb ruhig. »Ich habe die Sachen mitgebracht; sie liegen nebenan.«

Klaus Tiedemann wackelte vergeblich mit dem Kopfe, um der peinlichen Szene — doppelt unangenehm, weil sie vor einem Fremden stattfand — ein Ende zu machen. Auch in ihm war Aerger über Gerhards eigenwilliges Benehmen. Was mußte sich Olthoff denken?

Als Fred keine Antwort gab, klang abermals Gerhards Stimme: »Es handelt sich vor allem um die Wechsel für Lecart, deren dieser dringend benötigt.«

Fred war aufgesprungen und maß den Sprecher von Kopf bis zu den Füßen, dann ging er voraus ins Herrenzimmer.

Klaus Tiedemann sah seinen Kindern nach, von denen er das, welches die Art seiner eigenen Jugend trug, nicht liebte. Wie derb und gewöhnlich war dessen Gestalt gegen die elegante Figur Freds!

Es vergingen verlegene Minuten.

Schnell und unvermittelt, um der Situation Herr zu werden, frug Tiedemann:

»Sind Herr Baron schon lange hier in Garnison?«

Olthoff lächelte, daß kleine Fältchen um seine Augen aufsprangen: »Erst wenige Monate; ich bin Jahre in der Provinz gewesen.«

»Ich denke mir das Leben dort nicht so unangenehm?«

»Es ist fad.«

»Dafür gilt aber der Offizier dortselbst mehr als hier in der Großstadt. Besonders bei der Damenwelt. Nicht?«

Olthoffs Stimme wurde interessiert: »In der Provinz sind meist nur verheiratete Damen. Die sind gewiß für uns Junggesellensehrangenehm; aber in einer Kleinstadt läßt sich so etwas nicht ausnutzen.«

»Ich verstehe.« Klaus Tiedemann lachte in der ihm eigenen bedächtigen Art und sah fragend nach Hilde hinüber: ob die zimperlich sei?

Olthoff bemerkte den Blick und sagte: »Gnädiges Fräulein verzeihen, daß ich so sprach?«

»Bitte!« Sie erhob sich jäh; auch er stand. »Nun habe ich lange genug gestört.«

»Nicht im geringsten,« sagte Klaus Tiedemann, vor Hilde tretend, »ich werde sofort Fred rufen lassen. Ich weiß nicht, warum er so lange fortbleibt.«

Olthoff legte Klaus Tiedemann die Hand auf den Arm; er sagte verbindlich »Bitte, ihn herzlich von mir zu grüßen, und nochmals Verzeihung für mein Stören!«

»Aber ich bitte!«

»Sie müssen es auf Kosten Ihrer Liebenswürdigkeit setzen.«

Klaus Tiedemann verneigte sich: »Kommen Sie recht oft und recht bald wieder, Herr Baron!«

»Wenn Sie gestatten, mit größtem Vergnügen!« Olthoff schlug die Hacken zusammen. »Bitte Fred zu sagen, er soll mich antelephonieren. Er will ein Auto kaufen, und da möchte ich ihm gern fachmännisch raten,« fügte er erläuternd hinzu.

»Herr Baron sind sehr liebenswürdig!«

Olthoff sandte noch einen Blick zu Hilde, die unmerklich den Kopf neigte. Dann ging er. Der alte Tiedemann begleitete ihn.

Hilde stand auf und seufzte:

Ein Tag war begonnen in alter Art.

Nach Tisch gab es eine erregte Szene: Fred aß nicht mit den Seinen, weil er sich nicht, wie er sagte, bei seinen mannigfaltigen Obliegenheiten an eine feste Eßstunde binden konnte. Heute war er jedoch auf ein paar Minuten gekommen, um seinem Vater die letzten Abmachungen für die morgige Eröffnung des Industriehauses mitzuteilen. Darüber war Klaus Tiedemann in Aerger und Aufregung geraten. Er sollte den Minister mit einer kurzen Ansprache begrüßen. Solange zu arbeiten gewesen und zu raten, hatte man auf ihn bauen können, jetzt sollte man ihm seine Ruhe lassen.

»Ich tu's nicht,« sagte er mißmutig und sah ärgerlich zu Boden.

»Du mußt; es bleibt dir nichts anderes übrig, willst du uns nicht alle bloßstellen.«

»Wen? Alle?«

»Du bist Obmann des Aktionskomitees und hast als solcher die Pflicht, zu sprechen.«

Klaus Tiedemann gab voll Grimm keine Antwort.

Hätte man ihn nicht hineingejagt in das Ganze, wäre alles gut; die Geschichte mit dem Industriehaus ging jetzt schon über vier Jahre! DieVereinigung der Großindustriellen hatte sich nach langem Herumstreiten zum Bau eines Vereinshauses entschlossen, und Tiedemanns verstorbene Frau hatte es verstanden, dafür zu sorgen, daß ihr Mann dem Werke in leitender Stelle gegenüberstand. Er hatte sich gefügt, in einer Anwandlung befriedigten Stolzes, daß man zu ihm gekommen war.

Die anderen Mitglieder des Ausschusses waren damit zufrieden, ihre Namen so oft als möglich in die Zeitungen, anläßlich der Sitzungsberichte, zu lancieren. Klaus Tiedemann hatte gestützt auf seine reichen Erfahrungen, sich voll in den Dienst der Sache gestellt und gearbeitet. Sein Aerger, über die Aufforderung und seine Unfähigkeit, ihr zu entsprechen, waren desto größer, als er wußte, daß es ihm eigentlich im wahrsten Sinne des Wortes zustand, das Haus zu eröffnen.

Aber er war zu befangen! Woher auch in der Geschwindigkeit eine Rede nehmen? Er war keiner von denen, die für das, was sie empfanden, gleich die richtigen Worte fanden.

Das sagte er Fred.

Doch der lachte: »Sei nicht so schwerfällig — so ein paar leere Worte sind doch bald beisammen.«

»Meinst du?«

Ueber den alten Mann kam ein leises Zittern der Freude; es würde ihn doch eigentlich freuen, wenn er den Minister begrüßen könnte. Unverwischbarwaren die Vorurteile des niederen Standes, in dem er geboren. »Du könntest mir eigentlich ein paar Worte aufsetzen,« sagte er gepreßt zu Fred und sah angelegentlich auf seine Fingernägel, die breit und gewölbt waren. »Ja?«

»Ich?« Fred Tiedemann fuhr ärgerlich auf, »was fällt dir denn ein? Ich kann doch nicht stumm daneben stehen, wenn dumeineWorte redest!«

Klaus Tiedemann hing den Kopf.

»Fred!DenGefallen mußt du Papa tun!« sagte Hilde.

»Was weißt denn du! Wenn Papa spricht, soll er sich die Sätze auch selbst zusammenstellen.«

»Du bist häßlich.«

»Laß nur, Hilde,« ihr Vater drückte sie auf den Sessel nieder, »ich werde es schon allein machen.« Er atmete schwer; es war ihm nicht leicht gefallen, seinen Sohn darum zu ersuchen; er ging zur Tür hinaus.

»Du hast Papa weh getan,« sagte Hilde vorwurfsvoll.

Schnell war Leo in die Höhe:

»Ichwerde Papas Rede aufsetzen,« rief er und lief zur Tür, »du bist ein Esel, Fred.«

»Wird hübsch werden«, rief ihm Fred nach. Er trommelte auf die Tischplatte: »So ein Frechling!«

»Ich versteh' dich nicht.« Hilde schüttelte den Kopf. »Du mußt doch gesehen haben, Fred, wie viel Papa daran lag, daß du ihm behilflich bist. Was hat er für dich getan!«

»Wär' ich der Vater, so hätt' ich's auch getan.«

Sie sah ihn mit langem Blicke bittend an[.] »Setze ihm die Rede auf, Fred! Nachmittags lernt er sie auswendig, und alles ist recht.«

»Nein! Ich seh' nicht ein, warum man ihn in seiner Schwäche unterstützen soll. Er hat oft genug davon gesprochen, was er für ein tüchtiger Kaufmann gewesen ist; er wird das auch zusammenbringen.«

Sie gab keine Antwort.

In reichem Schmucke prangte das Industriehausvestibül. Die Herren im Frack streckten die Hälse, vorsichtig balancierten sie die Zylinder. Draußen, nur durch Glas und Eisen getrennt, klatschte der Regen auf die breiten Granitstufen, welche das Vestibül gegen die Straße abschlossen. Jeden Augenblick mußte der Minister vorfahren.

Klaus Tiedemann stand mit leise murmelnden Lippen neben der gleißenden Statue Merkurs. »... festhalten in Treue am zünftigen Beruf ...« Er konnte sich Leos Worte nicht merken, es war zuviel jugendlicher Schwung darin. Der Schweiß war auf seiner Stirn, polternd fiel der Zylinder zu Boden. Er hob ihn auf und ließ das Konzept fallen. Die Umstehenden sahen ihn an: »Das konnte gut werden!« Es waren meist Altersgenossen Freds, mit deren Vätern er gearbeitet hatte. Sie empfanden keinen Zusammenhang mit dem alten Mann.

»Er kommt.«

Ein Wagen fuhr vor, die mächtigen Torflügel öffneten sich, brausend sprang der Wind von der Straßein die Topfpflanzen, welche des Landesherrn Büste schmückten.

Alles verneigte sich vor dem Minister und drängte vorwärts.

Klaus Tiedemann fühlte sich gestoßen, in den Vordergrund geschoben; unordentlich saß der Frack auf seiner vierschrötigen Gestalt. Jedes Wort war ihm entfallen; die Knie zitterten. Er sah gebeugte Rücken. Lackschuhe schliffen auf den Fließen.

Die Vorstellung der Herren war schon im besten Gang.

Instinktiv suchte Klaus Tiedemann einen Ausweg aus der Menge; er drängte der Tür zu. Sein Herz hob an, in schweren Schlägen zu pochen.

Er sah, wie sich die Köpfe nach ihm wendeten. Plötzlich war Fred an seiner Seite. Wie ein Ertrinkender griff Klaus Tiedemann nach dessen Arm:

»Ich kann nicht reden.«

»Warum?«

Klaus Tiedemann rang nach Luft. »Mir ist nicht gut; ich glaube, mich trifft der Schlag«, er zwängte die weißbehandschuhte Rechte in seinen Hemdkragen. »Hilf mir!«

»Ich will dich vertreten.«

Die Worte waren rasch hin und her geflogen; vor beiden öffnete sich eine Gasse. Die Herren sahen erwartungsvoll auf Klaus Tiedemann.

Mit schnellem Schritt trat Fred vor und verneigte den wohlfrisierten Kopf; seine Gestalt deckte die seinesVaters. »Eure Exzellenz. Hochbeglückt sieht der Verein der Großindustriellen unseres geliebten Heimatlandes seit langem dem heutigen Tage entgegen, der uns ein Heim geben soll für dauernde Zeiten ...«

In leichtem Tone flossen wohlgesetzte Worte an Klaus Tiedemanns Ohren vorbei, daß er freudig den Kopf hob und zur Seite trat, um in Freds Gesicht Ausblick zu gewinnen.

»... Euerer Exzellenz Gegenwart gibt uns die frohe Zuversicht, daß unser Bestreben von maßgebender Seite gewürdigt und unterstützt wird ...«

Er war stolz auf seinen Sohn!

Der sprach zu Ende:

Er pries den Kaufmannsstand, dem die ganze Welt offen stünde, er sprach davon, wie verfehlt es sei, wenn die Gewerbetreibenden ihre Söhne die Mittelschule nur zu dem Zwecke besuchen ließen, um sie die Beamtenkarriere oder einen der gelehrten Berufe ergreifen zu lassen: »... Der Kaufmannsstand selbst bedarf tüchtiger, gebildeter Kräfte, die ins Leben hinausziehen, den Ruhm unseres Vaterlandes zu mehren.«

Er schloß unter allgemeinem Beifall mit einem Hoch auf die Person des hohen Gastes ...

Sie umdrängten Fred Tiedemann, dem der Minister die Hand schüttelte. Dann sprach auch der ein paar Worte; seine Rede klang aus in ein Hoch auf den Landesherrn.

Dann begann der Rundgang.

Klaus Tiedemann wollte seinem Sohne danken,doch er konnte ihn nicht erreichen; vergebens sah er sich nach ihm um. Fred ging ganz vorn, an der Spitze des Zuges.

Tafeln hingen an den Wänden und zeigten die Zunahme des Exportes. Steile Kurven klommen an den Mauern hinan; sie wiesen die enorme Entwicklung einzelner Branchen.

Durch den Festsaal und das Stenographenzimmer ging es zu den Fremdenappartements. Dann kamen die ausgedehnten Bureaus, die Schreib- und Lesezimmer, die ausgewählte Fachwerke enthielten über sämtliche Handelsgebiete. Klaus Tiedemann drängte sich vor. — Sie waren in das Informationszimmer getreten, eine Neueinrichtung, zu der er geraten hatte. Die Nächststehenden wehrten ihm den Ausblick; dunkle Röte stieg in sein Gesicht.

Er hörte, wie sein Sohn die Erklärung gab, wie er die Schemas zeigte, nach denen die einschlägigen Adressen und sonstigen Informationen schnell zu finden waren. Klaus Tiedemann hatte hier die Erfahrungen seines arbeitsreichen Lebens niedergelegt. Jeder Interessent konnte sich hier über alles Wissenswerte unterrichten; sämtliche Länder der Erde waren vertreten. Klaus Tiedemann hörte lobende Stimmen, die seinem Werke galten; ihn selbst beachtete niemand. Er drehte sich um; hinter ihm stand der Architekt, der das Gebäude geschaffen hatte, der Wochen und Monate mit ihm gearbeitet hatte, derweil die anderen sich umnichts bekümmerten. Auch der lächelte bitter. Sie verstanden sich ...

Der Zug ging weiter, dem nächsten Stockwerk zu; wie eine lange Schlange wand er sich durch die Räume.

Klaus Tiedemann senkte den Kopf; er ging als letzter.

Sie saßen am nächsten Tage, nach dem Abendessen beisammen. Klaus Tiedemann hatte einen großen Bogen weißen Papiers vor sich liegen.

»Ich bin auf jeden Falldagegen!« sagte Fred und streifte die Asche von seiner Zigarre.

»Ich auch.«

»Ihr wollt Görnemann diesmal nicht einladen?« Hilde sah erstaunt von ihrer Stickerei in die Höhe. »Warum denn?«

Klaus Tiedemann ließ seinem Sohn das Wort. Er sah ihn erwartungsvoll und ermunternd an. Fred sprach:

»Mit den alten Gewohnheiten muß endlich einmal gebrochen werden. Jetzt, wo wir nach Mamas Tod das erste Souper geben, ist die beste Gelegenheit dazu. Was soll Görnemann in dieser Umgebung? Unser Bekanntenkreis ist, Gott sei Dank, mit der Zeit ein anderer geworden. Einen Fürsten Solt und eine Baronin Wolny können wir nicht mit Herrn Sebastian Görnemann zusammenbringen. Da gibt es doch gar nichts zu reden, und auch Olthoff würde sich für eine solche Bekanntschaft bedanken.«

Er nahm seinem Vater den Bleistift aus der Hand und zog einen dicken Strich durch den Namen seines ersten Angestellten.

»Ganz richtig«, sagte Leo, den es gar nichts anging. Hilde schwieg und beugte sich tief über ihre Arbeit.

»Es wird ihm selbst so lieber sein«, tröstete der alte Tiedemann eine Regung in seinem Innern. Dann atmete er gleich wieder schwer: »Das ist bei Gerhard etwas ganz anderes, der trägt unseren Namen.«

»Du willst Gerhard bei uns haben?« Aus Freds Frage klang Ueberraschung und Ungeduld. »Ja, sage mir nur, aus welchem Grunde?«

»Ich denke wohl? Was würden denn die Leute sagen, wenn ich es nicht täte; sie tratschen ohnehin genug, daß er nicht bei uns wohnt! Er ist doch mein Sohn.«

»Nun ja; aber eben — aus deiner ersten Ehe!«

Unsicher blickte der Alte um sich. Scheue und herannahender Unwille kämpften in ihm. Er spreizte die Daumen gegeneinander und sah mit schiefem Kopf zu Fred hinüber; in ihm war die Erinnerung an gestern: »Laß das«, grollte es aus ihm. »Genug, daß er mein Kind ist. Er hat das Recht, dasselbe zu verlangen wie ihr.«

»Du sprichst doch nicht im Ernst, Papa?«

Fred lief mit langen Schritten im Zimmer herum.

»Setze dich her!« des alten Tiedemanns Stimme gewann Schärfe, »laß das Räsonieren! Er ist meinSohn und hat bis heute bei Gott noch nicht zu viel Anspruch darauf erhoben! Ich habe ihn zwanzig Jahre nicht gesehen.Bon!Mutter hat er nicht gekannt ...« des alten Mannes Rede begann zu hasten, »sie ist gleich nach seiner Geburt gestorben, und ich bin herüber nach Europa und bin hier geblieben. Er hat von mir nur gewußt, daß ich sein Vater sein muß, weil ich denselben Namen habe und ihm Geld schicke. Er ist mir fremd, ich hab' euch lieber als ihn, aber er bleibt mein Kind.«

»Gut!« Fred schlug mit zynischem Lächeln die Hand auf den Tisch. »Gut, daß Mama tot ist.«

Die Zornesader schwoll auf des Alten Stirn.

»Fred«, sagte Hilde mahnend, und auch Leo, der von seinem üblichen Halbschlummer aufgewacht war, winkte dem Bruder ab. Doch der war viel zu zornig, um es zu bemerken:

»Da willst du Gerhard wohl auch einmal in die Firma aufnehmen, ihn vielleicht gar zu meinem Mitchef machen?« fragte er herausfordernd.

»Und wen würde das kümmern?«

Für einen Augenblick zögerte Fred mit der Antwort: er kannte den Vater von dieser Seite nicht; dann brach er los: »Nun, hörst du, Papa, das übersteigt alles Erdenkliche! Das hätten Mama oder ihre Verwandten erfahren sollen! Sie hätten nie eingewilligt, daß Gerhard zu uns kommt; das sind die Folgen ...«

Eine tiefe Falte zog sich um des alten Tiedemanns Mund. »Wer hat die Firma Klaus Tiedemann gegründetund hochgebracht?« fragte er. »Deine Mutter oder ich? Wer hat mir dabei geholfen? Die Wesenheims vielleicht? Die haben mir nicht das Leben vergönnt! Wie ein Hund hätte ich zugrunde gehen können, sie hätten nicht die Hand gerührt. Erst als ich ihnen Stück für Stück ihren Boden entrissen hatte und der Bankerott unausbleiblich war, dann waren sie umgestimmt.Danndurfte ich sogar die Tochter heiraten ...« Fred stand auf.

»Papa! Kein Ehrenmann spricht so über seine Frau, am wenigsten vor seinen Kindern. Wenn du so zu sprechen fortfährst, muß ich das Zimmer verlassen.«

Erschreckt und verlegen hielt sein Vater inne. War er zu weit gegangen? Die Unsicherheit seiner niederen Geburt nahm ihn oft gefangen seinem eigenen Kinde gegenüber. Fred kannte sich in solchen Sachen aus! Gewiß war ihm wieder der Zorn durchgegangen; er wollte ja niemandem unrecht tun; gerade darum hatte er ja so gesprochen! Es war ja auch nur zur Hälfte seine Ueberzeugung, was er über Gerhard gesagt hatte, aber es war durch Freds Widerspruch etwas in ihm aufgerührt worden, das von seiner hart durchlebten Jugend in ihm zurückgeblieben war als eiterndes Geschwür. Er suchte einzulenken:

»Für diesmal müssen wir Gerhard wohl einladen. Wer weiß, ob er kommt, und wegen dem anderen, Fred,« er blickte seinen Sohn begütigend an, »laß dir keine grauen Haare wachsen, du kommst gewiß nicht zu kurz; meinst du nicht selber?«

Fred nickte, er konnte nur schwer ein befriedigtes Lächeln verbergen:

»Machen wir weiter!«

Schnell griff der Alte nach der Liste; er sagte:

»Fürst Solt, den mußt du persönlich auffordern, Fred.«

»Ich treffe ihn heute im Klub.«

»Gut.«

»Baronin Wolny werde ich selbst morgen einladen. Ich fahre vormittags zu ihr, vielleicht könnte man auch bei uns am gleichen Abend über das Wohltätigkeitsfest einig werden — so eine kleine Komiteesitzungentre nouswäre nicht schlecht!«

»Und ihren Sohn soll sie auch mitbringen; vielleicht wird das ein Verkehr für Leo!«

»Für mich?« fragte der erstaunt.

»Ich glaube nicht, Papa,« sagte Fred, »er ist ein hochmütiger, überspannter Bursche. Kaum zu glauben, daß eine so natürliche Mutter einen solchen Sohn hat.«

Hilde mischte sich ins Gespräch: »Sie ist Kunstreiterin gewesen? Der Gesandte, ihr verstorbener Mann, mußte mit seiner Familie brechen, als er sie heiratete?«

»Dummes Geschwätz,« fuhr Fred auf, »kein wahres Wort ist daran; sie ist eine riesig gebildete, feine Frau, die in den ersten Kreisen der Stadt verkehrt.«

»Hilde hat's ja auch nur von Hansen gehört,« lachte Leo, »und bei dem muß man immer nur die Hälfte glauben mit seinem frechen Maul.«

»Leo,« in bitterer Verlegenheit preßte die Schwester die Lippen zusammen, »du weißt wohl wieder nicht recht, was du daher redest?«

»Oh, ganz genau,« kam in streitseliger Behaglichkeit die Antwort, »es ist so.«

»Apropos,« sagte Fred Tiedemann, »weil Hansen erwähnt wurde: den müssen wir diesmal entschieden einladen!«

»Hansen? Nein! Warum den?« Der alte Tiedemann schien dem Karikaturenzeichner wenig Sympathie entgegenzubringen, »den kann man doch nicht mit Solt zusammenbringen.«

»Wir brauchen ihn für das Wohltätigkeitsfest! Laden wir ihn nicht ein, macht er uns dann nicht den Narren — und wir haben keinen anderen, der so schnell arbeitet und uns die Sachen umsonst überläßt.«

»Aber die Geschichte mit den Solts!«

»Welche denn?«

»Na hörst du!«

»Ich weiß wirklich nicht.«

»Daß du das vergessen hast!«

»Was ist denn?«

»Als Hansen seine Karikaturen zum erstenmal gesammelt erscheinen ließ, rückten die Solt-Hansen doch in die Zeitung die Notiz ein ...«

»Jetzt erinnere ich mich: daß sie mit dem Zeichner T. A. Hansen weder verwandt noch irgendwie in Beziehung wären? Das meinst du Papa?« Fred mußte lachen. »Grob war schon seine Antwort! Ich hätte michallerdings in ähnlichem Fall tödlich beleidigt gefühlt, aber: Fürst Solt verkehrt mit den Solt-Hansen nicht, weil sie bürgerliche Frauen haben, und er lachte über Hansens Erwiderung am nächsten Tage: ‚Der Zeichner T. A. Hansen teilt mit, daß er mit der Familie Solt-Hansen, deren jüngster Sohn kürzlich wegen betrügerischer Wechselschulden verurteilt wurde, weder verwandt ist noch in irgendwelchen Beziehungen steht.’«

»Ein ganz famoser Bursche, der Hansen,« meinte Leo nachdenklich, »der schert sich um niemanden als um sich selbst und ...«, er zwinkerte mit den Augen zu seiner Schwester hinüber.

Die senkte den Kopf tief auf ihre Arbeit, während der Vater langsam, widerwillig sagte: »Also den auch.« Und dann hörte sie, wie der Bleistift bei Hansens Namen den Haken machte, der seine Einladung sicherte. Sie mußte bitter lächeln, daß es gerade Fred war, der ihn wieder zu ihnen ins Haus zog. Gerade der, der ihn am wenigsten verstand, und dessen Art Hansen am heftigsten bekämpfte.

Fred sah auf die Uhr und sagte:

»In einer Viertelstunde muß ich fort, sonst treffe ich Lecart nicht mehr im Klub.« Er griff nach der Adressenliste und durchflog die Namen. »Der Karsten hat quittiert und ist Agent geworden, den natürlich nicht«, er strich den Namen des ehemaligen Gardeoffiziers und las flüchtig weiter ..., »die junge Büdener nicht, die hat einen armen Teufel geheiratet, man sagt aus Liebe. Die kann sich keinordentliches Gesellschaftskleid kaufen.« Wieder kratzte der Bleistift und schied eine junge Frau vom Hause Tiedemann ... Er las rasch: »Die anderen stimmen so.« Er ließ das Papier fallen. »Richtig, was ich noch sagen wollte: du mußt dir den Schneider kommen lassen, Papa, du brauchst einen neuen Frackanzug.« Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf; doch sein Sohn ließ ihm nicht das Wort: »Es ist die höchste Zeit für dich.«

»Schon wieder einen neuen Frack?« Der alte Tiedemann runzelte die Stirn. »Ich habe nur ohnehin erst voriges Jahr einen machen lassen.«

Fred wurde ungeduldig:

»Man hat jetzt anderen Schnitt und einen Vorstoß an der Weste. Ich habe mich gestern im Industriehaus geschämt, wie dein Gilet saß. Du kannst als Hausherr nicht so aussehen! Ich versteh' dich wirklich nicht, Papa, wie du in derart primitiven Anstandssachen anders denken kannst.« Wieder sah er auf die Uhr: »Ich werde dir morgen die neuen Muster schicken lassen.«

Der alte Mann fuhr sich müde über die Augen.

»Dann soll sich Leo aber auch etwas bestellen«, sagte er.

Der sah mit flinkem Blick auf: »Ich brauche schon lange wieder einen Tennisanzug, Pa.«

Fred Tiedemann knöpfte eilig den Rock zu:

»Gute Nacht! Ich gehe. Bald hätte ich vergessen. Ich habe morgen vormittag keine Zeit fürsGeschäft, muß zur Wolny usw. Bitte, Papa, gehe morgen 'mal wieder hinunter. Es werden Berichte von drüben gekommen sein, und auch Lecart hat bei uns zu tun. Sei so gut und besprich dich mit Görnemann; aber den Gerhard laß aus dem Spiele, den geht die Sache nichts an.« Fred schritt zur Tür. »Olthoff läßt sich dir empfehlen, Hilde, er behauptet, noch nie ein so hübsches Mädchen als dich gesehen zu haben, aber du seiest herb.« Er lachte. »Ist schon 'was Wahres dran; na, das gibt sich! Addio.«

Klaus Tiedemann erhob sich, er hielt die Lider geschlossen, als schmerzten sie ihn.

»Gehen wir schlafen!« sagte er.


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