Gleich beim Eingang der Gemäldeausstellung hatten sie Hansen getroffen.

Es war ein glücklicher Zufall.

In freudiger Erregung geleitete er die beiden durch die ersten Säle, durch die dichten Gruppen der Besucher, welche sich vor einzelnen Bildern stauten.

Für einen kurzen Augenblick fand er Hildes Hand. Sein Blick ging fragend zu ihrem Vater.

Sie zuckte mit den Achseln und lächelte glücklich.

Einzelne erkannten Hansen und grüßten; mechanisch lüftete Klaus Tiedemann den Hut, er wußte nicht recht, wem der Gruß galt.

Hansen lenkte rechts; Klaus Tiedemann ging geradeaus weiter.

»Hier, Papa!« Hilde nahm ihn beim Arm und blieb eingehängt.

In einem zurückspringenden Seitensaal ist Hansens Werk, die schmale Wand allein einnehmend.

In ruhigem Lichte sieht es ernst herab.

Seitwärts von seinem Fauteuil erhebt sich eine kleine, alte Frau, sie macht einen Knicks und hält krampfhaft die Enden ihrer Mantille übereinander.

Mit ruhiger Bewegung schiebt Hansen sie in den Vordergrund und stellt vor:

»Meine Mutter!«

Ihre kleinen, zittrigen Augen bleiben, als sie den Namen der beiden hört, an Hilde hängen. Aengstlich, forschend und flehend! Hansen mag wohl zu Hause gesprochen haben. Sie nickt ihr zu.

Fliegende Röte jagt über Hildes Gesicht.

Ihr Blick geht über die Köpfe der Leute zu dem Bild.

»Erdgeist.«

Ein blasser Bursch, halb Knabe, halb Mann, beugt sich zurück; er ist im Gesellschaftsanzug, eine verwelkte Blume zierte das Knopfloch. Mattigkeit und Erschöpfung liegen über der sitzenden Gestalt, ein Schauder scheint ihn zu fassen. Die Augen sehen müde, verträumt in fiebrigem Schimmer in die Höhe nach dem Gesicht der üppigen Frauengestalt, die, tief dekolletiert, sich über ihn neigt. Die Sphinx, die die weibliche Form des Welträtsels birgt! Alle Sinnlichkeit ist in dem Weibe konzentriert; beklemmender Geruch scheint ihren dünnen Gewändern zu entsteigen. Ihre Augen sind untermalt, in brennendem Rot schimmern ihre vollen Lippen. Wie ein leichter Hauch scheinen Linien durch, wie eine Silhouette aus einer anderen Welt zeichnet sich hinter den vollen Wangen die Kontur des Totenschädels.

Hilde tritt zurück; Leos Züge sehen ihr entgegen, verallgemeinert, doch unverkennbar.

Sie atmet tief und streckt die Hand nach Hansen.

Der steht abseits mit gesenktem Kopf.

Seine Mutter hat Hildes Bewegung bemerkt:

»Du!«

Er fährt zusammen und sieht Tränen in Hildes Augen.

»Sie sind ein großer Künstler!«

Hand in Hand stehen die beiden.

Klaus Tiedemann hat die Arme über der Brust gekreuzt. In ihm ist ein Singen und Klingen: er sieht zwei Gestalten, deren intime Details er mit seinenstumpfen Nerven nur zum Teil erkennt und bemerkt, und doch packt ihn unbewußt des Bildes Kraft; schnell verfliegt der Gedanke, ob Hansen wohl einen Käufer hat.

Er sieht den Mann, den das Weib quält und der doch nicht von ihm lassen kann. Das ist sein Leben, und das versteht er! Das ist auch das Leben Leos gewesen und ist auch vielleicht jenes von Fred. Wieder flattert die Erinnerung seiner ungestümen Jugend empor. Er ist wieder der arme Kontorschreiber, der mit scheuem Blick am Sonntag die breiten Hauptstraßen durchquert, in die er unter der Woche nie kommt. Er sieht die eleganten Damen der Gesellschaft, hört Spitzen rascheln und sieht Formen, wie sie die Weiber des Volkes, durch schwere Arbeit gedrückt, nur selten haben. Die Gier, reich zu sein, kettet ihn; kein Blick haftet auf seiner unschönen Gestalt in den dürftigen Kleidern, die abseits steht und mit brennenden Augen der strahlenden Menge folgt. Ist sein Aeußeres unausgeglichen und inkonsequent, so reihen sich doch die Gedanken in spiegelnder Kette aneinander. Zähneknirschend kehrt er in die schmutzigen Hafenstraßen zurück und setzt sich zur Arbeit; er will sie durch Kraft und Zähigkeit zwingen, ihm zu Willen zu sein. Ein bitteres Lächeln geht über Klaus Tiedemanns Züge. Keiner der Umstehenden, auch sein eigenes Kind nicht, wissen, daß er nun der zwei unglücklichen Ehen gedenkt, die sein Leben vergifteten.

Schwer holt er Atem.

Er kann es nicht überwinden, daß sie nur seinen Erfolg liebten und nicht ihn.

Er starrt in Leos Züge.

Auch der ist unterlegen, er konnte ihn nicht schützen.

Der Wolny Züge nimmt das Weib an der Wand an, und Fred sitzt auf dem Sessel.

Seine Umgebung vergessend, stampft er mit dem Fuße auf, daß er seine Art den Kindern vererben mußte! Was will er tun, wenn sie dafür Rechenschaft fordern? ...

Er wendet sich; mit gesenktem Kopfe fragt er Hansen nachdenklich und ernst: »Sie meinen das ganz allgemein, das Weib dem Manne gegenüber?« Er zeigt nach dem Bilde. »Der dort kann jeder von uns sein?«

Unsicher sieht Hansens Mutter drein.

Als er die Antwort erhält, blickt er ernst zu Boden; dann streckt er Hansen die Hand hin:

»Sie haben recht.« Er nickt der alten Frau zu. »Er versteht das Leben.«

Sie macht einen eiligen Knicks.

»Gewiß, Herr Kommerzienrat, gewiß,« sagt sie und denkt an ihren Mann, der ihr elterliches Erbteil verspielt hat und den sie erhalten mußte die letzten Jahre durch ihrer Hände Arbeit.

Dann gehen sie weiter durch die übrigen Räume. Hilde weiß nicht recht, warum; doch Klaus Tiedemann will wohl nicht zeigen, daß sie nur Hansens wegen gekommen sind.

Er sieht gleichgültig über die farbigen Flecken an den Wänden.

Beim Ausgang schüttelt er Hansen nochmals die Hand und sagt: »Besuchen Sie uns doch wieder einmal; wir sind seit Leos Tod fast immer zu Hause.« Er bewegt den Kopf auf dem gedrungenen Halse hinund her, als beengte ihn der Kragen; dann fügt er in alter Art hinzu: »Wir werden uns freuen, Sie begrüßen zu können.«

Die alte Frau nickt ununterbrochen in ihrer Verlegenheit; mit sicherer Bewegung faßt sie ihr Sohn beim Arm: »Ich werde es mir demnächst erlauben.« Er verneigt sich und grüßt Hilde mit den Augen: »Leb' wohl!«

Er sieht dem davoneilenden Wagen nach und beugt sich zu der alten Frau hinab:

»Nun, Mutter?«

»Sie hat dich gern.«

Sie lächelt glücklich und denkt nicht, daß sie nun ihr Kind wird teilen müssen mit einer anderen.

Als sie nach Hause kamen, wartet Gerhard im Herrenzimmer auf den Vater. Mit großen Schritten geht er hin und her.

Als Klaus Tiedemann eintritt, bleibt er stehen.

»Was gibt es?«

»Ich weiß nicht, Vater, ob ich es dir sagen soll.«

»Wieder was Unangenehmes?« Klaus Tiedemann hat in seines Sohnes Hand ein Zeitungsblatt entdeckt, hastig greift er danach:

»Gib her!«

Nur widerwillig läßt es Gerhard, er beobachtet seinen Vater mit forschenden Blicken.

Der liest mit zusammengezogenen Brauen:

Es ist ein Artikel, »Moderne Industrie« überschrieben, in dem das sozialistische Organ sich in heftigen Ausdrücken Luft macht über die Einstellung der Untersuchung gegen Charles Lecart, den Bluthund der »Freundschaftszechen« — wie sie ihn nennen. Sein Privatleben ist aufgedeckt, entstellt geschildert; niemand kann nach den bestimmt gegebenen Daten an der Richtigkeit der Angaben zweifeln. Doch nicht genug damit! ... Klaus Tiedemann spürt einen Stich im Herzen: auch sein Name ist genannt, mit heftigen Anklagen überschüttet: er soll um das schwindelhafte Unternehmen gewußt, wissentlich dem Betrug Vorschub geleistet haben. Warum wären sonst die Liegenschaften in den alleinigen Besitz der Firma übergegangen? Es ist abgekartetes Spiel! Sein Mitleid mit den Arbeiternund die schweren Opfer seines Kindes wegen werden so verstanden!

Fester faßt er das dünne Blatt, die Augen werden groß und starr.

Hier steht mit erbarmungslosen Buchstaben die Beschuldigung, daß Fred Tiedemann, der jetzige Chef der Firma, der nur in Kreisen des Hochadels verkehrt, bedeutende Summen, es ist eine enorm hohe Zahl genannt, angeblich zu Wohltätigkeitszwecken, gespendet hätte, die in Wirklichkeit nur dazu dienen sollten, ihm den Adel zu verschaffen. Heftige Anklagen gegen die Regierung sind eingeflochten, die einen solchen Kuhhandel förderte; in flammenden Worten ist das Unrecht verwiesen, das den Armen angetan würde durch solche Schädlinge der Industrie, die eigentlich in den Kerker gehörten. Auch die Firma als solche ist beschuldigt. Wie könnte man von einem derartig geleiteten Institut Garantien verlangen, wenn das »Hungergeld der Armen« dazu benutzt würde, Hochstapler in ihrem strafwürdigen Beginnen zu unterstützen? Jedermann wird aufgefordert, sich die Depots ausfolgen zu lassen und diese in sicheren Instituten anzulegen. Der Prospekt einer Firma, deren Chef der Bruder eines Parteimannes ist, liegt bei. Auch ist auf eine Interpellation verwiesen, welche jener bei der übermorgigen Parlamentssitzung einbringen wird. Man wird kein Mittel unversucht lassen, um dem arbeitenden Manne zu seinem Rechte zu verhelfen, die Machinationen der Lecart-Tiedemannschen Sippschaft an den Pranger zu stellen! Es folgen längere Erörterungen, daß man aus dem vorstehend gekennzeichneten Spezialfall schließen könnte, wie geradezu unerläßlich das Verlangen der Bergarbeiter nach Grubeninspektoren aus ihren eigenen Reihen wäre.

Klaus Tiedemann läßt das Blatt mit zitternder Hand sinken. »Nur gut, daß sie weit übers Ziel schießen und sich so ins Unrecht setzen«, sagt Gerhard.

Tiedemann gibt keine Antwort.

Nun fassen sie sein letztes, seinen ehrlichen Namen, sein Geschäft an!

Sinnlos vor Wut zerreißt er den Fetzen Papier und tritt ihn mit Füßen:

»Es kann nicht sein!«

Gerhard zuckt die Achseln.

Dieser schweigende Widerspruch reizt den alten Mann, sein Aerger sucht Ableitung. Daß Gerhard über Fred schlecht denkt, ist nur natürlich, aber er als Vater muß gerecht sein.

Er pflanzt sich vor Gerhard hin und schreit:

»Daß du es weißt! Daran ist kein wahres Wort!«

»Dann ist's gut, Vater.«

»Ich sag' es dir,« schreit Klaus Tiedemann in der Angst seines Herzens, »ich, dein Vater!«

Schweigend sieht ihm Gerhard in die Augen; Klaus Tiedemann senkt den Blick.

Gerhard wendet sich zur Tür; Mitleid in seiner Stimme: »Bezüglich des geschäftlichen Angriffes werde ich heute noch eine Berichtigung einrücken lassen.«

Er geht.

Klaus Tiedemann läßt den Kopf nach vorn fallen; er weint wie ein Kind.

Nun greifen sie an sein Lebenswerk.

Sein ehrlicher Name ist gebrandmarkt, in den Schmutz gezogen. Er hat von jeher Angst vor der Oeffentlichkeit empfunden. Dem Hause, das er gründete, drohen schwere Krisen. Die Uebernahme der Lecartschen Verpflichtungen hat Opfer gefordert; Fredsteure Lebensführung ist nicht dazu angetan, der Tiedemanns Besitz zu mehren. Wenn er wirklich so ungeheure Summen dem Phantom, adelig zu werden, geopfert hat, bedarf es nur eines größeren Verlustes, wie er oft in Kauf genommen werden muß, um die Firma in Schwierigkeiten zu bringen!

Klaus Tiedemann stöhnt auf; dann kommt die Aktiengesellschaft, dann verschwindet der individuelle Zug, die Kunde wird zur Nummer.

Er knirscht mit den Zähnen.

Was bleibt ihm anderes übrig, wenn die Depositensumme sinkt? Damit fällt des Hauses Macht. Unreelle Firmen und Betrüger hatten das Publikum in den letzten Jahren nervös gemacht, altangesehene Firmen waren zusammengebrochen. Wenn die Einleger, auf die alarmierende Nachricht hin, Sturm liefen? Klaus Tiedemann zweifelt als erfahrener Kaufmann nicht daran. Wenn sie die Spreu nicht vom Weizen zu sondern wußten, was dann? Schon lange bestand Argwohn gegen den Stand der Privatbankiers: die Kunden gingen lieber zu den großen Banken mit ihrem Riesenaktienkapital, das ihnen mehr Garantie zu bieten schien. Ein hartes Gesetz stand seit Jahren gegen den kleinen Mann und förderte den großen, trotzdem man es geschaffen hatte gegen das Großkapital. Die Aktiengesellschaft griff vom Anfang ihres Entstehens an mit reichen Geldmitteln in die Konkurrenz. In langen Jahren bittersten Kampfes hatte Klaus Tiedemann sein Kapital errungen. Seine Person war den Kunden Bürgschaft, seine offene Geschäftsführung verhalf ihm zu seinem Erfolg.

Er ballt die Faust. Wenn es Fred wirklich getan hat!

Stunden vergehen in grübelndem Sinnen.

Hilde kommt, ihn zum Abendessen zu holen; er gibt keine Antwort. Krampfhaft die Tränen zurückhaltend, geht sie wieder.

Schatten fallen ein, kaum daß die Sonne gelächelt.

Er hört Clo im Nebenzimmer sprechen; auch Hilde sagt ein paar Worte.

Sie wünschen sich gegenseitig »Gute Nacht«.

Er rührt sich nicht. Er muß Fred sprechen, heute noch. Er muß die Gewißheit haben, daß alles erlogen ist.

In stummer Verzweiflung wartet er.

Wo er so lange weilt? Er ist seit früh nicht zu Hause gewesen!

Auf jeden Ton hört er, der durch die Nacht dringt.

Die Zeit verstreicht.

Er denkt an Leo und an Lecart: die Scheidung ist eingeleitet.

Was wird Clo tun? Oft spricht sie von Gröden?

Was will Fred gegen die Angriffe unternehmen?

— — — Nun ist er einundsiebzig; noch immer findet er keine Ruhe!

Hansens Bild steht vor ihm, wieder trägt das Weib Frau Wolnys Züge. — — — »Wo ist Fred?«

Er sieht Jan Wolnys Augen, sie leuchten durch das Dunkel.

— — — Er fährt auf. Er muß geschlafen haben. Es ist dunkel um ihn geworden.

Er hört Schritte.

Die Tür geht auf. Fred steht vor ihm.

In dem ungewissen Dämmerlicht, das von der Straße kommt, sieht er totenblaß aus.

Als er seinen Vater erkennt, fährt er zusammen. »Was tust du hier?«

Sie stehen sich gegenüber.

Schwer hebt sich Klaus Tiedemanns Brust; der scheue Blick seines Sohnes scheint ihm schreckliche Gewißheit zu geben: »Hast du's getan?« keucht er.

Der andere tritt einen Schritt zurück, die Schultern zieht er ein: »Was?«

In übereilenden Worten, die Rechte in seines Sohnes Rock gekrampft, daß er ihm nicht entkommen kann, schildert Klaus Tiedemann, was vorgefallen ist. Mit bebender Stimme bittet er um Gewißheit. In seinen unruhigen Augen flackern Angst und Wut.

Fred Tiedemann hält die Faust geballt, scheu läuft sein Blick im Zimmer rundum: Nun muß auch das kommen!

»Rede!« Sein Vater schüttelt ihn. Er hat ihn vorn an der Brust gefaßt und knirscht mit den Zähnen, sinnlos vor Wut. Mit hastigem Ruck befreit sich Fred. Er findet seine Art wieder:

»Hast du zu viel getrunken?« Sein Blick sticht dem alten Mann in die blutgeröteten Augen. »Du mußt doch einsehen, daß du mir unrecht tust, schon die ganze letzte Zeit, mit deinem ewigen Mißtrauen! Alles, was du hörst, hat nur einen Grund: sie sind uns neidisch, sonst nichts. Das ist auch jetzt wieder so. Ich werde morgen beim Minister vorsprechen, ihn informieren: es ist der ganzen Sache damit die Spitze abgebrochen.« Klaus Tiedemann scheint seinen Worten Glauben zu schenken. »Doch jetzt laß uns schlafen gehen, ich bin redlich müde« fügt Fred hinzu.

»Es ist also nichts?« Zitternd vor Freude, die tiefster Seelenangst entsprungen ist, kommt Klaus Tiedemann seinem Kinde näher.

»Nichts.«

»Verzeih!« Wieder schlägt Klaus Tiedemann um, er sieht nicht des anderen verstörtes Wesen, nicht den sonst so glatten Scheitel, der unordentlich unter den Haaren verschwindet. Sein Sohn kann nicht unwahr sprechen, mag er auch sonst Fehler haben, er ist doch ein guter Mensch. Er drückt den Widerstrebenden an sich: »Ich habe solche Angst gehabt.«

Mit leerem Blick, in dem Unruhe lauert, sieht Fred Tiedemann über seines Vaters schneeigen Kopf, der an seiner Brust ruht.

Er scheint unangenehmen Gedanken nachzuhängen.

Er preßt die Lippen zusammen und klopft dem alten Mann mechanisch auf die Schulter: »Laß gut sein, es ist alles recht.«

Er macht eine schnelle Wendung, damit sein Vater den blutroten Streifen nicht sieht, der quer über die linke Wange läuft in hochgeschwollenem Zuge.

Er gähnt.

Noch viel will Klaus Tiedemann wissen, doch Fred gibt nur einsilbige Antworten.

Mitternacht ist vorbei, als sie zur Ruhe gehen.

Mit langem Blick sieht Klaus Tiedemann seinem Sohn über den Gang nach.

Für einen Augenblick beschleicht ihn ein unangenehmes Gefühl; des anderen Haltung ist gebeugt; fast vorsichtig ängstlich klingt sein Schritt gegen die sonst geübte selbstsichere Art. Doch Klaus Tiedemann lächelt: Gewiß kommt er von der Wolny.

»Ich hab' ihm unrecht getan«, sagt er leise vor sich hin, und ohnmächtige Wut gegen die Verleumder beschleicht ihn.

Zwei Tage später. — Es ist in der Reitschule der Husaren, bei denen Fred Tiedemann in der Reserve steht.

Ein kalter Herbstwind wirft dürre Blätter an die schmutzigen Fensterscheiben.

Jan Wolny sitzt auf der Fensterbrüstung mit übereinandergeschlagenen Beinen. Weste und Kragen hat er abgelegt, den Rock nachlässig über die Schultern geworfen.

Man sieht ihm nicht an, daß er auf den Tod wartet.

Seine Augen blicken starr in stählerner Härte gegen die Tür, durch die Fred Tiedemann kommen muß.

Fürst Solt zieht langsam die Uhr und schüttelt den Kopf. »Fünf Minuten über die Zeit.« Ein feines Lächeln kräuselt für einen Augenblick seine Lippen. Die Blicke des alten Aristokraten und des jungen Mannes treffen sich verständnisvoll — es muß im Blute liegen! In solchen Augenblicken drängt sich alte Ueberlieferung der Nerven in den Vordergrund.

Die beiden Aerzte stehen bei ihren Instrumenten; sie sind in lebhafter Debatte, ob ein Schuß in die Lunge, bei der soundsovielten Rippe, tödlich sein muß oder nicht?

Laut tönen ihre Stimmen.

Jan Wolny zündet sich eine Zigarette nach der anderen an; kaum daß er ein paar Züge getan hat, läßt er sie wieder in die Lohe fallen.

Drüben, auf der anderen Seite, geht sporenklingend der Husar auf und ab, den das Regiment bestimmte,Fred Tiedemann zu sekundieren. Ungern hat er dem Befehl Folge geleistet: das waren die Kehrseiten, wenn man derlei Einjährige hatte. Doch das Regiment hielt dadurch seinen Ruf als erstes der großen Garnison. Die Reserveoffiziere von reichen Eltern fanden manchmal Spaß daran, ritterliche Tugenden zu üben.

Jan Wolnys Blick geht nach dem Pistolenkasten, auf dem hier und da die Herbstsonne spielt, wenn sie durch die dichten Wolken dringt:

Wieder sieht er seine Mutter in des anderen Arm, als er die Tür aufreißt.

»Du hast gehorcht?« fährt sie auf.

»Ja!« stöhnt er und reißt den Riemen von der Wand. »Da hast du, Hund«, er schlägt ihn Fred Tiedemann ins Gesicht.

Dann stehen sie Aug' in Auge.

Alles, was die heutige Ordnung zum Glück verlangt, ist auf des anderen Seite, auf seiner nur tote Ueberlieferung und entwürdigtes Andenken. Warum muß der andere ihm das letzte rauben, die Illusion, daß seine Mutter ehrlich sei?

Ihr Leib hat Unglück über die Wolnys gebracht von dem Tage an, da Wladimir Wolny sie aus der Manege an seine Seite zog.

Sie schlägt die Tür zu und läßt sie allein.

Mit stoßender Hand hält er Fred Tiedemann zurück; er soll es teuer zahlen, das Spiel mit der Ebenbürtigkeit!

Er ist ja Kavalier, nun soll er ihm Rechenschaft geben!

Fürst Solt muß ihm helfen; der alte Edelmann ist noch keinen Strich gewichen von alter Art. Er fragt nicht viel, er hat schon so viel Aehnliches gesehen. Er verneigt sich und nimmt an.

Dunkle Flecken brennen um Jan Wolnys flackernde Augen; die zwei letzten Tage haben ihn alt gemacht.

Er hält die schmale Hand wagerecht vor sich hin, sie ist ruhig und zittert nicht.

Wieder repetiert Fürst Solt seinen Chronometer.

Er schüttelt den Kopf:

Vor fünfundzwanzig Jahren erschoß sich Fürst Grobow, weil die Sekundanten ihn vom Zweikampf ausschlossen, da er um wenige Minuten zu spät kam. Und damals handelte es sich um weniger! Das Weib eines jeden ist vogelfrei, kann es der Mann nicht hüten, aber schweigend muß er sie besitzen und sich dem anderen stellen Aug' in Auge, das ist uraltes Herrenrecht!

Eine Viertelstunde ist vorüber.

Es ist Zeit zum Handeln:

Er tritt zu Jan Wolny, der gibt ihm freie Hand. Seine Augen erlöschen, müde Resignation legt sich über die Lider. Ein dumpfes Leben steht vor ihm, in zerrissenen Fesseln, die desto fester binden.

Blutrot ist der Husar:

»Ich werde sofort meinen Mandanten aufsuchen, es muß ihm etwas zugestoßen sein ...«

Fürst Solt verneigt sich. »Wenn Sie ihn treffen; ich lege Wert darauf, daß er darüber nicht im Zweifel ist: wir sind trotz allem jederzeit zur Austragung bereit.«

Der andere grüßt: »Gewiß,« er macht rasch eine Wendung, doch der Fürst hält ihn zurück, »erst wollen wir ein Protokoll aufnehmen, wenn es angenehm ist, es kann später wertvolle Dienste leisten.«

Unruhig ging Hilde Tiedemann umher, von einem Zimmer ins andere. Die Angst vor etwas Ungewissem war in ihr.

Bald mußte ihr Vater heimkommen von der Sitzung, in der sie seinen Namen an den Pranger stellten.

Er hatte es sich nicht nehmen lassen, der Parlamentseröffnung beizuwohnen.

Unerkannt wollte er auf der Galerie sitzen und das hören, was sie gegen ihn vorbrachten.

Mittag war vorbei.

Mit gesenktem Kopfe war er die letzten Tage herumgegangen; einsilbig im Gespräch, murmelte er halblaut vor sich hin.

Er glaubte Freds Worten, daß alles nur von der Konkurrenz aufgegriffen worden sei, um ihnen zu schaden, und doch fand er keine Ruhe.

Der belastende Artikel hatte seine Schuldigkeit getan. Die Einleger drängten sich stündlich vor den Schaltern; sie verlangten ihr Geld zurück.

Das war ein schwerer Schaden, und nur mit Seufzern und zögernden Händen folgte Görnemann die Depots aus. Mit feindseligem Blick streifte er die Menschenreihen, die vor ihm standen.

Nach schlafloser Nacht hatte sich Klaus Tiedemann angekleidet und war frühzeitig vom Hause weggegangen. Er mußte allein sein mit seinen Gedanken.

Bis zum Sitzungsbeginn war er in den hallenden Gängen auf und ab geschlichen, scheu an die Mauergedrückt, als müßte jedermann ihn erkennen, ihn, der sich ein langes Leben vergebens gemüht hat.

Wenn er ihm das getan hätte!

Sie wußten ja alle nicht, was für ihn auf dem Spiele stand; sie kannten nicht seinen Gedankenkreis, der in strenger Ehrlichkeit die schreiende Oeffentlichkeit mied. Und nun war alles dahin.

Er hatte gestern die Bücher einer genauen Revision unterzogen. So gut es in der Eile ging, hatte er das Fehlen großer Beträge konstatiert. Aber Fred war tagsüber nicht zu Hause gewesen — wie oft in letzter Zeit — und bei dem ausgedehnten Geschäft durfte man nicht gleich Schlechtes denken. Noch immer wollte er sein Kind nicht fallen lassen, wenn er auch in schwerer Sorge an die Zukunft dachte.

— — — Hilde Tiedemann geht an die Tür ihrer Schwester und horcht. Als sie Stimmen hört, drückt sie auf die Klinke. Die Tür ist gesperrt.

»Was ist?« ruft Clo.

»Nichts.« Hilde Tiedemann erinnert sich, daß bei ihrer Schwester die Friseurin ist; sie geht wieder zurück in den Salon.

Es läutet.

Sie läuft zur Tür und horcht.

Verständnislos sieht sie auf die Visitenkarte, die ihr das Mädchen reicht. Sie kennt den Namen nicht:

»Ich lasse bitten!«

Ihres Bruders Sekundant steht in der Tür.

Er verneigt sich.

Hilde erkennt die Farbe des Regiments: »Papa ist nicht zu Hause«, sagt sie zitternd.

Der andere bleibt bei der Tür.

Für einen Augenblick fallen in seinem Gesicht die konventionellen Falten, als er Hildes Erscheinung sieht, doch gleich wieder preßt er den Säbelkorb an die Brust:»Könnte ich Herrn Fred Tiedemann sprechen?« Seine Stimme ist aufgeregt.

Hilde zuckt zusammen, dunkle Vorahnung bemächtigt sich ihrer. »Mein Bruder ist auch nicht hier.«

»Nicht zu Hause?« wiederholt der Husar und fängt die Unterlippe mit den Zähnen. »Dürfte ich mir die Frage erlauben, wann Ihr Herr Bruder von hier wegging?«

»Das weiß ich nicht, ich habe ihn seit gestern mittag nicht mehr gesehen, er hat oft auswärts zu tun.« In schweren Schlägen klopft dem Mädchen das Herz. Nervös zuckt die Hand und preßt krampfhaft das Taschentuch zusammen, um Ruhe zu finden.

Unschlüssig steht der Husar: »Gnädiges Fräulein wissen also nicht, wo Ihr Herr Bruder sich befindet?«

»Nein.« Sie legt die zitternde Hand auf die Stirn. »Vielleicht ist er mit Papa im Abgeordnetenhaus.«

Er schüttelt verneinend den Kopf: »Dort ist er nicht!« Er rafft sich zusammen; seine Augen sehen starr und abweisend. »Dann ist meine Mission erfüllt.«

Er schlägt die Füße zusammen, daß die Sporen klingen. »Bitte zu entschuldigen!«

Mit schnellen Schritten kommt Hilde näher, flehend sehen ihre Augen, ihr Mund ist geöffnet. »Was ist mit Fred? Es ist ihm doch nichts zugestoßen?«

»Nein, gnädiges Fräulein können beruhigt sein.« Eiserne Disziplin ist in seinen Augen. »Es ist ihm nichts geschehen.«

Er neigt den Kopf und zieht die Tür hinter sich zu.

Hilde Tiedemann preßt die Handflächen gegeneinander. Nun weiß sie, daß sich wieder Unheil vorbereitet, vielleicht bereits vollzogen hat.

Sie lehnt die heiße Stirn an die eiskalten Fensterscheiben.

Ein rauher Sturm fegt durch die Straßen.

Nun sieht sie Freds scheues Wesen in den letzten Tagen mit anderen Augen; nun gewinnt sein unruhiges Kommen und Gehen unheilvolle Bedeutung.

Kam das Haus wirklich in Schwierigkeiten? Stand der Bankerott vor der Tür? Sie hatte es vorausgesehen und vergebens gewarnt.

Doch sie will jetzt nicht daran denken, sie will arbeiten und ihrem Vater zur Seite stehen.

Doch das kann es nicht sein, da wäre der Offizier nicht hier gewesen.

Sie läuft in Freds Zimmer, es ist bereits aufgeräumt; sie weiß nicht, daß das Bett die letzte Nacht leer geblieben ist.

Sie fragt das Stubenmädchen; doch Fred Tiedemann ist oft Nächte außer Hause gewesen. Das ist kein Beweis!

Wieder steht sie beim Fenster.

Der Himmel hat sich mit einförmigem Grau überzogen.

Die Fensterscheibe bläht sich im anprallenden Wind. Im Kreise tanzen unten auf dem Platz die dürren Blätter.

Sie ist einsam, und ihre Gedanken flattern ohne Ordnung.

An die Scheiben schlägt es mit leisem Ton; kleine weiße Nadeln bringt der Sturm vom Meer herüber — den ersten Schnee.

Sie schaudert und sieht auf die verlassenen Parkanlagen vor dem Fenster, wo sich zwei Krähen streiten.

Die Leute schlagen die Kragen hoch, der Schnee überzieht sie mit weißen Strichen.

Quer über den Platz kommt T. A. Hansen, schon von weitem zieht er den Hut.

Sie preßt die Rechte ans Herz und atmet schwer.

Nun kommt die Entscheidung.

In banger Stunde muß sie sich ihm geben ...

Schon hört sie seinen Schritt.

Er drückt ihre Hand; in seinem Gesicht ist große, leuchtende Freude.

Scheue liegt über ihr und heißt sie schweigen.

Er spricht von seinem Werte, von froher Hoffnung auf die Zukunft.

Eine blutrote Rose steckt er ihr an die Brust, von seiner Mutter.

Sie bebt im schwarzen Kleide und horcht mit todtraurigen Augen.

Er will arbeiten und schaffen, Gedanken und Pläne wirft er hin mit wenigen Worten für ein ganzes Leben. Er spricht von den letzten Monaten, in denen er sein Werk den Augen der anderen preisgab; fast schien es ihm Entweihung. Sie hätte es als erste sehen sollen! Und dann die Urteile: Erst glaubten sie etwas zum Aussetzen finden zu müssen, war er doch ein Neuer, ein Junger. Dann aber verstummten diese Stimmen immer mehr. Anerkennung wurde ihm zuteil, daß er sich manchmal selbst fragte, ob er sie denn auch wirklich verdiente, ob er die anderen wirklich so viel überragte.

Nur mit halbem Ohr hört Hilde; jedes Geräusch von der Straße läßt sie zusammenfahren.

In seiner frohen Erregung hat es Hansen nicht bemerkt; doch jetzt stutzt er und tritt näher: »Was ist?«

»Nichts.« In dem Mädchen kämpft Willenskraft und Sorge mit der Liebe des sich unterwerfenden Weibes. »Wirklich nichts!« Sie versucht ein Lächeln.

Er legt den Arm um sie; Schauer rieseln über ihren Leib: »Nicht«, wehrt sie mit schwachem Widerstreben.

Er sieht ihr in die Augen: kleine, braune Punkte, die ängstlich auf ihn starren. Sie legt den Kopf zurück und atmet schwer. Seine Lippen berühren ihre Stirn.

»Nicht!« haucht sie noch einmal; dann wirft sie sich ihm an die Brust in zitterndem Schluchzen.

»Ich hab' dich so lieb!«

Er hebt ihren Kopf und küßt sie auf beide Augen.

Sie klammert sich fest; nun verläßt sie die Kraft, da sie sich geborgen weiß. Mit hastigen Worten redet sie von ihrer Angst, nun muß sie nicht mehr schweigen. Sie will kein Geheimnis vor ihm haben.

Mit milden Worten beruhigt er sie; er läßt sie an seiner Brust sich ausweinen, und wilder Haß gegen Fred befällt ihn. Unter Tränen lächelnd sieht sie zu ihm auf: »Nun lassen wir uns nimmer!«

»Nein, mein Lieb!«

»Es ist doch nichts Schlechtes,« fragt sie in rührender Hilflosigkeit, »daß ich es dir jetzt gesagt habe?«

»Aber, Kind!«

»Nun ja!« Sie legte den Kopf an seine Schulter und schmiegt ihre Wange mit glücklichem Lächeln fest an die seine. »Ich hab's auch nicht länger verschweigen können.«

Er preßt seinen Mund auf ihre roten Lippen; ein Zittern geht durch ihre Gestalt.

Dann reißt sie sich aus seinen Armen. Klaus Tiedemann steht in der Tür.

Auch T. A. Hansen ist zurückgewichen.

Der da vor ihm scheint kein Lebender! Der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken, schlaff hängen die Arme.

Mit irrem Blick sieht er um sich: »Ist Alfred hier?«

Hilde will antworten, doch wie gelähmt hält sie inne.

Mit hastigem Ruck hat ihr Vater den Kopf gehoben; seine Augen schießen Blitze, er steht vor Hansen:

»Nun malen Sie das Bild: ein Tiedemann als Betrüger. Sie treffen derlei Sachen, Herr!« Er lacht schneidend und wirft sich in einen Fauteuil, den Kopf in den Händen vergraben.

Der beiden Blicke finden sich, über des alten Mannes gebeugter Gestalt halten sie schweigende Zwiesprache.

Dann greift Hansen nach dem Hut, einen stummen Gruß winkt er Hilde zu und geht.

Die sitzt regungslos neben ihrem Vater und horcht auf dessen keuchenden Atem.

Mitten im Glück!

Doch nur Mitleid findet sie als Antwort; sie fährt mit leichter Hand über des alten Mannes Scheitel.

Stöhnend steht er auf: »Was wollte Hansen?« fragt er.

»Ich weiß nicht,« im Sprechen findet sie Mut; »er hat mich gern, Vater!«

Er sieht sie verständnislos an und murmelt: »Betrüger sind alle, die um solches wissen und schweigen.« Dann legt er wieder den Kopf in die zuckenden Finger.

So sitzt er stundenlang, nur hier und da fragt er nach Fred.

Sein Denken macht Sprung auf Sprung.

Er hört den Beifall, welcher den Worten gilt, die ihn und Fred treffen; aus dem Klatschen der Hände springt ihn die Feindschaft der Masse an. Keiner stehtfür ihn ein, keiner tritt an seine Seite; die einen schweigen, die anderen hassen!

Draußen fällt der Schnee, die Kälte kriecht aus den Ecken hervor und greift nach der beiden einsamen Menschen Herz.

Vergebens spricht Hilde, er gibt keine Antwort.

Als es dunkelt, geht er hinunter; er muß Görnemann fragen, ob er um Freds Ausbleiben weiß.

Ermußihn haben, muß Aug' in Auge stehen mit ihm ...

Schon ist es Sperrstundenzeit, noch immer stehen Leute vor den Kassen.

Sie wollen ihr Geld zurück.

Morgen ist Sonntag, und wer weiß, was übermorgen ist!

Klaus Tiedemann ist nicht mehr sicher! Die Zeitungen haben's geschrieben, die Konkurrenz hat's gesagt.

Ein irres Lächeln spielt um des alten Mannes Züge:

Des Lebens Wertung!

Er sieht Gerhard bei den Kassen; er hantiert mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen.

Das gibt Klaus Tiedemann wieder Kraft.

Er muß Görnemann haben.

Quer durch die Schreibzimmer eilt er; gedrückte Stimmung liegt auf den Gesichtern der Leute: es geht ums tägliche Brot.

Die Tür des Privatkontors ist offen, er tritt ein.

Görnemann steht vor dem eisernen Tresor; als er ihn sieht, läßt er die Papiere fallen, die er hält.

Er stürzt auf Klaus Tiedemann zu, die Knie versagen ihm den Dienst, er faltet die zitternden Hände und schreit: »Herr, ich kann nichts dafür, ich bin unschuldig!«

Wie eine giftige Schlange zucken die Worte an Tiedemanns Ohr. »Was?«

»Es fehlt Geld!« Görnemann reißt die Bücher auf den Tisch; mit zitternden Händen weist er die langen Kolonnen. Starr steht Klaus Tiedemann; für einen Augenblick schließt er die Augen, um zu vergessen.

»Es hat alles gestimmt auf Heller und Pfennig,« beteuert Görnemann, »noch gestern; jetzt fehlt eine Menge, aber die Kasse ist in Ordnung.« Er fährt mit unruhigen Händen in seinen grauen Haaren herum. »Wir müssen seit zwei Stunden die Reserven angreifen.«

Klaus Tiedemann wirft die Anweisungen und Schecks durcheinander mit bebenden Fingern; er hält inne und tritt zum Tisch, er schlägt eine Seite des Buches auf, dann sagt er: »Rechnen Sie hier noch einmal nach!«

Görnemann gehorcht, trotzdem er es schon ein halbes dutzendmal getan hat und weiß, daßhierkein Fehler sein kann; mit langem Bleistift folgt er den einzelnen Posten. Einen scheuen Blick wirft Klaus Tiedemann auf den Arbeitenden und macht einen lautlosen Schritt zur Kasse.

Er reißt das Kuvert an sich, das er vorhin hat liegen sehen; es trägt Freds Schrift.

Er verbirgt das Schreiben über dem klopfenden Herzen.

Görnemann hat nichts gefunden. —

Noch ein paar Worte wechseln sie; es ist draußen leer geworden. Es ist Feierabend.

Gerhard kommt herein: »Es wird sich alles aufklären,« sagt er in seiner ruhigen Art.

Görnemann läuft verzweifelt von einem Regalzum anderen. Planlos schlägt er Skonti auf und wieder zu.

»Lassen Sie's, Görnemann,« sagt Gerhard, »so kommen Sie nicht darauf. Unsere Aufzeichnungen sind richtig.« Sein Blick geht zu seinem Vater hinüber. »Wo ist Fred?«

»Er muß bald kommen.« Klaus Tiedemann verträgt seines Sohnes Blick nicht.

»Bevor er nicht hier ist, läßt sich überhaupt nichts machen!«

»Es muß heute nacht geschehen sein,« sagt Görnemann mit großen Augen.

Klaus Tiedemann drängt zur Ruhe: »Man muß warten, bis Fred hier ist.« Er stellt sich, als wüßte er um dessen Ausbleiben.

Er wird auf ihn warten.

Die beiden anderen sollen ruhig nach Hause gehen, morgen früh wird sich alles geklärt haben.

Sie folgen mit leisem Widerstreben, weil sie merken, daß er allein sein will.

Mit traurigen Augen mißt ihn Görnemann.

»Soll ich nicht doch bei dir bleiben?« fragt Gerhard.

»Nein!« Er drückte beiden die Hände. »Geht nach Hause, es ist besser so!«

Die Tür fällt zu, die Schritte verhallen: Gerhard geht hinauf zu Hilde. Er wird die Nacht über aufbleiben; wenn sie jemandes benötigt, soll sie nach ihm schicken.

Zum erstenmal sprechen Bruder und Schwester.

Als er geht, kommt Hansen.

Es ist dunkel um Klaus Tiedemann geworden. Stunden sind vorüber. — Der Lärm der Straße ist verstummt. Straßenbahn und Stellwagen verkehren nicht mehr.

Nur hier und da hallen Schritte; sie klingen gedämpft durch die herabgelassenen Rollbalken.

Er sitzt in den Sessel zurückgelehnt, den Kopf gesenkt.

Der Schnee, der draußen fällt, wirft einen weißen Reflex durch die Oberlichte.

Er hat die Augen geschlossen; ihn fröstelt.

So saß er in vergangenen Nächten, wenn die Frau in Gesellschaft war und oben die Kinder schliefen.

Die anderen lernten solche Stunden fürchten.

Mit müdem Lächeln sah er seine Erfolge.

Er wurde ihrer nicht froh.

Nur die Schultern hingen tiefer und plumper wurde sein Gang. Das war's, was seine Frau von seiner Arbeit merkte.

Er griff hart zu in allzu großer Liebe und seine Lippen waren rauh.

Ein qualvolles Lachen stößt er aus.

Nun hat er ihre Liebe errungen!

Die suchenden Finger zucken; ein Blatt knistert unter ihnen auf; als wäre es Gift, fährt er zurück.

Der Abschiedsbrief seines Sohnes!

Er hat ihn gelesen, Wort für Wort; er will ganz sicher gehen, wenn er sein Kind von sich stößt.

Er sieht Lecarts spöttische Augen; nun ist's ein Tiedemann selbst!

Sein Erbteil hat er sich aus Eigenem genommen und ist in die Fremde geflohen, ohne Wort, ohne Abschied! Ein Tiedemann feig!

Nun hat Klaus Tiedemann die Antwort, warum er in jener Nacht so scheu vor ihm zurückgewichen, warum sein Auge den Boden gesucht.

Er billigt nicht die konstruierten Ehrbegriffe der Gesellschaft, aber er haßt die Feigheit. Nun werden sie mit Fingern auf ihn weisen, den Verkehr abbrechen, um den er Jahre gekämpft hat.

Das Regiment muß Fred Tiedemann ausstoßen als Ehrlosen; in den Zeitungen steht morgen sein Name als der eines kindisch eitlen Bestechers.

Unsummen hat er geopfert, mit denen er Tausende von Tränen hätte stillen können. Klaus Tiedemann zweifelt nicht mehr, daß er es getan hat. Nicht genug war ihm der ehrliche Name seines Vaters.

Er mußte etwas Häßliches bergen, daß alle von ihm abfielen!

Fred hatte keine Lust mehr am Geschäft. Seine Stellung ist nach der Interpellation — so schreibt er — ohnehin im öffentlichen Leben geschädigt; so legt er alles zurück, er will fortan nur seinen Passionen leben — das sei die erste Pflicht des Menschen! In der Hauptstadt des Nachbarreiches gedenke er sich niederzulassen, da sei ein Wiedersehen leicht.

Kein Wort der Reue und keines der Liebe, sonst keine Silbe! Wie ein Fremder ist er von ihm gegangen.

Klaus Tiedemann stöhnt auf, die Wände rücken näher.

Als Leo starb, da war ihm leichter; er gab einKind der Erde zurück, das allzu schwach gewesen war, sie länger zu ertragen. Wäre Fred gefallen, wäre er ermordet worden vom beleidigten Sohn, er hätte geweint und die Gesellschaft angeklagt, so aber fällt alles auf seines Kindes eigenes Haupt. Er weiß nicht Bescheid in den Ehrbegriffen Jan Wolnys, aber er kennt trotzdem die Ehre, die er sein Leben lang besessen hat. Er kennt nicht den Mut, den Fred zeigen sollte, aber er kennt den Mut, einstehen zu müssen für seine Handlungen. Immer wieder legt sich Klaus Tiedemann die Lage klar:

Fred hat Geld genommen, große Summen, die jetzt nötig wären. Heimlich hat sein Kind sie entwendet, daß andere nicht um sein Handeln wußten. Das ist nicht besser als ein Dieb! Wohl ist sein Erbteil, das er mal erhalten wird, größer, aber das Geld steht ihm jetzt noch nicht zu, solange sein Vater lebt.

Feig hat er alles im Stiche gelassen und die Firma auf schlechte Wege geführt. Seine Flucht wird bekannt werden, die Gegner werden sie für ihre Zwecke ausnützen.

Schwer ringt Klaus Tiedemann mit seinen Gedanken, die ihn fesseln und umstricken.

Er sieht keinen Ausweg.

Immer wieder kommt er zum selben Punkt zurück.

Streng war er mit sich Zeit seines Lebens gewesen, allzu streng. Er hat seine Gedanken stets gezwungen, darum sah er nicht der anderen Fehler.

Wie Schuppen ist's ihm nun von den Augen gefallen, da er Fred nicht mehr hier weiß. Nun erst ist seine zweite Frau wirklich gestorben. Klaus Tiedemann findet die Gedanken seiner Jugend.

Er steht auf, dumpf klingen seine Schritte durch den schweigenden Raum.

Abgeschieden von den anderen, muß er sich entscheiden: nun gibt es keine andere Lösung mehr.

Er hört den schweren Schritt des Wächters vorüberstampfen, von Stunde zu Stunde leiser; der fallende Schnee dämpft den Hall.

Dann wieder ist's Ruhe.

Fred kommt nicht mehr, die Firma braucht eine starke Hand, besonders jetzt!

Clo und Hilde sehen auf ihn, sie wollen Rat und Hilfe.

Er muß sich entscheiden!

Starrsinn ist in ihm, mit allem zu brechen, was er für richtig gehalten hat.

Er legt den Kopf auf die Tischplatte in bleierner Müdigkeit, doch er darf nicht ruhen.

Er dreht das Licht auf und geht zur Kasse.

Aus einem geheimen Fach nimmt er seine Schatulle; sie ist alt und abgegriffen.

Er hält inne und horcht:

Leichte, schnelle Schritte gehen ganz nahe am Fenster vorbei, sie machen halt und gehen hartklingend wieder zurück.

Ein bitteres Lächeln ist auf seinen Lippen: es mag wohl eine sein, die auch um Liebe geht.

Kalt scheint das Licht der Glühlampe auf sein zermartertes Gesicht, als er nun den Deckel hebt. Briefe fallen ihm entgegen.

Es ist die Schrift von Gerhards Mutter: alte, vergilbte, eckige Federzüge.

Sie floh und brach die Liebe um anderer Liebe willen!

Dürre Blätter liegen, halb zerrieben, zwischen den Papieren; Klaus Tiedemann weiß nicht, woher siestammen. Er mag sie wohl von einem Spaziergang nach Hause gebracht haben, derweil die Frau an einen anderen dachte.

Zeitungsausschnitte mit rot und blau unterstrichenen Stellen zeigen Klaus Tiedemanns Erfolge; mit gierigem Blick liest er die nebensächlichen Berichte, daß ein Klaus Tiedemann in der Union-Street sein Geschäft vergrößert, daß er die Vertretung der European Company übernommen hat. Es sind Anzeigen, die er einst selbst bezahlte. Heute, in der schweren Stunde, müssen sie ihm Zeuge sein, daß ihn die Welt anerkannt hat. Daran klammert er sich fest ....

Ein schweres Kuvert mit dem Monogramm auf pergamentartigem Papier zeigt die Vermählung des Bankiers Klaus Tiedemann mit Fräulein von Wesenheim, Tochter des Konsuls Ernst von Wesenheim, Kammerrat, Börsenrat usw., in würdevollen Worten an.

Dann kommen mannigfaltige Erinnerungen an die Zeit der Kinder:

Hilde und Clo haben einen Wunsch aufgesagt; in zierlichen Worten ist er hier niedergeschrieben; man merkt nicht die vielen Püffe der Erzieherin, bis endlich die kleinen Köpfe die Worte faßten. Klaus Tiedemann war stets tief gerührt und hatte in seiner bescheidenen, scheuen Art die Leistungen weit überschätzt.

Unbeholfene Zeichnungen aus Fetzen Papieres finden seine tastenden Hände: Indianer zu Pferde und Engel mit schlagenden Flügeln! Der kleine Fred hat sie gezeichnet. Ein weher Laut zittert von seinen Lippen. Klaus Tiedemann legt den Kopf auf die Tischplatte; endlich kommen die erlösenden Tränen:

Warum ist das Leben so hart?

Sie waren alle so liebe, so herzige Kinder, die von den Häßlichkeiten der Welt nichts wußten. Und nun ein Betrüger!

»Er ist es.« Laut ruft Klaus Tiedemann die Worte, daß er selbst scheu zusammenfährt.

Warum wäre er sonst geflohen? Warum hat er Geld unterschlagen? Warum hat er nicht seiner Geschwister gedacht?

Das Kind seiner Zeit!

Rücksichtslos, Altes verachtend, nur dem Genuß lebend, das Leben sich leicht machend, das Geld als Hauptmittel ansehend, um etwas zu erreichen. Schwer stöhnt Klaus Tiedemann auf:

Er selbst hat ihm den Weg gewiesen, hat aus Liebe und Nachgiebigkeit die häßlichen Züge nicht im Keime erstickt. Das Geld hat höhere Werte als die der Bequemlichkeit. Es legt Verpflichtungen auf, die schwer zu erfüllen sind. Nur der Erwerb bringt Freude, nicht der Besitz. Der Mensch muß weiter streben, darf nicht halten und nicht rasten!Ganzsoll er leben! Nicht scheu nach anderen fragen; aufrechten Blickes gehen; soll das aussprechen, was er denkt, nicht das, was andere wollen!

So war er als Kaufmann gewesen, nicht so als Mensch! Klaus Tiedemann hat sich nach der Meinung der Leute gerichtet, um deren Liebe zu erwerben.

Das ist der schwere Irrtum seines Lebens.

Er läßt sich auf den Sessel fallen; seine Augen stieren durch das Dunkel. Ihm kommen schwere Gedanken.

Wenn Fred recht hätte? Wenn es die erste Pflicht des Menschen wäre, nur sich zuliebe zu leben? Vielleicht ist seines Sohnes Art die richtige?

Sorgenlos ging dann die Zeit an einem vorbei. Aber das war nur möglich, wenn andere nicht so dachten? Das konnte das Rechte nicht sein. Doch alles ist in der Welt; sie schreitet fort nach oben — in harter Selbstsucht.

Warum sollte das Leben nicht doch darin bestehen?

Er hatte anders gedacht und war unglücklich gewesen. In froher Laune floß das Leben Freds.

Aus tiefer Qual stöhnt er auf. Zu spät kommt ihm die Erkenntnis: er hat seine Zeit verlebt.

Ein Zittern befällt ihn, eine furchtbare Angst vor dem Ungewissen, Ungenützten, vor dem Zuspät!

Totenstille ist um ihn.

Dann hätten die recht, die von selber gingen?

Dann wäre es Pflicht, das Kind zu tilgen, ehe es geboren?

Wofür die langen Qualen, wenn ein Fingerdruck Ruhe gab auf ewig?

Ein paar Schritte, und es ist getan!

Klaus Tiedemann weiß die Waffe im Kasten, die er als junger Mann bei sich getragen hat; er braucht nur einige Schritte zu machen, dann starrt ihn die schwarze Mündung an: ein Druck, und es ist vorbei. Während er stürzt, dreht sich die Kammer weiter, zum nächsten Schuß.

Wie leicht findet der Mensch seine Ruhe!

Schon einmal hat Klaus Tiedemann an den Selbstmord gedacht, als er hungerte; doch nur Schwäche glaubte er damals darin zu sehen.

Nun dünkt er ihm Erlösung.

Fahrige Eile kommt über ihn: wie wohlig muß es sein, ausruhen zu dürfen nach langer Qual!

Wilder Haß ist in ihm; er knirscht mit den Zähnen. Niemand liebt ihn, er war einsam, und einsam will er sterben. Sie sollen machen, was sie wollen, ihm ist alles gleich, er will endlich Ruhe finden. Er tastet sich in die Höhe und geht dem Kasten zu; ein irres Lachen ist auf seinen Lippen. Des Lebens Krone!

Die Faust schlägt an die kalte Mauer; ohnmächtige Anklagen wirft die lallende Zunge durch die ruhende Nacht. Schwarze Hände streifen seine Stirn, ein Fallen ist um ihn, ein Drehen und Winden. Er glaubt Arme zu spüren, die sich nach ihm strecken, ihn festhalten wollen. In rasenden Schlägen teilt er die Luft, er will sterben! Er will Leo folgen, dem einzigen, der ihn geliebt hat.

Sein Kind wird ihn verstehen.

Aus dem Dunkel leuchten ihm gespenstige Augen entgegen: er hört des Toten Stimme:

»Das Leben hat keinen Wert.«

Hansens Bild zerfließt mit dem Gebilde seiner erregten Phantasie zu einem Ganzen.

Er tut einen wilden Schrei. Ein furchtbarer Druck raubt ihm plötzlich den Atem. Er bäumt sich auf; schwarz wie ein Grab umgeben ihn die finsteren Wände.

Ist das der Tod?

Sein Herz macht schwere, unregelmäßige Schläge.Er merkt, wie ihm das Blut durch die Adern schnellt; er sinkt nach rückwärts. Kraftlos fallen die Glieder herab; weit treten die Augen hervor und starren entsetzt in das Dunkel.

Schwerer Druck lastet auf seiner Brust; in seinen Ohren ist ein heulendes Sausen und Brausen. Wie gelähmt liegt die Zunge im Munde. Kein Glied kann er rühren. Kalter Schweiß rinnt über sein Gesicht.

Der Kopf fällt vornüber.

Hart, erbarmungslos starr stehen die Wände.

Regungslos liegt Klaus Tiedemann; nur die Uhr in seiner Tasche tickt weiter. — — —

Fred Tiedemann, auf seiner Flucht, in dem Hotelzimmer, wacht auf und wirft sich von einer Seite auf die andere; doch den Schlaf findet er nimmer.

Nach langen Sekunden tut Klaus Tiedemann einen tiefen Atemzug und zieht die eiskalten Beine an sich.

Er will nicht sterben!

Langsam kriecht das Blut wieder durch die Adern; schwer und ungleichmäßig fängt der Puls zu arbeiten an. Er hebt den Kopf mit fieberheißen Augen.

Nun ist er neben ihm gestanden. Der Segenspender!

Mühsam richtet er sich auf und atmet schwer.

Die erste Mahnung.

Er schauert zusammen.

Sie hätten ihn finden müssen, in wenigen Stunden; schon hebt leise der Verkehr auf den Straßen an.

Er hat sein Haus nicht bestellt.

Zitternd läßt er sich in den Sessel fallen.

Sein Herz hat ihn aufgerüttelt, geschwächt durch die furchtbaren Erregungen der letzten Tage.

Es können noch Jahre sein, die er als alter Mann zu leben hat, es können vielleicht aber auch nur Stunden sein.

Nun weiß er, daß er alt ist, was seine Pflicht ist!

Die Hand auf die Brust gepreßt, geht er hin und wider.

Hier und da bleibt er stehen und horcht den Schritten, die leise vom oberen Stockwerk durch die Decke klingen.

Es mag wohl Hilde sein, die wacht.

Manch Fenster in Tiedemanns Haus war hell erleuchtet geblieben; die Sorge fuhr durch das Dunkel und schlug mit ihren Gewändern.

Klaus Tiedemann streckt mit glücklichem Lächeln die Arme; unendliche Liebe zu den Menschen erfaßt ihn. Noch lebt er!

Er will die Tage nützen, seinen Kindern lang entbehrte Gerechtigkeit geben.

Kein Baum ist so gut, daß er nicht schlechte Zweige hätte.

Von selbst ist Fred gegangen.

Doch andere warten im Vertrauen; bei ihnen muß Glück wohnen.

Er will zur Tür; auf halbem Wege kehrt er wieder um.

Noch ist er mit sich nicht im reinen.

Er hört den Lärm auf der Straße. Fahl fällt das Winterlicht durch die Fenster.

Zu neuem Leben drängt die Welt.

In tiefen Gedanken steht Klaus Tiedemann, die Augen sehen einwärts, mechanisch fahren die Hände den Sessel entlang.

Er hört eine Tür gehen und eilige Schritte, dann drückt eine Hand auf die versperrte Schnalle: »Herr Tiedemann!«

»Ich komme.«

In dem Türrahmen steht Görnemann, hektische Röte auf den Wangen: »Gott sei Dank!«

Die beiden Greise sehen sich lange in die Augen.

»Und nun holen Sie mir meine Kinder!«

»Ja!« Görnemann rafft sich auf, noch immer zucken ihm die Knie: nicht lebend glaubte er seinen Herrn wieder zu finden. »Auch Gerhard?« fragt er unsicher.

Klaus Tiedemann nickt ernst:

»Auch Gerhard; der ist der wichtigsten einer.«

Er bleibt beim Tische stehen, aufrecht und fest.

Hilde stürzt auf ihn zu.

In tränenlosem Schluchzen liegt sie an seiner Brust. Klaus Tiedemann preßt sein Kind an sich; seine Lippen streifen ihre Stirn:

»Und dann laß Hansen holen!«

Durch Tränen lächelnd sieht sie zu ihm auf: »Du Lieber, du Guter!«

Mit schmerzlichem Zucken um den Mund sagt er:

»Er gehört nun auch zu uns, Hilde; er muß mich glauben machen, daß das Leben noch Glück für uns hat.«

Er hebt den Kopf, er hört der anderen Schritte; schon steht Gerhard in der Tür.

Er streckt ihm die Hände entgegen.

»Laß gut sein, Vater,« sagt der, »ich will's den anderen schon auswischen, du sollst nicht umsonst gelebt haben!«

Es ist der Blick des alten Tiedemann, der ihm aus den jungen Augen seines Sohnes entgegenkommt, in Liebe und Kraft.


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