Karte der großen Karawanenstraße mit den Hauptabzweigungen. Zeichnung des Mumambwemannes Sabatele (s.S. 453).Zweites Kapitel.Die Ziele.
Karte der großen Karawanenstraße mit den Hauptabzweigungen. Zeichnung des Mumambwemannes Sabatele (s.S. 453).
Karte der großen Karawanenstraße mit den Hauptabzweigungen. Zeichnung des Mumambwemannes Sabatele (s.S. 453).
Daressalam, 10. Juni 1906.
Herrn GeheimratKirchhoff, Mockau bei Leipzig.
„Was wollen Sie eigentlich in Deutsch-Ostafrika, Herr Professor?“ Wieviel hundert Mal bin ich von dem Augenblick an, als der Plan meiner Expedition feststand, wo ich sie vorbereitete und wo ich auf Eisenbahn und Schiff zu ihrer Durchführung unterwegs gewesen bin, mit dieser Frage behelligt worden! Nicht von dem Mann des Volkes; dem ist unsere Kolonie am Indischen Ozean etwas ebenso Nebelhaftes wie den Alten die ferne Thule; im besten Fall wirft er es mit „Südwest“ oder noch lieber mit Kamerun in einen Topf, ohne sich allerdings auch in diesem Fall darüber klar zu sein, in welchem Quadranten unseres Erdballs die letzteren Kolonien gelegen sind. Für die Popularität der Völkerkunde ist es unzweifelhaft ein sehr bedenkliches Zeichen, daß gerade die Gebildeten, ja selbst manche Gelehrte, über die Aufgaben, die eines Mannes von meinem Schlage da draußen harren, sich auchnicht die geringste Vorstellung zu machen vermögen. Sie, Herr Geheimrat, sind ja selbst ein Dritteljahrhundert hindurch deutscher Universitätsprofessor gewesen und wissen daher, daß ein solcher, und hätte er auch nur ein Atom Ihrer mit Recht berühmten Redegabe, sich keine Gelegenheit vorübergehen läßt, über diese besagten Ziele und Aufgaben ein zünftiges Kolleg zu lesen. Zu Nutz und Frommen von uns beiden und zur Kenntnisnahme für jeden, der es hören mag, will ich daher denn auch Ihnen, der Sie als Bearbeiter der Peschelschen Völkerkunde vollwichtiger Fachmann und Kollege sind, in kurzen Worten wiedergeben, welche Umstände mich hier an die grüne Bucht am Indischen Ozean geführt haben und welche Ideen ein junger, aber, das darf ich wohl kühnlich behaupten, sowohl als Museumsmann wie Dozent nicht ganz erfolgloser Vertreter der modernen Völkerkunde über die Aufgaben und Ziele seines nunmehr beginnenden Forschungsunternehmens hegt.
Es waren, wie auch Sie während Ihrer Tätigkeit in Halle so oft bemerkt haben werden, durchaus nicht die satten Männer, die bisher ein wirklich ernsthaftes Interesse an dieser unserer Wissenschaft und ihren vielen Einzelproblemen genommen haben, sondern fast immer sind es die deutschen Frauen gewesen, die mich während der langen Seefahrt zu kurzen und langen Aussprachen über das Allgemeine und das Besondere zu veranlassen versucht haben. Noch vor wenigen Jahren hätte ich dies Beginnen sicherlich unter der Kategorie „Neugierde“ registriert; heute, wo ich in die Geistesströmungen unserer Zeit einen tiefern Einblick habe tun können, stehe ich keinen Augenblick an, es als Wißbegier zu bezeichnen; ja, vielleicht ist es sogar jener Wissenshunger, über dessen Größe und Allgemeinheit nur der zu urteilen imstande ist, der Gelegenheit gefunden hat, vor den breiten Massen unserer Volkshochschulkurse und ähnlicher Unternehmungen zu sprechen. Die Damen der ersten Schiffsklasse gehören nun zwar für gewöhnlich nicht zu der dort vertretenen sozialen Schicht, doch sind sie immerhin Angehörige des weiblichen Geschlechts und damit bewußtoder unbewußt Vertreterinnen der Frauenfrage überhaupt. Einen schwachen Abglanz des modernen femininen Wissensdurstes auch bei ihnen zu finden, kann demgemäß nicht überraschen.
„Also nach Kondoa-Irangi wollen Sie zunächst, Herr Professor, um von dort Ihre Expedition zu beginnen?“ fragen mich eines Tags, bei der Einfahrt aus dem Golf von Aden in den Indischen Ozean, die interessiertesten der Damen, die Gattin eines in ganz Deutsch-Ostafrika bekannten, tapferen, alten Wissmannkriegers, der jetzt als Fideikommißbesitzer in Usambara ein beschauliches Dasein führt, und die Gattin eines höheren Schutztruppenarztes.
„Freilich hoffe ich auch einmal nach Kondoa-Irangi zu gelangen, meine Damen, aber in Wirklichkeit hat meine Expedition schon lange begonnen“, konnte ich mit einem Lächeln antworten, das Ihnen, Herr Geheimrat, sehr wohl verständlich sein wird, das den beiden Damen aber so lange ein Rätsel blieb, bis ich mich zu folgendem Privatissimum aufschwang.
„Was ich in Deutsch-Ostafrika selbst will, werde ich Ihnen in sehr wenigen Worten auseinandersetzen können. Wir Deutschen haben seit jeher die Fähigkeit gehabt und die Neigung besessen, unsere Haut als Forscher auf allen Gebieten nur zu gern im Dienst oder im Interesse anderer Nationen zu Markte zu tragen; das ist zu einem Teil die Folge unserer frühern unglücklichen politischen Zersplitterung und Schwäche, zum andern ein Ausfluß der uralten germanischen Wanderlust. Rein zu wissenschaftlichen Zwecken, ohne nationalistisch-egoistische Nebengedanken, hat nun der Reichstag schon vor Jahrzehnten einen Fonds ausgeworfen zur wissenschaftlichen Erforschung Afrikas. Das war noch vor dem Beginn unserer kolonialen Ära. Man hätte nun meinen sollen, daß dieser Fonds, der mit seinen rund 200000 Mark für die kurze Spanne eines Jahres eine recht hübsche Summe darstellt, nach unserer Festsetzung in West- und Ostafrika und in der Südsee ohne weiteres ganz oder doch wenigstens zum größten Teil zur systematischen Erforschung und Erschließungdieser unserer Kolonien hätte Verwendung finden sollen. Das ist indessen nicht oder doch nur in recht unsteter und recht ungleicher Weise geschehen, zum großen Schmerz aller deutschen wissenschaftlichen Kreise, die unter diesen Umständen sich nur auf die gelegentlichen Berichte von Offizieren und Beamten, oder auf vereinzelte amtliche oder private Forschungsunternehmen angewiesen sahen.
„Eine lebhaftere Agitation zur Herbeiführung besserer Zustände, d. h. der Verwendung des Afrikafonds in erweitertem Maße zur systematischen Erschließung unserer Schutzgebiete, setzt erst mit dem ersten Kolonialkongreß von 1902 ein. Von allen Wissenszweigen, der Geographie und Geologie, der Anthropologie und Ethnographie, der Zoologie und Botanik, der vergleichenden Rechtswissenschaft wie der Linguistik und der jungen vergleichenden Musikforschung, wurde damals der gleiche Ruf erhoben, mit dem Erfolge, daß wir drei Jahre später, bei dem zweiten Kolonialkongreß im Oktober 1905, schon imstande waren, für die einzelnen Disziplinen die dringendsten Arbeiten und die Hauptforschungsfelder klar zu bezeichnen. Dennoch hätte die Inangriffnahme der Arbeit selbst wohl noch lange gute Wege gehabt, hätten wir nicht in der „Kommission für die landeskundliche Erforschung der deutschen Kolonien“ und ihrem energischen und tatkräftigen Vorsitzenden, unserm trefflichen Leipziger Mitbürger Professor Dr. Hans Meyer, einen Hilfsfaktor bekommen, der die ganze Angelegenheit ohne jedes weitere Federlesen aus dem deutschen Normalzustand endloser Beratungen mit einem Schlage in die Tat umsetzte. Die Herren Dr. Jaeger und Eduard Oehler, die Sie, meine Damen, dort am Ende des Decks lustwandeln sehen, und ich sind die leibhaftigen Belege für diese ungewohnte deutsche Schnelligkeit, denn tatsächlich sind wir die ersten Auserwählten, die im Auftrage jener dem Kolonialamt angegliederten Kommission den alten Traum der deutschen Wissenschaft verwirklichen zu helfen beauftragt sind.
Dolcefarniente in einem Hofe von Daressalam.
Dolcefarniente in einem Hofe von Daressalam.
„Jene beiden jungen Herren gehen zu rein geographischen Zwecken hinaus; sie sollen das interessante vulkanische Verwerfungs- undBruchgebiet zwischen dem Kilimandscharo und dem Victoria-Nyansa untersuchen; ich dagegen bin beauftragt, in etwa demselben Gebiet etwas Ordnung in das dortige Völkerchaos zu bringen. Dort, in dem Distrikt um den Manyara- und den Eyassi-See und in der Zone südlich von beiden, wimmelt es nämlich von Völkern und Völkchen, die der Völkerkunde trotz mehr als zwanzigjähriger Bekanntschaft mit ihnen noch recht viele Rätsel aufgeben. Sie als ‚Afrikanerinnen‘ werden ja hoffentlich nicht von dem allgemeinen Entsetzen gepackt wie Ihre Schwestern daheim, wenn afrikanische Orts- und Völkernamen auf Sie herniederprasseln, und so kann ich es wohl wagen, Ihnen zu erzählen, daß es hier u. a. das Volk der Wassandaui gibt, von dem man weiß, daß es in seiner Sprache Schnalzlaute hat wie die Hottentotten und Buschmänner, und von dem man vermutet, daß es der vergessene Rest einer uralten Urrasse ist. Ihnen verwandt sollen die Wanege und Wakindiga sein, beide am Eyassi-See schweifend. Aus der ganzen riesigen Afrikaliteratur, von der ich im Laufe der zwanzig Jahre meiner ernsthaften Beschäftigung mit diesem Erdteile doch immerhin einen bedeutenden Teil kennen gelernt habe, ist mir niemals etwas so spaßhaft erschienen wie der Umstand, daß unsere ganze bisherige Kenntnis dieser Wakindiga tatsächlich auf dem Besitz eines Feldstechers in den Händen des Hauptmanns Werther beruht. Dieser schneidige Reisende, der dieses abflußlose Gebiet zu Anfang und in der Mitte der 1890er Jahrezweimal mit großem Erfolge bereist hat, hat nämlich von der Existenz dieser Stämme zwar gehört, von ihnen selbst aber nichts als mit Hilfe seines Fernglases ein paar Hütten gesehen. Seitdem schleppen sich die bloßen Namen wie ein kostbarer Besitz durch alle die zahllosen kolonialen und völkerkundlichen Schriften, die Jahr für Jahr mit dem Anspruch des Gelesenwerdens auf den Arbeitstisch des Gelehrten und den Schreibtisch des Gebildeten herniederregnen.
„Eine ganze Gruppe ebenfalls noch recht wenig scharf bestimmter Völker stellen dann die Wafiomi, die Wairaku, Wa-Uassi und Wamburru dar, auch die Waburunge; sie alle stehen im Verdacht des Hamitentums, haben zum Teil recht merkwürdige Kulturformen ausgebildet, laufen aber Gefahr, unter dem Ansturm der neuen Verhältnisse ihre Eigenart noch schneller zu verlieren als so manches andere afrikanische Volk. Schon aus diesem Grunde ist ihre systematische Aufnahme nötig, solange es noch Zeit ist.
„Das gleiche gilt auch von einem wirklichen Völkerrest, als welcher die Tatoga oder Wataturu unzweifelhaft aufzufassen sind. Sie sollen eine dem Somali verwandte Sprache reden, leben aber heute über ein so weites Gebiet zerstreut, daß bei ihnen die Gefahr des Verschwindens ihres Volkstums womöglich noch größer ist als bei den anderen. Die letzten der für mich in Frage kommenden Stämme sind schließlich die Wanyaturu, die Wairangi und Wambugwe. Sie alle gehören zu der großen Völkergruppe der Bantu, haben sich aber gleichwohl eine auf ihrer Isolierung beruhende Eigenart des Kulturbesitzes so treu bewahrt, daß auch sie sehr wohl eine Reise lohnen.“
„Und was wollen Sie, Herr Professor, bei allen diesen Stämmen und Stämmchen? Etwa bloß für Ihr Leipziger Museum sammeln, oder hat die Völkerkunde von heute auch noch andere, höhere Ziele?“
„So ein Museum, meine Gnädigste, ist ja in Wirklichkeit, das wird auch der engherzigste Philister zugeben müssen, eine ganz lehrhafteEinrichtung; kann es wenigstens sein, wenn seine Aufgaben und Ziele richtig erfaßt worden sind. Aber wie wollte die Völkerkunde ihren schon an und für sich soviel angefeindeten Rang als Wissenschaft behaupten, wenn sie nichts Höheres und Besseres kennte, als bloß Bogen, Pfeile und Speere und die tausend andern Sachen zusammenzutragen, aus denen sich der Bestand unserer Sammlungen zusammensetzt! Dieses Sammeln und Konservieren stellt vielmehr nur einen, ich möchte sagen, den elementaren Zweig unserer Arbeit dar; es soll uns in den Stand setzen, die äußere, materielle Kultur der Naturvölker auch dann noch vor Augen zu haben, wenn diese Völker selbst längst zivilisiert oder ausgestorben sind. Der andere, höhere Teil ist die Aufnahme des geistigen Kulturbesitzes, also alles dessen, was auch den Stolz unserer eigenen Kultur ausmacht. Dem Laien mag es scheinen, als ob Neger und Indianer, Papuanen und Australier gänzlich bar allen solchen Besitzes seien: wir anderen wissen indessen sehr wohl, daß selbst noch der niedrigste Volksstamm einen bestimmten Kulturbesitz sein eigen nennt. Nach außen mag der zwar armselig erscheinen, in Wirklichkeit ist er ebenso differenziert und aus ebensoviel Einzelheiten zusammengesetzt wie der unsrige. Anfänge der Wirtschaft, Anfänge sozialer und staatlicher Gliederung sind überall vorhanden, und gerade die sozialen Verhältnisse so manchen Wildstammes spiegeln noch heute Züge wider, die vor Jahrtausenden auch unsern Vorfahren eigen gewesen sind. Anfänge der Technik, Waffen und Werkzeuge, Schmuck und Kleidung, Bauwerke und Verkehrsmittel — sie sind längst als ein Gemeingut der Menschheit erkannt worden. Auch die Sprache, Anfänge der Kunst und der Wissenschaft, religiöse Urideen und eine oft recht verwickelte Rechtspflege, alles das gehört ebenfalls zu unserm Forschungsgebiet. Der Grund aber für das eifrige Studium, das wir Kulturvölker auf diese Dinge verwenden, das ist derselbe menschliche Wissensdrang, der uns auch zu den Polen treibt, trotzdem dort keine wirtschaftlichen Werte locken: wir wollen ergründen, welchen Entwicklungsweg unsere eigene hoheKultur in allen ihren Phasen genommen hat und welches ihre ersten Anfänge gewesen sind.
„Die Völkerkunde dokumentiert sich also im Grunde genommen als Kulturgeschichte, was keinen Einsichtigen überraschen kann. Gleichzeitig ist sie auch eine Geisteswissenschaft im besten Sinne des Wortes, denn auf ihr und ihren Vorarbeiten bauen sich unsere ach so stolzen Geisteswissenschaften im landläufigen Sinne ausnahmslos auf. Gerecht wird sie dem Zweck dadurch, daß die Ethnologie oder vergleichende Völkerkunde alle Lebensäußerungen der Rassen, Völker und Stämme auf ihren psychischen Ausgangspunkt hin untersucht, um auf diesem unendlich mühseligen und langwierigen, doch keineswegs langweiligen Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen an sich, um im Bastianschen Sinne zu sprechen, zu gelangen. Das aber können wir nur, wenn wir im Besitz einer möglichst großen Zahl von Einzelbeobachtungen sind; diese wieder können nur auf wissenschaftlichen Reisen gewonnen werden, am besten natürlich durch wissenschaftlich geschulte Kräfte. Sie begreifen demnach, meine Damen, warum und wozu man mich unter diesen Umständen hinausschickt.“
Eine kleine Pause, keine des Entzückens, sondern offensichtlich der Erschöpfung bei meinen beiden Opfern festzustellen, hatte ich nach diesem Erguß, der für jeden andern als den Gewohnheitshörer deutscher Professoren allerdings furchtbar sein mußte, nun doch die heimliche Genugtuung; beide Damen rangen sichtbar nach Luft. Dann aber ermannte sich das weibliche Auditorium mit rascher Entschlossenheit und entgegnete:
„Schön, Herr Professor, das begreifen wir, lassen es auch gelten, ja heißen es sogar gut und wünschen Ihnen jeden Erfolg, in Ihrem Interesse und auch dem Ihrer Wissenschaft. Aber was wir immer noch nicht begriffen haben, das ist, warum und wieso Sie schon jetzt, hier im Angesichte des schlafenden Löwen vom Kap Guardafui, auf Expedition zu sein behaupten; der Boden eines eleganten Passagierdampfersruft doch im Grunde genommen recht wenig den Eindruck eines völkerkundlichen Forschungsfeldes hervor.“
„Immer Geduld, bitte, meine Damen, die Völkerkunde ist eine Entwicklungswissenschaft, und so müssen Sie auch mir die Gelegenheit, mich selbst zu entwickeln, zugestehen. Entwicklungswissenschaft sind wir insofern, als sowohl der Mensch selbst wie auch seine Kultur sich nach der Höhe und nach der Breite entwickelt hat. Nicht umsonst spricht Friedrich Ratzel immer wieder von einer Tiefe der Menschheit, und eines der interessantesten, allerdings wohl auch schwierigsten Themata der Anthropologie und Ethnographie wird stets die Verbreitungsgeschichte der Menschheit über den Erdball hin bleiben.“
„Nun, wir denken, Asien ist die Wiege der Menschheit, undex oriente luxsei die Devise, mit der Sie alle marschieren?“
„Das doch wohl nicht, oder besser nicht mehr, meine Gnädigste. Es ist immer bedenklich, eine solche Frage als Unterhaltungsgegenstand anzuschneiden, schon weil man nicht einmal weiß, ob und wann man ihn wird zu Ende führen können; aber da kein anderes Problem die biologischen Wissenschaften in der Gegenwart so stark beschäftigt wie gerade dieses, so will ich Ihnen wenigstens meinen Standpunkt so weit zu skizzieren versuchen, wie es das Ausgangsgebiet unserer Unterhaltung, nämlich die weiteren Ziele meiner Expedition, durchaus erfordert, und wie ich es Ihnen nach meinem Versprechen schuldig bin.
„Die Völkerkunde hat es mit der Heimatfrage des Afrikaners von jeher sehr leicht genommen; das Element, an dessen Wohnsitzen wir schon seit Suez entlang fahren, nämlich die Hamiten, ist von allen Autoren der Anthropologie und Ethnographie ausnahmslos über das Rote Meer von Asien her herübergenommen worden. Ziemlich allgemein hat man sich bezüglich des Zeitpunktes dieser Wanderung mit relativ kurzen Zeitabmessungen begnügt, ja der neueste Autor auf diesem Gebiet afrikanischer Völkerkunde, der durch sein Massai-Buch bekannte Hauptmann Merker, der dieses hochwüchsige Volk übrigens für die Semiten in Anspruch nimmt, will den Zeitpunkt derWanderung und auch ihren Weg genau berechnen können; er setzt ihn um 5000 Jahre zurück.
Im Europäerviertel von Daressalam.
Im Europäerviertel von Daressalam.
„Doch auch für die Hauptmasse der Bevölkerung Afrikas, für die Sudan- und Bantuneger, ist die Annahme einer fremden Urheimat ziemlich allgemein; auch diese beiden Gruppen sollen von Nordosten, also aus Asien her, über den Durchgangspaß des Roten Meeres in ihre heutigen Sitze eingedrungen sein.
„Gegen diese letzte Theorie einen energischen Vorstoß zu unternehmen, habe ich mir vor einigen Jahren in der Schrift ‚Zu Friedrich Ratzels Gedächtnis‘ das Vergnügen gemacht. Soweit die ganze Negerfamilie in Betracht kommt, spricht nichts, aber auch absolut nichts dafür, daß ihre Vorfahren jemals anderswo gesessen hätten als in dem Gebiet, das sie im großen und ganzen noch heute innehaben. Kein Zweig der großen Gruppe ist nachweisbar jemals im Besitz irgendwie bemerkenswerter nautischer Kenntnisse gewesen, und keiner hat auch jemals den Fuß aufs hohe Meer gesetzt.
„Aber ist denn das durchaus auch nötig, werden Sie mir einwerfen, wird nicht die ganze Gesellschaft entweder über die Landenge von Suez oder über die schmale Meerenge von Bab el Mandeb gewandert sein? Wir haben die letztere ja erst vor zwei Tagen passiert;sie ist doch so schmal, daß man von einem Ufer das andere deutlich erblicken kann.
„Sehr richtig, meine Damen, aber so einfach ist das Problem denn doch nicht. Für den Menschen beansprucht die moderne Anthropologie ebensolange Zeiträume wie für unsere höhere Tierwelt; den Diluvialmenschen erkennt auch unsere straffste Orthodoxie seit langem an, und an den Tertiärmenschen würde man sich selbst dann gewöhnen müssen, wenn er nicht schon an sich ein logisches Postulat wäre. Mit diesem Herniedersenken des Jugendstadiums unserer Spezies in frühere geologische Perioden wird nun aber das Problem der Herausbildung der Menschenrassen zu einer Aufgabe, die nicht bloß durch Messungen an Schädel und Skelett gelöst werden kann, sondern an der neben der Paläozoologie vor allem auch die Erdgeschichte, also die historische Geologie, tatkräftig mitzuarbeiten haben wird. Soweit ich die Sachlage zu übersehen vermag, werden die in Frage kommenden Wissenschaften sich schließlich wohl auf nur drei Urrassen einigen: die weiße, gelbe und schwarze, die je ihren Herausbildungsherd auf bestimmten alten Dauerkontinenten gehabt haben müssen. Ein solcher Dauerkontinent bestand in der Tat lange geologische Zeiträume hindurch auf der südlichen Halbkugel. Einen großen Rest von ihm stellt das heutige Afrika dar; kleinere hat man in der indonesisch-papuanischen Inselwelt und in Australien zu sehen. Die Verbreitung der schwarzen Rasse von Senegambien im Westen bis Fidji im Osten erklärt sich auf diese Weise spielend.
„Und auch für die großen Gruppen derMischrassenwerden wir nach meiner Ansicht für die Zukunft nicht mehr ohne die Zuhilfenahme geologischer Veränderungen der Erdoberfläche auskommen. Woher leiten wir den Hamiten und was verstehen wir überhaupt unter diesem Begriff, der auffälligerweise eine Völkerzone umschließt, die sich geographisch lückenlos zwischen die weiße und die schwarze Rasse einschiebt? Wie will man des fernern die sogenannten Uralaltaier erklären, jene schwer zu umschreibende Völkermasse zwischen demmongolischen Urelement im Osten und dem weißen im Westen? Wird man nicht auch hier auf den Gedanken kommen müssen, daß der Anstoß zur Entwicklung beider Gruppen, der Nordafrikaner sowohl wie auch jener Nordasiaten, gegeben wurde durch eine breite und lange Berührung der alten Urrassen, die nach Lage der Dinge, d. h. auf Grund der geologischen Veränderungen sowohl im Südosten des Mittelmeergebietes wie auch im Osten Nordeuropas, nur durch das Zusammenwachsen der vordem durch Meere getrennten, alten Kontinentalkerne geschehen konnte? Tatsächlich sind die Landbrücken an beiden Stellen geologisch sehr jung.
„Derartige Aus- oder richtiger Rückblicke mögen einstweilen noch ketzerhaft oder als vage Hypothesen erscheinen, ohne Zweifel haben sie jedoch das Gute, daß sie uns zur Annahme langer Zeiträume auch für die Entwicklung des Menschengeschlechts zwingen, und das ist ja auch schon ein Fortschritt. Mir persönlich ist es, solange ich mich mit derartigen Fragen berufsmäßig beschäftigen muß, immer recht spaßhaft vorgekommen, daß man für den Menschen die kürzeste Entwicklungszeit annimmt, trotzdem er das höchst gestiegene Lebewesen sein soll. Logischerweise kann man von ihm doch nur gerade das Gegenteil annehmen.“
„Und um alles dieses in Ihrem Haupte zu bewegen, müssen Sie, Herr Professor, erst ins Rote Meer und in den Golf von Aden fahren? Konnten Sie das zu Hause nicht viel bequemer haben?“
„Das freilich, aber keine von Ihnen, meine Damen, wird leugnen können, daß die persönliche Kenntnis des Schauplatzes eines Vorganges, wenn nichts anderes, so doch zum mindesten ein kräftiger Ansporn ist, sich mit jenem Vorgang selbst und seinen Ursachen noch intensiver zu beschäftigen, als man das fern von ihm tun würde. Für mich ist demgemäß die, wie Sie zugeben werden, an sich nicht besonders reizvolle Fahrt durch das Rote Meer die beste Gelegenheit gewesen, mich mit dem Problem der Rassenherausbildung recht nachhaltig zu befassen, und Sie verstehen nunmehr wohl ohne jedeEinschränkung, wie recht ich mit der Behauptung hatte, meine Expedition habe schon längst begonnen.“ —
Vielleicht werden Sie mich schelten, Herr Geheimrat, daß ich derartig schwierige Materien an solchem Ort und vor solchem Kreise angeschnitten habe. Sie haben sicher recht damit; andererseits können gerade wir Gelehrten gar nicht genug Gelegenheiten suchen, unsere Weisheit über die Hörsäle der Universitäten hinaus in die weitesten Kreise zu tragen. Wird man auch nicht überall sogleich verstanden, so beginnt doch hier und da ein leises Interesse zu keimen, das hinterher fröhlich wächst und später vielleicht die schönsten Früchte trägt.
Reuevoll will ich Ihnen nunmehr wieder etwas mehr, statt mit grauer Theorie, mit der fröhlichen Wirklichkeit kommen. Vom Kap Guardafui habe ich ein paar recht hübsche Aufnahmen machen können. Von der Nordseite her ist dieses Vorgebirge nur wenig imposant; es hat den Anschein, als ob das Schiff dicht an Land dahinführe; in Wirklichkeit ist man jedoch 5 bis 6 Seemeilen vom Strande ab, und aus diesem Grunde kommt dem Reisenden die stolze Höhe von nahezu 300 Meter gar nicht zum Bewußtsein.
Eindrucksvoller sieht die Landschaft von Süden her aus; zur Rechten des Schiffes steigen hier die Berge in nahezu senkrechter Steilheit zu fast 1000 Meter empor, oft überlagert von einer kompakten Wolkenschicht, die das Gebirge noch stattlicher und gewaltiger erscheinen läßt. Dennoch wendet sich das Auge immer wieder zum Kap Guardafui zurück. Höher als von der Nordseite aus erscheint es zwar auch jetzt nicht, aber es gewährt selbst dem phantasielosesten Reisenden ein Bild, das allen Ostafrikafahrern unter dem Namen des „schlafenden Löwen“ bekannt und geläufig ist. Ich halte im allgemeinen nicht viel von derartigen Personifikationen von Naturgebilden, an dieser Stelle indessen habe auch ich den Eindruck der Naturwahrheit in vollkommenster Weise empfunden. Tief ist das wuchtige, mähnenumwallte Haupt auf den Boden, das ist in diesem Falle der dunkelblau leuchtende Indische Ozean, niedergeduckt; dicht angeschmiegt liegt die rechteVorderpranke. Leider ist das königliche Auge geschlossen; zu welch herrlicher Symbolik würde dieses unvergleichliche Bild die Phantasie sonst zu begeistern vermögen! Vor dem Phänomen von heute ist deren Flug nur lahm. Ursprünglich wachte der Löwe; er behütete den regen Seeverkehr, den das ausgehende Altertum und das frühe Mittelalter vor seinen Augen aufrecht erhielten; als Phönizier und Himjariten, Griechen und Römer, Araber und Neuperser von Westen aus nach Osten und nach Süden hinaussegelten; als von Osten her zu wiederholten Malen der mittelalterliche Chinese vorstieß bis in die Bucht von Aden und vielleicht gar bis ins Rote Meer. Das war eine Zeit, des Wachthaltens wert! Doch es kam der Islam und es kam der Türke, es kam ferner die Zeit der Umfahrung des fernen Kaps der Guten Hoffnung und damit die Brachlegung der ägyptischen und der syrischen Pforte. In stummes, dumpfes Brüten versank das Rote Meer, versank der Persische Golf. Das hat Jahrhundert um Jahrhundert gedauert, und dabei ist der Löwe müde geworden und sanft entschlafen.
„Aber sollte nicht der neue Riesenverkehr des Suezkanals ihn bereits haben erwecken können oder müssen“, werden Sie mir einwerfen. Darauf muß ich erwidern: „Nein; das Trägheitsgesetz beherrscht die Welt, auch ist der Schlaf dieses alten Ozeanwächters so tief, daß lumpige vierzig Jahre nicht ausreichen, um ihn zu stören; dazu bedarf es anderer Mittel. Und auch dieses kenne ich. An Bord befindet sich ein italienischer Capitano, ein prächtiger, stattlicher Mensch, dem die Abessinier bei Adua leider mit Speerstichen arg zugesetzt haben. Den fragte ich vorhin, warum denn kein Leuchtturm das Fahrwasser am Kap Guardafui verbessere; sie als Herren des Landes hätten doch eigentlich die Pflicht, für so etwas zu sorgen.“
„Das ist richtig, mein Herr, aber haben Sie schon einmal gegen die Völker dieses Osthorns gekämpft?“ war die Gegenfrage. „Was, glauben Sie wohl, würden die Herren Somâl dazu sagen, wenn wir ihnen die beste Gelegenheit zum gewohnten Strandraub nähmen? Ein schwererFeldzug wäre die einzige Folge schon des bloßen Versuchs, sich dort oben festzusetzen.“
Der Capitano mag mit seinen Worten recht haben; gleichwohl wird sich Italien auf die Dauer nicht der Notwendigkeit entziehen können, der internationalen Verpflichtung eines Leuchtturmbaues an jener exponierten Stelle nachzukommen; schwarz und traurig liegt auch jetzt der Rumpf eines gestrandeten französischen Dampfers, der in dunkler Nacht auf der Nordfahrt zu früh nach Westen umbog, an der Küste. Mit dem Moment aber, wo dieser Leuchtturm seinen Lichtkegel zum erstenmal über die nächtlich dunklen Weiten des umgebenden Meeres hinaussenden wird, da wird der Löwe erwachen. Dann wird auch er fühlen, daß seine Stunde von neuem gekommen ist. Vorbei der tatenlose Dämmerzustand langer Jahrhunderte, vorbei auch für immer das Sackgassentum jenes Roten Meeres, das Orient und Okzident räumlich so nahe rückte und doch so fern voneinander hielt. Freie Durchfahrt, jetzt und immerdar! —
Der Monsun ist eine angenehme Erscheinung, besonders nach dem erschlaffenden Genuß des Roten Meeres und des Golfs von Aden, doch wird auch er auf die Dauer eintönig und langweilig. Das rührt daher, daß die Länge der Seereise die Sehnsucht nach dem Landungshafen immer stärker werden läßt. Mombassa und Sansibar werden deshalb stets mit Jubel begrüßt und im Eiltempo genossen. Für Daressalam ist man schon gemäßigter gestimmt, doch betritt man nichtsdestoweniger auch diese Stadt mit dem leisen Gefühl einer endlichen Erlösung.