Unter den alten Mauern von Ta-tu-mu.Unter den alten Mauern von Ta-tu-mu.
Unter den alten Mauern von Ta-tu-mu.
Unter den alten Mauern von Ta-tu-mu.
Es blieben noch die zerrissenen Berge von Nankou am Eingange der Schlucht zu überwinden. Das Dorf lehnt sich an den Nan-schan, den „Berg des Südens“, der auf die Häuser steil herabfällt und, von unten gesehen, sich vornüberzubeugen scheint, um zu beobachten, wer im Tale daherkommt. Bis zum Gipfel ziehen sich zinnengekrönte hohe Mauern, alte Verteidigungswerke, die sich von der Großen Mauer abzweigen und fast unversehrt geblieben sind, weil sie dem Menschen fast unzugänglich waren. Ihre Zerstörung ist einzig und allein der Zeit überlassen, und die Zeit ist gegen großartige Werke unendlich gütiger als der Mensch.
Das Dorf Nankou ist eine Anhäufung von Steinen. Die niedrigen und kunstlosen Häuser sind aus Bruchsteinen erbaut, und an ihren Vorderseiten ziehen sich hohe, aus Steinplatten hergestellte Fußpfade entlang; die Mitte des Weges ist für die Überschwemmungen freigelassen. Eine alte Festungsmauer schließt den Ort ein. Wir betreten durch das niedrige, tiefe, finstere Tor die einzige Straße des Ortes. Es hat aufgehört zu regnen; für einige Minuten drängt sich die Sonne durch die Wolken und streut über die nassen Steine helle Lichter. Die Bewohner treten an die Türen und beobachten uns.
Es scheinen Angehörige einer andern Rasse zu sein. Es sind die Bergbewohner Chinas. Sie sind groß und stark; ihr Gesicht trägt die stolzen Züge des tatarischen Stammes. Diese kleine, einsam und verlassen inmitten unwirtlicher Felsen wohnende Bevölkerung läßt an eine Besatzung denken, die in früheren Zeiten zum Schutze des Passes hierhergelegt und vergessen worden ist. Vielleicht stammt sie in der Tat von den tatarischen Kriegern ab, die nach der Eroberung Chinasdurch die Mandschu im 17. Jahrhundert hierhergeschickt wurden, Krieger, die im Laufe der Zeit die unnötig gewordenen Waffen abgelegt und verloren haben, ohne ihren Posten zu verlassen, unbewußt treue Hüter einer Stellung, die ihren Ahnen vor Jahrhunderten anvertraut worden war.
Unser erster Reisetag ist zu Ende. Es ist 2¾ Uhr, als wir die kleine chinesische Herberge betreten, die der Ma-fu Pietro uns als Quartier ausgesucht hat. Wir haben nur 60 Kilometer zurückgelegt. Unsere Matrosen umringen uns freudig; sie teilen uns mit, daß das Gepäck wohlbehalten angelangt sei, daß ein gutes Feuer im besten Zimmer brenne, an dem wir uns trocknen können, und daß Hühner gekocht werden: alles erfreuliche Nachrichten. Die „Itala“ findet ihren Platz zwischen den Wagen, den Maultieren, den Pferden und den Karawanenführern, die sich im ersten Hofe drängen und hier das kennzeichnende, unentwirrbare Durcheinander jeder chinesischen Herberge verursachen.
Übergang über eine kleine alte Brücke an den Berglehnen des Lien-ya-miao.Übergang über eine kleine alte Brücke an den Berglehnen des Lien-ya-miao.
Übergang über eine kleine alte Brücke an den Berglehnen des Lien-ya-miao.
Übergang über eine kleine alte Brücke an den Berglehnen des Lien-ya-miao.
Nachmittags gehen wir mehrmals ins Freie, auf die zurückgelegte Straße in der Hoffnung, den übrigen Automobilen zu begegnen; wir steigen auf die mit Zinnen besetzten Mauern, von denen der Blick weitin die Ebene hinabschweift. Doch soweit wir zu sehen vermögen, herrscht tiefe Einsamkeit. Um 4 Uhr bemerken wir eine Gruppe von Menschen, die zu dem Dorfe heraufsteigt; sie kommt von der zwei Kilometer entfernten Eisenbahnstation Nankou und zieht etwas. Es ist das Dreirad „Contal“. Pons und sein Mechaniker helfen, niedergeschlagen, schwitzend bei der Beförderung der Maschine. Auf Pons’ Gesicht bemerke ich eine schmerzliche Enttäuschung. Kaum aus den Toren Pekings heraus, mußte er auf die Weiterfahrt verzichten. Das Dreirad, das auf guten Straßen Vorzügliches zu leisten imstande ist, hat sich auf schlechten als unbrauchbar erwiesen. Es hat zwei Lenkräder und ein Bewegungsrad; auf den ersten ruht das Gewicht des Wagens; es ist daher ein enormer Widerstand zu überwinden, und nur eine kleine Kraftquelle zum Antrieb vorhanden; es genügt eine leichte Unebenheit des Geländes, daß das Bewegungsrad sich leer dreht und über den Boden hinstreift. Pons ist gezwungen, umzukehren und seine Maschine mit der Bahn zu befördern; er ist aber entschlossen, um jeden Preis die Mongolei zu erreichen, wo er günstiges Gelände zu finden hofft.
Am Hun entlang bei Ki-mi-ni.Am Hun entlang bei Ki-mi-ni.
Am Hun entlang bei Ki-mi-ni.
Am Hun entlang bei Ki-mi-ni.
Bald nach Sonnenuntergang schlief Nankou bereits. Auf dem Kang, dem chinesischen Ofenbette, ausgestreckt, in eine Matrosendeckegehüllt, setzte ich in einer schlaflosen Nacht die große Reise fort; ich sandte die Phantasie voraus auf Entdeckung. In der Ferne donnerte der Bergstrom, dessen Lauf wir zwischen den steilen Felsen hatten aufwärts verfolgen müssen. Später ward seine Stimme von dem Plätschern des Regens übertönt, der wieder heftig zu fallen begann. Vom Winde getrieben, schlugen große Tropfen gegen die papierenen Fensterscheiben, als wenn jemand mit den Fingern auf ihnen trommelte.
Es regnete noch, als Pietro mit einer kleinen Papierlaterne in der Hand hereinkam, um uns zu wecken; es regnete, als der Tag anbrach, und es regnete, als wir uns zur Abfahrt entschlossen, nachdem wir vergebens auf den Eintritt schönen Wetters gewartet hatten. Die Kulis standen seit 3 Uhr morgens marschbereit. Um 7 Uhr 25 Minuten verließen wir Nankou. Die Fürstin war in der Herberge geblieben, um mit der Eisenbahn nach Peking zurückzukehren. Don Livio begleitete uns bis zur Großen Mauer.
An das Automobil war die Chinesenhorde angespannt und außerdem drei willfährige Tiere. Die Pekinger Transportagentur hatte versprochen, uns vier Maultiere zu liefern; in Nankou waren jedoch nur ein einziges Maultier, sowie ein altes Pferd und ein kleiner weißer Esel aufzutreiben gewesen. Ein Vertreter der Agentur hatte auf die Vorhaltungen des Fürsten hoch und heilig, unter Anrufung der Götter als Zeugen, versichert, daß die drei Tiere genügen würden, den Ki-tscho bis ans Ende der Welt zu ziehen, und wir, die wir ihn nur bis Kalgan gezogen wissen wollten, gaben uns damit zufrieden.
Im Augenblicke der Abreise brannten die guten Einwohner von Nankou zum Abschiedsgruß einige Petarden ab. So will es der Brauch; der Chinese feiert die Feste mit lärmenden Feuerwerken, und wenn er jemand seine Huldigung darbringen will, so stellt er ein Paar Böller vor die Tür, und im gegebenen Augenblicke geht es bum! bum! Das ist der Gipfel der Ehrerbietung.
Wenige Minuten später verschwand das Dorf hinter einer Biegung des Tales. Der Weg beginnt plötzlich zu steigen und sieht wie eineRampe mit niedrigen, breiten Stufen aus, von denen jede einzelne die Kulis zu einer Wiederholung des „Lai lai-la!“ nötigt und den Tieren ein drohendes Klatschen mit der Peitsche einträgt.
Der Alte mit der Fahne befand sich natürlich an der Spitze. Die Matrosen gingen zu beiden Seiten des Automobils und stemmten sich von Zeit zu Zeit kräftig mit der Schulter gegen die Räder, als gelte es, eine Kanone auf den Gipfel eines Berges in Stellung zu bringen. Ettore, der allein auf der Maschine saß, eingehüllt in die Falten eines ungeheueren Regenmantels, der ihm das Aussehen eines bretonischen Fischers gab, hielt das Steuerrad mit der Aufmerksamkeit eines diensthabenden Steuermannes und kommandierte seine Scharen durch Ertönenlassen der Hupe. Einmal bedeutete: „Vorwärts!“, zweimal: „Halt!“ Aber die Signale mußten oft wiederholt werden, und bald begann die Hupe der „Itala“ infolge der Anstrengung an Heiserkeit zu leiden, die sie schließlich stumm machen mußte. Pietro schloß den Zug zu Pferde, den Kopf mit einem riesigen Strohhut bedeckt, der infolge einer genialen Anordnung der Bänder die Form eines Damenhutes, Stil Directoire, angenommen hatte. Der wackere Ma-fu trug diese Kopfbedeckung mit großer Würde. Offen gestanden, niemals ist ein sonderbarerer Zug durch die Pässe der Großen Mauer marschiert! Wenn ich noch hinzufüge, daß Don Livio, Don Scipione und ich von Zeit zu Zeit ausruhten, indem wir auf zwei winzigen Saumtieren ritten, die so niedrig waren, daß unsere Füße auf dem Boden schleiften, und so kurz, daß unsere Regenmäntel sie mit dem großartigen Faltenwurf einer Toga völlig umgaben, so habe ich einen weiteren Umstand von höchster Bedeutung für die historische Genauigkeit erwähnt.
Die Landschaft änderte sich jeden Augenblick. Oben tauchten immer neue Gipfel auf, schroff, kahl, von immer seltsamerer Gestalt. Niedrige, schwarze Wolken hingen bis auf sie herab, und der graue Nebel ließ sie entfernter und höher erscheinen; ihre düstere Großartigkeit nahm dadurch noch zu. Unten floß der Bergstrom bald still wieein Bach und schlängelte sich friedlich zur Seite des Weges unter grünen Sträuchern und Weidengruppen dahin, bald brauste er stürmisch, in wilden Wirbeln, schäumend in engen Schluchten, in denen wir uns vorsichtig vom Rande der Straße entfernt hielten. Alte Befestigungslinien ziehen sich fortwährend von den Gipfeln der Berge bis in den Talgrund hinab, steigen wieder empor und verschwinden in der Richtung auf andere ferne Berge zu. Es sind mit Zinnen versehene Mauern, die Schleichpfade decken, Befestigungen zweiten Ranges im Rücken der Großen Mauer, riesige Wegsperren. Zwischen zwei dieser ungeheueren Verteidigungswerke liegt ein großes Dorf: Kü-yung-kuan.
Wir haben die hohen schwarzen Mauern hinter uns gelassen und befinden uns vor einem wunderbaren Marmorbogen, der auf das geschmackvollste mit Friesen und Figuren geschmückt ist, ein Bogen, den man, aus der Ferne gesehen, als römisch bezeichnen könnte. Riesenhaft hebt er sich von den elenden Dorfhütten ab, ein letzter Rest wer weiß welcher Herrlichkeit und welches Reichtums. Kü-yung-kuan war in den goldenen Zeiten des Reiches der Sitz eines Kommandos, und damals vertrieben sich die militärischen Mandarine, wie einst die römischen Konsuln, die Zeit damit, daß sie sich mit prächtigen Kunstwerken umgaben.
Während wir unseren Aufstieg fortsetzten, überholte uns eine Anzahl eilfertig dahinschreitender Männer mit einer Sänfte auf den Schultern. In der Sänfte saß mit geöffnetem Schirm ein Europäer, den die Einwohner mit Ehrerbietung behandelten. Als er an uns vorüberkam, begrüßte er uns auf englisch. Wir sahen sofort, daß es sich um einen in der Gegend angesehenen Mann handelte; alle kannten ihn und begegneten ihm achtungsvoll. Sie nannten ihn den „alten Herrn, der das Gebirge durchbohrt“. Pietro, der sich nach ihm erkundigt hatte, erklärte uns die Sache. Man muß nämlich wissen, daß die chinesischen Kaufleute bemerkt haben, daß eine Eisenbahn, wenn sie auch die Geister der Ahnen beunruhigt, jedenfalls ein ausgezeichnetes Geschäft ist. Von dieser Wahrheit überzeugt, hatten viele chinesische Kaufleuteund Bankiers in Peking den Entschluß gefaßt, eine für den Handel so unentbehrliche Eisenbahn zu bauen, und zwar ohne einen Fremden sich in irgendwelcher Weise einmischen zu lassen: chinesisches Kapital, chinesische Arbeit, chinesische Verwaltung. So bildete sich die chinesische Gesellschaft für die Eisenbahn Peking-Kalgan, die den Verkehr bis Nankou bereits aufgenommen hat. Auch die Ingenieure waren natürlich Söhne des Himmels, die in Amerika studiert hatten.
Alles ging gut, solange die Arbeiten sich in der Ebene abspielten; als sie aber in das Gebirge gelangten, stießen die als Ingenieure tätigen Söhne des Himmels auf ernste Schwierigkeiten. Die Tunnels stürzten ein; nach jedem Einsturz wurden sie nach allen Regeln der Kunst von neuem gebaut und stürzten dann wiederum ein; die Ausdauer der guten Chinesen kämpfte vergeblich gegen die Halsstarrigkeit ihrer Berge. Es fehlte nicht an Leuten, die darin alle Anzeichen eines Protestes des Drachen erblickten, dessen ungeheuerer Körper durch das Bohren verwundet worden war; der Beweis ergab sich aus dem Umstande, daß der Berg Menschen verschüttete. Die Rache war augenscheinlich. Aber der Drache verliert heute außerhalb der amtlichen Kreise an Kredit. So kamen die Kaufleute auf den Gedanken, ob es vielleicht den Teufelskünsten eines abendländischen Ingenieurs gelingen könne, den Sieg über die Hartnäckigkeit des Gebirges von Nankou davonzutragen; die Kunde vom Simplondurchstich war zu dieser Zeit auch nach China gedrungen. Und die Gesellschaft entschloß sich zu dem Frevel und engagierte für die Linie Peking–Nankou einen tüchtigen Ingenieur, dem sie die Leitung der Arbeiten übertrug. Daher erschien nun der „alte Herr, der das Gebirge durchbohrt“, in seiner Sänfte in den Schluchten der Großen Mauer.
Der Aufstieg war beschwerlich, und wir gewährten den Leuten öfters eine wohlverdiente Ruhepause. Auf das Signal, aus Reih und Glied zu treten, ließen sie die Seile los und zerstreuten sich fröhlich in der Nähe, um auf den ersten Pfiff des Alten sofort wieder zu erscheinen. Der Esel, das Maultier und das Pferd weideten miteinanderin völliger Eintracht das Gras ab, wobei sie die langen, mit Straßenschmutz bedeckten Zugleinen hinter sich herschleiften. Das Automobil blieb verlassen auf dem Wege stehen, nachdem Steine unter seine Räder gelegt worden waren. Über und über naß, stand es trübsinnig, gedemütigt, mit schlaff niederhängender Flagge da.
Die Mauern von Ki-mi-ni am Fuße des Lien-ya-miao-Gebirges.Die Mauern von Ki-mi-ni am Fuße des Lien-ya-miao-Gebirges.
Die Mauern von Ki-mi-ni am Fuße des Lien-ya-miao-Gebirges.
Die Mauern von Ki-mi-ni am Fuße des Lien-ya-miao-Gebirges.
Die Matrosen waren guter Dinge, wie ein Matrose immer ist, selbst wenn es regnet, sobald er einen Abstecher an Land macht. Es waren fünf durch Kraft und Geschicklichkeit ausgezeichnete Leute. Der eine war Mechaniker und Photograph; er unterstützte Ettore während des Marsches bei der Überwachung des Ganges der Maschine, und an den Haltestellen erschien er vor uns, bewaffnet mit einem Stativ, einem schwarzen Tuch und einem riesigen photographischen Apparat, den er wer weiß woher hervorgeholt hatte. Von diesem Augenblicke an befanden wir uns unter der unablässigen Beobachtung seines Objektivs, das wie ein Zyklopenauge uns streng überallhin verfolgte. Ein anderer war Krankenpfleger und Koch, der den Kranken wertvolle Dienste, wertvollere aber den Gesunden leistete und stets bereit war, uns nachallen Regeln der Kunst eine Roulade zu wickeln oder einen dampfenden, ebenfalls kunstgerecht gebackenen Eierkuchen zu servieren. Der dritte war Elektrotechniker, der vierte Zimmermann; der letzte sprach chinesisch mit echt sizilianischer Aussprache; er war in Kalgan mit der internationalen Kolonne gewesen, die 1900 dort einmarschierte, und kannte die Straße so genau wie ein Lotse. Alle besaßen die beneidenswerte Gabe guter Laune; alles erschien ihnen eigens dazu geschaffen, sie zu beglücken. Der unablässige Regen, der sogar durch unsere wasserdichten Mäntel drang, erzeugte in uns ein eisiges Gefühl der Niedergeschlagenheit, die Matrosen freuten sich selbst über den Regen. Das Wasser war ihr Element. In ihren durchweichten, an der Brust offenen Leinwanduniformen wateten sie in den Pfützen umher und machten sich über das Wetter lustig. Liebe Gefährten und eine stolze Eskorte für unsere kleine Flagge; bereit zu lachen und bereit, sich, wenn es die Not erheischte, für uns zu schlagen.
Die russische Post auf dem Wege nach Peking.Die russische Post auf dem Wege nach Peking.
Die russische Post auf dem Wege nach Peking.
Die russische Post auf dem Wege nach Peking.
Ein rauher Ton der Hupe, ein Pfiff, ein Zusammenströmen der Leute, ein Massengesang, ein Peitschenknallen, und der Zug setzte sich von neuem in Bewegung. Es ging hinauf durch das endlos scheinende Tal von Kü-yung-kuan, das immer unwegsamer wurde.
Plötzlich verengt sich das Tal, es scheint sich zu schließen. Man hat den Eindruck, als gebe es keinen Ausweg, als wären die Berge zusammengerückt, um den Durchgang zu versperren. Auf den ersten Blick bemerkt man die enge Schlucht nicht, die sich zur Rechten öffnet, eine Art Spalt zwischen den senkrecht aufstrebenden Klippen, etwa 40 Meter breit, ein Korridor zwischen Felswänden. Durch einen düsteren Landstrich waren wir gezogen, hier betraten wir einen grauenerregenden.
Seit undenkbaren Zeiten müssen die Menschen Furcht vor dieser Gegend gehabt haben, denn sie gilt ihnen als heilig. Vielleicht weil die Reisenden nur mit einem Gebet auf den Lippen sie durchzogen; die Örtlichkeit fordert geradezu zum Anrufen der Götter heraus. Für einfache Gemüter ist das Gebirge an und für sich ein Mysterium,ein Sichaufschwingen der Erde zum Himmel; die hohen Gipfel stehen in Berührung mit der Gottheit. Inmitten der Berge öffnet sich hier plötzlich ein Tor. Alle Stämme, die es durchzogen, müssen darin das Zeichen eines allmächtigen Willens, ein göttliches Werk erblickt haben, das aus unerforschlichen und deshalb schreckenerregenden Gründen geschaffen worden ist. Jene ungefügen Basaltsäulen hatten für die Phantasie die Bedeutung einer Grenzscheide. Jenseits befand sich etwas, vor dem man sich anbetend zu Boden werfen mußte. Geheimnisvolles Dunkel herrschte. Die Reisenden betraten es mit frommer Scheu wie ein Heiligtum. Und das Tal wurde zu einem von der Majestät der Einsamkeit in all ihrer erhabenen Öde umgebenen Tempel.
Manöver zum Freimachen eines in eine tiefe Spalte geratenen Vorderrades.Manöver zum Freimachen eines in eine tiefe Spalte geratenen Vorderrades.
Manöver zum Freimachen eines in eine tiefe Spalte geratenen Vorderrades.
Manöver zum Freimachen eines in eine tiefe Spalte geratenen Vorderrades.
Es war und ist heute noch ein Zufluchtsort für Einsiedler. Jede Felsenhöhlung ist ein Heiligtum, und man sieht heilige Sprüche in altertümlichen chinesischen Schriftzeichen und andere noch ältere in tibetischer, mongolischer und mandschurischer Sprache in die Felsen gehauen, Spuren der Frömmigkeit längst dahingegangener Geschlechter.Oben, auf einem der Felsen, erhebt sich ein seltsamer Bau: ein kleiner Tempel, der in einem Adlerneste errichtet ist; man steigt lange, in den Fels gehauene Reihen von Stufen hinauf, die hier und da mit Gebüsch bewachsen sind. Weiter drinnen in der Schlucht befindet sich ein zweiter Tempel, ein anderer Zufluchtsort des Glaubens, der Jahrhunderte alt ist und nun langsam verfällt. Auf dem Gebirge zeigen sich an unzugänglichen Punkten noch Reste ähnlicher, jetzt verschwundener Bauten, die zusammengesunken sind unter dem Anprall der Schneestürme, die, von Norden einherbrausend, sich in das Tal stürzen und wütend einen Ausweg suchen. In Felsblöcke, die von den Berggipfeln gestürzt sind, hat der fromme Meißel ungeschulter Künstler das Bild Buddhas eingegraben, er hat in den Umrissen des Felsens die Umrisse der Statue gesucht, hat den Steinen die strengen, ernsten Gesichtszüge der milden Gottheit gegeben. Manch riesenhaftes Buddhabildnis ist in wunderbarer Weise in die Felswände des Gebirges eingehauen. Man erblickt einige Reste alter Tempel, Trümmer von Säulen und Pfeilern. Es zeigt sich keine einzige Spur menschlicherTätigkeit, die nicht eine Bekundung des Glaubens wäre. Beim Durchschreiten dieser Gegend sprach jede Seele: „Ich glaube.“
Unsere Kulis bei der Arbeit in den Felsen des Lien-ya-miao.Unsere Kulis bei der Arbeit in den Felsen des Lien-ya-miao.
Unsere Kulis bei der Arbeit in den Felsen des Lien-ya-miao.
Unsere Kulis bei der Arbeit in den Felsen des Lien-ya-miao.
Dieser Weg hat auch eine religionsgeschichtliche Bedeutung: auf ihm ist der Lamaismus, der tibetische Buddhismus, nach China eingedrungen. Aus dem Herzen Asiens, dieser Quelle von Religionen, sind Wogen der Frömmigkeit durch diese Täler herübergeflutet, um die Seelen der Chinesen zu neuen Kulten zu bekehren. Es ist nichts Seltenes, hier fremde Pilgerzüge anzutreffen. Als Fürst Borghese die Straße nach Kalgan erkundete, hatte er einige Tage zuvor hier einen Büßer mit geschorenem Kopfe und in langem grauem Gewande getroffen, der betend und alle drei Schritte niederkniend, um den Boden zu küssen, den Weg zurücklegte. Borghese erkundigte sich nach ihm. Der Pilger war auf dem Wege nach der heiligen Stadt Urga und hatte auf diese Weise die Mongolei und die Wüste Gobi durchquert. Die Bevölkerung ist gastfreundlich und mildtätig gegen diese wandernden Pilger, die am Abend ihre Mühsal unterbrechen, einen großen Stein auf die Stelle legen, bis zu der sie gekommen sind, um sie am Morgen wiederzufinden, und bis zum nächsten Dorfe gehen, um sich von ihrem frommen Beginnen auszuruhen.
Es kommt uns der Gedanke, daß auch wir, alles in allem genommen, auf einer seltsamen Pilgerfahrt begriffen sind. Auch wir haben ein eigenartiges Gelübde getan und erfüllen es mit Glaubenseifer. Wenn der Mann, der jene drei Schritte tat, seinerseits den Fürsten nach dem Beweggrunde seiner Reise gefragt hätte, würde er gewiß höchst erstaunt gewesen sein.
Nachdem wir durch das Dorf Pa-ta-ling gekommen waren, sahen wir ein ausgezahntes Profil wie eine Zickzacklinie einige entfernte Kämme vor uns umsäumen und andere Berge zu beiden Seiten krönen; wir sahen es hier auftauchen, dort verschwinden, bis es allmählich die Form zahlloser, zu einer Kette verbundener Türme annahm, gleich Scharen wachehaltender Riesen.
Es war die Große Mauer.
Auf dem Gebirge.
Das Passieren der Großen Mauer. — Die Matrosen verlassen uns. — Auf der Fahrt durch das chinesische Flachland. — Im Schatten des Lien-ya-miao. — Angstvolle Augenblicke. — Die Mongolei kommt in Sicht.
Von fern gesehen macht die Große Mauer, die mit dem Gebirge zusammengewachsen und verschmolzen ist als riesenhaftes Pendant zu dessen Gipfeln und Felsenwänden, nicht den Eindruck eines Werkes von Menschenhand: sie ist allzu gewaltig dazu, und das, was man von ihr sieht, beträgt nicht den tausendsten Teil. Man könnte eher von einer phantastischen bizarren Laune der Erde sprechen, entsprungen aus dem Wirken unermeßlicher, unbekannter Naturkräfte, von dem Erzeugnisse einer schöpferischen Erdumwälzung.
Je näher wir kamen, desto mehr verschwand die Große Mauer in einem Gewimmel von Berggipfeln, und wir erblickten sie erst wieder bei den letzten Windungen des Weges, als wir im Begriff standen, die massiven, doppelten Tore zu durchfahren, die von noch heute festen Bastionen verteidigt werden. Die Straße auf die Höhe hinauf ist nichts als eine Furche im festen Gestein, sie wird stets steiler und ungangbarer. Wir fuhren seit 8 Uhr unter unaufhörlichem Regen; nur langsam und mühselig kamen wir vorwärts, jeden Augenblick zum Halten gezwungen, um Steine aus dem Wege zu wälzen, Fahrbahnenfür die Räder herzustellen, das bedrohte Geschwindigkeitsgetriebe vor den Unebenheiten des Bodens zu schützen. Alles ringsum eine wilde, öde Wüste.
Wir marschierten am Rande eines tiefen Abgrundes. Von hier aus erblickten wir zu unserer Freude an einer Stelle zwei Telegraphendrähte. Um ihre Isolatoren geschlungen, kamen sie von unten herauf, kreuzten den Weg und überschritten die Mauer. Sie erschienen uns als Freunde; sie sollten es sein, die unseren Landsleuten Kunde von uns brachten. Arme alte Mauer, du Werk und Sorge von Dynastien und Millionen von Menschen; nicht nur das Geschütz macht dich heutzutage nutzlos: ein einfacher Draht genügt. Die fernsten Völker verkehren ruhig über deine Schultern hinweg.
In der Nähe ist die Mauer weniger großartig. Sie gleicht den Verteidigungswerken einer Stadt, und für den, der sich der Mauern von Peking erinnert, verliert sie an Imposantheit. Als wir aber nach dem Durchfahren der Tore den Abhang auf der andern Seite in der Richtung des Dorfes Tscha-tau-tschung hinabstiegen und zurückblickten, stießen wir einen Ausruf des Erstaunens aus. Wir übersahen die weiße Linie der Mauer, bis sie sich im Duft der Ferne verlor; sie stieg auf und ab, folgte im Zickzack den Launen des Geländes, zog sich in Schlangenwindungen dahin, stürzte sich in Täler, erhob sich wieder mit einem Sprunge, zeigte sich bald von der Seite, bald von vorn. Sie ordnete ihre Türme auf hunderterlei verschiedene Arten, entfaltete stellenweise ihre Zinnen und ließ sie deutlich erkennen, um sie im nächsten Augenblick in plötzlicher Verkürzung zusammenzuziehen. Sie schien zu verweilen und eiligst davonzufliehen, und zwar bis zu beiden Grenzen des Horizontes, bis zu den entferntesten Bergen, wo sie sich dem Auge nur noch als kaum wahrnehmbarer Faden darbot. Und so geht es weiter, 800 Kilometer weit, rings um die ganze Provinz Tschili, eine wunderbare Grenze. Und dies ist nur die „kleine“ Große Mauer. Es gibt noch eine andere, die große, die „Wan-li-tschang-tscheng“, die „Mauer der zehntausend Li“, die wir im Norden vonKalgan antreffen werden; diese erstreckt sich 2400 Kilometer weit längs der Grenzen des eigentlichen China. Aber es gibt nicht nur diese zwei Mauern. Als wir das auf einer kleinen Hochebene liegende Tscha-tau-tschung hinter uns hatten, bemerkten wir neue Türme, neue Bastionen, wie wir solche im Tale von Nankou gesehen hatten. Das chinesische Volk hat mehr als 2000 Jahre darauf verwandt, Mauern gegen den Westen aufzutürmen. Es ist aber nicht länger als drei Jahrhunderte her, daß es den eigenen Thron gerade von jenen Tataren eingenommen sah, die es mit Hilfe von Backsteinen und Kalk fernhalten wollte.
Unserem modernen Geiste erscheint die Große Mauer als ein staunenerregendes Denkmal chinesischer Furcht, unermeßlich und unlogisch, großartig und lächerlich; der Fremde bewundert und verlacht sie. Aber wir vergessen, daß auch die Römer die Grenzen Britanniens durch eine doppelte Große Mauer verteidigten, um dieses Reichsland vor den noch ungebändigten Kaledoniern zu schützen. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Lebensbedingungen das Vorhandensein unübersteiglicher Mauern zwischen Land und Land, zwischen Rasse und Rasse, zwischen Kultur und Barbarei als logisch, natürlich, als notwendig erscheinen ließen. Genau wie wir heute eine nichtendenwollende Arbeit logisch und natürlich finden, die unseren Enkeln vielleicht eines Tages großartiger, lächerlicher und chinesischer vorkommen wird als uns die Große Mauer, nämlich um die Welt Hunderttausende von Kilometern Stahl in Gestalt von Schienen zu legen, die Wälder der Erde niederzuschlagen, um den Schienen Unterlagen zu schaffen, und die Gebirge zu durchbohren, um Geleise mitten hindurchzuführen!
Das Dorf Tscha-tau-tschung betraten wir nicht; es ist von einer quadratischen Mauer mit starken Türmen in den Ecken umgeben. Alle chinesischen Dörfer und Städte sind in ein regelmäßiges Quadrat eingeschlossen, das vielleicht die Form eines früher bestehenden verschanzten Lagers beibehält. Wir zogen im freien Felde rings umden Ort herum auf einer Straße, die zum Teil überschwemmt, aber sicherlich besser war als die durch das Dorf führende, und fanden Unterkunft in einem kleinen chinesischen Gasthause vor dem nördlichen Tore, in einer erbärmlichen Karawanserei. Seit dem Morgen hatten wir 25 Kilometer zurückgelegt.
In den Felsen des Lien-ha-miao am Ufer des Hun-ho.In den Felsen des Lien-ha-miao am Ufer des Hun-ho.
In den Felsen des Lien-ha-miao am Ufer des Hun-ho.
In den Felsen des Lien-ha-miao am Ufer des Hun-ho.
Auf dem elenden Hofe, der von baufälligen Schuppen umgeben war, wollten wir sofort den Motor prüfen. Wir fürchteten, daß die Stöße, die Erschütterungen und das unvermittelte Aufundnieder während des Aufstieges die Maschine beschädigt haben könnten. Aber sie setzte sich ganz ruhig in Bewegung, und in Bewegung setzten sich auch die Neugierigen, die sich versammelt hatten und nun die Flucht ergriffen. Nach kurzer Zeit erschienen drei chinesische Soldaten, die der Mandarin des Ortes gesandt hatte, um — das war nicht recht klar — die Chinesen oder — uns zu überwachen. Wir konnten sie nach Belieben für eine Ehren- oder Aufsichtswache nehmen.
Don Livio verließ uns hier kurz nach unserer Ankunft, um noch rechtzeitig zu dem Abendzuge nach Nankou zurückzukehren. Wir nahmen herzlichen Abschied von ihm und begleiteten ihn mit unserenLebewohlrufen, bis er zwischen den Mauern des Dorfes verschwunden war.
Der feuchte Wind drang durch die zerrissenen Papierfenster und erfüllte unsere niedrigen Kämmerchen.
„Pietro, Feuer! Pietro, heißen Tee! Pietro, etwas zu essen!“
Und Pietro kam und ging diensteifrig und lächelnd, brachte das Kohlenbecken, die Teekanne, Eier und beantwortete alle Fragen in einem Italienisch, das seine ureigene Erfindung war. Pietro ist ein unschätzbarer Diener; er ist der Sohn eines alten Ma-fu der Gesandtschaft. Aus einer Dynastie von Ma-fus stammend, die über die Marställe der italienischen Gesandten herrschte, genoß er oft die Ehre, Aufträge zu erhalten, die Intelligenz und Treue erforderten. So begleitete er uns bis Kalgan als Majordomus und Dolmetscher, als eine Art Adjutant.
„Pietro,“ fragte ihn der Fürst, „bist du Christ?“
„Nein, Buddhist ich!“ erwiderte er.
„Warum nennst du dich dann Pietro?“
„Ich nicht nennen Pietlo mich,“ antwortete er, das r mit l verwechselnd wie jeder gute Chinese, „ich mich nennen Wu-tin.“
„Aber wenn ich dich Pietro rufe, so antwortest du doch.“
„Ja, alle mich lufen Pietlo, ich ihnen antwolte.“
Ein letzter Befehl noch: „Pietro, morgen früh um 3 Uhr wecken, und daß die Kulis zu dieser Stunde bereitstehen!“ Und in die überreichlich mit Insektenpulver bestreuten Decken gewickelt, überließen wir uns dem Schlafe. Durch die dünnen Wände hindurch hörten wir im Zimmer nebenan die Matrosen sich von ihrer Heimat und ihren weiten Seereisen unterhalten.
Am 12. Juni 4½ Uhr morgens verließen wir Tscha-tau-tschung bei bedecktem Himmel und kalter Luft, die die Nacht länger erscheinen ließ. Wir schauderten in unseren noch nassen wasserdichten Anzügen.
Die Matrosen mußten jetzt umkehren; sie hatten Befehl, uns am zweiten Marschtage zu verlassen, wenn ihre Anwesenheit nicht unbedingt nötig wäre. Sie begleiteten uns noch einige hundert Meter bis zu dem Fuße eines alten Befestigungsturmes und nahmen dann Abschied. Die Ebene von Tscha-tau-tschung hallte von Evvivarufen wider. Noch lange Zeit konnten wir die weißen Marineuniformen in dem Grau der Dämmerung unterscheiden und hörten erneute Evvivarufe, die immer ferner und immer schwächer ertönten, bis sich die Leute und die Stimmen ganz in der Ferne verloren.
Die Kulis hatten aus dem Schlafe neue Heiterkeit geschöpft; lachend und singend marschierten sie weiter auf der Straße, die ab und zu sumpfige Stellen zeigte. Ein Automobil zu ziehen, machte ihnen Spaß. Glückliche Armut!
Bei Tagesanbruch zeigte der Himmel da und dort blaue Stellen. Ein Nordwind zerstreute die Wolken und trieb sie in völliger Auflösung dem Meere zu, und mit einem Schlage beleuchtete ein Sonnenstrahl hohe Berge vor uns. Noch wenige Minuten, und die gesamte Kette des Jen-jen-schan, die wir überschreiten mußten, zeigte sich in einem strahlenden Lichtschimmer, durchfurcht von Abgründen und Berghängen, gekrönt von blauen Gipfeln. Es war uns, als hätte sich in einer Minute eine unermeßliche, gewaltige Schranke uns genähert. Hinter ihr erhoben sich andere Gipfel, andere noch höhere Berge, die sich in der Ferne abstuften, bis sie sich in dem heiteren Himmel verloren: der Wu-tsi-hai, die Ausläufer jenes gewaltigen Alpensystems, das der Chingan-schan bildet.
Der Himmel klarte völlig auf. Als wir uns umwandten, sahen wir die Schatten der letzten Wolken einen nach dem andern sich von den Höhen der Großen Mauer losreißen, und in weitem Halbkreise reihten sich hinter uns die Berge aneinander, die wir den Tag vorher überschritten hatten, ausgezackt und kahl, durchschnitten von der unermüdet sich auf- und niederziehenden Schlangenlinie der Mauer, ein so wundervoller Anblick, daß wir uns nicht satt daran sehen konnten.Bis zu den fernen, verschleierten, kaum sichtbaren Bergen der Provinz Schansi im Süden bemerkten wir die regelmäßige Kette der Türme und zeigten sie einander mit immer neuem Staunen, wie eine unglaubliche Erscheinung.
Vor den Mauern von Ta-tu-mu.Vor den Mauern von Ta-tu-mu.
Vor den Mauern von Ta-tu-mu.
Vor den Mauern von Ta-tu-mu.
Das Gelände stieg leicht an. Die Ebene war öde. Nach stundenlangem, einsamem Marsche überholten wir eine Karawane von Kamelen, die von Mongolen in langhaarigen Ziegenpelzen und mit achteckigen, dem Dach einer Pagode gleichenden Hüten auf dem Kopfe geleitet wurden, eine Karawane, die in diesem Jahre die letzte Reise machte. Die mongolischen Kamele arbeiten im Sommer nicht; sie erfreuen sich der Wohltat der Ferien und der Landluft; in den heißen Monaten werden sie auf die Weideplätze der heimatlichen Wiesen getrieben, wo sie sich für sämtliche übrigen Monate des Jahres, in denen sie arbeiten und fasten, ausruhen und sattfressen. Die Ruhe ist ihnen notwendig, auch um die Hufe wieder wachsen zu lassen, die sich auf den Bergen oft bis aufs Fleisch abwetzen, so daß die armen Tiere daran zugrunde gehen. Ein Wüstentier läßt sich nicht ungestraft in ein Alpentier verwandeln. Dagegen wurden wir einmal zu unserer Beschämung von Maultiersänften einer rasch dahinziehenden Reisegesellschaft überholt. Es waren Sänften, die Kaufleute nach Kalgan oder kaiserliche Beamte nach ihren entfernten Amtssitzenbrachten; sie befanden sich zwischen einer Vorhut von berittenen Dienern oder Soldaten und einer Nachhut von Maultiertreibern, die die Ersatztiere führten. Die Beamten hatten an die Außenwand ihrer Sänften als Zeichen ihrer Würde das rote Futteral gehängt, in dem sich der kegelförmige Amtshut befindet. Als sie an uns vorbeikamen, teilte sich der Vorhang des seltsamen Gefährtes, und ein würdiges, infolge der Bewegung der Maultiere hin und her schaukelndes Chinesenhaupt wurde sichtbar, das uns mit fragender Miene betrachtete.
Wir waren in eine sandige Gegend gekommen. Wir trafen elende Dörfer, umgeben von hohen, zerfallenden Wällen, Dörfer, die einst reiche Städtchen waren: Pao-schan, eine Anzahl von Lehmhütten rings um einen winzigen Tempel, den wir durch die breiten, vom Wetter gefressenen Lücken in dem viel zu weiten Mauerquadrat sehen konnten, dann Schi-yu-le im Schatten von Weidenbäumen, Hu-li-pa, umgeben von Bastionen aus Lehm, Scha-tschou, das an die Dörfer der Mandschurei erinnert, und Pien-kia-pu, das an nichts erinnert. Die hochstehende Sonne verbrannte uns den Rücken und lähmte unser Denken. In träger Eintönigkeit, gleichförmig, ermattend schlichen die Stunden hin. Bei den physischen Beschwerden des Marsches (die Reitesel waren nach Nankou zurückgekehrt) dachten wir mit geheimer Sehnsucht daran, wie schön es wäre, wenn wir uns einem bewohnten Orte näherten. Wir setzten ein unbestimmtes Vertrauen auf das Dorf, das kommen mußte, suchten es mit den Blicken und beeilten uns, es zu erreichen, als müßten dort die Beschwerde, die Hitze, die Niedergeschlagenheit und jene blendende Lichtfülle ringsum, in der wir uns gleichsam zu verlieren und aufzulösen schienen, ein Ende nehmen; wir zogen aus einem Bezirk in den andern, immer Umschau nach einer ungeahnten Überraschung haltend.
Die Heiterkeit der Kulis war verschwunden. Man hörte nur noch das Geräusch der Schritte, das Stöhnen der Atemzüge, das laute Knirschen des Sandes unter den Pneumatiks des Automobils, das Getrappel der drei Zugtiere. Von Zeit zu Zeit ein Zuruf Ettores,ein unvermutetes Ertönen der Hupe: halt — wir sind an einer schwierigen Stelle.
Die gute Straße am Hun-Fluß.Die gute Straße am Hun-Fluß.
Die gute Straße am Hun-Fluß.
Die gute Straße am Hun-Fluß.
Wir sehnten uns beinahe nach diesen schwierigen Stellen, nur um uns aufzurütteln. Es waren dies Augenblicke lärmender Geschäftigkeit. „Hier, den Spaten! die Spitzhacke! Vor dem rechten Rade muß gegraben werden! Vorwärts! Dieser Stein muß aus dem Wege! Die Hebel her! Achtung! Eins, zwei, drei ...!“ — Und in der unermeßlichen Glut, die über der öden Landschaft lagert, entwickelt unsere kleine Schar eine fieberhafte Tätigkeit. Dann ergriffen die Kulis von neuem die Seile, und vorwärts ging es: lai lai-la.
Der Hun-Fluß beim Aufstieg auf den Lien-ya-miao.Der Hun-Fluß beim Aufstieg auf den Lien-ya-miao.
Der Hun-Fluß beim Aufstieg auf den Lien-ya-miao.
Der Hun-Fluß beim Aufstieg auf den Lien-ya-miao.
„Deutscher Feldtelegraph“, so lasen wir über der Tür einer einsamen Hütte. Es war ein Überbleibsel jener vielberufenen internationalen militärischen Expedition, das von der Bevölkerung geschont wird, vielleicht weil man die Worte für eine heilige Inschrift des Abendlandes hält. Es ist alles, was von jenem so viel Aufregung verursachenden Einmarsch der Mächte übriggeblieben ist. Wir sind unter die Mauern einer Stadt, Huai-lai, gelangt, der nach Süden ein hoher alleinstehenderHügel mit einem Tempel auf dem Gipfel vorgelagert ist. Dieser Tempel war einige Wochen lang eine europäische Kaserne. Wir machten halt, um den Leuten eine Stunde Ruhe zu gönnen; sie gingen, um die Zeit auszunützen, in die Stadt hinein und überbrachten der Bevölkerung die Kunde von unserer Ankunft.
Sofort will ganz Huai-lai uns sehen. Man hört das Lärmen einer Menschenmenge, die sich dem Tore nähert. Zuerst kommen die Kinder, die Vorhut der Schar. Nach wenigen Minuten sind wir von Hunderten von Menschen umringt, die sich mit achtungsvollem Lächeln um das Automobil drängen. Sie betrachten es, berühren es scheu, werden kühn, fragen uns, begrüßen uns, staunen uns an. Viele halten auf der flachen Hand Käfige mit Singvögeln; an schönen Tagen trägt jeder gute Chinese von einer gewissen sozialen Stellung zur Unterhaltung einen Vogelkäfig; es ist dies seine Hauptbeschäftigung, ein hübscher, traditioneller Zeitvertreib.
Zwischen Felsen und Morästen an den Ufern des Hun-ho.Zwischen Felsen und Morästen an den Ufern des Hun-ho.
Zwischen Felsen und Morästen an den Ufern des Hun-ho.
Zwischen Felsen und Morästen an den Ufern des Hun-ho.
Inzwischen frühstücken wir ein wenig Käse und Cornedbeef. Die Einwohnerschaft von Huai-lai sieht uns dabei zu, es macht ihr offenbar Vergnügen. Rings um uns streitet man sich über die Art und Beschaffenheit unserer Speisen. Ein alter Mann gibt uns durch Zeichen zu verstehen, daß er kosten wolle; den Käse spuckt er aus, während er das Fleisch hinunterschluckt; dann tut er der Bürgerschaft sein Urteil kund und zu wissen. Die Bürgerschaft tritt innähere Erörterungen darüber ein. Der alte Mann will seine Kontrolle auch auf unser Getränk ausdehnen, und wir reichen ihm die Weinflasche, die er zögernd an die Lippen führt, nachdem er den Becher unwillig zurückgewiesen hat. Er trinkt, kostet, beginnt wieder zu trinken, und widmet sich dieser Tätigkeit mit solchem Eifer, daß die ganze Flasche sich gurgelnd in seine ehrwürdige Kehle entleert. Darauf ist er europäisiert; er lächelt uns mit kleinen, lustig zwinkernden Augen zu und spricht lebhaft auf uns ein; er steigt auf das Automobil, setzt sich hier unter den Beifallsbezeigungen seiner Mitbürger nieder und versucht der Hupe einen Ton zu entlocken; dies gelingt ihm, und er ist glücklich. Es kostet uns nicht wenig Schwierigkeit, ihn wieder herunterzubefördern, als die Kulis zurückkommen und wir unseren Marsch fortsetzen.
Im Schatten des Lien-ya-miao.Im Schatten des Lien-ya-miao.
Im Schatten des Lien-ya-miao.
Im Schatten des Lien-ya-miao.
Wir kommen an armen, aus Lehm gebauten Dörfern, kleinen, Einsturz drohenden Tempeln, baufälligen Häusern, elenden Hütten vorüber, die von einer wandernden Stadt längs des Weges verloren zu sein schienen. Ein roter, von einem Stock herabwehender Lappen kennzeichnet sie als Absteigequartiere für müde Reisende, als Herbergenfür Maultiertreiber im kleinen. Unsere Leute machen dort halt, um in Eile eine Schale Tee zu schlürfen oder sich für eine Sapeke (3/10 Pfennig) den Fliegen streitig gemachte Süßigkeiten zu kaufen. Alle diese Landstriche hätte man für unbewohnt halten können; nirgends zeigte sich ein Mensch, nirgends ließ sich ein Ton hören; es schien, als wolle man sich vor uns verbergen oder uns zu verstehen geben: „Bleibt uns drei Schritte vom Leibe!“ Ta-tu-mu, eine Stadt mit hohen, oben abbröckelnden Mauern, machte den Eindruck einer seit Jahrhunderten verlassenen Ruine.
Die Straße verengte sich; wir gerieten häufig in tiefe Rinnen, die vom Wasser im Sande oder zwischen den Kieseln ausgehöhlt worden waren. Wir marschierten im Bett eines Bergstroms.
Rings um uns her erhoben sich riesenhoch die rauhen Berge, die wir am Morgen gesehen hatten, ohne eine Spur von Vegetation, von brennend gelber Farbe. Wir erstiegen die zweite Bergstufe, die Peking von der mongolischen Hochebene trennt, zu der man über drei Absätze gelangt. Man steigt zu der Mitte Asiens empor wie zu einem Tempel: drei Stufen, drei Absätze. Unten, zu unserer Linken, öffnen sich die unermeßlichen Talgründe von Schansi, eingetaucht in ein strahlendes Blau.
An manchen Stellen war kaum Platz für das Automobil, und wir trafen die sorgfältigsten Vorsichtsmaßregeln. Wir mußten ab und zu einen Schlag mit der Spitzhacke tun, Maße abschätzen und kühn die Weiterfahrt versuchen, wobei wir die Radränder scharf im Auge hatten und der Führer sich bereithielt, die Maschine unter dem mächtigen Druck der Bremsen unbeweglich festzuhalten. Bei einem Dorfe, Tu-mu-go, 45 Kilometer von Tscha-tau-tschung, fanden wir uns beinahe unvermutet außerhalb des Berglandes; eine grüne Ebene lud uns zu einer Fahrt ein, und wir nahmen die Einladung an.
„Halt!“
Wie durch Zauberschlag ist die Ermüdung von uns gewichen. In einer Minute sind die Kulis beiseite geschoben und dem KommandoPietros anvertraut, die drei Tiere abgeschirrt. Mit fieberhafter Eile schlingen wir die Seile um die Laternenhalter und entfalten die Flagge. Ein Andrehen der Kurbel, und der Motor arbeitet. Wir steigen auf die Maschine und vorwärts!
Vorwärts, den gewundenen, unebenen Weg entlang, unbekümmert um die Sprünge, die Stöße, die Rucke, einzig und allein darauf bedacht, das Automobil laufen zu lassen. Es hat nur zweite Geschwindigkeit, scheint uns aber zu fliegen. Es zeigen sich große Regenlachen. Vorwärts! Wir stürmen hinein und durchfurchen sie unter einem wahren Schauer von Wasser und Schmutz; die zurückschlagende Welle dringt in den offenen Raum des Automobils ein und durchnäßt uns. Wir lachen. Wir sprechen laut, ergriffen von einer seltsamen Aufregung; es ist ein Rückschlag gegen das lange Schweigen und gegen die entmutigende Langsamkeit der bisherigen Reise. Auch lebt in uns eine neue Freude auf, die aus der tiefen, unsagbaren Genugtuung stammt, etwas zu unternehmen, was noch nie unternommen worden ist. Es ist die Wollust einer Eroberung, der Rausch eines Triumphes und zu gleicher Zeit eine Überraschung, eine Art Verzückung infolge der phantastischen Seltsamkeit der Fahrt in diesem Lande. Wir erblicken Pagodendächer zwischen den Bäumen. Es ist uns, als unterbrächen wir eine tausendjährige Ruhe, als seien wir die ersten, die durch unser Dahineilen einen Weckruf in seinen tiefen Schlaf hinein erschallen ließen. Wir fühlen den Stolz auf Zivilisation und Rasse; wir fühlen, daß wir etwas vertreten, das höher steht als wir selbst: es ist Europa, das mit uns dahinzieht. In dieser Geschwindigkeit faßt sich die gesamte Bedeutung unserer Zivilisation zusammen. Das brennende Sehnen der abendländischen Seele, ihre Stärke, das wahre Geheimnis jedes ihrer Fortschritte ist ineinemWorte ausgedrückt: „Rascher!“ Unser Leben wird angestachelt von diesem heißen Verlangen, von dieser schmerzhaften Ungenügsamkeit, von diesem erhabenen Besessensein: „Rascher!“ In die chinesische Starrheit tragen wir in der Tat unser fieberhaft erregtes Wesen hinein.Wir fahren durch Flecken und Dörfer. Halbnackte Kinder fliehen bei unserem Nahen. Die Männer und Frauen blicken uns mit stiller Überraschung, mit ruhiger, wohlwollender Neugier nach. Wir sehen seltsame Trachten, malerischer als die von Peking, vielleicht älter. Es sind grüne, rote, gelbe, blaue Kleider, alle von grellen Farben. Die Bewohner des flachen Landes lieben in der ganzen Welt lebhafte Farben, vielleicht weil sie täglich Blumen vor Augen haben. Auf den Schwellen der Häuser, wo sich die Menge zusammendrängt, herrscht ein buntes, in der Sonne funkelndes Gewimmel, darüber ragen die charakteristischen Dächer mit der leichten kahnartigen Biegung. Wir können uns keinen lebhafteren Eindruck vom fernen Osten wünschen.
Am Hun-ho.Am Hun-ho.
Am Hun-ho.
Am Hun-ho.
Auf den von üppigem Grün strotzenden Feldern richten sich bei dem Geräusch unserer Maschine die Landleute von ihrer Arbeit auf und betrachten uns, die Augen mit der Hand beschattend. Einer ruft: „Huo-tscho lai!“ — „Die Eisenbahn!“ Der Ausruf wiederholt sich. Einen Augenblick später wenden sich alle wieder ihrer Arbeit zu und beachten uns nicht mehr, überzeugt, daß die Eisenbahn, von der sie so viel haben sprechen hören, angekommen ist. Die Sache hat keine Bedeutung für sie. In einem Graben wäscht eine Frau Kleidungsstücke; wir kommen dicht an ihr vorbei, sie würdigt uns kaum einesBlickes und fährt fort, ihre Kleider zu waschen, gleich als ob täglich Hunderte von Automobilen an ihrem Graben vorüberkämen. Anderswo dagegen rufen sich die Leute gegenseitig zu, strömen herbei, laufen uns durch die Staubwolken nach und zeigen den Ausdruck naiven Staunens auf ihren gelben Gesichtern. Die Seele dieses Volkes ist ein undurchdringliches Geheimnis. Wer weiß, ob nicht der durch die Erscheinung des Automobils hervorgerufene verschiedene Eindruck auf den ursprünglichen Rassenunterschied der Einwohner zurückzuführen ist, wer weiß, ob die Neugier nicht eine tatarische und die Gleichgültigkeit eine chinesische Eigenschaft ist?