»Natürlich hatte ich das Rohr schon unwillkührlichund fast in demselben Augenblicke gehoben, wo ich die ersten Schritten im vorjährigen gelben Laub vernahm, aber hin und her flog die Mündung über die helle, vom Mondeslicht beschienene Gestalt, nicht möglich war es mir, den Lauf auch nur eine Secunde lang ruhig zu halten. – Ich mußte wieder absetzen, denn ich fühlte, ich hätte jedenfalls vorbei geschossen. Der Hirsch aber windete hoch gegen den Luftzug hin, der glücklicher Weise gerade aus der Schlucht heranwehte, streckte dann ganz behaglich erst den rechten, und dann den linken Hinterlauf, neigte ein paar mal den schönen Kopf, als ob er mir ordentlich zeigen wollte, ›sieh einmal, was für ein Geweih, was für Stangen ich habe!‹ und zog dann ganz vertraut, kaum funfzehn Schritte entfernt vor mir vorüber.«
»Jetzt aber hielt ich's auch nicht länger aus; hinter der Buche suchte ich mir an einer Stelle des lichten Firmamentes das Korn, kam mit dem Lauf der Büchse rasch herunter, und drückte in demselben Augenblicke ab, als der Hirsch, der vielleicht einen Schein von dem im Mondenlicht blitzenden Rohr erhalten, scheu und schreckend den Kopf emporwarf. Gott sei Dank,derSchuß versagtenicht, wie er mir hundertmal im Traume versagt hatte, und gleich nach dem Knall der Büchse brach der gewaltigePlatzhirsch wie ein Ungewitter durch die dünnen Stangen, und rasselte die Schlucht hinunter, daß es eine Lust und Wonne war.«
»Aber Ihr kriegtet ihn?«
»Ich denke,« lachte der alte Jäger, und bließ dichte freudige Wolken aus dem kurzen Pfeifenstummel; »keine hundert funfzig Schritt war er mehr gegangen, und ich brauchte auch nicht einmal nach dem Anschuß zu suchen, einen Spektakel machte er, wie er so in den Stangen lag, und verendend mit den Läufen um sich herhieb, daß man's auf eine halbe Stunde weit hätte hören können. Nun wie gesagt, an dem Abend – alle Hagel!« unterbrach er sich plötzlich, und deutete nach vorn, denn die Biegung der Straße hatte sie gerade zu Zeugen einer eben so merkwürdigen, als ihre Gegenwart anscheinend erfordernden Scene gemacht.
In kaum hundert Schritten Entfernung nämlich, und mitten auf dem, hier gerade von dichten Büschen eng umschlossenen Fahrwege, stand eine Gruppe von drei Menschen, bei deren Anblick Hennig das Blut in den Adern stockte. Es waren zwei Damen, und vor ihnen, den Rücken den beiden Männern zugedreht, die Rechte auf einen starken Knittel gestützt, die Linke – aus welchemGrunde, konnten sie von dort nicht erkennen – gegen die Frauen ausgestreckt, ein etwas abenteuerlich aussehender Mann.
Da stieß die eine Dame plötzlich einen gellenden Schrei aus, und der Hülfslehrer, der in der ersten Ueberraschung wie an seine Stelle gebannt gewesen war, flog jetzt mit dem angstvollen, aber doch nur halblauten Ruf »Sophie!« und rasend schnellen Sätzen dem Orte zu, an dem der Fremde eben im Begriff schien, der Pastors Tochter Arm zu ergreifen, während Fräulein Schütte, ihre bisherige Begleiterin, mit wildem Hülfgekreische dem Dorfe zustob.
Auch der Jäger suchte jetzt so schnell als möglich an den Burschen, der, wie er nicht anders glauben konnte, wehrlose Frauenzimmer auf offener Straße anfiel, hinan zu kommen, und riß dabei die Flinte von der Schulter und in Anschlag. Hatte aber der Fremde Hennigs Ausruf, oder die lauten Schritte gehört, er wandte den Kopf, und erkannte kaum die herabstürmenden Männer, als er auch schon, nur noch einen Blick auf das zitternde Mädchen werfend, blitzesschnell zur Seite und in die nächsten Büsche sprang. In dem Moment blitzte es aus des Jägers Rohr, und während der Schuß nochdurch die Waldeswipfel dröhnte, fing auch der junge Mann schon die, durch Angst und Aufregung betäubt niedersinkende Jungfrau in seinen Armen auf.
»Mamsell!« schrie jetzt der Jäger hinter der, in wilder Angst ausstreichenden Dame her, deren Eile der Schuß noch beflügelt zu haben schien – »Mam–sell! –wirsind's ja!« – doch umsonst, ihr eigenes Schreien ließ sie auch schon nicht das des anderen hören, und sie war bald in den Windungen des Pfades den Blicken der Männer entschwunden.
»Ei so lauf Du und der Henker« brummte der alte Waidmann ärgerlich hinter ihr drein, »Donnerwetter, hat das Frauenzimmer eine Courage; na, das solltemeineTochter sein.«
Hennig befand sich aber indessen in Todesangst, denn noch immer gab die bleiche Jungfrau in seinen Armen kein Zeichen des Lebens von sich, und lag starr und regungslos auf seinem Knie; er rieb ihr die Schläfe und das Innere der Hand, und die Stirn und den Arm – Alles umsonst, es war, als ob er eine Todte umschlossen hielt. –
»Förster, um Gotteswillen helft mir hier!« rief er endlich, und schaute sich in aller Herzensangst nach diesemum, »was sucht Ihr denn dort? – laßt das doch sein, und steht mir hier bei.«
»Hm,« brummte der Alte, der indessen, ohne sich um die Ohnmächtige weiter zu bekümmern, die Büsche und das Gras, wo der Flüchtige hineingesprungen war, sehr sorgfältig und aufmerksam betrachtet hatte, – »ich habe nur einmal nach dem Anschuß gesehen, aber keine Spur von Schweiß – doch das schadet Nichts,« fuhr er, sich aufrichtend und zu der Ohnmächtigen tretend fort: »weiter hin werden wir's schon finden, denn einen Keulenschuß hat er, darauf wollte ich wetten – 's war zwar achtzig oder neunzig Schritt und dünner Schnepfenschrot, so weit trägt meine alte Caroline aber doch noch, und das weiß ich – ah – sehen Sie, die Mamsell kommt schon wieder zu sich – hier, reiben Sie ihr einmal den Rum in die Schläfe, das wird ihr gut thun – nichts besser wie Rum bei Ohnmachten, – wenn man besonders noch einen richtigen Schluck davon nehmen kann.«
Das junge Mädchen erholte sich aber wirklich rasch wieder, athmete ein paar Mal recht schwer und tief, und schlug dann die Augen auf. Zuerst sah sie sich ganz erstaunt, ja fast erschreckt um – augenscheinlich hatte sie das ganze Vorhergegangene vergessen, und die Sinnemußten sich erst wieder zu ihrer vollen Thätigkeit sammeln, dann aber mochte ihr doch wohl wieder einfallen, wie sie in diese Lage gekommen, denn ein leichtes Roth färbte ihre bleichen Wangen, und sich rasch, aber unbefangen emporrichtend, sagte sie, während sie dem jungen, wie mit Purpur übergossenen Lehrer die Hand reichte:
»Ich danke Ihnen, lieber Hennig!«
»Der Schuft wollte Hand an Sie legen!« sagte der Jäger, »Gott soll mich holen, wenn das nicht bald noch über den grünen Klee geht, das verfluchte Wildschützenzeug nimmt ja bald Alles an, was Beine hat.«
»Es war kein Wilddieb,« sagte Sophie, und blickte wie scheu nach den Büschen hinüber, so daß der alte Jäger bei dem Gedanken lächelte, sie könne glauben,derkäme noch einmal dahin zurück, woerstände – »er sah wild, verstört und bleich aus – ich weiß nicht einmal, ob er – ob er uns um etwas ansprechen wollte – nur als Anna Schütte so wild aufschrie, ergriff er meinen Arm – was er wollte, weiß ich nicht – aber so viel erinnere ich mich, sein Rock war von Dornen zerrissen, auch sein Gesicht blutig, und er – er glich eher einem unglücklichen, als einem bösen Menschen.«
»Alle Wetter noch einmal!« sagte da der Jäger, »das wird der Kerl gewesen sein, den die Polizeidiener ausder Stadt heute Morgen gehetzt haben; ein paar Holzschläger von mir haben oben an der Waldecke gestanden, und sich die ganze Geschichte mit angesehen, – der ist vom Felde 'rein in die Haidekiefern gefahren, in den jungen Schlag, und wird sich nun wahrscheinlich im Walde herumtreiben. Warte Canaille, solches Wild könnten wir hier gerade brauchen, weiter fehlte uns gar Nichts. Hören Sie Hennig, Sie gehen ja doch wohl mit dem Fräulein zu Hause.«
»Ich glaube kaum, daß ich noch etwas zu fürchten habe,« sagte Sophie.
»Nein, das glaub' ich auch nicht,« lachte der Jäger, der an seine Schrote dachte, »das bleibt sich aber gleich, allein können Sie doch nicht nach Hause zurückkehren, ich aber will gleich mit meinem Fritz und den Holzschlägern den Wald hier einmal absuchen, wahrscheinlich ist er nach dem Weidicht hinunter, in die dicken Büsche, und wenn er da drinn steckt, da finden wir ihn vielleicht, oder treiben ihn jedenfalls in's Dorf.«
Und ohne weiter eine Antwort abzuwarten, warf der Alte das Gewehr, das er indessen wieder geladen hatte, über die Schulter, und schritt rasch den Weg, den er vorher mit Hennig gekommen, zurück. Dieser aber, der sah, wie erschöpft die Jungfrau durch denvorigen Schreck sein mußte, denn sie hielt sich selbst jetzt noch an einer kleinen Buche, neben der sie stand, aufrecht, bot ihr seinen Arm. Sophie zögerte einen Augenblick, nahm ihn dann, und schweigend schritten die beiden dem noch ziemlich entfernten Dorfe zu.
Es war Abend; aus dem Feld herein zog pfeifend der Knecht mit den Pferden, und der Gänsejunge trieb ebenfalls seine schnatternde Heerde den heimischen Ställen zu; auf dem Plane vor der Schenke hatte sich eine Schaar wilder Jungen und Mädchen eingefunden, die um die Linden herum und über die steinernen Bänke hin sprangen und jauchzten und tanzten und Haschens spielten, und sich in ihrer lauten herzlichen Lust wenig daran kehrten, daß der Thau schon feucht niederfiel auf die dampfende Erde und nebliche Dünste aus der Niederung herauf nach den Gipfeln der Berge stiegen.
Die Botenfrau, die aus der Stadt kam, keuchte mit dem schwer beladenen Korbe den steilen Hang hinauf, der wohl zwanzig Ellen hoch gerade hinter der Schenke herabführte, und hier und da blitzte schon zwischen den knorrigen Zweigen der Aepfel- und Pflaumenbäume hindurchein einsam schimmerndes Licht hervor, und der Wanderer, der vorüberging, sah, wie da drinnen um die großen, mit frommem Spruch verzierten Schüsseln, nach ächt patriarchalischer Sitte, der Bauer mit seinen Knechten und Mägden saß, und Löffel nach Löffel aus der dampfenden Suppe herausholte.
Ein ganz besonders reges Leben herrschte aber in der Schenke selbst, denn da wurden Tische und Stühle gerückt und abgestäubt, Flaschen herbeigeschafft und Gläser parat gestellt. Dort in die Ecke kamen drei Tische für die Spielenden, zwei Lichter auf jeden, an die entgegengesetzten Ecken der buntbeklebte Papptrichter mit den geschnittenen Kartenfidibus auf den einen Leuchter. Auch die Markenteller mit den Spielmarken bekamen ihren Platz und die Spucknäpfe wurden zurecht gerückt, der sauber gescheuerten Stube zu Liebe.
»So,« sagte die dicke Wirthin, als sie auf den runden Drath, der am Fensterknopfe hing, frische Bretzeln gereiht, und den rostigen wieder an den alten Platz gehangen hatte, »so, itzt kennen se vor mir kummen, Annegrethe, hast de denn aber ooch des grine Zimmer in Ordnung gebracht? – Blitzmädel, Du weeßt doch, das der Herr Diaconus pinktlich is, un es die Bauern ooch schonst immer nich erwarten kennen.«
Annegrethe, ein derbes dralles Mädchen von achtzehn oder neunzehn Jahren, das, aber nicht nach der Horneck'schen Mode, sondern wie die Dienstleute in der Stadt gekleidet, eben hinter dem Schenkstande die halbgeleerten Glasflaschen (deren Etiketten bezeichneten, ob sie Doppelkümmel, Anis, Pomeranzen oder Kirsch in den flachen Bäuchen trugen) wieder aus großen steinernen Krügen vollfüllte, sagte, indem sie gerade die letzte Flasche mit einem wollenen Tuche abwischte und auf ihren Platz zurückstellte:
»Ei versteht sich, Frau Base, werde doch das beste Zimmer im Hause nicht vergessen; gelüftet habe ich's den ganzen Nachmittag, die Tische sind spiegelblank und von der Erde könnte man zur Nacht essen – wenn kein Sand d'rauf läge.«
»Hot denn die Butenfrau de Zeidungen schonst gebracht; ich habe kenen Zippel von 'er gesiehn.«
»Schon vor einer Viertelstunde.«
»Un die Sammeln?« – frug die Frau rasch und wie erschreckt.
»Alles richtig besorgt,« lachte Annegrethe, »auch Cigarren hab' ich vom Kaufmann mitbringen lassen, und ein Dutzend thönerne Pfeifen.«
»Bist en braves Madel,« sagte die Frau und setztesich behaglich in ihre Ecke hinter den Ofen, wo ein kleines Tischchen mit ihrer Kaffeetasse stand; in der Röhre oben, dicht daneben brodelte der Kaffee, und dicht in der That mußte das Gedränge und laut der Ruf nach Bedienung in der Schenkstube werden, ehe »Mutter Läsig,« oder die »Mutter,« wie sie ihre Gäste kurzweg nannten, ihr heimliches Plätzchen verließ, um es mit dem geschäftigeren, ruhelosen in der Küche zu vertauschen.
Es dauerte denn auch gar nicht lange, so füllte sich das ziemlich geräumige Zimmer mit Gästen; hier und da über den offenen Platz herüber schlenderte eine lange, mit schwarzem Schafspelz umhüllte, oben in eine weiße Zipfelmütze auslaufende Gestalt, den Hügel herauf, und aus der Seitengasse, die zwischen Obstgärten und Häuslerwohnungen hin nach dem anderen Theile des Dorfes führte; von überall her kamen die Durstigen, den Sonnabend Abend, wie das von jeher Sitte in Horneck gewesen, in gemüthlicher Gesellschaft zu verbringen, und einmal wieder zu hören, »wie's draußen in der Welt eigentlich stehe.«
Auch das »grüne Zimmer« (was aber eigentlich gelb war und nur noch aus früherer Zeit, wo es vielleicht einmal grün gewesen, den Namen trug) füllte sich nach und nach; um die verschiedenen Lichter herum drängtensich neugierige kurzsichtige Gäste und suchten, bald mit bald ohne Brille, dem die Augen schmerzenden Druck Inhalt und Sinn abzugewinnen, bis der Diaconus endlich kam, der am Montag, Mittwoch und Sonnabend, und schon seit Anfang vorigen Monats, wo es auch erst angefangen hatte in Deutschland interessant zu werden, die Zeitungen, oder wenigstens das Wichtigste daraus, vorlas und das Gelesene dann erklärte.
Die Landleute hörten aufmerksam zu, tranken ihr Bier dabei, und schauten, das Kinn auf die beiden Fäuste oder in die aufgestemmten Arme gestützt, dem Diaconus in das wohl etwas bleiche aber ausdrucksvolle Gesicht, wie er ihnen die einzelnen Artikel vortrug, und hie und da bei etwas schwer verständlichen Stellen, eine Erklärung beifügte, die es auch den minder Begabten möglich machte, zu begreifen, was eigentlich die verschiedenen Artikel für eine Bedeutung hätten, und in welcher engen Verbindung die an allen Orten zugleich auftauchenden Unruhen zu einander ständen.
Er hatte ihnen auf solche Art über das Vorparlament in Frankfurt, das eben jetzt zusammentrat, über den Aufstand in Italien, denn die Oestreicher waren gerade aus Mailand verjagt, über die Verhältnisse in Oesterreich, und besonders in Wien selbst, wie über dendänischen Krieg, mitgetheilt, und ging dann auf die ihnen näher liegenden Gegenstände, jetzige Einberufung der beurlaubten Soldaten, die inneren Zustände des Landes u. s. w., über, wo dann das Gespräch allgemeiner wurde, und die Zeitung auch bei manchen Artikeln von Hand zu Hand ging.
Weniger geregelt war das Gespräch in der Neben- oder großen Gaststube, wo sich die Gäste nicht, wie im »grünen Zimmer«, um einen großen Tisch versammelten und dadurch die Unterhaltung zu einer gemeinschaftlichen machten, sondern, an verschiedenen Tafeln und Spieltischen vertheilt, auch ihre Sonderinteressen verfochten, oder gar nur, in die Kartenblätter vertieft, Acht gaben auf Eicheln und Schellen, auf Grün und Roth. Im Allgemeinen war es aber auch selbst hier die Politik, um die sich das Gespräch drehte, und sogar vom Schafskopf oder Scat aus mischte sich hier und da, wenn der Streit gar zu heftig wurde, ein »Passender« mit ein und warf, den scheuen Seitenblick freilich immer noch auf das indeß ununterbrochen vorwärts gehende Spiel gerichtet, sein Wort mit ein, in Debatte oder Grundspruch.
»Ja, hier steht's in der Zeitung aus Franken,« sagte da mit lispelnder aber scharf gellender Stimme ein kleineshageres Männchen. Pockennarben, röthliche Haare und etwas stark gekrümmte Nase waren die Kennzeichen des sogenannten Doctor Levi, der hier nur nach Horneck gekommen schien, um sich nach Frankfurt in das Parlament wählen zu lassen, und schon seit mehreren Wochen das allerdings etwas undankbare Geschäft übernommen hatte, die Bauern dieses und der benachbarten Orte aus ihrer politischen Lethargie aufzurütteln, und seinen Ansichten befreundet zu machen. So lange er in Horneck blieb, miethete er gewöhnlich ein kleines Häuschen, das mitten im Dorfe unbewohnt lag, und beschäftigte sich dann auch wohl mit etwas Chirurgie, Aderlassen, Schröpfen u. s. w. Zog er jedoch mit diesem manches böse Blut ab, so schuf er das, und in gewiß viel reichlicherem Maße auch auf der anderen Seite wieder, und die ruhigeren Bauern und Ansässigen des Dorfes schüttelten oft über seine aufrührerischen Reden den Kopf, während ihm dagegen die Jugend mit desto größerem Eifer anhing und besonders sämmtliche Lehrlinge und Ackerknechte des Dorfes für ihn schwärmten. Wer hätte ihnen auch das Alles versprochen, was ihnen Doctor Levi versprach, wer hätte so unermüdlich über ihre Herrschaften herziehen und sie unaufhörlich versichern mögen, daß der vierte Stand, der Stand der Arbeiter, gerade der sei, der obenan stehenmüsse, und ohne den die anderen Stände gar nicht existiren könnten, der aber auch deshalb nur recht zusammenhalten, die Männer wählen, die es gut mit ihm meinten, und dann sehen solle, was er für Wunder wirken und wie er seine Stellung gestalten könne.
»Hören Sie nur, meine Herren,« lispelte der Doctor weiter, als er sah, daß einige die Köpfe nach ihm umwandten:
»Von den Gutsherrschaften haben sich diejenigen, deren Eigenthum bei dem ersten Aufstand, woran allerdings auchansässigeBauern Theil genommen hatten, verschont geblieben, mit ihren Grundholden auf gütliche Weise verständigt, und die Regierung von Oberfranken hatte, um diese Vermittlung zu Stande zu bringen, einen eigenen Commissar auf den Schauplatz der Unruhen abgeordnet. Auch anderwärts in Franken haben viele Gutsbesitzer ihren Grundholden freiwillig bedeutende Zugeständnisse gemacht.«
»Seht Ihr, die Sache wird Ernst, und in Franken wissen die Bauern schon, was sie wollen; die Süddeutschen sind uns überdies um ein halbes Jahrhundert voraus, und wenn es in Deutschland noch einmal Licht werden solle, so stecken sie dort die Laternen an.«
»Ja, daß uns nachher das Haus lichterloh über den Kopf in Flammen stehe,« brummte der Müller, der neben dem einen Spieltische saß, und bis jetzt dem Gang des Spieles augenscheinlich sehr eifrig gefolgt war; »solcher Aufruhr thut kein gut; denn wenn er noch allein bei den Bauern, das heißt bei denen bliebe, die wirklich ein Besitzthum haben, ja dann ließe man es sich gefallen, aber die, diegarnichts haben, die reißen nachher gerade das Maul am weitesten auf und sind vorne weg. Natürlich,dieMenschen können Nichts bei der Sache verlieren; geht Alles, wie es gewohnt war, seinen stillen Gang ruhig fort, so bleiben sie Lumpe wie vorher, geht aber im Gegentheil Alles drunter und drüber, wird die ganze Einrichtung auf den Kopf gestellt, ei dann schließen sie sich mit dem größten Vergnügen dem an,ihnenfällt Nichts aus der Tasche und es müßte doch sonderbar zugehen, wenn sie von dem, was Anderen herausfiele, nicht später was zu fischen fänden. Das kennt man schon.«
»O ja, o ja,« lachte der kleine Doctor, »versteht sich – wer soll denn aber auch sonst die Revolution machen; die, die was haben, sitzen gern still und halten beide Fäuste auf die vollgestopften Taschen, die aber, die Nichts haben, das sind die Menschen, die sich am freiestenbewegen, die unparteiisch auf den Standpunkt des Besitzes hinüberblicken können.«
Ein großer Theil der Zuhörer lachte, dadurch wurde der kleine Mann aber erst recht böse gemacht, sah sich einen Augenblick im Kreise um und rief dann:
»Lacht nur, grinst nur und zieht die Mäuler von einem Ohre bis zum andern, und wenn Ihr's nicht anders habenwollt, so bleibt meinetwegen hier hinter Eueren Oefen sitzen, und wartet, bis sie Euch das, was die Anderen jetztfordern, auf dem Präsentirteller bringen und Euch um Gotteswillen bitten, es doch nur anzunehmen.«
»Oho,« fiel ihm hier einer der Bauern in die Rede, »so schlimm is es ooch noch niche – mer wissen wuhl, was mer wolle, un ufgäsetzt is es ooch schonst; 's hat nur de rächte Gischtalt noch niche, es fehlt em noch de Fassong. Den Pastor han mer freilich drim gebeten, er sillts uns mache, der will aber net, do hat's der Diaconus ibernommen; des is en ganzer Kerl.«
»Ja, de Jagd misse mer frei han,« fiel hier ein Anderer vom Spieltisch aus in's Wort, »der Hos', der mer mei Kraut frißt, dem schlag' ich de Flinten uffen Kopp, daß er's bese Elend kreiht!« und die hoch gehobeneKarte kam mit den Knöcheln schallend auf den Tisch nieder.
»Un die Ablösung misse mer ooch han,« sagte der erste wieder – »oh, 'ssein ä ganze menge Sachen, denn i zohl kei Hundekorn mehr, und schick' keine Hihner un Eier un Kapauner und Gänse uf's Gut; wenn se Kapauner fressen wolln, megn se se ooch selwer ziehen un stoppen.«
»Recht so,« fiel hier der Doctor ein, »das klingt schon ein Bischen besser, aber nach Frankfurt müßt Ihr dann auch solche Leute wählen, die wissen, was Euch fehlt und die Haare auf den Zähnen haben, und daß die gestrengen Herren nachher schon einwilligen werden, ich dächte, dafür bürgte uns die neueste Erfahrung. Ihr habt doch gehört, daß von Frankreich herüber 90,000 Mann im Anmarsch sind, um hier in Deutschland die Republik zu proclamiren?«
»Ne, keen Wort,« riefen Viele und wandten sich neugierig zu ihm hin.
»Was?« lachte der Doctor, »davon wißt Ihr noch Nichts? potz Schulmeister und Diaconusse, wozu habt Ihr denn da die Woche dreimal Euere geheimen Vorlesungen, wenn Ihr die Hauptsache nicht erfahrt? Aber das ist natürlich, daß es derGeistlichkeitnicht geradegelegen kommt, wenn es denBeichtkindernklar wird, wo Barthel eigentlich den Most holt.«
»Aber Doctor, warum geht Ihr denn nicht mit hinein in's grüne Zimmer,« mischte sich hier der Wirth hinter den Schenktisch in's Gespräch, »da drinn wird ja die ganze Geschichte verhandelt.«
»Zu den Reactionairen!« brummte entrüstet der Mann des Blutes, »nein, wir haben uns auf den Barrikaden unsere Freiheit erkämpft, und die wollen wir schützen im freien Vereinsrecht, wie in der freien Presse, derlei Umtriebe aber, wie sie schon anfangen im Lande ihr giftiges Netz auszuspannen, sollten Männer, die sich dessen, was ihnen gebührt, bewußt sind, gar nicht dulden. Wenn es auf mich ankäme, sprengten wir die ganze Gesellschaft dadrinn auseinander.«
»Von wegen dem freien Vereinsrechte!« lachte der Wirth.
»Unsinn!« rief Levi ärgerlich, »wenn das Volk souverain ist, braucht es die Verräther im eigenen Hause wenigstens nicht zu dulden. Ihr würdet es Euch ebenfalls nicht gefallen lassen, wenn sich Jemand in Euerer Stube hinsetzte und Pläne machte, Euch aus Euerem rechtmäßigen Hause zu verjagen.«
»Ne« sagte der Wirth, »und bei mir ist das Volk nicht einmal souverain.«
Ein paar von den Bauern lachten, ehe aber der Doctor etwas darauf erwiedern konnte, ging die Thür des grünen Zimmers auf, und die Lesegäste, die jetzt die wichtigsten Tagesneuigkeiten gehört hatten, kamen heraus in das große Wirthszimmer, um sich dort gemüthlicher bewegen, und das Gehörte noch etwas freier besprechen zu können.
Die ebengeführte Unterhaltung wurde dadurch auf kurze Zeit unterbrochen, und auch der »Doctor« hatte sich zu einem der Tische zurückgezogen, wo er sein Glas Bier, mit einem Gläschen Pfeffermünze daneben, stehn hatte, als einer der Bauern, neben den sich der Diaconus eben gesetzt, diesen bat, er möchte doch einmal in »das Gedruckte« hinein sehn, ob etwas von den 90,000 Mann darin stände, die von Frankreich aus zu uns herüber kommen sollten.
»Neunzig Tausend Mann,« lachte der Diaconus, »wer hat denn das wieder ausgesprengt? Ueber dem Rhein drüben sollen sich, wie die Zeitung sagt, einzelne unordentliche Banden herumtreiben, aber von 90,000 Mann ist keine Rede.«
»Keine Rede?« knurrte der Doctor aus seiner Eckevor, »warum denn nicht? – man will es dem Volke hier nur noch verheimlichen, damit es nicht aufsteht, sich mit den, bis jetzt in Frankreich verbannten und nun herüber strömenden Brüdern vereinigt, und seinen bisherigen Unterdrückern mit Gewalt den Daumen auf's Auge setzt.«
»Mein guter Herr Doctor« erwiederte ihm freundlich der Diaconus, »aus fremden Lande blüht uns keine Hülfe, und von dorther dürfen wir nicht auf Beistand hoffen oder rechnen. In uns selbst muß die Kraft, muß die Hülfe liegen, und wenn wir nicht im Stande sind sie aus uns selbst heraus zu schaffen, dann sieht es auch mit unserer Freiheit traurig aus. Gott wolle uns vor einem Zustand bewahren, den uns fremde Schaaren und wenn sie sich selbstArbeiternennten, brächten; nur im Stande wären sie einzureißen, und nicht Raum noch Athem bliebe zum Wiederaufbau.«
»Wiederaufbau, Wiederaufbau – das ist so das rechte Wort,« brummte der Doctor, und stieß heftig das Glas vor sich auf den Tisch, »erstmuß eingerissen werden, ehe man aufbauen kann, denn von vorne anfangen können wir die Geschichte nicht; hab ich recht oder unrecht?«
»Ne, das hat seene Richtigkeet« sagte da der Schmid, der auch mit aus der grünen Stube herausgekommenwar, »wenn mer hier ene angere Schenke herbauen wüllen, so missen mer die erscht nieder reißen.«
»Na, das sieht ja ein Kind ein« triumphirte der Doctor.
»Aber bedenkt Leute,« nahm der Diaconus wieder das Wort, »daß sich Einreißen und Aufbau auch nach äußeren Umständen richten muß.«
»Wie so?« frag Einer der Bauern.
»Wir wollen einmal hier bei der Schenke stehn bleiben,« erklärte Jener, sich in den einfachen Sinn seiner Umgebung schickend, »wenn wir die Schenke hier einreißen, um eine andere zu bauen, so ist das leicht, die steht frei und hat einen gehörigen Raum vor sich, um das alte Gerumpel abzuwerfen und den neuen Steinen und Balken Raum zu geben, und so war es auch mit Amerika, als sich jenes Land seine Freiheit erkämpfte, dort war Raum genug den alten Schutt abzufahren, und das neue Gebäude stieg rasch und schön empor. Wie wäre es aber, wenn Ihr drüben des Wagners Haus abbrechen und ein anderes dafür hinstellen wolltet? Ging das so ohne Weiteres? Wohin sollte er mit dem Schutt? Die Nachbarn würden sich bedanken, den solange in ihre Gärten zu nehmen; auf die Straße vor dem Haus dürft Ihr ihn auch nicht werfen, reißt Ihr also Vor- undHintergebäude gleich zusammen ein, so sitzt Ihr nachher mitten im Gemenge drin, und kein Baumeister kann Euch mehr helfen, denn Ihr habt dem, indem Ihr seine freien Bewegungen hemmtet, selbst die Hände gebunden.«
»Das ist aber mit unseren Verhältnissen ganz anders,« fiel hier der Doctor ärgerlich ein.
»Allerdings« lächelte der Diaconus, »aber nur noch viel schlimmer, denn wenn diese jungen Leute, die jetzt überall auftauchen und von Umsturz des Bestehenden und Reorganisation ganzer Länder sprechen, erst einmal den Zügel in Händen hätten, wer wäre dann im Stande, ein solches Gewirr von Völkerstämmen und Nationalitäten zu vereinigen und in Ordnung zu halten? Wer sollte so rasch die Grenzlinie ziehn zwischen Anarchie und Volksherrschaften, und jene im Zaum halten, ohne von dem Volke selbst als Reactionair verschrien zu werden?«
»Das muß die Regierung thun!« sagte der Doctor ernsthaft.
»Ei was streiten wir uns denn dorum« fiel hier der Schmid dem Doctor in's Wort, »wenn jetzt die Franzosen kummen, da werd' sich die Sache schonst finden. So'ne neinzig Tausend Mann sin ooch keen Hund.«
»Da Ihr denn einmal bei den 90,000 bleibt« meinte der Diaconus, »so ist's vielleicht besser, ich lese dendarauf Bezug habenden Artikel gleich vor; es ist eine Bekanntmachung, die das Generalcommando der Rheinprovinz erlassen hat, und lautet:
›Nach von mehrern Seiten bei der Militairbehörde eingegangenen zuverlässigen Nachrichten, sind von der französischen Grenze her Einfälle bewaffneterungeregelter ungeordneter Arbeiterschaarenin die Rheinprovinz beabsichtigt. Um diesen zu begegnen ist die Aufstellung eines Corps gegen die Schaar erforderlich. Dazu ist, außer den Truppen in Trier – etc. etc.‹«
»Da haben Sie die ganze Geschichte; das sind Ihre 90,000 Mann gegen die, nur der Vorsorge wegen, ein paar Regimenter ausgeschickt werden.«
»So?« rief der kleine Mann höhnisch und hatte indessen schon, während Jener las, ein anderes, zerknittertes Zeitungsblatt aus der Tasche geholt – »so? da haben Sie wohl die Allgemeine oder die Kindermuhme? Das glaub ich, daß die solche Opiate zu verabreichen suchen – aber da ist hier ein anderes Blatt ›Die rothe Fahne!‹, an dem wir Mitarbeiter wie Pelz und E. O. Weller haben, das sagt Ihnen anderes, was Sie wissen sollen – Hier hören Sie:
›Bürger! Die Zeit der Rache ist gekommen – die Ketten, die Euch so lange in Euer klirrendes Elendgeschlagen, stürzen von Euren erstarkenden Gliedern. – Der Tag der Vergeltung ist erschienen, die Throne zittern und das souveraine Volk steht jauchzend auf und vernichtet die Tyrannen. Bürger – schaart Euch um die rothe Fahne der Freiheit – aus dem Westen, aus dem göttlich freien Lande der Republik reicht uns ein freies Volk die entfesselte Rechte – 90,000 Mann‹ – hören Sie das, Herr Diaconus – ›90,000 Mann überschreiten in diesen Tagen den Rhein – 90,000 Mann fliegen Euch mit triumphirendem Siegesschrei an das Bruderherz. Oeffnet Eure Arme sie zu empfangen und reicht Euch dann die Hände zum fröhlichen Spiel. Unsere Schwerte sollen die Schläger und Kronen die Bälle sein, mit denen wir die Zeit verkürzen, bis wir des Spaßes müde sind, und den Plunder bei Seite werfen. Es lebe die Republik!‹«
»Und das steht gedruckt?« sagte der Gerichtsschreiber erstaunt und drängte sich durch die Bauern, die den kleinen Mann umstanden.
»Das steht gedruckt« lachte dieser triumphirend, »und Einer unserer thätigsten Kämpfer der Freiheit, unserDr.Wahlert, durchstreift schon seit vierzehn Tagen das Land im fröhlichen Pilgerzug, die Guten zu sammeln und zum festen Werke zu einigen.«
Neben dem Ofen saß eine eng in sich zusammengekauerteFrauengestalt, die bis jetzt wenig oder gar keinen Antheil an dem Gespräch gezeigt hatte, nur daß sie manchmal, wenn Einer oder der Andere der Männer sprach, den matten Blick zu ihm hob, dann aber gleich wieder in ihre alte Stellung zurückfiel. Jetzt bei dem letztgenannten Namen aber, zuckte sie rasch und heftig empor, und schaute, während der folgenden Unterredung bald die sich dabei Betheiligenden, bald die Umstehenden, scheu und ängstlich an.
»Wahlert?« sagte der Diaconus, »ist, wie ich heute als ganz gewiß gehört habe, in der Stadt wegen offenen Aufruhrs und überwiesenen verbrecherischen Verkehrs mit den Feinden des Vaterlandes verhaftet und eingezogen worden; man spricht davon, daß er das Zuchthaus besuchen würde.«
»Hahaha« lachte der kleine Doctor, »die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn erst; eben habe ich Briefe mit der Botenfrau aus der Stadt bekommen, daß Wahlert heute allerdings sollte verhaftet werden. Er erhielt aber vorher einen Wink, entzog sich der Ausführung durch die Flucht und ist, wenn auch verfolgt, doch noch nicht eingefangen; die nach ihm ausgesandten Polizeiknechte sind wenigstens unverrichteter Sache zurückgekehrt.«
Die Thür ging in diesem Augenblick auf, und der alte Jäger trat, einen kurzen Gruß links und rechts hinübernickend, in die Stube.
»Annegrethe, mein Bier,« sagte er, während er sich auf seinen gewöhnlichen Platz zwischen dem Fenster und dem Schenkstand niederließ – »aber ein wenig warm.«
»Weiß es Herr Förster,« rief das flinke Mädchen, und füllte das hochaufschäumende Glas aus dem schon vorher, in Erwartung des Kommenden, warm gestellten Blechmaaß, drängte sich dann damit, zwischen der jetzt aufgerichtet neben dem Ofen stehenden Frau – unserer Bekannten von dem nämlichen Morgen her, und dem auch eben erst gekommenen Röhrmeister durch, und stellte das Glas, mit einem freundlichen Knix vor den mürrisch herumschauenden Jäger hin.
Die Unterhaltung war durch den Eintritt der Beiden, nach denen sich die Meisten umschauten, einen Augenblick in's Stocken gerathen.
Der Röhrmeister, der die letzten Worte des kleinen Doctors noch gehört hatte, trat jetzt weiter vor und rief, sich an diesen wendend:
»Hört einmal Doctorchen, wie sieht denn der Bursche aus, von dem Ihr da sprecht – trägt er etwa einen kleinenschwarzen Schnurrbart und hat er eine Narbe über's Gesicht herüber?«
»Die hat er,« sagte der Doctor schnell, »habt Ihr Wahlert gesehen?«
»Dann ist es derselbe, den sie heute Morgen hier bis in die Haidekiefern gehetzt haben,« fuhr der Röhrmeister fort, »ich kam gerade aus der Stadt und sprach auch nachher einen von den Holzschlägern, an dem er dicht vorbeigesprungen war.«
»Hier bis Horneck?« frug der Doctor schnell.
»Ja hier gleich bis oben in den Wald, wo das kleine Weidenbüschchen steht.«
»Wieheißt der Bursche?« mischte sich jetzt der Jäger in's Gespräch, und stand von seinem Platze auf, um besser nach dem Sprechenden hinübersehn zu können.
»Wahlert,Dr.Wahlert!« lautete die Antwort.
»Und einen Schnurrbart hat er?«
»Ja, und dunkle Haare, wie eine hohe, stattliche Figur; wer ihn einmal gesehn hat, vergißt ihn nicht so leicht wieder.«
»Nun ich denke, er wird sich meiner auch wohl etwa vierzehn Tage erinnern,« lachte der Jäger und nahm seinen Platz wieder ein.
»Was? – wie so? – Ihr habt ihn gesehen? –wo ist er jetzt? – haben sie ihn wieder?« So etwa lauteten die Fragen, die nun in rascher Reihenfolge an den Jäger gerichtet wurden, und dieser sah sich plötzlich als den Mittelpunkt aller der neugierig ihm zugewandten Gesichter.
»Weil ich ihm die Hinterläufe mit Schrot gespickt habe« lachte der Alte; »zwar nur Nr. 6 aber doch gerade hinreichend für einen derartigen kleinen Denkzettel.«
»Aber wo? – weshalb – wie kam das – wenn denn?« fiel hier das Chor wieder ein.
»Wo? wann? Im Holz drin, heut' Nachmittag, und weshalb? – ei weil er ein paar Frauenzimmer angefallen hatte wie ein Straßenräuber und sie schon plündern wollte als ich und der Schulmeister, der Hülfslehrer mein ich, gerade noch zur rechten Zeit und zum Schuß kamen.«
»Aber wo ist er jetzt? ist er gefährlich verwundet?« sagte der Doctor rasch und erschreckt.
»Hm – 's kann g'rade nicht so gefährlich sein,« meinte der Jäger kopfschüttelnd, »'s Auskratzen ging wenigstens nachher noch so ziemlich gut. Schweiß konnten wir auch nicht finden, aber mit meinem Fritz und den Holzschlägern bin ich ihm nachher nach, und richtig kriegten wir ihn auch wieder zu Gesicht, denn wir triebendas ganze Weidicht unten ordentlich ab. Mein Fritz und ich, wir nahmen die Flügel und wie wir oben an die Schwarzholzecke kamen, stellten wir Beide uns nach dem Dorf zu vor, und ließen die Holzmacher links herauf schwenken. Der Kerl war auch weiß es Gott im Treiben, und wollte, gleich wo's nachher nach dem Fluß zu geht, wie ein alter Fuchs durch die Treiber brechen. Das wäre ihm auch, da sie doch wenigstens funfzig Schritt auseinander gehn mußten, beinah gelungen, denn das Unglück wollt' es, daß er gerade zwischen dem alten lahmen Gottlieb und Richters Jungen hinein kam, die ihn alle Beide nicht wieder eingeholt hätten. Gerade da aber, wo er durchbrechen wollte, war ein offener Haidefleck – der Streifen Feld da oben, Wagner, wo wir vor zwei Jahren die jungen Kiefern steckten – und wie er eben über den hinspringen will, läuft der alte Gottlieb mit seinem Stock auf ihn an und schreit ihm zu, er soll sich ergeben. Hol' mich der Teufel, wie der den Stock auf sich gerichtet sieht, wobei er wahrscheinlich auch schon an das Blei dachte, das er bei sich trug, stieß er einen lauten Schrei aus, und sprang wie ein Donnerwetter in die dichten Büsche zurück.«
»Und was ist nachher aus ihm geworden?«
»Der Teufel weiß es« brummte der Jäger, »er gingwieder nach vorn, und wenn er nicht nachher doch noch einen Rückwechsel gefunden hat, so bleibt weiter gar nichts anderes möglich als daß er durch das Ufer des trockenen Baches, gerade unter den Dornen hin in das Dorf gekrochen ist.«
»In das Dorf?« riefen der Verwalter und Gerichtsschreiber, die jetzt ebenfalls an des Jägers Tisch getreten waren, »das kann ja doch gar nicht sein; der Graben oder was es ist, läuft gerade in Pastors Garten aus, und er wird sich doch wahrlich nicht, wenn einmal verfolgt, aus dem ihm allein noch Sicherheit bietenden Wald, mitten zwischen seine Feinde wagen?«
Der Doctor sagte kein Wort mehr, ging aber eine ganze Weile, und zwar im tiefsten Nachdenken, im Zimmer auf und ab, bis er wieder in die Nähe des Jägers kam; dort blieb er stehn, wandte sich noch einmal an diesen und frug ihn:
»Und Ihr glaubt wirklich, daß er durch den Graben nach dem Dorfe zu entkommen wäre?«
»Ich weiß wenigstens nicht wie er sonst durchgeschlüpft sein könnte,« meinte der Jäger, »ohne daß ihn Einer von uns auch nur gesehn, oder in dem Laube gehört hätte. Der Wald ist dort viel zu licht, als daß Einer, erst dort hinein getrieben, lange Verstecken spielen dürfte.«
»Könnte er aber nicht in einen Baum geklettert sein?« frug der Doctor noch einmal, im letzten verzweifelten Versuch, auch nur an die Möglichkeit einer anderen Flucht glauben zu dürfen, aber der Forstmann schnitt ihm auch diese Hoffnung ab.
»Oh was,« brummte er, »in die Rauschenecke hatten wir ihn hinein, soviel ist gewiß, und dort waren wir ihm, wenn's auch da wirklich Bäume gäbe, in die man sich verstecken könnte, viel zu dicht auf den Hacken, als daß er an so etwas hätte denken dürfen. Der ist im Dorf, und wenn er's hier nicht ganz schlau anfängt, so kriegen wir ihn doch noch, denn ich habe unten am Garten sowohl da, wo's nach der Straße niedergeht, wie oben nach dem Wald zurück, und an dem Weg in's Dorf hinein meine Wachen ausgestellt, die keine Katze, vielweniger einen so baumlangen Kerl durchlassen.«
»Hm, hm –« murmelte der kleine Mann vor sich hin, und drängte sich, ohne etwas weiter darauf zu erwiedern, der Thüre zu. Am Schenkstand bezahlte er seine Zeche und verschwand gleich darauf, die einbrechenden 90,000 Freischaarer und die rothe Republik gänzlich der Gnade und Ungnade der Zurückbleibenden überlassend, aus der Wirthschaftsstube.
Auch das fremde Mädchen verließ das Zimmer, schritt aus dem Haus bis unter die große Linde, setzte sich auf die dort angebrachte hölzerne Bank, in den Schatten des gewaltigen Baumes, barg das bleiche Antlitz zwischen den dünnen abgemagerten Fingern, und schluchzte leise und heftig.
Die Sterne blitzten und funkelten aus dem dunkeln, von keinem Mondenstrahl erhellten Himmel nieder, durch die breitästigen Wipfel der Linden rauschte und brauste der kühlfeuchte Nachtwind; im Dorfe herrschte Todtenstille, nur manchmal tönte das Bellen eines treuen Wachthundes aus Hof oder Garten her, oder der Schritt der jetzt einzeln aus der Schenke Heimkehrenden schallte hohl von dem harten Boden wieder. Auch die Lichter der verschiedenen Wohnungen waren fast alle verlöscht, nur in der Pastorwohnung, das Haus ließ sich deutlich erkennen, denn dicht dabei stieg der dunkle kahle Thurm starr und schroff empor, brannte noch in einem der oberen Fenster ein einsames Lämpchen.
»Marie!« rief die Stimme des alten Musikus von der Thüre der Schenke aus – »Marie – wo zum Donnerwetter steckt mir die Dirne nun wieder –Marie!will ich doch verdammt sein, wenn mir die nicht noch die Galle an den Hals ärgert. Ei so geh' zum Teufel«brummte er noch eine Weile, als er vergebens gehorcht und gewartet hatte, denn die dunkle Gestalt unter der Linde rührte und regte sich nicht – »wenn sie Dich ausschließen, magst Du sehn wie du in's Haus kommst.«
Und schimpfend warf er die schwere Thüre in's Schloß.
Hell und freundlich schienen die liebenden funkelnden Sterne auf die stille Erde nieder; in den Zweigen und Aesten des alten Baumes rauschte und flüsterte es geheimnißvoll und das Käuzchen, das mit geräuschlosem Flügelschlag über die Häuser strich, setzte sich auf das nächste Dach und rief sein wehmüthiges unheimliches »Komm mit – komm mit.« – Unbeweglich aber lehnte an dem knorrig rauhen Stamm das einsame Mädchen, fest und schweigend hafteten an den fernen glänzenden Himmelskörpern ihre feuchten Blicke, und erst als vom düsteren Thurm drüben die Glocke Mitternacht schlug, schlich sie durch die Thüre, die ihr der Vater offen gelassen zu ihrem kalten harten Lager hinauf, unter das Dach der Schenke.
Als Fräulein Anna Schütte sah, wie der Fremde nach Sophiens Arme griff, und sich nur einen Augenblick unbeachtet wußte, ja auch schon dann vielleicht, als sie den ersten panischen Schrecken überwunden hatte, daß ein wild aussehender Mensch aus dem stillen Holz, wie ein Blitz aus heiterem, sonnenklaren Himmel auf sie herniederfahren konnte, floh sie in flüchtigen Sätzen die Straße entlang, und erfüllte mit ihrem Geschrei den friedlichen Waldesdom. Selbst der Heher schwieg, bestürzt vor den gellenden Tönen, und dachte erst später daran, sie wie das übrige Vogelgeschrei, mit spottendem Flügelschlag nachzuäffen; die übrigen Waldvögel aber mieden scheu den Platz, wo ihrer Ansicht nach, etwas Entsetzliches passirt sein mußte. Sie wäre auch sehr wahrscheinlich eben in solcher Art bis in das Dorf hineingerannt, hätte sie nicht glücklicher Weise gerade amAusgange des Waldes einen Ackerknecht getroffen, dem sie ohne weiteres um den Hals flog, und nun hier so zu weinen und jammern anfing und solche gräßliche Geschichten von Mördern und Räubern erzählte, die dicht hinter ihr wären, daß es dem armen Teufel selber ganz angst und bange wurde, und er nicht recht wußte, was er am Meisten zu fürchten habe, die nahenden Räuber, oder den Zustand der fremden Dame, der ihm schon anfing mehr als bedenklich zu erscheinen.
Der Bursche war übrigens unter solchen Umständen eben so wenig von der Stelle zu bringen; denn im Walde hatte er nach der erhaltenen Beschreibung gar Nichts weiter zu suchen, und zu Hause, von woher er erst kam, wollte er auch nicht gleich wieder. Fräulein Schütte schien jedoch ebenfalls nun, da sie zum Glück einen Beschützer gefunden, fest entschlossen, keinen Schritt weiter allein zu thun, und so trafen sie noch Hennig und Sophie, als sie aus dem Walde auf das freie Feld traten.
Sophien schien es lieb zu sein, die Freundin noch hier zu finden, sie eilte gleich auf sie zu, ergriff ihren Arm, und versprach ihr, sie zu Hause zu geleiten, bat sie aber auch zugleich, von dem Vorgefallenen im DorfeNichts zu erzählen, da solche Sachen immer gleich verschlimmert und dem »armen Flüchtling,« der sie im Walde angeredet, vielleicht gar wieder die entsetzlichsten Absichten untergelegt würden.
Davon wollte nun freilich Fräulein Schütte im Anfang Nichts hören, ließ sich jedoch zuletzt überreden, und bat nur Sophien, als sie endlich zu Hause angelangt war, wenigstens so lange bei ihr zu bleiben, bis die Mutter, die irgend einen Besuch gemacht hatte, zurückkehre, »denn wenn sie jetzt, und mit Dunkelwerden allein im Zimmer sitzen solle, fürchte sie sich zu Tode.«
Das sagte ihr Sophie gern zu, denn sie selbst mochte nicht gerade jetzt gleich, und in der Aufregung, in der sie sich befand, nach Hause zurückkehren.
An dem nämlichen Abend beendete, ungestört und nicht behindert durch Singen oder Rufen, Feodor Strohwisch ein humoristisches Gedicht, – es war früher einmal ein altes Liebesgedicht gewesen, das er in süßer schwärmerischer Stunde gemacht, und er hatte es heute zu einem launig politischen Epos umgeändert – es blieb nichts zu wünschen übrig, viermal hinter einander las er es sich mit immer wachsendem Beifall selbst laut vor, und sprang endlich in aller Freude auf, schritt rasch zu dem ihn erstaunt anschauenden Haubenkopfe hin, streichelteihm die zinnoberrothen Backen, und nannte ihn »sein liebes, frommes, schweigsames Mädchen.«
In der Dämmerung war es indessen, daß durch den kleinen Obstgarten, der dicht hinter der Pfarrerwohnung lag, und hier zugleich die Grenze des Dorfes nach dem Walde zu bildete, eine menschliche Gestalt aus dichtem Gestrüpp und Dornenwerk hervorkroch, und an der Hecke hin und von dieser gedeckt der kleinen hölzernen Thüre zu schlich, die hinaus auf einen schmalen Pfad führte, der den steilen, mit Obstbäumen bepflanzten Hügel hinab, und durch das Dorf, dem Flusse zu lief. Dort aber kaum angelangt und schon mit der Hand auf dem Thürdrücker, zuckte er plötzlich von jähem Schreck berührt, zusammen, denn dicht über sich, so nahe, daß er den Sprecher hätte mit der Hand erreichen können, hörte er eine Stimme, die ihm nur zu deutlich die Gefahr verrieth, in der er sich befand.
»Du, Kahle«, sagte Einer der dort Stehenden, »der kann hier gar nich 'nein sin, sonst werd' er ja doch nicht in den Diarndern stecken bleiben – der is widder in's Hulz zurück, un mer stehn hier umsunst, un han Maulaffen feel.«
»Schweig still,« brummte der Andere dagegen mit unwilliger, aber leiser und unterdrückter Stimme, – »in den Graben is er nein, un wär't Ihr mir gefulgt, so hätten mer'n jetzt; nu aber kennen mer de halbe Nacht hier schtehn, un erwischen en doch nich. Na, Fritze muß gleich mit den Angeren kummen, un nachher laassen mer den Hund nein –derfind't en!«
»Wenn er aber nu drüben 'nausfährt?« frug die andere Stimme besorgt.
»Haste keene Angst nich,« sagte Kahle mit leisem, heiserem Lachen, »davor is gesurgt, 'raus kommt er hier nich, wenn er nich beim Paster nein fährt, und da is de Thire verschlossen. Doch bis jetzt ruhig – 's is wohl noch hälle, in den Bischern drinn kennte er aber doch so nahe 'ran kriechen, daß er Eenen heren kennte, und nachens wärsch Essig.«
Der Flüchtling lag zitternd unter die Hecke gedrückt, und schaute verzweifelnd nach einem Ausweg auf Rettung umher. Kam die gedrohte Verstärkung mit dem Hunde, so war er verloren, und hier, von allen Seiten umstellt, – es blieb ihm kein anderer Ausweg, als die Pfarre, dort hinein mußte er.
Ein dichter Holunderbusch, der schon fast vollständig seine Blätter getrieben hatte, machte es ihm möglich,unentdeckt wieder die Mitte des Gartens zu gewinnen, und von hier aus kroch er in einer Vertiefung, einer Art trockenem Graben, der dazu diente, das an der Hausthür ausgegossene schmutzige Wasser, wie auch den vom Dache niederträufenden Regen in die Schlucht hinab zu führen, bis dicht zum Haus hinan. Vorsichtig hob er sich empor und ergriff die Klinke. – Die Dämmerung wurde glücklicher Weise immer dichter, und gerade dieser Theil des Hauses lag in tiefem Schatten. – Aber wehe. – Die Thür war wirklich verschlossen, und den Berg herauf – er horchte mit klopfendem Herzen den nahenden Tönen – kamen Menschen, und Hundegebell tönte dazwischen.
»Tod und Teufel!« murmelte er vor sich hin, »und so unbewaffnet diesen Bauerlümmeln in die Hände zu fallen – versuche ich's aber durchzubrechen nach dem Walde hin, so schießen sie mir wie einem tollen Hunde auf den Leib, – trag' ich denn nicht selbst jetzt die Schrote von dem Schuft in der Haut, und hat nicht nachher schon wieder Einer der blutdürstigen Hallunken auf mich angelegt? Und geradezu herausgehen und mich ergeben? – das wäre ein verdammt gewagtes Ding – weiß der Böse, wie auch all' die Sachen so ganz auf einmal gegen mich aufgetaucht sind. Ja, wäre mit demVolke hier etwas zu machen, da ließe sich der Geschichte leicht eine andere Wendung –«
Er erschrak, denn dicht neben ihm wurden inwendig im Pastorshause Schritte laut, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und Wahlert behielt nur noch eben genug Zeit, hinter ein paar, dort gerade neben der Thür lehnende Breter zu treten, als sich diese öffnete, und die Magd mit einem großen Kübel voll Wasser heraustrat, etwa zwanzig Schritte weit nach dem Graben zu ging, in welchem er eben heraufgekrochen, und das Wasser dort hinein ausgoß. Eine solche Gelegenheit kam nicht wieder, Wahlert glitt unter den Bretern hin, in's Haus hinein, und die knarrenden Stufen hinauf in den ersten Stock. Hier sah er noch eine kleine Treppe, über deren dritter Stufe ebenfalls eine kleine Thür befindlich war – jedenfalls ging die auf den Boden, sie war auf, und er sprang hinein.
»Alle Wetter,« murmelte er aber, und prallte daraus zurück – »das ist ja ein Zimmer –« durch den matten Lichtstrahl, der noch durch's Fenster fiel, konnte er den weißen Ueberzug eines Bettes und über den einen Stuhl hängende Frauenkleider erkennen.
Er wollte das Gemach rasch wieder schließen, und sein Heil wo anders suchen, da hörte er auf der TreppeSchritte, der Strahl eines Lichtes fiel herauf, und es blieb ihm nun gar keine andere Wahl, als geradezu wieder zurück zu springen, und die Thüre hinter sich zu zu ziehen; er mußte auf günstigeren Zeitpunkt warten, ein sichereres Versteck zu suchen.
Es war die Magd, die mit einem großen Kübel Wasser in den Händen, und das Licht in den einen Finger geklemmt, die Treppe langsam heraufstieg. Vor der Kammer, in welcher Wahlert stak, blieb sie stehen, hob den Kübel auf die Stufen, schob ihn dicht an die Thür, stellte das Licht daneben, und ging dann wieder hinunter, noch mehr Apparate zu ihrem Scheuerfeste zu holen.
Wahlert versuchte jetzt, die Thür wieder zu öffnen, um über den Gang hinüber wo möglich die Bodentreppe auszuspähen, aber – fest und unweichbar stand das schwere Wassergefäß davor, nicht einmal einen Zoll breit konnte er seinen Kerker lüften, und sollte er Gewalt brauchen? – Das ging auch nicht, dann warf er den bis zum Rand gefüllten Kübel gerade zu die Stufen hinab, und das Gepolter, und die in's Haus niederströmende Flut mußte ihm die Verfolger auf den Hals hetzen. Er behielt aber auch nicht einmal lange Zeit zum Ueberlegen, das Mädchen kam bald wieder zurück, und bliebnun oben auf dem Gange, den sie gleich darauf mit Scheuerbesen und Tüchern wacker in Angriff nahm.
Wie sollte das enden, wer wohnte überhaupt in dem Zimmer? Wahlert warf sich, den Kopf sinnend in die hohle Hand gestützt, auf einen der ihm nächsten Stühle, und überdachte seine Lage – die Möglichkeit seines Entkommens, – bedachte die Gefahr, der er ausgesetzt war, wenn er wirklich gerade jetzt, wo noch den Gerichten, wenigstens hier im Lande, nicht alle Macht genommen worden, in ihre Hände fiele. Auch die Erlebnisse ging er in seinem stillen Brüten durch.
Den, nach ihm ausgesandten Häschern glücklich entgangen, stand ihm jetzt die Welt offen – er konnte fliehen, konnte vielleicht die französische Grenze erreichen – aber was sollte er nachher dort? – Womit seine Existenz sichern, was überhaupt dort wirken, schaffen, nützen? – Nein, hier in Deutschland lag sein Ziel – Deutschland forderte von ihm seine Thätigkeit.
Das alte System, was sich lange Jahre hindurch, den Völkern zum Trotz und Hohn auf ihrem Nacken behauptet, war durch die jetzige Revolution nicht gestürzt, nein, nur kaum erst erschüttert worden, und nun galt es, daß die Männer der Freiheit Hand an's Werk legten, das schmachvolle Joch gänzlich darnieder zu schmetternund den neuen Tempel der Volkssouveränetät in herrlicher Schöne aus seinen Trümmern emporsteigen zu lassen. Und warernicht vor tausend Anderen der Mann, der im heiligen Kampf vorangehen mußte, den Unschlüssigen? War ihm nicht die Gabe der Rede verliehen? Hatte er nicht seit dem 18. März schon zweimal das Volk zu wildem stürmischen Enthusiasmus erregt, und war es beide Male etwa nicht den »Bayonetten« gelungen, die überreif aufschwellende Knospe der Freiheit zurück zu halten und zu bewältigen? Fluch der alten Disciplin, die dem Soldaten noch wie Blei in den Gliedern lag, und ihn nicht wollte begreifen lassen, wie auch er ja nur eines Bürgers Sohn selbst wieder zum Bürger würde, wenn er den Rock auszöge, der ihm im Kampfe gegen seine Brüder nicht mehr ehre, sondern schände.
Der Zeitpunkt war jetzt erschienen, wo die letzte Hand an das große Werk gelegt werden mußte, wenn es nicht – wie das Jahr 1830 geschehen war, als ein bloßes Possenspiel endigen sollte – der Zeitpunkt war erschienen, wo es galt, das ganze ungeheure Gewicht der Volksherrschaft den Privilegien der Fürsten und des Adels gegenüber in die Schaale zu werfen, und Fluch demknechtischenVolke dann, wenn es nichtmitihmjubelte, daß der Schrei – ein Todesröcheln der Tyrannei – durch alle deutschen Gauen drang – »es lebe die deutsche Republik!«
Doch hier mußte er erst einen Halt unter dem Volke gewinnen, die Masse war noch zu roh, und ein energisches Auftreten von ihrer Seite, ohne vorherige wirkliche Veranlassung kaum zu hoffen – was konnte aber vonhieraus auch geschehen, sie zu begeistern? – Gar Nichts, in die Residenz zurück mußte er vor allen Dingen, die Katastrophe des gewaltigen Werkes selber mit zu leiten, und nur ein Mann lebte hier im Orte, der ihm dazu behülflich sein konnte – der Doctor Levi, ein alter Bekannter von ihm, und ein Charakter, der ihm zum Werkzeug dienen konnte, seineedlerenPläne auszuführen. – Wie aber war er im Stande, dessen Haus erstlich heraus zu bekommen, und wenn das wirklich geschehen, es unentdeckt zu erreichen? – Wo wohnte der Doctor, und befand er sich gegenwärtig wirklich in Horneck? – Tod und Teufel! – der Gedanke war Wermuth und Galle in die kühne Seele dessen, der sich hier für die Freiheit eben des Volkes aufopferte, das ihn wie einen Verbrecher verfolgte, wo er sich nur öffentlich zeigte, mit Kerker und Eisen bedrohte, und wie auf ein wildes reißendes Thier nach ihm schoß. Aber fort mit dem Gedanken, das Volk war nichtschlecht, nur ein Schleier lag noch vor seinen Augen, und mit der Bürgerkrone würde es den bald lohnen, der ihm die Sehkraft wieder gab, und die Waffe in die riesenhafte Rechte drückte.
In wilden, wechselnden Bildern zuckten ihm die Gedanken und Pläne rasch und bunt durch das Hirn, bald aber wurde er wieder, und auf eben nicht tröstliche Weise zur trüben, trostlosen Gegenwart zurückgerissen. Das Mädchen draußen auf dem Gange rückte ihr Scheuerfaß und er fuhr rasch und lauschend von seinem Stuhl empor – noch aber hatte er Nichts zu fürchten – sie war nur zu einem andern Platz gegangen, und begann hier gleich wieder von Neuem.
»Wenn ich nur das Haus dieses Doctor Levi wüßte,« murmelte der Gefangene für sich hin, »was für Folgen aber selbst die einfachste, an einen fremden Menschen gerichtete Frage für mich haben kann, ist mir heute bewiesen worden. – Wie das eine liebe Kind erschrak – – daß der Teufel den Jäger hole.« Vorsichtig ließ er sich wieder auf den eben verlassenen Stuhl nieder, und fuhr eben so leise fort – »ich hätte mir's übrigens denken können, daß so schüchterne Dinger Zeter schreien würden, wenn ihnen ein solches dornzerrissenes wild aussehendes Subjektwie ich jetzt bin, vor die Augen träte; – ich bin, beim Himmel, in einer verzweifelten Lage.«
Ein neues Geräusch vor der Thür mahnte ihn, auf seiner Hut zu sein – der Kübel wurde bewegt. – Er legte das Ohr an das Schlüsselloch – Gott sei Dank, endlich nahm die verwünschte Magd den Kübel von der Thür und trug ihn – ja, sie ging damit fort, er konnte es deutlich an ihrem Gange hören – den Corridor hinunter. Jetzt war ihm auch die Möglichkeit gegeben, diesen gefährlichen Aufenthaltsort zu verlassen, wo er jeden Augenblick entdeckt werden konnte. Nur so lange mußte er warten, bis draußen die verschiedenen Ingredienzien fort und, allem Vermuthen nach, in eine der entfernteren Stuben transportirt waren.
Aber auch draußen vor dem Fenster wurde es laut – das mußten seine Verfolger sein – ob er es wagte, sich dorthin zu schleichen? – ei, wenn er leise ging, konnte ihn unten, falls wirklich Jemand darunter wohnte, doch Niemand hören: auf den Zehen schlich er deshalb bis an das Fenster und schaute aus der dunkeln Stube heraus vorsichtig hinter den Gardinen vor in den Hof hinab, wo, wie er noch recht deutlich erkennen konnte, eine Anzahl von Männern versammelt stand und eifrig mit einander sprachen. Um aber zu hören, über was siesich unterhielten, hätte er das Fenster öffnen müssen, und das durfte er nicht wagen. Er preßte das Ohr an die Scheibe, aber nur unverständliche Sylben waren es, die zu ihm herauf tönten. Er suchte die Gestalten zu erkennen – Einige trugen Flinten oder Stöcke, er vermochte nicht deutlich zu sehen was – wahrscheinlich das erstere – man deutete auf die Pfarrwohnung – er konnte der Versuchung nicht länger widerstehen, leise, leise schob er den vorgedrehten Fensterriegel zurück und suchte nun den Flügel so geräuschlos als nur möglich zu öffnen; glücklicher Weise knarrte das Holz auch nicht im mindesten; alt und vom Zahn der Zeit schon angegriffen, bewegte es sich weich und ohne Laut aus seinen Fugen und es gelang ihm, das Fenster gerade genug zu öffnen, um Alles zu hören und doch von unten aus nicht gesehen zu werden.
Da wurden plötzlich Stimmen auf dem Vorsaal laut – eine Hand lag auf der Klinke – Wahlert's Herz schlug wie ein Hammerwerk in der Brust, nicht einmal Zeit blieb ihm, das Fenster wieder zu schließen, nur eindrücken konnte er es und dann zurück in die dunkle Ecke neben die Gardinen springen, als sich die Thüre öffnete und eine weibliche Gestalt eintrat. Sie blieb aber auf der Schwelle stehen, legte Hut und Mantel ab, undwollte eben wieder zurücktreten, als der Luftzug auf's Neue den Flügel aufstieß und sie sich rasch danach umwandte.
»Ueber die Mädchen,« murmelte sie, als sie die Thür hinter sich schloß und der Stelle, wo Wahlert fest in dem engen Winkel geschmiegt stand, zuschritt, »ausdrücklich habe ich hier noch heute Morgen gesagt, mein Fenster ja fest zuzumachen, aber Gott bewahre, da ist doch eine wie die –ha!«
Ein laut gellender Schrei des Entsetzens entfuhr ihren Lippen, denn während sie mit der Linken das Fenster schloß, wollte sie mit der Rechten die vorgefallene Gardine zurückschieben, und ihre Hand kam dabei mit der hier versteckten Gestalt des Flüchtlings, die dabei unwillkürlich zusammenzuckte, in Berührung.
»Um Gotteswillen, mein Fräulein, verrathen Sie mich nicht,« rief aber Wahlert, der bei dem helleren Lichte des Fensters das Antlitz der jungen Dame erkannt hatte, und nun wohl vermuthen konnte, wen er vor sich hatte, schnell entschlossen – »ein Wort von ihren Lippen und ich bin ein Kind des Todes!«
»Härr Jäses, Frälen, was geiht's denn do?« rief die Magd in dem Augenblicke draußen auf dem Gange, und kam rasch herbeigeschlurrt – »was hewe Se denn?«
»Ihretwegen bin ich hier undSiewollen mich dem Henker überliefern?« flüsterte noch einmal der Entdeckte – »mein Leben liegt in Ihrer Hand.«
Sophie sammelte sich mit krampfhafter Anstrengung und schritt auf die Thüre zu, in der jetzt eben die Magd, glücklicher Weise ohne Licht, erschien.
»Ich habe Dich doch gebeten, das Fenster nicht aufzulassen,« sagte sie, ihr entgegentretend.
»Aber Frälen, ich hob' es weeß der Himmel zugadriaht – was hatten Se denn nuar?«
»Das Fenster stand auf, und wie ich es schließen wollte, stieß ich mich in's Auge – es that weh – ich habe wohl geschrien?«
»Als wenn Se am Spieße stiaken,« lachte das Mädchen, »Härr Jeses, ich dachte der Deibel wär' lus – wullen Se Licht hawe?«
»Nein, ich danke Dir, ich komme gleich hinunter; essen sie schon?«
»Se sitzen gerade drim herim, der Härr Pastor is aber noch nich heeme.«
Und das Mädchen nahm ihren Eimer, klappte damit die Treppe hinunter und öffnete die Thüre wieder, um ihn auszugießen.
»Was war denn im Hause?« frug in dem Augenblickeunten vor der Thüre eine Stimme die heraustretende Magd – »wer schrie denn so – ist der Kerl etwa drinn?«
»Megte wissen wie,« lachte das Mädchen, »unser Frälen hat sich blos an'en Kopp geschtußen – na is die schreckhaft – wenn iche jedesmal kreischen wullte, wo ich wo anrenne, nachen's hätt' ich Arbet.«
Sophie, die oben mit klopfendem Herzen in der Thüre stand und den Worten lauschte, konnte nichts weiter verstehen, denn die Redenden traten mehr vor das Haus und gleich darauf wurde auch das Thor wieder geschlossen. Sie drückte ihre eigene Thüre in's Schloß, schob den kleinen Riegel vor, that ein paar Schritte gegen das Fenster und sagte hier mit leiser, aber vor innerer Angst zitternder Stimme:
»Was um Gotteswillen hat Sie unglücklicher Mann in dies Haus getrieben – wie kamen Sie in dies Zimmer, und wer hat sie hereingelassen?«
»Der Zufall und mein gutes Glück ließen mich, unbemerkt von Anderen, die rechte Thüre treffen,« sagte jetzt Wahlert, und trat, durch das Gefährliche seiner Lage gezwungen, eine Nothlüge zu machen, leise auf sie zu – »aber Sie, mein Fräulein, Sie allein waren die Ursache, die mich hierher geführt.«
»Ich? – wie um Gottes Willen – ich?«
»Gehetzt wie ein wildes Thier,« fuhr der Flüchtling mit leiser aber bitterer Stimme fort, »bin ich seit heute Morgen durch Wald und Forst gestreift, und weshalb – weil ich ein freies Wort gesprochen, weil ich dem Volke Glück und Freiheit geben wollte, und nicht darauf achtete, ob ich dabei die Großen der Erde erzürnte. Aus jahrelangem Schlaf ist Deutschland erwacht, die Fesseln der Tyrannei wirft es fort, und wären wir ein einziges Volk, jetzt, jetzt blühte die Zeit, wo wir miteinerKraftanstrengung die Nacken heben, das Joch brechen könnten, aber während sich in dem einen Staate, in der einen Stadt das Volk in keckem Todesmuthe den Bayonetten entgegenwirft, sieht das Nachbarländchen müßig zu, und wartet, bis auch an seine Grenze die Reihe kommt, und die Fürstenknechte erst in dem einen Gebiete gesiegt haben, um nun auch in dem anderen, falls es dann noch Lust verspüren sollte, sich wirklich zu erheben, die Bande fester schürzen, die Knechtschaft unzerreißbarer machen zu können. Ihr dann, die Ihr der Gewalt kühn die Stirne bietet, werdet verfolgt, gefangen, und hält Euch erst einmal der Kerker umschlossen, o Ihr Armen, dann, wehe, wehe Euch, Ihr seht das Licht nicht wieder.«
»Aber mein Herr –«
»Verzeihung, Fräulein – ich dachte an Deutschland – nicht an mich – so hören Sie denn. – In eine fremde Gegend hierher geschleudert, wo mir Weg und Steg fremd war, wußte ich nicht, an wen ich mich, von Verfolgern umgeben, wenden könne, um die nächste Richtung nach der Grenze zu erfahren – jeder Mann, den ich anredete, konnte ein Feind sein. Da sah ich von meinem Versteck aus Sie vorübergehen – Ihr holdes Angesicht, in dem kein Falsch lag, kein Verrath lauerte, gab mir Muth, ich trat auf Sie zu, wollte mit wenigen Worten ihre Furcht über meinen Anblick beschwichtigen, das Wort der Bitte dann an Sie richten, da – ein sicherer Schütze war es, der das Blei nach mir sandte – doch vielleicht war es gut – es kürzt meine Leiden ab.«
»Großer Gott – Sie sind verwundet?« rief Sophie rasch und erschreckt.
»Lassen Sie das –« sagte Wahlert mit leiser Stimme und ein Gedanke an Rettung zuckte ihm durch das Hirn – »mein Halstuch hat die Blutung gestillt und ich finde vielleicht morgen Jemanden, der mir die Kugel aus der Wunde zieht – ich wollte – ich wollte nur nicht der Gefahr ausgesetzt sein, vielleicht – vielleicht an Blutverlustim Walde liegen zu bleiben – ohne vorher wenigstens bei Ihnen rein dazustehen – die andere Dame schien mich für einen Räuber zu halten, der hülflose Frauen –«
»Heiland der Welt,« bat Sophie in Todesangst – »wie können Sie glauben – ich war – ich wußte –«
»Sophie!« rief in dem Augenblicke eine Stimme von der Treppe herauf – »Sophie!«
Die Jungfrau eilte zitternden Schrittes zur Thüre, öffnete diese und antwortete:
»Ja Mutter – ich komme gleich.« –
»Nein, Kind, machst Du lange,« sagte die Stimme unten, »die Suppe wird ja ganz kalt – der Vater ist auch eben gekommen.«
»Ich komme den Augenblick, Mutter!«
Die Thüre unten ging wieder zu.
»Sie müssen fort – gleich fort,« wandte sich jetzt das arme Mädchen in Todesangst an den Fremden, »aber wohin wollen Sie fliehen, wohinkönnenSie, verwundet und ohne Beistand.«
»Wenn ein Wundarzt hier im Orte wäre, dem ich mich anvertrauen dürfte,« flüsterte der Flüchtling, »es soll hier ein Doctor Levi in Horneck wohnen.«
»Das war ein glücklicher Gedanke,« rief schnell Sophie,»auch ist der seiner radicalen Gesinnungen wegen bekannt, und wird Sie nicht verrathen!«
»Aber wie find' ich sein Haus – wie verlass' ich diesen Ort, ich bin ja wie ein Wolf, wie ein gehetztes Thier des Waldes umstellt – doch was thut's – was schadet es, hab' ich mich doch jetzt wenigstens inIhrenAugen gerechtfertigt – haltenSiemich doch nicht mehr für schlecht – was kümmert mich's da, wie die Welt von mir denkt, was die Welt jetzt mit mir thut.«
»Bleiben Sie jetzt noch hier oben, bis wir gegessen haben,« sagte Sophie rasch und entschlossen, »ich werde Gelegenheit finden, dem Doctor ein paar Zeilen zu schreiben, später soll er Sie abholen; mit Hülfe von meines Vaters Hut und Mantel wird das möglich sein. Wenn auch Wachen ausstehen, kann man Sie nicht inderKleidung vermuthen. – Heiliger Gott, mein Vater kommt – wenn er hier einträte. –«
Der schwere Schritt des Pastors wurde auf den knarrenden Stiegen laut – im nächsten Augenblicke klopfte er an der Tochter Zimmer.
»Sophie,« sagte er dabei, »mach' rasch, daß du hinunter kommst. Die Mutter wartet und wird schon ganz ungeduldig – aber – wie ist mir denn – hier – hier ist ja gescheuert – ich will doch nicht hoffen« – er eilteschnellen Schrittes nach seiner weit offen stehenden Stube hinter, und die laut zürnende Stimme verrieth bald,waser dort gefunden haben mußte.
»Nein da hört Alles auf – Sophie – Frau – nun das hat mir noch gefehlt – Sophie – wo ist das Mädchen, Christel, Rose oder Grete, wie heißt sie denn nur eigentlich – Christel.«
»Halten Sie sich ruhig – ich hole Sie bald ab,« flüsterte Sophie, schob den Riegel zurück und glitt rasch aus dem Zimmer, das sie hinter sich wieder verschloß.
»Aber Mütterchen, was giebt es denn nur?«
»Wer hat dem unglückseligen Geschöpf von einem Mädchen gesagt, daß es meine Stube scheuern soll?« frug hier der gestrenge Herr Pastor und stand, mit dem Lichte in der Hand, dem Hut auf dem Kopfe und den Mantel noch umgehangen, auf der Schwelle seiner Stube – »wer hat der Liese oder Christel oder Grethe, wie sie heißt, aufgetragen, mich hier mit meinen Papieren unter Wasser zu setzen?«
»Ih Du meine Güte, was giebt es denn da oben nur eigentlich, warum kommt Ihr denn heute gar nicht zum Essen?« frug die Frau Pastorin, und ihr Kopf erschien eben hoch genug, um durch das hölzerne Treppengitter hin den Gang entlang sehen zu können. »Washast Du denn, Scheidler? Du machst ja einen entsetzlichen Spektakel?«
»Wer hat meine Stube scheuern lassen!« frug der Pastor hiergegen in lakonischer Kürze – »wer war der Unglückliche.«
»Deine Stube?« rief die Frau Pastorin erschreckt und kam rasch die Treppe ganz herauf – »ei Du lieber Gott, wenn man seine Augen doch auch nicht allerwegen hat – Rieke – Rieke – wo nur das Wettermädel wieder steckt – Sophie, ruf mir doch einmal die Rieke herauf, sie soll den Augenblick herkommen.« Und mit den Worten nahm sie ihrem Gatten das Licht aus der Hand, und hob dieses, die Stube betretend, aus der ihr ein feuchter warmer Dunst entgegenquoll, hoch empor.
Allerdings hatte aber auch der Pastor Ursache, erzürnt zu sein, und er wurde es erst noch, als er den vollen Umfang der angerichteten Verwirrung vollkommen überschauen konnte.
Die ganze Stube war gescheuert, aber nicht allein die Stube, sondern auch alles Holzwerk, es mochte nun Wasser vertragen oder nicht. Die Bücherbreter standen abgeräumt und naß, und auf den Stühlen, auf dem Ofen, auf Bett und Sopha lagen die Bücher, sorgfältig aber wild zusammengeschichtet über einander. Ja selbstder einfache Schreibtisch war der Scheuerwüthigen nicht entgangen, die Papiere, deren sie doch allein Anschein nach nicht sämmtlich Herr werden konnte, staken rücksichtslos in die oberen Fächer hineingestopft, oder flogen jetzt, da in diesem Augenblicke das Mädchen gerade unten mit einer neuen Tracht Wasser in's Haus kam, durch den Zug der geöffneten Thüre getrieben, von Bett und Sopha aus zerstreut in der nassen Stube herum. Kein Blatt, kein Buch, kein Stuhl lag oder stand an seinem alten gewohnten Platze, und der Raum glich eher jedem andern Zimmer, als dem stillen Studierstübchen eines fleißigen Pastors am Sonnabend Abend, wo er sich erst recht sorgsam auf die morgen zu haltende Rede vorbereiten sollte.