II
Darja Michailowna Laßunskis Haus galt fast für das erste im ganzen Gouvernement. Massiv, steinern, nach Entwürfen Rastrellis im Geschmacke des vergangenen Jahrhunderts erbaut, erhob es sich großartig auf dem Gipfel eines Hügels, an dessen Fuße einer der bedeutendsten Ströme des mittleren Rußlands vorüberfloß. Darja Michailowna selbst war eine angenehme und reiche Edelfrau, eines Geheimrats Witwe. Wenn auch Pandalewski von ihr zu sagen pflegte, sie kenne ganz Europa und Europa kenne sie, – so kannte sie doch Europa wenig und spielte selbst in Petersburg keine bedeutende Rolle; in Moskau dagegen kannten sie alle und statteten ihr Besuche ab. Sie gehörte der großen Welt an, und wurde für eine etwas sonderbare, nicht sehr gute, aber außerordentlich kluge Frau gehalten. In ihrer Jugend war sie sehr schön gewesen. Poeten hatten ihr Gedichte gewidmet, junge Leute sich in sie verliebt, hohe Herren ihr den Hof gemacht. Doch seit jener Zeit waren fünfundzwanzigbis dreißig Jahre verstrichen, und von den früheren Reizen war keine Spur zurückgeblieben. »Ist es möglich,« fragte sich jeder, der sie zum ersten Male sah, »ist es möglich, daß diese hagere, gelbliche, spitznasige und noch nicht betagte Frau einst eine Schönheit gewesen wäre? Ist sie es wirklich, sie selbst, welche ehedem von den Dichtern besungen wurde?« Und jedermann staunte innerlich über den Wechsel alles Irdischen. Es ist wahr, Pandalewski fand, daß Darja Michailownas Augen in wunderbarer Weise ihren alten Zauber behalten hatten; eben dieser Pandalewski aber behauptete ja auch, daß ganz Europa sie kenne.
Darja Michailowna kam jeden Sommer auf ihr Landgut mit ihren Kindern (sie hatte deren drei: eine Tochter Natalia, siebzehn Jahre, und zwei Söhne, zehn und neun Jahre alt), sie hielt offenes Haus, das heißt, sie empfing bei sich Männer; besonders unverheiratete Edeldamen aus der Provinz konnte sie nicht ausstehen. Dafür ließen ihr diese Damen aber auch kein gutes Haar! Darja Michailowna war, nach deren Aussagen, stolz, sittenverderbt, eine furchtbare Tyrannin, und was die Hauptsache wäre, – sie erlaube sich solche Freiheiten in der Unterhaltung, daß es ein Greuel sei! Darja Michailowna liebte es in der Tat nicht, sich auf dem Lande Zwang aufzulegen, und in der freien Einfachheit ihres Umganges blickte etwas von der Verachtung einer großstädtischen Weltdame für diesie umgebenden, meistens unbedeutenden Persönlichkeiten hindurch … Selbst mit ihren städtischen Bekannten ging sie ziemlich ungeniert, ja spöttisch um; doch fehlte dabei die Schattierung von Verachtung.
Hast du, lieber Leser, jemals bemerkt, daß Leute, die im Kreise ihrer Untergebenen ungewöhnlich zerstreut zu sein pflegen, es niemals im Umgange mit höher gestellten Personen sind? Woher mag das kommen? Doch – wozu dergleichen Fragen!
Nachdem Constantin Diomiditsch endlich die Thalbergsche Etüde einstudiert hatte, begab er sich aus seinem netten und freundlichen Stübchen hinaus ins Empfangszimmer und fand dort die ganze Gesellschaft des Hauses bereits versammelt. Der Salon war schon geöffnet. Auf einer breiten Couchette lag mit untergeschlagenen Beinen und eine neue französische Broschüre in der Hand, die Frau vom Hause; am Fenster vor dem Stickrahmen saßen, von einer Seite die Tochter Darja Michailownas, von der anderen Mlle. Boncourt, die Gouvernante, eine alte, vertrocknete Jungfer von sechzig Jahren mit einer schwarzen Haartour unter der farbigen Haube und Baumwolle in den Ohren; in der Ecke bei der Tür hatte Bassistow seinen Sitz genommen und las die Zeitung, während neben ihm Petja und Wanja auf dem Damenbrette spielten; an den Ofen gelehnt, die Hände auf dem Rücken, stand ein Herr von mittlerem Wuchse, mit unordentlichem,grauem Haar, von dunkler Gesichtsfarbe und kleinen, unruhigen, schwarzen Augen – Afrikan Semenitsch Pigassow mit Namen.
Ein sonderbarer Mensch war dieser Herr Pigassow. Auf alles und alle erbittert – vorzüglich auf das weibliche Geschlecht, schalt er vom Morgen bis zum Abend, zuweilen sehr treffend, zuweilen ziemlich flach, immer jedoch mit Selbstbefriedigung. Er war reizbar wie ein Kind; sein Lachen, der Ton seiner Stimme, sein ganzes Wesen schien von Galle getränkt. Darja Michailowna sah ihn gern bei sich: er ergötzte sie mit seinen Ausfällen. Und in der Tat waren sie sehr erheiternd. Es war seine Lust, alles zu übertreiben. Erzählte man zum Beispiel in seiner Gegenwart von einem Unfalle – war’s nun, daß der Blitz ein Dorf in Brand gesteckt, oder daß Wasser einen Mühldamm durchbrochen, oder daß ein Bauer sich mit der Axt die Hand abgehauen hatte – jedesmal fragte er mit gesteigerter Erbitterung: »Wie heißtsie?« nämlich wie das Weib heiße, das an dem Unglück schuld sei, – denn seiner Behauptung nach brauchte man nur tiefer auf den Grund zu gehen, um zu finden, daß jegliches Unglück durch ein Weib herbeigeführt werde. Einst warf er sich auf die Knie vor einer ihm fast unbekannten Frau, die in ihn drang, etwas zu kosten, und beschwor sie unter Tränen, aber mit sichtbarem Grimm in den verzerrten Zügen, sie wolle seiner schonen, er hätte nichts gegen sieverschuldet und werde sie künftig nie mehr besuchen. Ein anderes Mal ging ein Pferd mit einer der Waschfrauen Darja Michailownas einen Berg hinunter durch, warf in einem Graben um und hätte die Frau beinahe getötet. Pigassow nannte später das Pferd nie anders als das wackere, wackere Rößchen, und der Berg selbst, wie auch der Graben, däuchten ihm überaus malerische Plätze. Pigassow hatte kein Glück im Leben gehabt – daher in der Hauptsache sein wunderliches Gebaren. Er war armer Eltern Kind; die Beschäftigung seines Vaters war eine ziemlich untergeordnete gewesen, er hatte kaum lesen und schreiben gelernt und nicht an die Erziehung seines Sohnes gedacht; er hatte ihm Nahrung und Kleidung gegeben – das war alles! Von der Mutter wurde er verhätschelt, sie starb aber früh. Pigassow verdankte seine Bildung sich selbst; zuerst besuchte er die Kreisschule, dann das Gymnasium, erlernte die französische, deutsche, ja sogar die lateinische Sprache, und nachdem er mit einem vorzüglichen Zeugnisse das Gymnasium absolviert hatte, begab er sich nach Dorpat, wo er unter fortwährendem Kampfe mit der Not, dennoch nach drei Jahren richtig sein Triennium beendigte. Pigassows Fähigkeiten waren keineswegs außergewöhnlicher Art; er zeichnete sich durch Geduld und Beharrlichkeit aus, besonders stark war jedoch in ihm der Ehrgeiz, das Verlangen nach guter Gesellschaft und die Sucht, anderen nicht nachzustehen,dem Schicksal zum Trotz. Er lernte fleißig und hatte die Dorpatsche Universität aus Ehrgeiz bezogen. Die Armut stachelte ihn auf und entwickelte in ihm Beobachtungsgeist und Verschlagenheit. Er hatte eine eigentümliche Art sich auszudrücken; von Jugend auf hatte er sich eine besondere Art erbitterter und gereizter Beredsamkeit zu eigen gemacht. Seine Gedanken überstiegen nicht das gewöhnliche Niveau; doch war seine Rede der Art, daß er nicht bloß für einen klugen, sondern sogar für einen geistreichen Menschen gelten konnte. Nachdem er den Kandidatengrad erhalten hatte, beschloß er, sich dem Gelehrtenstande zu widmen, denn es war ihm klar, daß er in jeder anderen Laufbahn hinter seinen Gefährten zurückbleiben würde; er war bemüht, sich dieselben aus den höheren Ständen zu wählen und verstand es, sich ihnen gefällig zu zeigen, ja, er schmeichelte ihnen sogar, wenn auch immer mit Schelten. Doch da gebrach es ihm, um es einfach zu sagen, am nötigen Stoff. Als Autodidakt ohne Liebe zur Wissenschaft, wußte Pigassow im Grunde zu wenig. Er fiel bei der Disputation schmählich durch, während ein anderer Student, sein Stubengefährte, über den er sich beständig lustig gemacht hatte, ein beschränkter Kopf, der jedoch eine regelmäßige und gründliche Bildung genossen hatte, vollständigen Triumph über ihn davontrug. Dieser Unfall erbitterte Pigassow aufs äußerste: er warf alle seine Bücher und Hefte ins Feuer undtrat in den Staatsdienst. Anfangs ging es nicht schlecht damit: als Beamter war er zu allem gut, zwar nicht sehr expeditiv, dagegen aber über die Maßen selbstvertrauend und großsprecherisch; er wollte nur zu rasch emporkommen – verwickelte sich, strauchelte und war gezwungen, seinen Abschied zu nehmen. Drei Jahre lang blieb er auf seinem wohlerworbenen Gütchen sitzen und heiratete unvermutet eine reiche, wenig gebildete Gutsbesitzerin, die er an dem Köder seiner freien und spöttischen Manieren gefangen hatte; sein Charakter aber wurde immer verbissener und das Familienleben drückte ihn … Nachdem seine Frau einige Jahre mit ihm gelebt hatte, fuhr sie heimlich nach Moskau und verkaufte einem gewandten Abenteurer ihr Gut, in welchem Pigassow eben erst ein Wirtschaftsgebäude hatte erbauen lassen. Durch diesen letzten Schlag bis ins Innerste erschüttert, fing er einen Prozeß gegen seine Frau an, den er jedoch verlor … So lebte er nun seine Tage allein, besuchte seine Nachbarn, die er selbst in deren Gegenwart aufzog und die ihn mit einem gewissen gezwungenen und verbissenen Lachen empfingen, doch flößte er ihnen keine besondere Furcht ein, – ein Buch nahm er nie in die Hand. Er besaß nahezu hundert Seelen; seine Bauern litten nicht Not.
»Ah! Constantin!« sagte Darja Michailowna, als Pandalewski ins Gastzimmer trat. »Kommt Alexandrine?«
»Alexandra Pawlowna lassen sich empfehlen und werden sich ein besonderes Vergnügen daraus machen,« erwiderte Constantin Diomiditsch, sich nach allen Seiten hin anmutig verbeugend, und mit dem dicken, aber weißen Händchen, dessen Fingernägel dreieckig zugestutzt waren, sich das vorzüglich geordnete Haar leichthin streichelnd.
»Und Wolinzow kommt auch?«
»Wird auch kommen.«
»Ihrer Ansicht nach, Afrikan Semenitsch,« fuhr Darja Michailowna zu Pigassow gewendet fort, »sind also alle jungen Mädchen geziert?«
Pigassows Lippen verzerrten sich nach einer Seite hin, und er zuckte konvulsivisch mit dem Ellenbogen.
»Ich sage,« begann er in ungeduldigem Ton, – er sprach im heftigsten Anfall von Erbitterung langsam und deutlich, »ich sage, daß die jungen Mädchen im ganzen genommen – von den anwesenden, versteht sich’s, rede ich nicht …«
»Das hindert Sie aber nicht, auch diese im Sinne zu haben,« unterbrach ihn Darja Michailowna.
»Ich übergehe sie mit Schweigen,« wiederholte Pigassow. »Alle jungen Mädchen im allgemeinen sind in höchstem Grade geziert im Ausdrucke ihrer Gefühle. Erschrickt zum Beispiel ein junges Mädchen, erfreut oder betäubt sie etwas,das erste was sie tut, ist, sie gibt ihrem Körper eine gewisse graziöse Biegung (dabei gab Pigassow seiner Gestalt eine angemessene Wendung und streckte die Arme voneinander) und dann erst kreischt sie: ach! oder bricht in Lachen oder Schluchzen aus. Einmal übrigens,« und dabei lächelte Pigassow wohlgefällig, »habe ich es bei einem außerordentlich gezierten Fräulein dahin gebracht, einen wahren, ungeheuchelten Gefühlsausdruck zu erzwingen.«
»Auf welche Weise?«
Pigassows Augen funkelten.
»Ich gab ihr von hinten mit einem Espenpfahle einen Stoß in die Seite. Wie sie aufschrie! Bravo! bravo! rief ich. Das war die Stimme der Natur, das war ein natürlicher Schrei. So müssen Sie es künftig halten.«
Alle im Zimmer lachten auf.
»Was für einen Unsinn schwatzen Sie da, Afrikan Semenitsch!« rief Darja Michailowna. »Sie meinen, ich werde Ihnen glauben, Sie hätten ein Mädchen mit einem Pfahle in die Seite gestoßen!«
»So wahr Gott lebt, mit einem Pfahle, mit einem ungeheuren, wie jene, die bei der Verteidigung von Festungen gebraucht werden.«
»Mais c’est une horreur ce que vous dites là, monsieur,« rief mit Entsetzen Mlle. Boncourt, und warf einen strengen Blick auf die lachenden Kinder.
»Glauben Sie ihm doch nicht,« sagte Darja Michailowna, »kennen Sie ihn denn nicht?«
Die entrüstete Französin konnte sich aber lange nicht beruhigen und fuhr fort, vor sich hinzubrummen.
»Sie mögen mir glauben oder nicht,« fuhr mit gelassener Stimme Pigassow fort, »ich beteuere aber, daß ich die reine Wahrheit gesagt habe. Wer könnte es denn besser wissen als ich? Dann werden Sie es wohl auch nicht glauben, daß unsere Nachbarin, die Tschepusow, mir selbst erzählt hat, merken Sie wohl, sie selbst hat mir’s erzählt, daß sie ihren eigenen Neffen umgebracht hat?«
»Wieder eine schöne Erfindung!«
»Bitte, bitte! hören Sie und urteilen Sie selbst. Vergessen Sie nicht, ich will sie nicht verleumden, ich habe sie sogar lieb, das heißt, so lieb man ein Weib haben kann; es ist im ganzen Hause bei ihr kein Buch aufzutreiben, den Kalender ausgenommen, und lesen kann sie nicht anders als laut – diese Anstrengung treibt ihr den Schweiß auf die Stirn und sie klagt dann, daß ihr die Augen aus dem Kopfe springen wollten … Mit einem Wort, eine vortreffliche Frau, und ihre Dienstmädchen sind gut genährt. Warum sollte ich sie also verleumden?«
»Nun!« warf Darja Michailowna hin, »unser Afrikan Semenitsch hat sein Steckenpferd bestiegen – vor dem Abend steigt er nicht wieder herunter.«
»Mein Steckenpferd … Die Weiber haben deren drei und kommen niemals von denselben herunter – außer etwa, wenn sie schlafen.«
»Welches sind denn diese drei?«
»Sticheln, Anspielen, Anklagen.«
»Aber, Afrikan Semenitsch,« sagte Darja Michailowna, »Sie müssen gewiß nicht ohne Grund so sehr gegen die Frauen erbittert sein. Es muß Sie durchaus irgendeine …«
»Beleidigt haben, wollen Sie sagen?« unterbrach sie Pigassow.
Darja Michailowna wurde etwas verwirrt; es fiel ihr die unglückliche Ehe Pigassows ein … und sie nickte bloß mit dem Kopfe.
»Es ist wahr, mich hat ein Weib beleidigt,« erwiderte Pigassow, »obgleich es eine gute, sehr gute Frau war …«
»Wer war denn das?«
»Meine Mutter,« brachte Pigassow halblaut hervor.
»Ihre Mutter? Wie konnte die Sie wohl kränken?«
»Dadurch, daß sie mich zur Welt gebracht hat.«
Darja Michailowna zog die Brauen zusammen.
»Mich dünkt,« sagte sie, »unsere Unterhaltung nimmt eine trübe Wendung … Constantin, spielen Sie uns doch die neue Etüde von Thalberg vor … Vielleicht werden die Töne der Musik Afrikan Semenitsch bezähmen. Hat es doch Orpheus über wilde Tiere vermocht.«
Constantin Diomiditsch setzte sich ans Klavier und trug die Etüde zu voller Befriedigung vor. Anfangs hörte Natalia mit Aufmerksamkeit zu, fuhr aber dann in ihrer Arbeit wieder fort.
»Merci c’est charmant,« äußerte Darja Michailowna, »ich liebe den Thalberg.Il est si distingué.Worüber sinnen Sie, Afrikan Semenitsch?«
»Ich dachte,« begann langsam Pigassow, »es gibt drei Sorten von Egoisten: solche, welche selbst leben und andere leben lassen; Egoisten, welche selbst leben und andere nicht leben lassen, und endlich solche, welche weder selbst leben, noch andere leben lassen … Die Weiber gehören größtenteils zu der dritten Gattung.«
»Wie liebenswürdig! Was mich aber wundert, Afrikan Semenitsch, das ist die Zuversicht in Ihren Reden: Sie urteilen, als könnten Sie niemals irren.«
»Bewahre! Auch ich kann mich irren! Auch der Mann kann sich irren! Aber, wissen Sie, worin der Unterschied besteht zwischen unserem Irren und dem eines Weibes? Sie wissen es nicht? Ich will es Ihnen sagen: ein Mann zum Beispiel kann sagen, zwei mal zwei mache nicht vier, sondern fünf oder dreiundeinhalb; ein Weib aber wird sagen: zweimal zwei macht – ein Stearinlicht.«
»Das habe ich, dünkt mich, schon einmal gehört … Erlauben Sie mir aber die Frage, in welcher Beziehung steht Ihre Idee von den dreiGattungen Egoisten zu der Musik, die wir soeben gehört haben?«
»Durchaus in keiner; ich habe gar nicht auf die Musik gehört.«
»Nun, mein Bester, ich sehe, Sie sind unverbesserlich, ich ziehe mich zurück,« erwiderte Darja Michailowna, einen Vers aus Gribojedow variierend. »Was lieben Sie denn, wenn selbst Musik Sie nicht anspricht? Literatur etwa?«
»Die Literatur liebe ich, aber nicht die der Gegenwart.«
»Weshalb?«
»Das will ich Ihnen sagen. Vor kurzem bei einer Überfahrt über die Oka traf ich mit einem Herrn zusammen. Die Fähre legte bei einer steilen Stelle an: die Equipage mußte durch Menschenhände hinaufgeschleppt werden. Jener Herr hatte eine außerordentlich schwere Kalesche. Während die Fährleute sich bei dem Hinaufziehen des Fuhrwerks abarbeiteten, stand der Herr auf der Fähre und stöhnte, daß man ordentlich Mitleid mit ihm haben konnte … Da haben wir, fiel mir ein, eine neue Anwendung des Systems der geteilten Arbeit! So ist es auch mit der Literatur der Gegenwart: Andere ziehen und verrichten die Arbeit, und sie stöhnt.«
Darja Michailowna lächelte.
»Und das nennt sich ein Spiegelbild des Lebens der Gegenwart,« fuhr der unerbittliche Pigassow fort, »tiefe Sympathie für die sozialenFragen und wer weiß wie noch … Ach, über diese hochtönenden Worte!«
»Die Frauen aber, die Sie so angreifen, sie wenigstens gebrauchen keine hochtönenden Worte.«
Pigassow zuckte die Achseln.
»Sie gebrauchen sie nicht, weil sie sich darauf – nicht verstehen.«
Darja Michailowna errötete leicht.
»Sie werden etwas dreist, Afrikan Semenitsch!« bemerkte sie mit erzwungenem Lächeln.
Alle im Zimmer wurden still.
»Wo liegt Solotonoscha?« fragte auf einmal einer der Knaben Bassistow.
»Im Gouvernement Poltawa, mein Lieber,« nahm Pigassow das Wort, »im Herzen des Schopflandes[1].« (Er war froh, der Unterhaltung eine andere Wendung geben zu können.) »Wir sprachen von Literatur,« fuhr er fort, »wenn ich Geld übrig hätte, so würde ich ohne weiteres kleinrussischer Dichter werden.«
»Was soll denn das noch? Ein schöner Dichter!« erwiderte Darja Michailowna, »kennen Sie denn die kleinrussische Sprache?«
»Nicht im mindesten; das ist aber auch nicht nötig.«
»Wieso nicht nötig?«
»Ganz einfach! Man nehme nur einen BogenPapier und schreibe oben darauf: ›Duma‹[2]; dann stelle man eine Anzahl Worte ohne all und jeden Sinn zusammen, füge nur einige kleinrussische Interjektionen wie: graje, graje, woropaje, hopp, hopp! oder etwas in dieser Art hinzu, und das Ding ist fertig. Dann schicke man es in die Druckerei und gebe es heraus. Der Kleinrusse wird es lesen, den Kopf auf die Hand fallen lassen und gewiß dabei Tränen vergießen. Das ist nun einmal so eine gefühlvolle Seele!«
»Ich bitte Sie!« rief Bassistow. »Was erzählen Sie da? Da hört aber alles auf. Ich habe in Kleinrußland gelebt, liebe das Land und kenne die Sprache … ›graje, graje, woropaje‹ ist ein vollständiger Unsinn.«
»Möglich, der Schopfkurt würde aber doch Tränen dabei vergießen. Sie sagen die Sprache … Gibt es aber denn eine kleinrussische Sprache? Ich bat einmal einen Kleinrussen, mir irgendeine Phrase zu übersetzen, und wie glauben Sie, daß er sie übersetzt hat? Er wiederholte fast genau die von mir vorgesprochenen Worte, nur daß er durchgängig i in ü verwandelte. Ist das etwa nach Ihren Begriffen eine Sprache? Eine selbständige Sprache? Bevor ich Ihnen das zugebe, lasse ich meinen besten Freund in einem Mörser zerstoßen …«
Bassistow wollte ihm etwas entgegnen.
»Lassen Sie ihn,« sagte Darja Michailowna,»Sie wissen ja, daß man von ihm außer Paradoxen nichts zu hören bekommt.«
Pigassow lächelte boshaft. Ein Diener erschien und meldete die Ankunft Alexandra Pawlownas und ihres Bruders.
Darja Michailowna erhob sich, um ihre Gäste zu empfangen.
»Guten Tag, Alexandrine!« sagte sie, ihr entgegengehend, »wie schön von Ihnen, daß Sie gekommen sind … Guten Tag, Sergei Pawlowitsch!«
Wolinzow drückte Darja Michailowna die Hand und trat auf Natalia zu.
»Nun, und der Baron, Ihr neuer Bekannter, wird er heute kommen?« fragte Pigassow.
»Ja, er wird kommen.«
»Es soll ja ein großer Philosoph sein: wirft mit Hegel um sich.«
Darja Michailowna antwortete nichts, ließ Alexandra Pawlowna auf der Couchette Platz nehmen und setzte sich selbst neben sie.
»Die Philosophie,« fuhr Pigassow fort, »der höhere Gesichtspunkt! Sind sie mir zum Ekel geworden, diese höheren Gesichtspunkte! Und was kann man aus der Höhe sehen? Ich denke, kauft jemand ein Pferd, so wird er nicht erst einen Turm besteigen, um es zu beschauen!«
»Dieser Baron wollte Ihnen einen Aufsatz bringen?« fragte Alexandra Pawlowna.
»Ja, einen Aufsatz«, erwiderte Darja Michailowna mit übertriebener Gleichgültigkeit, »überdie Beziehungen des Handels zu der Industrie in Rußland … Erschrecken Sie aber nicht: wir werden das jetzt nicht lesen … Ich habe Sie nicht deshalb eingeladen.Le baron est aussi aimable que savant.Und spricht sehr gut russisch!C’est un vrai torrent … il vous entraine.«
»Er spricht so gut russisch,« brummte Pigassow, »daß er verdient hat, französisch gelobt zu werden.«
»Brummen Sie nur, Afrikan Semenitsch, brummen Sie nur immer zu … das paßt sehr gut zu Ihrem verwühlten Haar … Warum kommt er aber nicht? Wissen Sie aber,messieurs et mesdames,« setzte Darja Michailowna, sich im Kreise umsehend, hinzu: »wir wollen in den Garten gehen. Bis zum Essen ist es noch eine Stunde und das Wetter ist so herrlich …«
Die ganze Gesellschaft erhob sich und begab sich in den Garten.
Der Garten Darja Michailownas reichte bis an den Fluß. Es waren in demselben viele dunkle und duftige Alleen alter Lindenbäume, die in smaragdgrüne Lichtungen mit vielen Lauben aus Akazien und Fliederbäumen ausliefen.
Wolinzow in Begleitung von Natalia und Mlle. Boncourt hatten sich in das Dickicht des Gartens vertieft. Wolinzow ging neben Natalia her und schwieg. Mlle. Boncourt folgte in einiger Entfernung.
»Womit haben Sie sich heute beschäftigt?«fragte endlich Wolinzow und streichelte dabei die Spitze seines schönen, dunkelblonden Schnurrbartes.
Er war seiner Schwester sehr ähnlich, doch zeigten seine Gesichtszüge weniger Beweglichkeit und Leben, und seine Augen, hübsch und sanft, hatten einen etwas schwermütigen Ausdruck.
»Mit wenigem,« erwiderte Natalia, »ich habe das Schelten Pigassows mit angehört, habe am Stickrahmen genäht und habe gelesen.«
»Und was haben Sie gelesen?«
»Ich habe … die Geschichte der Kreuzzüge gelesen,« brachte Natalia mit einigem Stocken hervor.
Wolinzow blickte sie an.
»Oh,« sagte er endlich, »das muß interessant sein.«
Er riß einen Zweig ab und fächelte damit in der Luft. Sie gingen noch etwa zwanzig Schritte weiter.
»Was für ein Baron ist das, dessen Bekanntschaft Ihre Mama gemacht hat?« fragte dann wieder Wolinzow.
»Ein Kammerjunker, seit kurzem angekommen; Mama lobt ihn sehr.«
»Ihre Mama gibt sich leicht dem ersten Eindrucke hin.«
»Ein Beweis, daß ihr Herz noch jugendlich fühlt,« bemerkte Natalia.
»Gewiß. Ich werde Ihnen bald Ihr Pferd zuschicken. Es ist schon fast ganz zugeritten. Es sollmir gleich im Galopp vom Platz, dazu muß ich es bringen.«
»Merci… Es macht mich aber wirklich verlegen. Sie reiten es selbst zu … das soll ja sehr angreifend sein.«
»Um Ihnen das geringste Vergnügen zu bereiten, Sie wissen es, Natalia Alexejewna, bin ich bereit … würde ich … nicht solche Kleinigkeiten …«
Wolinzow stockte.
Natalia blickte ihn freundlich an und sagte nochmals:merci.
»Sie wissen,« fuhr Sergei Pawlitsch nach längerem Schweigen fort, »es gibt nichts … Doch warum sage ich das! Sie wissen ja alles.«
In diesem Augenblicke erschallte die Glocke im Hause.
»Ah!La cloche du dîner!« rief Mlle. Boncourt, »rentrons.«
Quel dommage, dachte bei sich die alte Französin, als sie hinter Natalia und Wolinzow die Stufen zur Terrasse hinaufstieg,quel dommage que ce charmant garçon ait si peu de ressources dans la conversation… was man etwa so wiedergeben könnte: du bist ganz nett, mein Lieber, aber etwas beschränkt.
Der Baron kam nicht zum Mittagessen. Man wartete eine halbe Stunde auf ihn. Bei Tische wollte es mit der Unterhaltung nicht recht vorwärts gehen. Sergei Pawlitsch blickte fortwährend Natalia an, neben welcher er saß, undschenkte ihr eifrig Wasser ins Glas. Pandalewski bemühte sich vergeblich, seine Nachbarin, Alexandra Pawlowna, zu unterhalten: er zerfloß in Liebenswürdigkeiten, während es ihr Mühe kostete, das Gähnen zu unterdrücken.
Bassistow machte Brotkügelchen und dachte an nichts; selbst Pigassow war verstummt, und als Darja Michailowna ihm bemerkte, daß er heute nicht liebenswürdig sei, antwortete er mürrisch: »Wann bin ich denn liebenswürdig? Es ist nicht meine Art …« Und setzte mit bitterem Lächeln hinzu: »Haben Sie nur Geduld; ich bin ja nur Kwas, ordinärer russischer Kwas; wenn aber Ihr Kammerjunker …«
»Bravo!« rief Darja Michailowna. »Pigassow wird eifersüchtig, zum voraus eifersüchtig!«
Pigassow jedoch erwiderte nichts darauf, sondern schaute finster vor sich hin.
Es schlug sieben Uhr und alle versammelten sich wieder im Gastzimmer.
»Es scheint, er wird nicht kommen,« sagte Darja Michailowna … Doch plötzlich ließ sich das Rollen eines Wagens vernehmen, ein mittelgroßer Tarantaß lenkte in den Hof und nach einigen Minuten erschien ein Diener im Gastzimmer und reichte Darja Michailowna einen Brief auf einem kleinen silbernen Präsentierteller. Sie durchlief denselben bis zum Ende und fragte dann, zum Diener gewendet:
»Und wo ist der Herr, der diesen Brief gebracht hat?«
»Er ist im Wagen sitzengeblieben. Befehlen Sie, ihn herein zu nötigen?«
»Bitte ihn her.«
Der Diener verschwand.
»Ist das nicht ärgerlich, denken Sie doch,« fuhr Darja Michailowna fort, »der Baron hat die Weisung bekommen, sogleich nach Petersburg zurückzukehren. Er schickt mir seinen Aufsatz durch einen Herrn Rudin, seinen Freund. Der Baron wollte mir denselben vorstellen – er sagt von ihm viel Gutes. Doch wie das störend ist! Ich hatte darauf gerechnet, der Baron werde hier einige Zeit zubringen …«
»Dimitri Nikolaitsch Rudin,« meldete der Diener.