X

X

Wolinzow verließ gegen zehn Uhr sein Lager und als er hörte, daß Leschnew bei ihm auf dem Balkon sitze, wunderte er sich sehr und ließ ihn zu sich bitten.

»Was ist vorgefallen?« fragte er ihn. »Du wolltest ja nach Hause fahren.«

»Ja, ich wollte, mir ist jedoch Rudin begegnet … Spaziert allein auf dem Felde und das Gesicht so verstört. Ich dachte nicht lange nach und kehrte um.«

»Du bist zurückgekehrt, weil dir Rudin begegnete?«

»Das heißt – die Wahrheit zu sagen – ich weiß selbst nicht, weshalb ich zurückgekommen bin; vermutlich weil du mir in den Sinn kamst: ich empfand das Verlangen, noch etwas bei dir zu sitzen, nach Hause komme ich noch früh genug.«

Wolinzow lächelte bitter.

»Ja, an Rudin kann man jetzt nicht mehr denken, ohne zu gleicher Zeit auch an mich zu denken … He!« rief er dem Diener laut zu, »bringe uns Tee.«

Die Freunde nahmen das Frühstück ein. Leschnew begann von Landwirtschaft zu sprechen, von einer neuen Art, die Scheunen mit Pappe zu decken …

Plötzlich sprang Wolinzow von seinem Sessel auf und schlug so heftig auf den Tisch, daß Tassen und Untertassen erklirrten.

»Nein!« rief er aus, »ich habe nicht die Kraft, es länger zu ertragen! Ich werde diesen Schöngeist fordern und mag er mich zusammenschießen, oder ich ihm eine Kugel durch seine gelehrte Stirn jagen!«

»Was ficht dich an, ermanne dich!« schalt Leschnew, »wie kann man so schreien! Ich habe dabei mein Pfeifenrohr fallen lassen … Was ist dir?«

»Das ist mir, daß ich diesen Namen nicht gleichgültig anhören kann: alles Blut steigt mir zu Kopfe.«

»Geh doch, Bruder, geh! Schämst du dich denn nicht!« erwiderte Leschnew, die Pfeife vom Boden aufhebend. »Denk nicht mehr daran! – Hol ihn der Teufel!«

»Er hat mich beleidigt,« fuhr Wolinzow fort, indem er im Zimmer umherging … »ja! er hat mich beleidigt. Du mußt es selbst gestehen. Im ersten Augenblick fand ich mich nicht zurecht: er hatte mich stutzig gemacht; und wer konnte es auch erwarten? Ich will ihm aber beweisen, daß ich nicht mit mir spaßen lasse … Ich will ihn, diesen verdammten Philosophen, wie ein Feldhuhn über den Haufen schießen.«

»Ein großer Gewinn für dich! In der Tat! Von deiner Schwester gar nicht zu reden. Eine bekannte Sache, die Leidenschaft behält bei dir die Oberhand … wie solltest du an deine Schwester denken! Aber in betreff einer anderen Person,glaubst du, du werdest besser reüssieren, wenn du den ›Philosophen‹ tötest?«

Wolinzow warf sich in einen Sessel.

»Dann gehe ich fort, wohin es auch sei, nur fort von hier! Der Gram preßt mir hier das Herz ab, so daß ich nirgends Ruhe finde.«

»Du willst fort … das ist eine andere Sache! Damit bin ich ganz einverstanden. Und weißt du, was ich dir vorschlagen will? Wir wollen zusammen nach dem Kaukasus oder auch nach Kleinrußland und uns an Mehlklößen gütlich tun. Ein herrliches Ding das, Bruder!«

»Gut; wer bleibt aber bei der Schwester?«

»Und warum sollte denn Alexandra Pawlowna nicht mit uns reisen? Bei Gott, das wäre herrlich. Ich übernehme es, für sie Sorge zu tragen! Es soll ihr an nichts fehlen; wenn sie es wünscht, werde ich ihr jeden Abend unter ihrem Fenster mit einer Serenade aufwarten; die Fuhrleute will ich mit Kölnischem Wasser einparfümieren, die Wege mit Blumen schmücken. Na, Bruder, und wir beide, wir werden wie neugeboren sein; wir wollen uns dem Genusse rückhaltlos hingeben und solche Wänste mit nach Hause bringen, daß keine Liebe uns mehr etwas wird anhaben können!«

»Du treibst immer Scherz, Mischa!«

»Ich scherze durchaus nicht. Das war ein brillanter Einfall von dir.«

»Nein! Unsinn!« rief Wolinzow wieder, »schlagen, schlagen will ich mich mit ihm! …«

»Schon wieder, Bruder, bist du denn heute ganz von Sinnen!«

Der Diener trat mit einem Briefe in der Hand herein.

»Von wem?« fragte Leschnew.

»Von Rudin, von Dmitri Nikolajewitsch Rudin. Der Diener aus dem Laßunskischen Hause hat ihn gebracht.«

»Von Rudin?« wiederholte Wolinzow. »An wen?«

»An Sie.«

»An mich … gib her.«

Wolinzow ergriff den Brief, erbrach ihn hastig und las. Leschnew beobachtete ihn aufmerksam: ein eigentümliches, fast freudiges Erstaunen war auf Wolinzows Gesicht zu bemerken; er ließ die Arme sinken.

»Was gibt’s?« fragte Leschnew.

»Lies!« sagte Wolinzow halblaut und reichte ihm den Brief.

Leschnew begann wie folgt zu lesen:

»Mein Herr Sergei Pawlowitsch!

Ich verlasse heute Darja Michailownas Haus, verlasse es für immer. Es wird Sie das befremden, zumal nach dem gestrigen Vorfalle. Ich kann Ihnen nicht auseinandersetzen, was mich zwingt, so zu verfahren; mich dünkt aber, ich müsse Sie von meiner Abreise benachrichtigen. Sie lieben mich nicht und halten mich sogar für einen schlechten Menschen. Ich beabsichtige nicht, michzu rechtfertigen: die Zeit wird es tun. Meiner Ansicht nach ist es eines Mannes nicht würdig und zudem unnütz, einem von vorgefaßten Meinungen befangenen Menschen das Unbegründete seiner Vorurteile vorzuhalten. Wer mich verstehen will, wird mich entschuldigen, wer mich nicht verstehen will oder kann – dessen Beschuldigungen berühren mich nicht. Ich habe mich in Ihnen getäuscht. In meinen Augen werden Sie wie vorher als edler und ehrenhafter Mann dastehen; ich hatte aber gedacht, Sie würden es vermögen, sich über den Kreis, in welchem Sie auferzogen worden sind, zu erheben … Ich habe mich getäuscht. Was liegt daran! Es ist nicht das erste und wohl auch nicht das letztemal, daß mir dies passiert. Ich wiederhole Ihnen: ich reise ab. Ich wünsche Ihnen alles mögliche Glück. Sie werden gestehen, daß dies ein durchaus uneigennütziger Wunsch ist, und ich gebe mich der Hoffnung hin, Sie werden jetzt glücklich werden. Vielleicht werden Sie mit der Zeit Ihre Meinung über mich ändern. Ob wir einander noch einmal wiedersehen, weiß ich nicht, ich bleibe aber dennoch der Sie aufrichtig achtende

D. R.

P. S.Die zweihundert Rubel, welche ich Ihnen schulde, werde ich Ihnen zustellen, sobald ich auf meinem Gute, im T…schen Gouvernement, angekommen sein werde. Ich bitte noch, in Darja Michailownas Beisein von diesem Briefe nicht zu reden.

P. S.Noch eine letzte, doch wichtige Bitte: da ich unverzüglich abreise, hoffe ich, werden Sie gegen Natalia Alexejewna nicht meines Besuches bei Ihnen Erwähnung tun …«

»Nun, was sagst du dazu?« fragte Wolinzow, als Leschnew den Brief beendigt hatte.

»Was läßt sich dazu sagen!« erwiderte Leschnew. »Alles, was man tun kann, ist, wie die Morgenländer: Allah! Allah! ausrufen und den Finger als Zeichen der Verwunderung in den Mund stecken. – Er reist ab … Nun! Möge der Weg vor ihm eben sein! Interessant ist’s aber, daß er diesen Brief zu schreiben für Pflicht gehalten hat, ebenso wie er auch aus Pflicht getrieben wurde, dir einen Besuch zu machen … Bei diesem Herrn dreht sich’s immer um den Pflicht- und Schuldbegriff,« setzte Leschnew, mit einem Lächeln auf das Postskriptum deutend, hinzu.

»Und was für Phrasen er da macht!« rief Wolinzow. »Hat sich in mir getäuscht: er hätte erwartet, ich werde mich über einen gewissen Kreis erheben … Himmel! Ist das ein Gewäsch! Noch ärger als Gedichte!«

Leschnew erwiderte nichts; nur in den Augen ward ein Lächeln bemerkbar. Wolinzow erhob sich.

»Ich will zu Darja Michailowna fahren,« sagte er, »ich will hören, was dies alles bedeutet …«

»Warte, Bruder: gib ihm Zeit, sich davonzumachen.Warum wolltest du wieder mit ihm zusammentreffen? Er verschwindet ja – was willst du mehr? Besser, du legst dich hin und schläfst aus; du hattest dich ohnehin gewiß die ganze Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt! Jetzt wird es ja besser mit deinen Angelegenheiten …«

»Woraus schließt du das?«

»Nun, mir kommt es so vor. Lege dich aber hin und schlafe ein wenig, ich will unterdessen zu deiner Schwester – und ihr Gesellschaft leisten.«

»Ich will ja nicht schlafen. Weshalb sollte ich schlafen! … Ich will lieber die Felder besichtigen,« sagte Wolinzow, die Schöße seines Mantels zurecht zupfend.

»Auch das! Reite hin, Bruder, reite hin, besichtige die Felder …«

Und Leschnew begab sich in die andere Hälfte des Hauses zu Alexandra Pawlowna. Er traf sie in ihrem Gastzimmer. Sie bewillkommnete ihn freundlich. Sie war wie immer über seinen Besuch erfreut, doch behielt ihr Gesicht einen betrübten Ausdruck. Der gestrige Besuch Rudins beunruhigte sie.

»Sie kommen vom Bruder?« fragte sie Leschnew, »wie ist er heute?«

»Es macht sich, er ist auf die Felder geritten.«

Alexandra Pawlowna schwieg.

»Sagen Sie mir,« begann sie, den Rand ihresSchnupftuches mit Aufmerksamkeit betrachtend, »Sie wissen nicht, warum …«

»Rudin gekommen ist?« setzte Leschnew hinzu. »Ich weiß es: er kam, um Abschied zu nehmen.«

Alexandra Pawlowna erhob den Kopf.

»Wie – um Abschied zu nehmen?«

»Jawohl. Haben Sie denn nicht gehört? Er verläßt Darja Michailowna.«

»Verläßt sie?«

»Für immer; so sagt er wenigstens.«

»Aber wie kann das sein, wie ist das zu verstehen, nach allem, was …«

»Ja, das ist eine andere Sache! Verstehen läßt sich’s nicht, es ist aber so. Es muß dort etwas vorgefallen sein. Er hat wohl die Sehne zu stark gespannt, und sie ist – gerissen.«

»Michael Michailitsch!« sagte Alexandra Pawlowna, »ich verstehe nichts; Sie wollen, dünkt mich, Spaß mit mir treiben …«

»Nein! Bei Gott nicht … Ich sage Ihnen, er reist fort und teilt dies seinen Bekannten sogar brieflich mit. Von einem gewissen Gesichtspunkte aus betrachtet, ist das, wenn Sie wollen, nicht übel; seine Abreise verhindert indessen die Ausführung eines der merkwürdigsten Unternehmen, welches Ihr Bruder und ich soeben erst zu besprechen begonnen hatten.«

»Was ist das für ein Unternehmen?«

»Sie sollen es hören. Ich machte Ihrem Bruder den Vorschlag, zur Zerstreuung auf Reisenzu gehen und Sie zu entführen. Ich übernahm es, speziell für Sie Sorge zu tragen …«

»Wie ist das schön!« rief Alexandra Pawlowna, »ich kann mir denken, auf welche Weise Sie für mich Sorge tragen würden. Sie ließen mich vermutlich Hungers sterben.«

»Das sagen Sie, Alexandra Pawlowna, weil Sie mich nicht kennen. Sie glauben, ich sei ein Klotz, ein wahrer Klotz, ein Holzblock! Wissen Sie aber, daß ich imstande bin, zu schmelzen wie Zucker und tagelang auf den Knien zu liegen?«

»Das möchte ich wahrhaftig sehen!«

Leschnew erhob sich plötzlich. »Nun, nehmen Sie mich zum Manne, Alexandra Pawlowna, dann werden Sie es erleben.«

Alexandra Pawlowna wurde bis über die Ohren rot.

»Was haben Sie da gesagt, Michael Michailitsch?« brachte sie verwirrt hervor.

»Gesagt habe ich,« erwiderte Leschnew, »was mir schon längst und tausendmal auf der Zunge geschwebt hat. Ich habe es nun ausgesprochen und Sie können nach Gutdünken verfahren. Um Ihnen jedoch nicht störend zu sein, will ich mich jetzt entfernen. Ja, ich entferne mich … Wenn Sie meine Frau werden wollen … Wenn es Ihnen nicht zuwider ist, lassen Sie mich nur rufen; ich werde es schon verstehen …«

Alexandra Pawlowna wollte Leschnew zurückhalten, er ging aber rasch hinaus und begabsich ohne Mütze in den Garten und starrte, auf die Gartentür gestützt, ins Weite hinaus.

»Michael Michailitsch!« ließ sich hinter ihm die Stimme des Kammermädchens hören, »die gnädige Frau läßt Sie zu sich bitten.«

Michael Michailitsch wandte sich um, faßte das Mädchen zu seinem großen Erstaunen beim Kopfe, küßte es auf die Stirn und begab sich zu Alexandra Pawlowna.


Back to IndexNext