Der ewige Regen hatte auch dem alten Herrn die Stimmung des Hochsommers und Herbstes nicht leichter gemacht. Jeden Tag von neuem rauschten die Wassermengen herab oder tröpfelten in leisem Fall auf die Erde, die sie nicht mehr aufnehmen konnte. Verschlammt lag das Land.
Er verstand ja nichts vom Segelsport, aber daß Wynfried gerade in diesem Sommer, der nicht nur Arbeit, Ernte und Wohlstand, sondern auch Spiel und Frohsinn zerstörte, eine solche fanatische Vorliebe zur Segelei faßte, war ihm nicht begreiflich. Jede Woche fuhr er für zwei, drei Tage nach Hamburg. Und als es Herbst ward, ließ er dort auch die Jacht in Winterquartier legen und die Mannschaft abheuern. – Der Geheimrat dachte unruhig: so kann sie niemals hier davon sprechen, ob wirklich gesegelt worden ist.
Sein Sohn hätte ihm gefallen sollen. – Er sah es selbst: ein schöner Mann, voll lachender Lebensfreude.Eine merkwürdige Blüte war über ihn gekommen. Derlei beobachtet man sonst wohl bei Frauen, die einen neuen Liebesfrühling erleben – seltsam. Und wenn Wynfried zu Haus war, arbeitete er froh, forsch, geschickt.
Trotz allem – sein Sohn gefiel ihm nicht.
Er brachte auch sehr oft von seinen Fahrten Klara eine schöne Aufmerksamkeit mit – in feinster Wahl zum Luxusgebrauch einer verwöhnten Frau ausgesucht.
Alles sah geregelt, unauffällig aus.
Weshalb sich sorgen?
Er beobachtete Klara. – Und er sagte es sich jeden Tag: jetzt erst, jetzt sah sie ihrer Mutter völlig ähnlich. Und er verstand in diesem Angesicht zu lesen, wie dereinst in dem der Toten.
Diese edlen Linien waren von einem reinen und tiefen Schmerz wie verklärt.
Niemals sprachen sie zusammen von dem Manne, der hier früher doch so gern gesehen worden war ... Und sie verstanden sich in diesem Schweigen.
War es nicht, als ob die junge Frau dem sorgenvollen alten Mann unablässig zeigen wollte: ängstige dich nicht um mich! Sie suchte heiter zu scheinen, und wenn sie ihr Kind herbeitrug, war es dem Greis voll Bedeutung. Sie hingen dem Kinde mit Leidenschaft an. Es war ihr Trost – es war die Zukunft.
Dennoch – die Wochen, die Monde lasteten. Kampf und große Stimmungen hätten den alten Mann zu frischem Lebenswillen wieder aufrufen können.
Er bewunderte den stillen Heldenmut, mit dem diese junge, geliebte Frau ihr Herz überwand.
Er bewunderte auch den Mann, der sich schweigend und beherrscht zurückgezogen hatte.
Aber das ohnmächtige Zusehen ließ ihn leiden.
Wenn er doch wenigstens die Doktorin Lamprecht einmal vor seinen Krankheitsthron hätte fordern dürfen. Das wollte er nicht, um kein Aufsehen dadurch zu machen. Aber diese alte Frau war ja wie von einem Magneten drüben festgehalten – war eine von den putzigen Weibern, die im Untergrund ihres Herzens Tod und Unglücksfälle als Fest genießen, weil es Abwechslungen sind, die ihnen Zunge und Glieder beweglich machen. Plagte sicherlich den Hauptmann mit Übermaß von Aufopferung und Geschwätzigkeit. Aber der natürlich war waffenlos dagegen – er wußte doch: sie meinte es redlich.
Und eine gewisse Frage brannte ihm im Herzen. Nur die Alte konnte sie beantworten.
Endlich reiste Likowski ab. Ohne sich vorher noch, wie der Geheimrat ihm anbieten ließ, mit dem Auto zum Besuch herüberholen zu lassen. Er schrieb herzliche Abschiedsworte. Zu grotesk komme er sich jetzt vor – er möge niemanden und am wenigsten seinem selbst an den Stuhl gefesselten hochverehrten Freund und Gönner was vorhumpeln. Er denke sich nun in Wiesbaden wieder einen festen, geraden Gang heranzubaden, werde danach seinen Urlaub noch mit kurzen Besuchen bei seinen Vettern beschließen, davon etliche in Frankfurt, Köln und Hannover an seiner Reiseroute garnisonierten, und hoffe, sich in der zweiten Novemberhälfte wieder vorstellen zu dürfen.
Hiernach konnte man alsbald den Besuch der von ihrem Pflegeramt befreiten Alten erwarten. Am nächsten Tag war sie da. Vorerst entlud sie bei Klara in sich überstürzendem Durcheinander ihre Bewunderung des Kindes und den Bericht über Likowskis Krankheitsgeschichte und Abreise. Dann ließ sie sich etwas ängstlich oben beim Geheimrat anmelden, denn in diesem Augenblick kam ihr die Reue, daß sie sich so viele Wochen gar nicht nach ihmumgesehen. Aber er war ja so großmütig, er würde verzeihen.
Sie trat auch gleich mit einem Schwall von Entschuldigungen an ihn heran.
»Ach lassen Sie das doch. Setzen Sie sich dahin und hören Sie zu. Ich muß Sie was fragen,« sprach er. »Aber – offen, Lamprächtige! Ich kann ausweichende Vielrederei nicht ertragen. Kurz und klar sollen Sie antworten.«
»Aber Herr Geheimrat, wie sollte es mir beikommen, Ihnen ausweichend zu antworten?«
Und da geschwätzige Frauen stets ein wenig von schlechtem Gewissen geplagt sind, ward ihr sogleich bänglich.
Er sah sie nachdenklich an. Sie war eigentlich immer etwas in Furcht vor seinen Augen.
»All die tragischen Ereignisse bei und nach dem Tode von Klaras Vater sind Ihnen erinnerlich?«
»Wie sollten sie nicht!« sprach sie zitternd, und das böse Gewissen nahm sofort ein Riesengewicht an.
»Die Umstände brachten es mit sich, daß Sie alles erfuhren. Freiwillig hätte ich gerade Sie nicht ins Vertrauen gezogen. Denn – nicht wahr? – das Schweigen ist nicht so recht Ihre Sache. Aber daß ich sonst genau weiß, was ich von Ihnen zu halten habe, bewies ich ja, indem ich Ihnen Klara zur Pflegetochter gab.«
Die graue kleine Frau weinte sogleich ein bißchen in ihr Taschentuch hinein – halb vorweg aus Rührung – unbestimmt und ahnungsvoll. Und dann: eben das Gewissen ...
»Sie haben Ihr Gelöbnis, zu schweigen, in diesem einen ernsten, furchtbaren Fall gehalten?«
»Unverbrüchlich!« sagte sie und hob ihr Oberkörperchen in verdienstvoller Haltung, »es gibt keinen Menschen, der in dieser Sache mir vorwerfen kann, ich hätte geschwatzt.«
Er besann sich. Fragte dann weiter: »Können Sie mir etwas darüber sagen, weshalb Klara sofort einwilligte, Wynfrieds Frau zu werden?«
»Sie konnte doch gar nicht anders. Das hat sie doch aus Dankbarkeit getan. – Wo Sie doch hofften – daß Klara Ihren Sohn – daß Ihr Sohn durch Klara ... Nach all dem, was Sie an Klara und ihren Eltern getan ...«
Er fuhr in lodernder Ungeduld auf.
»Aber eben beteuerten Sie Ihr unverbrüchliches Schweigen!« rief er heftig.
»Ich meinte – gegen alle anderen Menschen – aber als Klara so leidenschaftlich auf mich eindrang – es war ja wohl zwei Wochen vor der Verlobung – Klara hatte aus Ihren eigenen Erzählungen über Ihr Werk und Ihr Leben Verdacht geschöpft – was sollte ich da machen?« sagte sie beleidigt. Und um sich auch noch in dieser Wendung ein Verdienst zuzuerkennen, setzte sie hinzu: »Ich denke, Herr Geheimrat, Sie wären der letzte, mir einen Vorwurf daraus zu machen. Wie oft haben Sie mir gesagt: Lamprächtige, seit ich meine Tochter habe, bin ich erst ein Mensch. – Und nun gar Severin der Kleine – Ihr Enkel!«
»Ich – ich!« sprach er vor sich hin. – »Aber sie! Ihre Jugend – ihr Leben – ihr Glück. – Zu viel der Opfer ...«
Er legte die Hand gegen die Stirn. Ja, nun wußte er, warum Klara seinen Sohn geheiratet hatte. Es änderte nichts, gar nichts an der Lage – es belud nur sein Herz noch schwerer.
Weinerlich sagte die Alte: »Das hab’ ich ja auch nicht gedacht, daß Klara selbst vielleicht zu kurz dabei käme! Ich dachte: so reich zu werden! Das war doch schön. Und solchen Vater zu bekommen! Das war doch für die Verwaiste herrlich. Und ich dachte: in Klaramußman sichdoch verlieben – ihr Mann kann gar nicht anders – muß sie anbeten – ja, daß er doch nach anderen Frauen guckt – aber das ist wohl bei den Männern heutzutage Sitte –«
»Was?!« rief der Geheimrat. Und seine Augen sprühten. Man konnte wieder einmal nur vor ihm zittern. Sie duckte sich förmlich ...
»Nichts. O Gott. Nichts Bestimmtes,« brachte sie heraus, »nur – die Leute – es heißt – er sei sehr viel – sehr – mit der Baronin Hegemeister zusammen.«
Er lachte auf. Es blieb ihr verborgen, wem dies zornige Auflachen galt ...
Aber die nächste Zeit schien nun gerade beweisen zu wollen, daß alle Sorgen und alles Geschwätz müßig seien.
Die Reisen Wynfrieds wurden seltener. Das schien erklärlich. Das Absegeln der verschiedenen Jachtklubs hatte schon gegen Ende September stattgefunden. Wynfried hatte seine »Klara« erst drei Wochen später auf einer Hamburger Werft in Winterquartier gegeben.
Aber mit dem Freundeskreis, den er sich in Hamburg in Seglerkreisen, unter Mitgliedern des Norddeutschen Regattavereins gebildet, wolle er doch Fühlung behalten, sagte er. – Wie klar alles ...
Täuschte ihn sein Vaterauge? Spiegelten ihm seine uneingestandenen Hoffnungen, daß dennoch alles gut enden möge, etwas vor? Schien Wynfried nicht aus seiner freundlichen Liebenswürdigkeit heraus in neue, andere Stimmungen zu kommen? Verfolgte sein Blick nicht manchmal in besonderer Aufmerksamkeit die Gestalt seiner Frau, wenn sie in ihrer anmutsvollen Ruhe, schlank und vornehm dahinschritt? –
Und an Klaras Geburtstag sah er: es war keine Täuschung. Er war der Zeuge ... wie sollte die Gegenwart eines Vaters, der seine Schwiegertochter anbetet, denjungen Gatten stören – er sah es: Wynfried befestigte selbst eine kostbare Brillantnadel, die er seiner Frau geschenkt, am Ausschnitt ihres Kleides, und seine Blicke suchten zärtlich, werbend ihre Augen. Klara erglühte ...
Und in dem alten Herrn regte sich all das Feinste und Vornehmste, was in ihm war. Anstatt sich zu freuen, klopfte sein Herz ihm hastig – sein keusches Mannesempfinden war verletzt.
Auch Klara erbebte.
Seit ihre Seele wußte, was lieben, leiden und entsagen ist, war sie erwacht.
Sie wollte ihre Pflicht tun – auch als Gattin. Aber es war eine heiße Sehnsucht in ihr, ihr möge Zeit vergönnt sein. – Sie mußte erst weiter sein, weniger wund vielleicht. – Ihr Wille, über das Grab in ihrem Herzen hinweg sich doch noch zu dem Gatten hinzutasten, mußte erst die Anfänge von Sieg sehen. – Sie spürte: er begann, sich leidenschaftlich in sie zu verlieben. – Und in zitternder Angst bebte sie zurück – ohne zu ahnen, daß seine keimende Verliebtheit dadurch nur angefacht ward.
So, in schwülen Unklarheiten, liefen die Wochen in einen düstern Herbst hinein.
Es war an einem Morgen, an dem die Nebel gleich dickem weißem Filz vor den Fenstern standen und jeden Ausblick wehrten. Sie hatten das Hochofenwerk und drunten den Fluß und drüben die rote kleine Stadt verschluckt.
Da fuhr ein Auto am Herrenhause vor, und Agathe stieg aus. Ein Pelzmantel, dessen Rauhwerk nach außen gekehrt war, machte ihre üppige Gestalt allzu umfangreich. Die Nerzmütze auf ihrem blonden Haar trug als Schmuck über der Stirn einen kecken Reiherbusch. Ihr Gesicht war erhitzt. Zufällig war es Leupold, der ihr die Tür öffnete.
»Ach Leupold. Wie geht es Herrn Geheimrat? Und melden Sie mich doch bei der gnädigen Frau.«
»Herr Lohmann ist verreist,« sagte der alte Diener kalt und sah an ihr vorbei.
Agathe wurde noch heißer rot.
»Ich wünsche der gnädigen Frau gemeldet zu werden,« wiederholte sie. Sie gab sich eine hochmütige Haltung. Denn sie fühlte auf der Stelle, daß Leupold sie mit Absicht falsch hatte verstehen wollen.
Und dann stand sie peinliche Minuten. Ließ Klara sie warten? Fand der Diener die Frau des Hauses nicht gleich? Wurde sie vielleicht gar abgewiesen?
Alle Schrecknisse ihrer Lage stürzten über sie her. – Gewiß – Klara wußte schon alles und wollte sie nicht sprechen. – Aber eine Unterredung mit Klara, ein Anruf ihrer Großmut – und alles war ja gut! Was sollte werden, wenn es zu dieser Unterredung nicht käme?
Ach – gottlob! Da war Leupold wieder!
Und mit seinem undurchdringlichsten Gesicht meldete er: »Die gnädige Frau läßt bitten.«
Agathe wurde in das Wohnzimmer ihrer Freundin gelassen. Nun wartete sie zwischen den Möbeln, die von Klaras Mutter stammten, und das Bild der Toten sah auf sie herab. Fein und hell hob es sich von dem grünen Hintergrund ab. Wieder verrannen Minuten. Agathe zitterte. Dies war, dies mußte Absicht sein! Und als endlich sich die Tür öffnete, erschrak sie so, daß ihre Knie unsicher wurden.
Klara kam eilig herein – mit einem freundlichen Gesicht – unbefangen.
»Endlich einmal wieder – Agathe!« sagte sie beinahe fröhlich. »Verzeih, daß ich dich warten ließ. Doktor Sylvester war da. Denke dir: der fünfte Zahn ist bei unseremJungen durch! Sein Großvater tut, als wäre es ein Wunder, ein persönlichstes Verdienst von Severin dem Kleinen.« Sie lächelte glücklich. »Aber nun sage – es war ja unglaublich mit uns – vier Monate einander immer zu verfehlen!«
»Das hat auch Mühe genug gekostet,« dachte Agathe.
Und in leidenschaftlicher Aufwallung von Reue, Beschämung und in dem unklaren Wunsch, durch jede Geste schon bittend, bezwingend zu wirken, fiel sie der jungen Frau um den Hals und küßte rechts und links ihre Wangen und war ganz aufgelöst vor Erregung.
»Liebste, einzige Klara!« stammelte sie.
Das war Klara etwas zu viel der Wiedersehensfreude. Aber sie bat gütig: »Lege doch ab – bleib zu Tisch – Vater und ich sind allein. Wynfried ist seit einigen Tagen fort. Er war zu einer Konferenz auf den Kreyser-Werken und ist dann nicht zurückgekehrt, wie wir dachten. Er depeschierte, er bleibe noch etwas aus – sein Telegramm kam aus Köln.«
Niemand wußte genauer als Agathe, daß Wynfried sich in Köln befand. Sie war von dort gestern abend zurückgekommen.
»Nein – nein – ich kann nicht hier bleiben,« sprach sie abwehrend. Und sie brachte allerlei heraus von Handwerkern auf Lammen, von der Modistin, die aus Berlin mit Anproben käme.
Dann saßen sie beieinander, auf einer Chaiselongue, in der Nähe des Fensters. Der bleiche Nebel draußen hing vor den Scheiben. Und Agathe war plötzlich stumm. Ihr Herz klopfte. Und in ihrem kleinen Hirn jagten hilflos die Gedanken, um die schöne, innige Rede wieder zusammenzubringen, die sie sich in zwei schlaflosen Nächten ausgesonnen. Eine Rede, durch die sie sich selbst immerwieder zu Tränen gerührt hatte, die auch Klara das Herz erweichen mußte! Mit deren Erfolg sie Wynfried überraschen wollte! Noch diese Nacht dachte sie nach Köln zurückzufahren. Aber eine Depesche sollte ihr vorauseilen – ihm sagen: alles ist geordnet.
Nun aber war die Rede fort. Völlig verweht im Sturm der Angst ... Was sollte werden, wenn sie die rechten Worte nicht fände?
Ihr war so unheimlich zumute! Sie konnte das Gefühl nicht los werden, daß aus dieser unglückseligen Begegnung mit Likowski sich irgend eine Katastrophe entwickle. Ein größeres Pech konnte es auch gar nicht geben! Sie saß mit Wynfried in einem kleinen Weinrestaurant in der verborgensten Ecke. Oft waren sie schon dort gewesen, und sie hatten niemals eine Uniform dort gesehen, außer der der Bonner Husaren. Und nun kam eine kleine Gesellschaft, zwei höhere Artillerieoffiziere mit ihren Damen – und mit ihnen Likowski, in Zivil.
Es war ihr schrecklich gewesen, schrecklich! Aber Wynfried schalt sie aus – ach, er war nicht mehr der strahlende, anbetende Freund der ersten Zeit. Er sagte: »Likowski ist Kavalier, als solcher weiß er, daß er uns nicht zu sehen und zu erkennen hat.«
Aber Likowski kam dennoch heran – auf eine so fremde, ferne Art – einen Schritt vom Tisch blieb er und grüßte kalt. Und sprach in einem Ton, der nicht aus Agathens Ohren wollte: »Bitte, Herr Lohmann – auf ein Wort.«
Und Wynfried stand auf und folgte dem Hauptmann. – Sie blieben außer Hörweite stehen. – Steif und höflich sah es aus, wie sie ein paar kurze Worte zusammen sprachen. – Dann verneigten sie sich sehr förmlich voreinander.
Wynfried kehrte zu ihr zurück – leichenblaß und stumm,und wehrte allen Fragen ab. Und bat – nein – befahl, daß sie am nächsten Morgen abreise.
Von diesem Augenblick an erwuchs in Agathe der Gedanke: Klaras Großmut wird alles in das rechte Geleise bringen. –
»Nun?« fragte Klara. »Wie ist es dir denn in diesen letzten Monaten ergangen? Du warst viel mit deiner Gerwald auf Reisen?«
»Schlecht ist es mir ergangen,« sagte Agathe gedrückt.
»Dir? Schlecht?«
Das tiefe Erstaunen in diesen fragenden Wiederholungen war für Agathe eine Kränkung. Ihr Dasein kam ihr in diesem Augenblick sehr mühselig und beladen vor. Aber das war immer ihr Los gewesen: kein Mensch glaubte ihr, wenn sie litt.
»Ich bin sehr unglücklich,« sprach sie mit weinerlicher Stimme. »Wenn man entsagen und immer wieder entsagen soll ...«
Klara erschrak. Kam ihr die gutherzige, törichte Frau wieder mit ihrem Liebesjammer?
Nur das nicht! Nicht diese kindischen Klagen hören, um einen, den sie selbst in heiliger Entsagung liebte. Das hätte ihre wunde Seele zu peinlich gequält.
Sie suchte nach einem ablenkenden Wort. Aber noch ehe sie es fand, warf sich die andere plötzlich gegen sie – umklammerte ihren Hals und fing schluchzend an, zu weinen.
»Mein Gott – Agathe – fasse dich doch ...«
»Nein,« stammelte Agathe, »nein – ich habe alle Fassung verloren – ich kann nicht mehr – ich kam – weil du – du allein bist es, die mir mein Glück geben kann. – Leben – Ehre – Glück – alles ...«
Was hieß das? Gab es denn, außer dem Vater, derahnungsvoll ihr geheimstes Leid zu erraten schien und es andächtig beschwieg, gab es einen Menschen, der von ihrer Herzensqual wußte?
Und wie sonderbar drückend war ihr die Körperlast der Weinenden. Sie schob sie von sich und sprach mit blassen Lippen: »Ich habe kein Glück zu vergeben, und ich kann dir nicht helfen.«
»Doch: Gib ihn frei – laß ihn mir – ich liebe ihn über alles in der Welt – ich sterbe, wenn ich auf ihn verzichten soll.«
»Von wem sprichst du?« fragte Klara. Und zitterte vor dem kommenden Wort.
»Von Wynfried – von Wynfried!«
Das kam jammernd heraus – als umschlösse der Name allein alles Unglück ihrer Gegenwart.
»Von – von ...?«
»Ich träume,« dachte Klara, »das ist ja Unsinn.«
»Hast du es denn nicht gespürt? Dumußtdoch gemerkt haben, wie glücklich und froh er war. – Aber das ist es – so was kannst du nicht merken – du bist ja nur seine gute Freundin – du bist kalt – ach – du weißt nicht, wie es ist, wahnsinnig zu lieben. – Deshalb kann es dich auch nichts kosten, gar nichts, ihn frei zu geben.«
Verstummt, gelähmt saß die junge Frau. Die vergangenen Monate zogen in rasendem Fluge an ihr vorbei. Sie sah ihren Gatten – immer liebenswürdig, höflich – rücksichtsvoll – ohne Ansprüche an ihre Hingabe. – Wie war es friedlich – wie erlösend gewesen. – Aber nun. – Diese allerletzten Wochen? Umwarb er sie nicht? Begehrlich – wie ein Verliebter?
O Schmach!
Und unterdessen ging die jammernde Rede der anderen immer weiter – wurde ruhiger – nahm endlich den Tondes Rechtes an. Mit der Miene eines kleinen Mädchens, das seine ersten Liebessorgen hat – naiv – manchmal fast treuherzig. Und sie schloß: »Siehst du, geliebte Klara, ich habe dir ja nichts weggenommen. Ihr habt euch nicht aus Liebe, sondern nur dem Vater zu Gefallen geheiratet. Und Wynfried sagt, er sei eben damals so herunter und so willenlos gewesen, daß er sich habe verheiraten lassen. Deshalb brauche ich dir gegenüber auch kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich hab’ dich auch viel zu lieb, als daß ich dir etwas hätte antun wollen. O nein, dazu bin ich ein zu anständiger Mensch. Laß ihn frei, damit ich sein Weib werden kann. Ich sterbe sonst ...«
Und sie drückte ihr Taschentuch gegen die Augen.
Klara fuhr auf. Sie hatte gedacht – gedacht – und doch, in fiebernder Doppeltätigkeit, alles gehört.
»Vor einem Jahr wolltest du um einen anderen sterben.«
Agathe hörte wohl den Hohn. Aber sie fühlte jetzt zu leidenschaftlich, und alles war doch anders.
»Jetzt weiß ich erst, was wahre Liebe ist!« schluchzte sie.
Wie diese Tränen Klara schrecklich waren – sie wuschen alle Würde von den Worten.
»Du wirst entsagen müssen,« sprach sie hart.
»Dazu ist es zu spät,« sagte Agathe.
Und sie erschrak, weil sie es gesagt hatte! – Ihre Tränen versiegten – eine Art von Trotz kam ihr – sie wartete und sah die Frau an – die blaß, in aufrechter Haltung, mit verschlossenem Gesicht dasaß. – Wie von Unergründlichkeit umwittert. – Was würde ihr nächstes Wort sein?
Welche Drohung lag darin, daß es so lange ausblieb?
»Ich habe auch mein Recht!« dachte sie.
Und endlich fragte Klara – kurz und klar: »Schickt dich Wynfried?«
Agathe erschrak sehr. Sie war ja eigenmächtig hier! Ein dumpfes Gefühl sagte ihr, daß Wynfried diesen Schritt mißbilligt haben würde, weil – weil – er vielleicht gar nicht frei sein wollte.
Aber gerade das hatte sie hergejagt. Nach der Begegnung mit dem Hauptmann gab es nur noch eins: sich öffentlich zueinander bekennen. Als Held und Heldin einer unbezwinglichen Leidenschaft das Urteil der Welt gewinnen – sozusagen fast gesegnet von der ersten Frau des Geliebten.
Aber etwas kleinlaut sagte sie: »Nein. Ich kam, weil – weil – es so nicht weitergehen kann – ich habe solche Angst.«
Wieder schwieg die junge Frau lange. Sie erwog: vielleicht fühlt diese, daß er anfängt, sich von ihr zu wenden – mir zu. Und sie will sich deshalb zwischen ihn und mich werfen ... Und vor ihrem Gedächtnis brannten seine begehrlichen, bittenden Blicke ... O Schmach! Ein siedender Strom von Zorn und Abwehr brauste durch ihren Körper.
»Du weißt nicht, was Liebe ist,« fuhr Agathe fort. »Du bist eine Verstandesnatur. Gegen die große, wahre Liebe ist man eben machtlos. Man erliegt. Sie ist gewaltiger als Gesetz und Pflicht.«
Klara schloß die Augen. Sie dachte an jene Sommernacht, da gerade die Größe ihrer Liebe zweien Herzen die Kraft gegeben, sich zu bezwingen.
»Es kann dir doch nicht schwer sein, auf deinen Mann zu verzichten – wo ihr euch nicht aus Liebe geheiratet habt.«
Nun hatte die junge Frau sich ganz gefaßt.
»Gerade deswegen ist unsere Ehe unlöslich,« sprach sie.
»Klara ...«
»Sie war kein Handel, der rückgängig gemacht werden kann, denn ich habe mich nicht verkauft.«
»Klara ...«
»Sie war kein Liebeswahn, aus dem man erwacht. Wir wußten, was wir taten.«
»Klara!« Nun schrie es die andere Frau – flehend, jammernd.
»Wir haben uns die Hände gereicht zur Erfüllung sittlicher Pflichten. Diese bestehen fort. Sie haben sich noch vermehrt. Wir haben einen Sohn.«
Sie stand auf. Und der anderen war, als müsse sie sich zu ihren Füßen hinwinden – irgend etwas schrecklich Demütiges tun. Aber sie kämpfte doch um ihr Recht! Und sie hatte es in den letzten Wochen mit Beben gespürt, daß der geliebte Mann lauer wurde. Und gerade jetzt! Nein, ihr Leben war wirklich vernichtet – ihre Zukunft verdorben, wenn er sie verließ.
Und ihre Demut schlug in das Gegenteil um.
In ihre blauen, schwimmenden Augen kam ein beinahe gehässiges Licht.
»Oh,« sagte sie, »wie unweiblich! Du willst einen Mann halten, der nicht dir, sondern mir gehört! Ich möchte wohl wissen, wie du dir deine weitere Ehe denkst.«
Ein herbes Lächeln ging um Klaras Mund. Und in stolzer Abwehr sprach sie: »Über die Zukunft meiner Ehe habe ich mit dir nichts zu sprechen. – Und mir scheint – auch sonst nichts mehr.«
»Du weisest mich fort?« fragte Agathe und kämpfte wieder mit jäh aufsteigenden Tränen, »du willst mich beschimpfen?«
»Nein. Aber du mußt begreifen: nur mit meinemMann habe ich über diese Sache zu reden. Und erst wenn ich von ihm selbst gehört habe, daß er frei zu sein wünscht, werde ich mich fragen müssen, was ich zu tun habe. Ich, von mir aus, muß unsere Ehe für unlöslich erklären.«
Die blonde Frau geriet in Verzweiflung und weinte wieder mit kindischen Lauten.
Sie ängstigte sich ja gerade davor, daß es dem Manne gar nicht um Freiheit zu tun sei. Ihre Phantasie sah eine große Vergebungs- und Versöhnungsszene zwischen den Gatten voraus.
Was noch tun? Wie sich den Sieg erringen? Sie hatte ihn sich so einfach gedacht. Klara war doch so edel, so selbstlos, so großmütig.
Agathe hatte in der Unverschämtheit kleiner Seelen all die Großmut der höheren Natur zu ihren eigenen Gunsten in Rechnung gestellt. Sie war von jenen, die einen Nebenmenschen unbefangen verraten, kränken, berauben können, um nachher zu ihm zu sagen: Du bist so großherzig, du wirst verzeihen. –
»Weine nicht,« sagte die junge Frau, »geh und laß mich allein.«
Noch einmal stürmte Agathe mit ihrem Körpergewicht in heftiger Umarmung, mit Schluchzen und Betteln gegen sie an.
»Er darf, er kann mich nicht verlassen,« schrie sie fast, »es ist zu spät ... Die Folgen ... Ich fühle ...«
»Geh. Laß mich allein.«
Das war kaum hörbar – aber es drang doch durch all den Lärm der Bitten, Klagen und des Geschluchzes der anderen.
Und sie ging.
Schon auf der Schwelle blitzte der Gedanke durch sie hin: »Gott – man sieht, wie verweint ich bin ...«
Und sie tupfte mit dem Taschentuch auf Lidern und Wangen herum ...
Da war Leupold. Er geleitete sie an ihr Auto.
Und sie hatte ein elendes Gefühl vor diesem Manne, der doch bloß ein Diener war.
Die Tür des Autos wurde geöffnet. Drinnen tief in eine Ecke gedrückt fror die Gerwald unter der Pelzdecke.
Agathe sank schwer auf ihren Sitz – die Tür schloß sich.
»Geliebte Gerwald – Sie müssen mit dem Nachtzug mit mir nach Köln fahren.«
»Bitte, bitte, liebe Baronin – nicht weinen – es wird ja alles gut werden ...«
Die junge Frau brach nicht fassungslos zusammen. Die große Aufregung wirkte zunächst auf sie wie ein berauschender Trank, der durch ihre Adern schwoll und ihre Nerven anspannte. Sie ging rastlos hin und her und her und hin – mit fieberisch erhitztem Gesicht.
Sie wollte die ungeheuerliche Offenbarung, die ihr geworden war, in Ruhe bedenken.
Aber davon konnte keine Rede sein. Ihr ganzes Wesen war aufgestört.
Sie hatte gar keinen Haß oder nur Zorn auf die andere Frau – dachte kaum an sie.
Sie dachte an ihre Ehe – an den Vater – an das Kind.
Würde Wynfried sie bitten: gib mich frei? Ihr ahnte: nein, das würde er nicht tun. Aber nicht etwa, weil er an der Sittlichkeit ihrer Ehe festhielt – o, die hatte er mit Füßen getreten – sondern – sondern – weil er begann, sich in seine Frau zu verlieben ...
Es war ihr, als müsse sie wahnsinnig werden bei diesem furchtbaren Gedanken.
Vor einem Jahr hatte sie gläubig auf das Wunder der Liebe gewartet.
Es war nicht zwischen ihr und ihrem Gatten erblüht.
AberdieseArt Liebe, die sie jetzt ahnte – die war ihr wie eine Beleidigung.
Sie konnte lange gar nichts denken – ging hin und her, mit beschwingten Schritten, wie auf der Flucht.
Dann kam die Erkenntnis: »Unsere Ehe – gerade unsere – mußte durch Treue geadelt werden.«
Und nun, wo sie entadelt war – mußte sie aufrecht erhalten werden? Befreite seine Treulosigkeit sie von ihrer Pflicht gegen den Gatten, gegen den Vater, gegen ihr Kind?
Nein. Sie mußte verzeihen.
Aber die Ehe fortsetzen? Wie sollte sie das ertragen?
Sie stand vor dem Bilde ihrer Mutter. Sie starrte zu dem feinen, leidvollen Gesicht empor. – Das schwieg. – Wie Tote schweigen, die nur sprechen, wenn wir selbst ihnen Worte leihen. – Und die entsetzte Seele der jungen Frau hatte keine – erbebte in stummer Not ...
Aus dieser Gebundenheit erwachte sie langsam zu einem staunenden Gedanken: »Aber ich habe ihn doch damals heiraten und mich ihm zu eigen geben können!«
Aber damals hatte die Ekstase ihrer Dankbarkeit sie getragen! Damals stand der Mann als ein von geheimnisvollen Leiden Zerschlagener vor ihr, und alle unbewußte Mütterlichkeit in ihr fand eine Aufgabe darin, ihm zu helfen. Damals wußte ihre Seele nicht, was Liebe ist – die dämmerte noch hinter der Schwelle des Erkennens, tief im Untergrunde ihres Gefühlslebens.
Nun war alles anders geworden. Ihr ahnte längst, daß jene geheimnisvollen Leiden ihr Mitleid nicht verdient hatten.
Und ihre Seele war zu einer reinen, entsagenden Liebe erwacht.
Nur die Dankbarkeit war die gleiche geblieben.
Und neue, noch viel stärkere Empfindungen waren emporgewachsen – töchterliche – mütterliche.
Sie ging ans Fenster und suchte mit ihren Blicken den Nebel zu durchbohren. Die weiße Mauer der filzigen Luft verbarg das Werk. Wenn sie es doch hätte sehen können! Der Anblick der rauchenden Schlote und der mystischen Glutscheine würde ihr wohlgetan haben. Sie sprachen so stark vom Lebenswerk des alten Mannes, des großen Arbeiters, der ihr Vater geworden war.
Ihre Ehe lösen hieß: ihn verlassen!
Wie würde er leiden!
Und ihr Kind? Wenn sie, die Schuldlose, von dannen ging, so war es ihr Recht, es mitzunehmen. Kein Mensch, kein Gesetz konnte sie daran hindern.
Das würde den alten Mann töten!
Seit er den Enkel besaß, wußte er, für wen er gearbeitet, für wen der Pulsschlag des gewaltigen Werkes da drüben so stark und lebendig schlug. –
Sein Enkel bedeutete ihm die Erfüllung aller Lebenshoffnungen ... Spät, nach vielen und herben Enttäuschungen war sie ihm geworden. – Diese winzigen Kinderhände hatten die Wunderkraft, alles Schwere, alle Entsagungen aus seinem rastlosen Dasein auszustreichen. Endlich – an der Schwelle des Grabes fast – gab das kleine Kind ihm noch Freude – Freude, mit der ganzen Macht seiner ungewöhnlichen Natur empfunden.
Und dieses Glück sollte sie ihm fortnehmen?
»Nein,« dachte Klara, »das kann ich nicht.«
Eine Stimme schien sie zu fragen: »Aber kannst du dich denn noch einmal dem Manne zu eigen geben, der dich jetzt mit so werbenden Blicken verfolgt?«
Wie groß die Opfer auch gewesen waren, die sie gebracht hatte – das äußerste war ihr erspart geblieben: ihre weibliche Würde blieb unverletzt.
Sollte sie sie nun zerbrechen lassen?
Wo war der Ausgang aus dieser Wirrnis von einander bekämpfenden Pflichten und Gefühlen?
Undurchdringlich wie der weiße Nebel stand die Zukunft vor ihr.
Sie glaubte, es seien Minuten vergangen, seit ihr Ohr gequält wurde von dem kindischen Jammer der blonden Frau. In diesem wunderlichen Wechsel zwischen entsetzt hinjagenden Gedanken und bleierner Stumpfheit war ihr alles Maß für die Zeit abhanden gekommen.
Nun erschrak sie, als Georg kam und die Tischzeit meldete.
Es hieß wie alle Tage in Heiterkeit neben dem geliebten Vater sitzen, damit ihm die Stunde der Mahlzeit eine freundliche sei ...
Mechanisch ging sie ins Eßzimmer – vergaß, sich umzukleiden – vergaß den Blick in den Spiegel. – Ging im Zwange der Gewohnheit. –
Es schien, als habe der Tag sein jähes Ende gefunden. Im Eßzimmer waren die Vorhänge geschlossen, und das fahle Nebellicht kam nicht herein. Festlich glänzten die elektrischen Birnen zwischen ihrem Behang von stumpfgeschliffenem Kristall.
Zu Häupten der kleinen Tafel, die fast verloren im reichen Raum stand, saß schon der Geheimrat in seinem Fahrstuhl.
Er sah der Tochter entgegen, das ganze bedeutende Haupt schien wie von einer hellen Stimmung umstrahlt. Eben hatte er seinen Enkel besucht und sich geschmeichelt gefühlt, daß dieser kleine Herr des Hauses vor Vergnügen mit den Patschhändchen schlug, wie ein unflügges Vögelchen mit den noch kümmerlichen Flügeln, als der Großvater hereingefahren wurde.
Aber ganz plötzlich änderte sich der Ausdruck seines Blickes.
Klara im Morgenanzug? Mit dunkelglühendem Gesicht? Wie eine Fiebernde?
»Bist du krank?«
»Ich? – Nein.«
Sie setzte sich. Man aß. Sie versuchte auch, zu essen, zu sprechen. – Ja, schon fünf Zähnchen. – Ja, Judereit war nun genesen. – Ja, er war in den langen Leidensmonaten ein einsichtsvoller Mensch geworden mit vernünftigen Plänen. – Ja, Thüraufs Finchen wollte nach München und sich der Malerei widmen. Ja – zu allem – und alles war so gleichgültig. Und sie fühlte immer, wie die großen, blitzenden Augen sie mit wachsamer Sorge zu durchbohren schienen. –
»Nachrichten von Wynfried?«
»Nein, seit dem Telegramm keine,« antwortete sie.
»Wie ihn die Kreyser-Werke immer festhalten! Und wie er gern zu seinen Bekannten nach Köln fährt. Ich denke manchmal, die Kreyser-Werke und ihr Betrieb interessieren ihn mehr als ›Severin Lohmann‹, und wenn er freie Wahl hätte, siedelte er dahin über. Der muntere Zug im Leben des Rheinlandes zieht ihn auch besonders an. Gottlob, daß du da bist, Kind, und daß wir Severin den Kleinen haben. Sonst hätte ich Angst, nach meinem Tode wendete mein Sohn dieser Stätte den Rücken. Aber du wurzelst in ihr fest und erziehst mir den Enkel in unserem Sinn.«
Das war mehr, als Klara in dieser Stunde hören konnte.
Und sie wußte nicht, daß die Glut auf ihren Wangen langsam hinlosch und daß ihr Gesicht elend, leichenblaß, zusammengefallen erschien – und ihre Stimme leise, wie verhallt, als hole sie jedes laute Wort mühsam aus der Brust herauf.
Und auf einmal fing alles an, sich zu drehen. Inihren Ohren sangen hohe Geigentöne in langen Bogenstrichen. Sie horchte mit versteinertem Gesicht. Sie dachte: ich bin schwindelig – hatte eine letzte Willensregung: nicht fallen – nicht fallen. – Dann war alles abgeschnitten – als sei ein Fallbeil zwischen sie und ihr Bewußtsein niedergesaust.
Nichts, gar nichts wußte sie davon, daß ihr Kopf vornüber auf die Tischplatte geschlagen wäre, hätte nicht Leupold sie aufgefangen, der die letzten Sekunden, atemlos vor Schreck, sie schon beobachtet hatte. Sie hörte nicht, daß nach der weiblichen Dienerschaft gerufen ward – sah nicht, daß der alte Mann, in Verzweiflung und vor Ungeduld vergehend, in seinem Stuhl die geballten Fäuste auf die Lehnen stemmte.
Als das feine Singen und Klingen, dies dünne Vorspiel des Erwachens, wieder in ihrem Ohr begann, dämmerte eine Art Verwunderung in ihr. – Sie horchte dem wieder nach. – Wie lange das andauerte. – Sie wußte nicht, daß viele tote, schwarze Minuten dazwischen lagen, seit sie es zuerst gehört.
Dann hatte sie eine Art von Erstaunen: sie lag auf ihrem Bett?
Wie kam sie dahin? Sie saß doch bei Tisch?
Sie schlug die Augen auf. Fast zugleich hörte sie eine Stimme sagen: »Gottlob!«
Und ein weibliches Haupt neigte sich über sie – es schien das der Wirtschafterin – und man versicherte tröstend, daß Doktor Sylvester gewiß gleich da sein werde.
Da kam ihr Bewußtsein klar zurück, und zugleich brach sie in leidenschaftliches Weinen aus und drückte ihr Gesicht tief in die Kissen. –
Der alte Mann, der wuchtig und gebändigt, vor Sorge und Schmerz außer aller Fassung in seinem Stuhlwartete, jagte bald den Leupold, bald den flinken jungen Georg hin und her. An dem Türspalt des Schlafzimmers mußten sie Nachricht erfragen.
Und endlich kam Leupold und sagte: »Die gnädige Frau ist wieder zu sich gekommen, aber dann sogleich in ein furchtbares Weinen verfallen. Doktor Sylvester ist schon unterwegs.«
»Komm her!« befahl der Geheimrat.
Er packte die Hand des alten Dieners um das Gelenk, er schüttelte ihn beinahe. Etwas von seinem alten brausenden Zorn war wieder über ihn gekommen.
»Hör du,« sagte er rauh, »ein Vierteljahrhundert bist du hier, und mein Leben ist für dich von Glas – sprich – was geht in meinem Hause vor – sprich – als Mensch – nicht als Diener – sprich –«
»Herr Geheimrat,« sprach der Mann blaß und verstockt, »hier im Hause geht nichts vor. Das wissen Herr Geheimrat doch selbst.«
»Mensch – keine Wortklauberei. – Sag, was du denkst.«
»Ich denke, daß die Ohnmacht und die Tränen der gnädigen Frau wohl damit zusammenhängen, daß die Baronin Hegemeister heute hier war.«
»Die Baronin –«
»Ich war zufällig auf der Diele. Und dann blieb ich da – um Wache zu halten – daß niemand horcht –«
»Warum? Die Baronin – das ist eine Freundin des Hauses – ist zahllose Male hier gewesen – was wär’ da zu horchen?« fragte er lauernd. Denn in seinem Gedächtnis war immer wach, was die alte Lamprecht ihm vor vielen Wochen schon zugetragen hatte.
»Sie ist seit Monaten nicht hier gewesen. Und – Herr Geheimrat haben befohlen, daß ich sprechen soll –und die ganze Gegend klatscht davon, daß sie und unser junger Herr ... Und ein Matrose von der ›Klara‹, der hier auf Severinshof sich ’ne Braut angeschafft hat, war neulich da zum Besuch und erzählte, daß der junge Herr nur ein oder zweimal mitgesegelt ist ... Und da dacht’ ich: die Frau Baronin hat vielleicht viel abzubitten. Und ich wollte nicht – dem Georg muß man immer mal aufpassen, daß er nicht horcht. Und ich selbst mußte mir Mühe geben, wegzuhören. Die Baronin weinte und jammerte manchmal laut. – Was soll ich noch mehr sagen ...? Mehr schickt sich nicht. Herr Geheimrat wissen auch, wie wir die gnädige Frau alle vergöttern – ich auch – ja ... Und dann der Kleine! – Nein, so was durfte nicht kommen. – Verzeihen mir Herr Geheimrat – aber Sie haben befohlen, ich sollte sprechen.«
Es sättigte ihn wohl, sprechen zu dürfen. Denn der Groll fraß ihm schon lange das Herz ab. Aber er ängstigte sich auch schwer. Sein Herr war in den letzten Monaten weniger frisch gewesen. Eine Aufregung konnte den zweiten Schlaganfall bringen, auf den er seit zwei Jahren täglich mit heimlichem Zittern gefaßt war.
Aber was der treue Mensch dann sah, benahm ihn vor Erstaunen.
Der wuchtige alte Mann brach keineswegs zusammen. Er atmete tief auf – langsam hob er seinen Oberkörper – richtete sein Haupt empor. In jener furchterweckenden Herrscherhaltung, der verkörperte Wille selbst, saß er da.
Das Licht füllte den Raum – die unterbrochene Mahlzeit stand kalt auf dem Tisch, der in Unordnung war. Das blitzende Auge sah über alles weg.
Ein schweres Schweigen herrschte. –
Leupold wagte nicht, sich zu rühren, um nicht die Gedanken seines Herrn zu stören.
Was mochten es für Gedanken sein? Zornesfalten standen auf der breiten Stirn. Und eine mächtige Bewegung arbeitete in den großen Zügen.
Nein, das sah nicht aus, als habe ein hinfälliger Greis einen Stoß empfangen, der ihn umwerfen mußte – das sah vielmehr so aus, als sei alle Kraft von neuem erwacht, als spanne sich jeder Nerv in diesem gewaltigen Körper in straffer Energie.
Nun sah er, wie die Hände, ohne zu zittern, nach der Brusttasche griffen – da trug der Geheimrat ein Büchlein. Er nahm es – er schrieb ein paar Zeilen auf – riß das Blatt ab ...
»Nimm,« sagte er. – Nein, wirklich, nicht einmal seine Hände zitterten.
Leupold nahm es. Er sah: es war eine dringliche Depesche. Nach Köln. An den Sohn des Hauses. Und sie lautete: »Ich erwarte dich unter allen Umständen morgen früh hier. Dein Vater.«
Dann ging der Tag seinen Gang. – –
Klara, auf ihrem Bett, sank aus den leidenschaftlichen Tränen allmählich in einen Zustand der Erschöpfung hinüber. Sylvester hatte ihr ein Pulver aufgedrängt – sie nahm es aus Gefälligkeit gegen den besorgten Arzt. – Es mochte helfen, daß die Erschöpfung in einen ruhigen Schlaf überging.
Als sie erwachte, war es dunkel. Und sie hörte sausende Töne. – Kam das vom Werk her? Nein – Sturm! Der Nebel war weggepeitscht.
Klara richtete sich auf. Besann sich. Ihre Fassung war nun vollkommen.
Sie hatte seit Stunden nicht mehr gedacht – nicht denken können.
Und dennoch war in ihr eine eherne Gewißheit und Festigkeit.
Sie wußte: ihre Pflicht war es, noch einmal von vorn anzufangen, und um des Vaters wie des Kindes willen ihrem Mann zu vergeben, zu helfen. Sie wollte mit ihm sprechen und mit seiner schwachen Natur kämpfen – damit er begreife: er müsse sich zunächst ihre Achtung erringen.
Dies war das kleine Streckchen Lebensweg, das sich übersehen ließ – ob es ins Dunkel mündete, ins Helle führte – das mußte die Zukunft lehren.
Dieser gegenwärtige Augenblick forderte eine leichtere Pflicht von ihr ... Sie mußte den Vater beruhigen! In welche Aufregung mochte ihn ihre Ohnmacht gestürzt haben!
Sie kleidete sich an – rasch – und dachte: »Ich nehme den Kleinen mit hinauf.«
Sie fand ihn im Zimmer nebenan, in seinem Wagen lag er, seine Stimme übend, mit jenen unbegreiflichen Lauten, die noch keine Worte formen können und doch zu einem Mutterohr so beredt von prachtvollem Behagen und Wohlsein sprechen. Zwischen Spitzen und hellblauen Schleifen sah man das runde Gesichtchen und die prallen Arme. Und die großen Augen glänzten tief.
Die junge Frau nahm das Kind und hob es hoch empor und legte das flaumige Köpfchen gegen ihre Wange – in leidenschaftlichem Glück die Nähe des kleinen Geschöpfes genießend.
So schritt sie hinauf.
Sie merkte kaum, daß ehrfürchtige und eilige Hände alle Türen vor ihr öffneten.
Sie gelangte hinauf – mit ihr kam ein Lichtstrom in einen völlig dunklen Raum.
In seinem Sessel zwischen den unverhüllten Erkerfenstern saß der alte Herr – im unerleuchteten Zimmer.
Nun sah er die junge Frau, wie sie im Lichtstrom heranschritt, im linken Arm hoch das Kind tragend, mit der Rechten das kleine Haupt gegen ihre Wange drückend – und um sie der Schimmer von Glanz ...
»Madonna ...« dachte er.
»Wir wollen Großvater Gute Nacht sagen.«
Und ihre Stimme klang wie immer.
»Du hättest liegen bleiben sollen.«
»O nein,« sagte sie leichthin, »es geht mir wieder gut. Hoffentlich hast du dich nicht erschreckt. Du weißt ja: ›Der Frauen Zustand ist beklagenswert‹ – Wir sind ein jämmerliches Geschlecht.«
»Heldin!« dachte er.
Er wußte noch nicht: sollte er mit ihr sprechen – mit ihr schweigen. –
Aber nun mußten erst die großen Greisenhände die winzigen Fäustchen nehmen, denn der kleine Regent sollte bald in sein Nachtröckchen gesteckt werden. Und da erschien auch schon die Amme in ihrer schwarzbunten Tracht und wollte ihn wieder hinab holen in sein Kinderstubenreich.
»Schlafe mein Kerlchen. Stör deine Mutter nicht. Sie ist für dich und mich alles – sie darf uns nicht krank werden. – Schlaf fest.«
»Dei – dei – dei,« klöhnte das Kind, als wolle es sehr Vernünftiges versprechen.
Die Amme ging mit ihm davon, hinter ihr schlossen sich die breiten Türen, durch die der Lichtstrom hereingekommen war.
»Du sitzest im Dunkeln?« fragte Klara.
Sie hockte sich auf den niedrigen Stuhl neben den thronartigen Sitz des Vaters hin – da wo so recht eigentlich ihr Platz war.
»Ich habe mich mit ›Severin Lohmann‹ unterhalten,« sprach der Alte, »es hatte mir viel zu sagen ...«
Durch die schwarzblanke Glasfüllung der Fenster sah man hinaus in den Novemberabend, aus dem der Sturm allen Nebel geblasen. Und vor dem nächtigen Hintergrund erkannte man die hellen Schornsteine, weil von der Kokerei und den Hochöfen und der frei brennenden Gasflamme her roter und gelber Schein kam, der die Bauten helldunkel umleuchtete. Von bläulichen elektrischen Lichtern war das düster-große Bild überfleckt, und all diese Lichtkerne mit der Strahlenglorie rundherum erinnerten so merkwürdig an Weihnachten. – Die plumpen Burgen der Hochöfen waren halb angestrahlt, halb lösten sich ihre Formen in Dunkelheit auf.
Der Gesang des Sturms nahm mit seinen langgezogenen Heultönen alle Geräusche vom Werk fort und trug sie auf seinen Fittichen ostwärts, dem Meere zu.
Drunten der Fluß war an seinem kohlschwarzblanken Gleißen nur zu erkennen, wo vom Werk her Licht über ihn hinspielte. Außerhalb der verständlichen und übersehbaren Wirklichkeit krochen ein rotes und ein grünes Licht in der Dunkelheit heran. Die Augen eines Dampfers, der sich gegen Strom und Wind flußauf quälte.
Die junge Frau legte ihren Kopf gegen die Lehne des Stuhls. –
Bald fühlte sie die liebevolle Hand schwer auf ihrem Haar. –
So saßen sie und sahen zu dem vom rötlichen Schein angehauchten Rauch hinüber, der sich in der schwarzen Höhe verlor. Sie sahen von diesem Stück Welt des Eisens und der Kohle mit geistigem Auge noch viel, viel mehr, als das Nachtbild ihnen zeigte. Sie sahen alle tausend Fäden, mit denen es an die Gegenwart, an allegroßen Fragen und Forderungen der Zeit gebunden war. Sie sahen sich als Diener dieser Zeit – ihre Herzen wurden bescheiden und still.
Leise sprach der Alte – für sich hin – zu ihr, die mit seinem Enkel sein Werk bewachen und fortsetzen sollte – vielleicht hinaus zu Tausenden, die ihn nicht hörten:
»Ich habe gedacht ... Eine neue Zeit läßt nicht nur neue Formen, Schönheiten, Anschauungen, volkswirtschaftliche Notwendigkeiten entstehen, wälzt nicht nur Technik und Bedürfnisse um. Fast fürchte ich mich, es auszusprechen: sie wertet auch unsere Empfindungen um! Man sagt, daß alte Geschlechter, die seit Jahrhunderten auf ihrer sich forterbenden Scholle sitzen, diese mit heißer Inbrunst lieben. Wie sollten sie nicht! Und dennoch muß die Liebe, die Männer wie ich zu ihren Werken haben, noch von einer anderen Art sein. Tiefer und ausschließlicher. Denn sie ist noch fruchtbarer! In meines Sohnes Adern fließt meinBlut– nicht nurmeinBlut – vielleicht, nein gewiß, noch mehr von dem der Frau, die ihn gebar. In den Adern meines Werkes fließt nicht nur mein Blut; meineKraft– meinenGeist– meineEnergie– alles, was ich bin, körperlich und seelisch, hab’ ich hinübergepflanzt in dies Werk. Geheimste Ströme gingen von mir fort in meine Arbeit und gaben ihr Leben. Und ist so dies Werk nicht noch mehr mein Kind, in viel unzerstörbarerem Sinne, als mein Sohn es ist? Ist diese Wahrheit erschreckend? Ist sie nicht vielmehr voll geheimer Größe? Voll drohender Mahnungen? Werte abwägen gegeneinander – das fordert die Zeit. Vielen, vielen ließ sie das Idyll des Familienlebens und das Auskosten seiner kleinen und großen Kämpfe. Aber für die, denen ein Platz ward in der Front der Schaffenden, heißt es sich fragen: Was ist wichtiger, dein Kind oder dein Werk? Und da, wo ichstehe – und so, wie mein Sohn ist – trotz allem, was ihm geopfert ward, ein Halber – muß ich mich besonders fragen: Was ist Tausenden wertvoller, nötiger – mein Sohn oder mein Werk? Was ist meinem Herzen teurer – mein großes, starkes, kraftvolles Werk oder mein haltloser Sohn? ...«
Seine Stimme war zuletzt fast raunend geworden. Er sprach wie einer, der sich vor sich selbst fürchtet.
Und die junge Frau fühlte: er wußte vielleicht alles. Er war vielleicht bereit, den Sohn preiszugeben.
Aber das war doch unmöglich. Wie sollte, wie konnte das geschehen? Die einfache Tatsache der festgefügten Lebensverhältnisse verbot es. – Vielleicht eine zornige Aufwallung? Die milderer Stimmung weichen konnte? Aber so seltsam gefaßt, so wunderbar vorsichtig, furchtsam vor dem Klang der eigenen Worte, spricht nicht der Zorn.
»Du und dein Kind – ihr wißt es – ich habe ein Herz! Deine Mutter wußte es! – Und dennoch – dennoch – wenn ich denn ein unnatürlicher Vater bin: – mein Werk steht mir näher als mein Sohn. Ihn könnt’ ich lassen – meinem Werk gehört mein letzter Gedanke. Wir Menschen von heute, wir arbeiten so furchtbar, daß Blut und Schweiß uns zusammenschmiedet mit unserer Arbeit – und wenn unsere Kinder dies heilige Bündnis nicht verstehen, seien sie davon geschieden.«
Klara fror. – Die Unerbittlichkeit sprach zu ihr. – Und ihr war, als sei es kein Zufall, daß seine Faust sein Leben lang dem Erz das Eisen abgerungen habe ...
»Vater,« sprach sie leise. »Wir müssen doch Geduld haben.«
Da drückte sich die Hand noch fester auf ihr Haupt und lag da schwer – und dennoch wie Segen – Trost – Dank. –
Sie mochten nicht mehr sprechen und schauten still durch die Nacht hinüber auf den bestrahlten, quellenden und zerreißenden Rauch, der toll vor dem schwarzen Himmel jagte. –
Und der alte Mann wartete auf eine Antwort. Die Depesche war doch stark genug gewesen. Aber an diesem Abend kam keine Antwort mehr.
Nun, wozu auch Antwort? Am nächsten Morgen würde sein Sohn selbst eintreffen.
Aber die Stunde, für die seine Ankunft bestimmt zu berechnen war, verstrich, und er trat nicht bei seinem Vater ein.
Der Geheimrat ließ Thürauf herüberbitten. Der tauchte aus seinem Übermaß von Arbeit auf und hatte zwei Minuten für den alten Herrn. Wynfried? Vor vier Tagen hatte er das lange und vortrefflich klare Telegramm über die Konferenz auf den Kreyser-Werken geschickt, das der Geheimrat ja kenne. Seither erhielt Thürauf persönlich keine Nachricht vom Juniorchef der Firma. –
Die Ungeduld verzehrte ihn. Allerlei Gedanken überstürzten sich. Auch dieser, daß Wynfried gar mit der blonden Baronin auf und davon gegangen sei.
Aber zu dieser Vorstellung hatte er gleich ein grimmiges Lächeln.
Er kannte seinen Sohn. Der dachte wahrscheinlich ganz unbefangen, wie tausend moderne Ehegatten denken: auf die Treue desManneskommt es nicht weiter an. Das Abenteuer mit der Baronin war ihm vielleicht nur ein Sommervergnügen – vielleicht hatte es geheißen: halb zog sie ihn, halb sank er hin. – Ach – klein – klein – banal!
Und die Blicke fielen ihm ein, die sein Sohn in der letzten Zeit für Klara gehabt.
Da stieg ein flammendes Rot bis in seine Stirn, und er litt. –
Es blieb alles stumm. Als wenn die Ferne voll schweren Schweigens sei.
Der Geheimrat ließ ein dringliches Telegramm mit dringlicher Rückantwort an das Hotel in Köln abgehen. Da hatte er binnen einer Stunde in den eiligen Blaustiftbuchstaben der Depesche die Nachricht, daß Herr Lohmann junior im Hotel bisher nicht angekommen sei, daß dort aber seit gestern nachmittag eineD-Depesche für ihn lagere, aus deren Vorhandensein man wohl auf seine baldige Ankunft schließen dürfe.
»Meine eigene Depesche,« dachte der alte Herr.
Nun war er außerstande, noch etwas zu tun. Er konnte nicht an alle Kölner Hotels depeschieren. Wer wußte, ob er überhaupt da war? Man hätte auf Lammen anfragen können. Das verbot sich. Das bloße Suchen nach einem Vorwand zur Nachfrage verbot sich.
Solche Stunden ertragen sich hart.
Er saß da wie ein zürnender Gott, der seine Blitze in der Hand zurückhalten muß, die ihn nun selbst brennen.
Er wußte, gerade wie die junge Frau, daß sich die festgefügten Lebensverhältnisse nicht zerreißen ließen.
Er ahnte gleich ihr, daß Wynfried sich dagegen wehren würde, seine Ehe zu lösen, denn er war offenbar im Begriff, sich in seine Frau zu verlieben.
Ah – dürfte er doch die holde Frau gegendieseLiebe schützen!
Aber er war machtlos. Wenn sie verzieh, Geduld haben wollte – er, der Vater, durfte die Ehe nicht sprengen.
»Hätte ich sie nie zusammengebracht!«
Eins aber konnte er: als richtender Vater, als Mannzum Manne, mit dem Schwert scharfer Worte gegen den Sohn wettern.
Er hoffte im Grunde wenig davon. Er hatte alles Vertrauen verloren. Wenn nicht einmal die reine Würde der jungen Frau ihm Halt hatte geben können ...
Der alte Mann erschrak selbst davor, wie ganz ihm sein Sohn entglitten war – alle Stimmen der Natur schwiegen.
Sein Enkel, seine Tochter, sein Werk – diese über seinen Tod hinaus vor jeder Gefährdung zu schützen, war sein Hauptgedanke. Er wollte sein Testament ändern. Wynfried blieb auch mit dem Pflichtteil noch ein wohlhabender Mann.
Da nun seine leidenschaftliche Natur auf schwere Grübeleien angewiesen war und sich nicht in Wort und Tat entladen konnte, stieg seine Nervosität bis zur Unerträglichkeit.
Wenn nur irgend, irgend etwas geschähe, diese Spannung zu lösen ...
Aber beinahe hätte er das, was sie lösen konnte, von seiner Schwelle gewiesen.
Es war am dritten Tag nach jenem unterbrochenen Mittagsmahl.
Der Himmel war hell, durch den bleichen Sonnenschein raste Sturm. Das Land lag braunschwarz, mit den rostroten Farbenflecken der Hainbuchen, in deren Gezweig das welke Laub fror. Der Fluß schuppte sich unruhig. Kahl und freudlos schien die Erde ängstlich auf den Winter zu warten.
Leupold kam.
»Ich soll den Freiherrn von Marning melden,« sagte er. Und fügte gleich, etwaigen Vorwürfen abzuwehren, hinzu: »Ich habe aber keine Aussichten gemacht – habegesagt, Herr Geheimrat empfingen keine Besuche. Da bat er, ich solle doch fragen.«
Den alten Herrn wandelte eine kurze Verwirrung an. Marning? Er, der für immer aus diesem Hause gegangen war? Noch einmal wieder? Und jetzt –
Nein, nein – gerade ihn konnte er jetzt nicht sehen! Es hätte zu weh getan. Es würde ihn vielleicht hinreißen, zu diesem zu sprechen. Und gerade diesem mußte verborgen bleiben, was jetzt auf dem Hause lastete – denn es wäre auch für ihn schwer, schwer, davon zu wissen.
»Nein,« sprach er vor sich hin, »ich kann nicht –«
»Herr Oberleutnant sagten: es sei wichtig.«
Wichtig? Für ihn? Für wen? Vielleicht war er anderen Sinnes geworden. Kam auf das Anerbieten zurück – wollte doch zur Industrie übergehen – kam, um Hilfe für den Weg dahin zu erbitten.
Das entschied. Seine Zuneigung für Marning wallte auf. Es hieß eben, sich zusammennehmen.
»Also ja ...«
Und wenige Sekunden nachher stand Stephan Marning vor ihm, sehr blaß, sehr ernst.
»Lieber Marning. – Es freut mich, Sie zu sehen. – Wenn Sie’s nicht wären ... Ich bin ein verstimmter, ungeduldiger alter Kerl – hab’ im Moment zu viel bunte Gedanken im Kopf. – Sie müssen schon Nachsicht mit mir haben. Und mir ein bißchen knapp sagen, was Sie wünschen. Meine Gesinnung kennen Sie – die ist unverändert ...«
»Herr Geheimrat,« begann Stephan. »Ich komme nicht in eigener Angelegenheit.«
Irgend etwas im Ton und in der Miene des jungen Mannes ließ den Alten scharf aufmerken.
»Das Botenamt, Herr Geheimrat, war zu allen Zeiten ein gefürchtetes.«
»Wenn der Bote Übles brachte! Und das tun Sie demnach.«
»Ernstes. Ja.«
»Sagen Sie’s nur schlankweg. Man bildet sich immer ein, vor uns Alten und Brüchigen dürfe man das Wort ›Tod‹ nicht laut aussprechen. Ich bin kein Feigling. Wenn Altersgenossen weggeholt werden, zittere ich nicht gleich, weil’s mich doch auch mal treffen muß. Bin seit zwei Jahren an eine gewisse Nachbarschaft gewöhnt. Ist Ihr Onkel, mein verehrter Freund, gestorben? Ein schmerzlicher Verlust wär’s.«
»Nein, Herr Geheimrat. Ich habe Ihnen von Likowski Nachrichten zu bringen.«
»Wa – was ...? Unser prachtvoller Hauptmann? Aber das ist ja unmöglich –«
Wie sonderbar seine Gedanken die eine Fährte verfolgten – die des Todes.
»Likowski befindet sich wohl – er wird in zwei, drei Tagen zurück sein – er wäre schon heute eingetroffen – aber er hat ... auch mußte er sich beim Oberst melden.«
»Nun also – was ist mit ihm los. – Nehmen Sie’s mir nicht übel, lieber Marning – aber Sie verstehen sich drauf, einen ungeduldig zu machen.«
»Verzeihen Sie,« sprach der jüngere Mann halblaut, »ich bin ungeschickt. – Mein Amt ist schwer. – Likowski hat ein Duell gehabt – mit – mit Ihrem Herrn Sohn.«
Der alte Mann fuhr auf – blieb erstarrt – sah den andern an – mit offenem Munde.
Langsam wich jede Farbe aus seinem Gesicht.
Er war furchtbar anzusehen.
Und endlich, endlich sprach er laut und fest. »Er ist tot!«
So sprach das Schicksal selber – ehern – ergeben – furchtgebietend.
»Nein – nein. – Er lebt – er kann – er wird weiterleben –«
Da sank das schwere Haupt zurück. – Die Augen schlossen sich – und ein wunderbares Lächeln – geheimnisvoll – unbegreiflich, irrte um die Lippen. – Und unter den geschlossenen Lidern heraus perlte langsam eine Träne und rann über die bleiche Wange.
Stephan wandte sich ab. Ergriffen und scheu.
Was jetzt im Herzen des alten Mannes vorging, wußte Gott allein.
Sprach dennoch die unergründliche Stimme der Natur, die verstummt gewesen war? ... Reckte sich das ganz einfache Gefühl empor? – Rauschte das Blut – das Blut, das auch in seines Sohnes Adern rann, ihm zu: Gottlob nicht tot? ... Tiefste Rätsel. –
»Was wissen wir von uns selbst!« fühlte der Alte.
Stephan stand Minuten und sah in den matten, sturmgepeitschten Sonnenschein hinaus und wagte nicht, sich umzuwenden.
Bis eine beherrschte Stimme ihn aufrief: »Nun lassen Sie mich alles im Zusammenhang hören.«
»Ich denke, Herr Geheimrat, ich begehe keine Taktlosigkeit, wenn ich Ihnen Likowskis Brief gebe – wie er nun mal ist. – Ganz Likowski. – Ich befürchte da kein Mißverstehen.«
Es wäre ihm ja unmöglich gewesen, alles mit lauten Worten zu sagen. Ihn däuchte, als müsse jedes einzelne zum Posaunenton werden und durch Mauern und Estrich hinabdringen in das Ohr der geliebten Einen.
»Mißverständnisse? Zwischen mir und dem, was Likowski sagt und tut und schreibt? Ausgeschlossen. Her damit!«
Stephan legte den Brief – diesen Brief, dessen Inhalt ihn fast betäubt hatte – nun in die Hand des alten Herrn. Er setzte sich auf den nächsten Stuhl, den Säbel zwischen den Knien, die Hände auf dem Korb gefaltet – so wartete er, und sein Gedächtnis, das den langen Brief auswendig wußte, konnte den Blicken folgen, die nun lasen ... Wort um Wort ...