IX.

D

er Todte fand sich nicht, der Wagen aber, den man mühevoll aus dem Wasser heraufgeholt hatte, wurde nach dem Dorf geschafft und in Kunicke’s große Scheune gestellt. Da stand er nun schon zwei Wochen, um entweder abgeholt oder auf Antrag der Krakauer Firma versteigert zu werden.

Im Dorfe gab es inzwischen viel Gerede, das aller Orten darauf hinauslief: »es sei was passirt und es stimme nicht mit den Hradschecks. Hradscheck sei freilich ein feiner Vogel und Spaßmacher und könne Witzchen und Geschichten erzählen, aber er hab’ es hinter den Ohren, und was die Frau Hradscheck angehe, die vor Vornehmheit nicht sprechen könne, so wisse jeder, stille Wasser seien tief. Kurzum es sei Beiden nicht recht zu traun und der Pohlsche werde wohl ganz wo anders liegen, als in der Oder.« Zum Überfluß griff auch noch unser Freund, der Kantorssohn, der sich jedes Skandals mit Vorliebe bemächtigte, in die Saiten seiner Leier, und allabendlich, wenn die Knechte, mit denen er auf Du und Du stand, vom Kruge her durchs Dorf zogen, sangen sie nach bekannter Melodie:

Morgenroth!Abel schlug den Kain todt.Gestern noch bei vollen FlaschenMorgens ausgeleerte TaschenUnd ein kühles, kühles Gra-ab.

Morgenroth!Abel schlug den Kain todt.Gestern noch bei vollen FlaschenMorgens ausgeleerte TaschenUnd ein kühles, kühles Gra-ab.

All dies kam zuletzt auch dem Küstriner Gericht zu Ohren, und wiewohl es nicht viel besser als Klatsch war, dem alles Beweiskräftige fehlte, so sah sich der Vorsitzende des Gerichts, Justizrath Vowinkel, doch veranlaßt, an seinen Duz- und Logenbruder Eccelius einige Fragen zu richten und dabei Erkundigungen über das Vorleben der Hradschecks einzuziehen.

Das war am 7. December, und noch am selben Tage schrieb Eccelius zurück:

»Lieber Bruder. Es ist mir sehr willkommen, in dieser Sache das Wort nehmen und Zeugniß zu Gunsten der beiden Hradschecks ablegen zu können. Man verleumdet sie, weil man sie beneidet, besonders die Frau. Du kennst unsere Brücher; sie sind hochfahrend und steigern ihren Dünkel bis zum Haß gegen alles, was sich ihnen gleich oder wohl gar überlegen glaubt. Aberad rem.Er, Hradscheck, ist kleiner Leute Kind aus Neu-Lewin und, wie sein Name bezeugt, von böhmischer Extraktion. Du weißt, daß Neu-Lewin in den 80er Jahren mit böhmischen Kolonisten besetzt wurde. Doch dies beiläufig. Unsres Hradscheck Vater war Zimmermann, der, nach Art solcher Leute, den Sohn für dasselbe Handwerk bestimmte. Und unser Hradscheck soll denn auch wirklich als Zimmermann gewandert und in Berlin beschäftigt gewesen sein. Aber esmißfiel ihm, und so fing er, als er vor etwa 15 Jahren nach Neu-Lewin zurückkehrte, mit einem Kramgeschäft an, das ihm auch glückte, bis er, um eines ihm unbequem werdenden ›Verhältnisses‹ willen, den Laden aufgab und den Entschluß faßte nach Amerika zu gehen. Und zwar über Holland. Er kam aber nur bis ins Hannöversche, wo er, in der Nähe von Hildesheim, also katholische Gegend, in einer großen gasthausartigen Dorfherberge Quartier nahm. Hier traf es sich, daß an demselben Tage die seit Jahr und Tag in der Welt umhergezogene Tochter des Hauses, krank und elend von ihren Fahrten und Abenteuern – sie war muthmaßlich Schauspielerin gewesen – zurückkam und eine furchtbare Scene mit ihrem Vater hatte, der ihr nicht nur die bösesten Namen gab, sondern ihr auch Zuflucht und Aufnahme verweigerte. Hradscheck, von dem Unglück und wahrscheinlich mehr noch von dem eigenartigen und gewinnenden Wesen der jungen Frau gerührt, ergriff Partei für sie, hielt um ihre Hand an, was dem Vater wie der ganzen Familie nur gelegen kam, und heirathete sie, nachdem er seinen Auswanderungsplan aufgegeben hatte. Bald danach, um Martini herum, übersiedelten Beide hierher, nach Tschechin, und schon am ersten Advents-Sonntage kam die junge Frau zu mir und sagte, daß sie sich zur Landeskirche halten und evangelisch getraut sein wolle. Was denn auch geschah und damals (es geht jetzt ins zehnte Jahr) einen großen Eindruck auf die Bauern machte. Daß der kleine Gott mit dem Bogen und Pfeil in dem Leben Beider eine Rolle gespielt hat, ist mir unzweifelhaft, ebenso daß Beide seinen Versuchungen unterlegen sind. Auch sonstnoch, wie nicht bestritten werden soll, bleiben einige dunkle Punkte, trotzdem es an anscheinend offenen Bekenntnissen nie gefehlt hat. Aber wie dem auch sein möge, mir liegt es pflichtmäßig ob zu bezeugen, daß es wohlanständige Leute sind, die, so lang ich sie kenne, sich gut gehalten und allzeit in einer christlichen Ehe gelebt haben. Einzelnes, was ihm, nach der entgegengesetzten Seite hin, vor längrer oder kürzrer Zeit nachgesagt wurde, mag auf sich beruhn, um so mehr als mir Sittenstolz und Tugendrichterei von Grund aus verhaßt sind. Die Frau hat meine besondere Sympathie. Daß sie den alten Aberglauben abgeschworen, hat sie mir, wie Du begreifen wirst, von Anfang an lieb und werth gemacht.«

Die Wirkung dieses Eccelius’schen Briefes war, daß das Küstriner Gericht die Sache vorläufig fallen ließ; als demselben aber zur Kenntniß kam, »daß Nachtwächter Mewissen, nach neuerdings vor Schulze Woytasch gemachten Aussagen, an jenem Tage, wo das Unglück sich ereignete, so zwischen fünf und sechs (um die Zeit also, wo das Wetter am tollsten gewesen) die Frau Hradscheck zwischen den Pappeln an der Mühle gesehn haben wollte, ganz so wie wenn sie halb verbiestert vom Damm her käme,« – da waren die Verdachtsgründe gegen Hradscheck und seine Frau doch wieder so gewachsen, daß das Gericht einzuschreiten beschloß. Aber freilich auch jetzt noch unter Vermeidung jedes Eclats, weshalb Vowinkel an Eccelius, dem er ohnehin noch einen Dankesbrief schuldete, die folgenden Zeilen richtete:

»Habe Dank, lieber Bruder, für Deinen ausführlichenBrief vom 7. d. M., dem ich, soweit er ein Urtheil abgiebt, in meinem Herzen zustimme. Hradscheck ist ein durchaus netter Kerl, weit über seinen Stand hinaus, und Du wirst Dich entsinnen, daß er letzten Winter sogar in Vorschlag war und zwar auf meinen speciellen Antrag. Das alles steht fest. Aber zu meinem Bedauern will die Geschichte mit dem Polen nicht aus der Welt, ja, die Verdachtsgründe haben sich gemehrt, seit neuerdings auch euer Mewissen gesprochen hat. Andrerseits freilich ist immer noch zu wenig Substanz da, um ohne Weiteres eine Verhaftung eintreten zu lassen, weßhalb ich vorhabe, die Hradscheck’schen Dienstleute, die doch schließlich alles am besten wissen müssen, zu vernehmen und vonihrerAussage mein weiteres Thun oder Nichtthun abhängig zu machen. Unter allen Umständen aber wollen wir alles, was Aufsehn machen könnte, nach Möglichkeit vermeiden. Ich treffe morgen gegen 2 in Tschechin ein, fahre gleich bei Dir vor und bitte Dich Sorge zu tragen, daß ich den Knecht Jakob sammt den beiden andern Personen, deren Namen ich vergessen, in Deinem Hause vorfinde.«

***

So des Justizraths Brief. Er selbst hielt zu festgesetzter Zeit vor dem Pfarrhaus und trat in den Flur, auf dem die drei vorgeforderten Dienstleute schon standen. Vowinkel grüßte sie, sprach, in der Absicht ihnen Muth zu machen, ein paar freundliche Worte zu jedem und ging dann, nachdem er sich aus seinem Mantel herausgewickelt, auf Eccelius’ Studirstube zu, darin nicht nur der großeschwarze Kachelofen, sondern auch der wohlarrangirte Kaffeetisch jeden Eintretenden überaus anheimelnd berühren mußte. Dies war denn auch bei Vowinkel der Fall. Er wies lachend darauf hin und sagte: »Vortrefflich, Freund. Höchst einladend. Aber ich denke, wir lassen das bis nachher. Erst das Geschäftliche. Das Beste wird sein,Dustellst die Fragen und ich begnüge mich mit der Beisitzer-Rolle. Sie werden Dir unbefangner antworten als mir.« Dabei nahm er in einem neben dem Ofen stehenden hohen Lehnstuhle Platz, während Eccelius, auf den Flur hinaus, nach Ede rief und sich’s nun erst, nach Erledigung aller Präliminarien, an seinem mächtigen Schreibtische bequem machte, dessen großes, zwischen einem Sand- und einem Tintenfaß stehendes Alabasterkreuz ihn von hinten her überragte.

Der Gerufene war inzwischen eingetreten und blieb an der Thür stehn. Er hatte sichtlich sein Bestes gethan, um einen manierlichen Menschen aus sich zu machen, aber nur mit schwachem Erfolg. Sein brandrothes Haar lag großentheils blank an den Schläfen, während ihm das Wenige, was ihm sonst noch verblieben war, nach Art einer Spitzflamme zu Häupten stand. Am schlimmsten aber waren seine winterlichen Hände, die, wie eine Welt für sich, aus dem überall zu kurz gewordenen Einsegnungsrock hervorsahen.

»Ede,« sagte der Pastor freundlich, »Du sollst über Hradscheck und den Polen aussagen, was Du weißt.«

Der Junge schwieg und zitterte.

»Warum sagst Du nichts? warum zitterst Du?«

»Ick jrul’ mi so.«

»Vor wem? Vor uns?«

Ede schüttelte mit dem Kopf.

»Nun, vor wem denn?«

»Vor Hradschecken ...«

Eccelius, der alles zu Gunsten der Hradschecks gewendet zu sehen wünschte, war mit dieser Aussage wenig zufrieden, nahm sich aber zusammen und sagte: »Vor Hradscheck. Warum vor Hradscheck? Was ist mit ihm? Behandelt er Dich schlecht?«

»Nei.«

»Nu wie denn?«

»Ick weet nich ... He is so anners.«

»Nu gut. Anders. Aber das ist nicht genug, Ede. Du mußt uns mehr sagen. Worin ist er anders? Was thut er? Trinkt er? Oder flucht er? Oder ist er in Angst?«

»Nei.«

»Nu wie denn? Was denn?«

»Ick weet nich ... He is so anners.«

Es war ersichtlich, daß aus dem eingeschüchterten Jungen nichts weiter herauszubringen sein würde, weßhalb Vowinkel dem Freunde zublinkte, die Sache fallen zu lassen. Dieser brach denn auch wirklich ab und sagte: »Nun, es ist gut, Ede. Geh. Und schicke die Male herein.«

Diese kam und war in ihrem Kopf- und Brusttuch, das sie heute wie sonntäglich angelegt hatte, kaum wieder zu erkennen. Sie sah klar aus den Augen, war unbefangen und erklärte, nachdem Eccelius seine Frage gestellt hatte, daß sie nichts wisse. Sie habe Szulski gar nicht gesehn,»un ihrst um Klocker vier oder noch en beten danoah« wäre Hradscheck an ihre Kammerthür gekommen und hätte gesagt, daß sie rasch aufstehn und Kaffee kochen solle. Das habe sie denn auch gethan, und grad als sie den Kien gespalten, sei Jakob gekommen und hab’ ihr so im Vorübergehn gesagt, »daß er den Pohlschen geweckt habe; der Pohlsche hab’ aber ’nen Dodenschlaf gehabt und habe gar nich geantwortet. Und da hab’ er an die Dhür gebullert.«

All das erzählte Male hintereinander fort, und als der Pastor zum Schlusse frug, ob sie nicht noch weiter was wisse, sagte sie: »Nein, weiter wisse sie nichts, oder man blos noch das Eine, daß die Kanne, wie sie das Kaffeegeschirr herausgeholt habe, beinah noch ganz voll gewesen sei. Und sei doch ein gräuliches Wetter gewesen und kalt und naß. Und wenn sonst einer des Morgens abreise, so tränk’ er mehrstens oder eigentlich immer die Kanne leer, un von Zucker übrig lassen wär’ gar keine Rede nich. Und manche nähmen ihn auch mit. Aber der Pohlsche hätte keine drei Schluck getrunken, und sei eigentlich alles noch so gewesen, wie sie’s reingebracht habe. Weiter wisse sie nichts.«

Danach ging sie, und der Dritte, der nun kam, war Jakob.

»Nun, Jakob, wie war es?« fragte Eccelius; »Du weißt, um was es sich handelt. Was Du Malen und mir schon vorher gesagt hast, brauchst Du nicht zu wiederholen. Du hast ihn geweckt und er hat nicht geantwortet. Dann ist er die Treppe herunter gekommen und Du hast gesehn, daß er sich an dem Geländer festhielt, als ob ihmdas Gehn in dem Pelz schwer würde. Nicht wahr, so war es?«

»Joa, Herr Pastor.«

»Und weiter nichts?«

»Nei, wider nix. Un wihr man blot noch, dat he so’n beten lütt utsoah, un ...«

»Und was?«

»Un dat he so still wihr un seggte keen Wuhrd nich. Un as ick to em seggen deih: ›Na Adjes, Herr Szulski,‹ doa wihr he wedder so bummsstill un nickte man blot so.«

Nach dieser Aussage trat auch Jakob ab und die Pfarrköchin brachte den Kaffee. Vowinkel nahm eine der Tassen und sagte, während er sich an das Fensterbrett lehnte: »Ja, Freund, die Sache steht doch schlimmer, alsDuwahr haben möchtest, und fast auch schlimmer alsicherwartete.«

»Mag sein,« erwiderte der Pastor. »Nach meinem Gefühl indeß, das ich selbstverständlich Deiner besseren Erfahrung unterordne, bedeuten all diese Dinge gar nichts oder herzlich wenig. Der Junge, wie Du gesehn hast, konnte vor Angst kaum sprechen, und aus der Köchin Aussage war doch eigentlich nur das Eine festzustellen, daß es Menschen giebt, dieviel, und andre, diewenigKaffee trinken.«

»Aber Jakob!«

Eccelius lachte. »Ja Jakob. ›He wihr en beten to lütt‹, das war das eine, ›un he wihr en beten to still‹, das war das andre. Willst Du daraus einen Strick für die Hradschecks drehn?«

»Ich will es nicht, aber ich fürchte, daß ich es muß. Jedenfalls haben sich die Verdachtsgründe durch das, was ich eben gehört habe, mehr gemehrt als gemindert, und ein Verfahren gegen den so mannigfach Belasteten kann nicht länger mehr hinausgeschoben werden. Er muß in Haft, wär’ es auch nur um einer Verdunklung des Thatbestandes vorzubeugen.«

»Und die Frau?«

»Kann bleiben. Überhaupt werd’ ich mich auf das Nöthigste beschränken, und um auch jetzt noch alles Aufsehen zu vermeiden, hab’ ich vor, ihn auf meinem Wagen, als ob es sich um eine Spazierfahrt handelte, mit nach Küstrin zu nehmen.«

»Und wenn er nun schuldig ist, wie Du beinah glaubst oder wenigstens für möglich hältst? Ist Dir eine solche Nachbarschaft nicht einigermaßen ängstlich?«

Vowinkel lachte. »Man sieht, Eccelius, daß Du kein Kriminalist bist. Schuld und Muth vertragen sich schlecht zusammen. Alle Schuld lähmt.«

»Nicht immer.«

»Nein, nicht immer. Aber doch meist. Und allemal da, wo das Gesetz schon über ihr ist.«

D

ie Verhaftung Hradscheck’s erfolgte zehn Tage vor Weihnachten. Jetzt war Mitte Januar, aber die Küstriner Untersuchung rückte nicht von der Stelle, weßhalb es in Tschechin und den Nachbardörfern hieß: »Hradscheck werde mit Nächstem wieder entlassen werden, weil nichts gegen ihn vorliege.« Ja, man begann auf das Gericht und den Gerichtsdirektor zu schelten, wobei sich’s selbstverständlich traf, daß alle die, die vorher am leidenschaftlichsten von einer Hinrichtung geträumt hatten, jetzt in Tadeln und Schmähen mit gutem Beispiel vorangingen.

Vowinkel hatte viel zu dulden; kein Zweifel. Am ausgiebigsten in Schmähungen aber war man gegen die Zeugen, und der Angriffe gegen diese wären noch viel mehr gewesen, wenn man nicht gleichzeitig über sie gelacht hätte. Der dumme Ladenjunge, der Ede, so versicherte man sich gegenseitig, könne doch nicht für voll angesehen werden und die Male mit ihren Sommersprossen und ihrem nicht ausgetrunkenen Kaffee womöglich noch weniger. Daß man bei den Hradschecks oft einen wunderbaren Kaffee kriege,das wisse jeder, und wenn alle die, die das durchgetrichterte Cichorienzeug stehn ließen, auf Mord und Todtschlag hin verklagt und eingezogen werden sollten, so säße bald das halbe Bruch hinter Schloß und Riegel. »Aber Jakob und der alte Mewissen?« hieß es dann wohl. Indeß auch von diesen Beiden wollte die plötzlich zu Gunsten Hradscheck’s umgestimmte Majorität nichts wissen. Der dusslige Jakob, von dem jetzt so viel gemacht werde, ja, was hab’ er denn eigentlich beigebracht? Doch nichts weiter, als das ewige »He wihr so’n beten still.« Aber du lieber Himmel, wer habe denn Lust, um Klock fünf und bei steifem Südost einen langen Schnack zu machen? Und nun gar der alte Mewissen, der, so lang er lebe, den Himmel für einen Dudelsack angesehen habe? Wahrhaftig, der könne viel sagen, eh’ man’s zu glauben brauche. »Mit einem karrirten Tuch über dem Kopf. Und wenn’s kein karrirtes Tuch gewesen, dann sei’s eine Pferdedecke gewesen.« O, du himmlische Güte! Mit einer Pferdedecke! Die Hradscheck mit einer Pferdedecke! Giebt es Pferdedecken ohne Flöhe? Nein. Und nun gar diese schnippsche Prise, die sich ewig mit ihrem türkischen Shawl herumziert und noch ötepotöter is als die Reitweinsche Gräfin!

So ging das Gerede, das sich, an und für sich schon günstig genug für Hradscheck, in Folge kleiner Vorkommnisse mit jedem neuen Tage günstiger gestaltete. Darunter war eins von besondrer Wirkung. Und zwar das folgende. Heilig Abend war ein Brief Hradscheck’s bei Eccelius eingetroffen, worin es hieß: »es ging’ ihm gut, weßhalb er sich auch freuen würde, wenn seine Frau zum Fest herüberkommenund eine Viertelstunde mit ihm plaudern wolle; Vowinkel hab’ es eigens gestattet, versteht sich in Gegenwart von Zeugen.« So die briefliche Mittheilung, auf welche Frau Hradscheck, als sie durch Eccelius davon gehört, diesem letzteren sofort geantwortet hatte: »sie werde diese Reisenichtmachen, weil sie nicht wisse, wie sie sich ihrem Manne gegenüber zu benehmen habe. Wenn er schuldig sei, so sei sie für immer von ihm geschieden, einmal um ihrer selbst, aber mehr noch um ihrer Familie willen. Sie wolle daher lieber zum Abendmahl gehn und ihre Sache vor Gott tragen und bei der Gelegenheit den Himmel inständigst bitten, ihres Mannes Unschuld recht bald an den Tag zu bringen.« So was hörten die Tschechiner gern, die sämmtlich höchst unfromm waren, aber nach Art der meisten Unfrommen einen ungeheuren Respekt vor Jedem hatten, der »lieber zum Abendmahl gehn und seine Sache vor Gott tragen«, als nach Küstrin hin reisen wollte.

Kurzum, alles stand gut, und es hätte sich von einer totalen »Rückeroberung« des dem Inhaftirten anfangs durchaus abgeneigten Dorfes sprechen lassen, wenn nichteinUnerschütterlicher gewesen wäre, der, sobald Hradscheck’s Unschuld behauptet wurde, regelmäßig versicherte: »Hradscheck?Denkenn’ ich.Dermuß ans Messer.«

Dieser Unerschütterliche war niemand Geringeres als Gensdarm Geelhaar, eine sehr wichtige Person im Dorf, auf deren Autorität hin die Mehrheit sofort geschworen hätte, wenn ihr nicht seine bittre Feindschaft gegen Hradscheck und die kleinliche Veranlassung dazu bekannt gewesen wäre. Geelhaar, guter Gensdarm, aber noch besserer Saufaus,war, um Kognaks und Rums willen, durch viele Jahre hin ein Intimus bei Hradscheck gewesen, bis dieser eines Tages, des ewigen Gratis-Einschenkens müde, mit mehr Übermuth als Klugheit gesagt hatte: »Hören Sie, Geelhaar, Rum ist gut. Aber Rum kann einen auch ’rum bringen.« Auf welche Provokation hin (Hradscheck liebte dergleichen Witze) der sich nun plötzlich aufs hohe Pferd setzende Geelhaar mit hochrothem Gesicht geantwortet hatte: »Gewiß, Herr Hradscheck. Was kann einen nich alles ’rumbringen? Den einen dies, den andern das. Und mit Ihnen, mein lieber Herr, is auch noch nicht aller Tage Abend.«

Von der aus diesem Zwiegespräch entstandenen Feindschaft wußte das ganze Dorf, und so kam es, daß man nicht viel darauf gab und im Wesentlichen blos lachte, wenn Geelhaar zum hundertsten Male versicherte: »Der? Der muß ans Messer.«

***

»Der muß ans Messer,« sagte Geelhaar, aber in Tschechin hieß es mit jedem Tage mehr: »Er kommt wieder frei.«

Und »he kümmt wedder ’rut,« hieß es auch im Hause der alten Jeschke, wo die blonde Nichte, die Line – dieselbe, nach der Hradscheck bei seinen Gartenbegegnungen mit der Alten immer zu fragen pflegte – seit Weihnachten zum Besuch war und an einer Ausstattung, wenn auch freilich nicht an ihrer eigenen, arbeitete. Sie war eine hervorragend kluge Person, die, trotzdem sie noch keine 27zählte, sich in den verschiedensten Lebensstellungen immer mit Glück versucht hatte: früh schon als Kinder- und Hausmädchen, dann als Nähterin und schließlich als Pfarrköchin in einem neumärkischen Dorf, in welch letztrer Eigenschaft sie nicht nur sämmtliche Betstunden mitgemacht, sondern sich auch durch einen exemplarisch sittlichen Lebenswandel ausgezeichnet hatte. Denn sie gehörte zu denen, die, wenn engagirt, innerhalb ihres Engagements alles Geforderte leisten, auch Gebet, Tugend und Treue.

Solcher Forderungen entschlug sich nun freilich die Jeschke, die vielmehr, wenn sie den Faden von ihrem Wocken spann, immer nur Geschichten von begünstigten und genasführten Liebhabern hören wollte, besonders von einem Küstriner Fourage-Beamten, der drei Stunden lang im Schnee hatte warten müssen. Noch dazu vergeblich. All das freute die Jeschke ganz ungemein, die dann regelmäßig hinzusetzte: »Joa, Line, so wihr ick ook. Awers moak et man nich to dull.« Und dann antwortete diese: »Wie werd ich denn, Mutter Jeschke!« Denn sie nannte sie nie Tante, weil sie sich der nahen Verwandtschaft mit der alten Hexe schämen mochte.

Plaudern war Beider Lust. Und plaudernd saßen beide Weibsen auch heute wieder.

Es war ein ziemlich kalter Tag und draußen lag fußhoher Schnee. Drinnen aber war es behaglich, das Rothkehlchen zwitscherte, die Wanduhr ging in starkem Schlag und der Kachelofen that das Seine. Dem Ofen zunächst aber hockte die Jeschke, während Line weitab an dem ganz mit Eisblumen überdeckten Fenster saß und sichein Kuckloch gepustet hatte, durch das sie nun bequem sehen konnte, was auf der Straße vorging.

»Da kommt ja Gensdarm Geelhaar,« sagte sie. »Grad über den Damm. Er muß drüben bei Kunicke gewesen sein. Versteht sich, Kunicke frühstückt um diese Zeit. Und sieht auch so roth aus. Was er nur will? Er wird am Ende der armen Frau, der Hradschecken, einen Besuch machen wollen. Is ja schon vier Wochen Strohwittwe.«

»Nei, nei,« lachte die Alte. »Dat deiht he nich. Dem is joa sien ejen all to veel, so lütt se is. Ne, ne, den kenn ick. Geelhaar is man blot noch för so.«

Und dabei machte sie die Bewegung des aus der Flaschetrinkens.

»Hast Recht,« sagte Line. »Sieh, er kommt grad auf unser Haus zu.«

Und wirklich, unter diesem Gespräch, wie’s die Jeschke mit ihrer Nichte geführt hatte, war Geelhaar von der Dorfstraße her in einen schmalen, blos mannsbreiten Gang eingetreten, der, an der Hradscheck’schen Kegelbahn entlang, in den Garten der alten Jeschke führte.

Von hier aus war auch der Eingang in das Häuschen der Alten, das mit seinem Giebel nach der Straße stand.

»Guten Tag, Mutter Jeschke,« sagte der Gensdarm. »Ah, und guten Tag, Lineken. Oder ich muß jetzt wohl sagen Mamsell Linchen.«

Line, die den stattlichen Geelhaar (er hatte bei den Gardekürassieren gedient), aller despektirlichen Andeutungen der Alten ungeachtet, keineswegs aus ihrer Liste gestrichenhatte, stemmte sofort den linken Fuß gegen einen ihr gegenüberstehenden Binsenstuhl und sah ihn zwinkernd über das große Stück Leinwand hin an, das sie, wie wenn sie’s abmessen wollte, mit einem energischen Ruck und Puff vor sich ausspannte.

Die Wirkung dieser kleinen Künste blieb auch nicht aus. So wenigstens schien es Linen. Die Jeschke dagegen wußt’ es besser, und als Geelhaar auf ihre mit Vorbedacht in Hochdeutsch gesprochene Frage, »was ihr denn eigentlich die Ehre verschaffe,« mit einem scherzhaft gemeinten Fingerzeig auf Line geantwortet hatte, lachte sie nur und sagte:

»Nei, nei, Herr Gensdarm. Ick weet schon, ick weet schon ... Awers nu setten’s sich ihrst ... Joa, diss’ Hradscheck ... he kümmt joa nu wedder rut.«

»Ja, Mutter Jeschke,« wiederholte Geelhaar, »he kümmt nu wedder rut. Das heißt, er kommt wieder ’raus, wenn er nich drin bleibt.«

»Woll, woll. Wenn he nicht drin bliewt. Awers worümm sall he drin bliewen? Keen een hett joa wat siehn, un keen een hett joa wat utfunn’n. Un Se ook nich, Geelhaar.«

»Nein,« sagte der Gensdarm. »Ich auch nich. Aber es wird sich schon was finden oder doch finden lassen, und dazu müssen Sie helfen, Mutter Jeschke. Ja, ja. So viel weiß ich, die Hradscheck hat schon lange keinen Schlaf mehr und ist immer treppauf und treppab. Und wenn die Leute sagen, es sei blos, weil sie sich um den Mann gräme, so sag ich: Unsinn,eris nich so undsieis nich so.«

»Nei, nei,« wiederholte die Jeschke. »He is nich so un se is nich so. De Hradschecks, nei, de sinn nich so.«

»Keinen ordentlichen Schlaf also,« fuhr Geelhaar fort, »nich bei Tag und auch nich bei Nacht, und wankt immer so ’rum, und is mal im Hof und mal im Garten. Das hab’ ich von der Male ... Hören Sie, Mutter Jeschke, wenn ich so mal Nachtens hier auf Posten stehen könnte! Das wäre so was. Line bleibt mit auf, und wir setzen uns dann ans Fenster und wachen und kucken. Nich wahr, Line?«

Line, die schon vorher das Weißzeug bei Seite gelegt und ihren blonden Zopf halb aufgeflochten hatte, schlug jetzt mit dem losen Büschel über ihre linke Hand und sagte: »Will es mir noch überlegen, Herr Geelhaar. Ein armes Mädchen hat nichts als seinen Ruf.«

Und dabei lachte sie.

»Kümmen’s man, Geelhaar,« tröstete die Jeschke, trotzdem Trost eigentlich nicht nöthig war. »Kümmen’s man. Ick geih to Bett. Wat doa to siehn is, ick meen hier buten, dat hebb’ ick siehn, dat weet ick all. Un is ümmer dat Sülwigte.«

»Dat Sülwigte?«

»Joa. Nu nich mihr. Awers as noch keen Snee wihr. Doa ...«

»Da. Was denn?«

»Doa wihr se Nachtens ümmer so ’rümm hier.«

»So, so,« sagte der Gensdarm und that vorsichtig allerlei weitere Fragen. Und da sich die Jeschke von guten Beziehungen zur Dorfpolizei nur Vortheile versprechenkonnte, so wurde sie trotz aller sonstigen Zurückhaltung immer mittheilsamer und erzählte dem Gensdarmen Neues und Altes, namentlich auch das, was sie damals, in der stürmischen November-Nacht, von ihrer Küchenthür aus beobachtet hatte. Hradscheck habe lang da gestanden, ein flackrig Licht in der Hand. »Un wihr binoah so, as ob he wull, dat man em seihn sull.« Und dann hab’ er einen Spaten genommen und sei bis an den Birnbaum gegangen. Und da hab’ er ein Loch gegraben. An der Gartenthür aber habe was gestanden wie ein Koffer oder Korb oder eine Kiste. Was? das habe sie nicht genau sehen können. Und dann hab’ er das Loch wieder zugeschüttet.

Geelhaar, der sich bis dahin, allem Diensteifer zum Trotz, ebenso sehr mit Line wie mit Hradscheck beschäftigt hatte, ja, vielleicht mehr noch Courmacher als Beamter gewesen war, war unter diesem Bericht sehr ernsthaft geworden und sagte, während er mit Wichtigkeitsmiene seinen gedunsenen Kopf hin und her wiegte: »Ja, Mutter Jeschke, das thut mir leid. Aber es wird Euch Ungelegenheiten machen.«

»Wat? wat, Geelhaar?«

»Ungelegenheiten, weil Ihr damit so spät herauskommt.«

»Joa, Geelhaar, wat sall dat? wat mienens mit ›to spät‹? Et hett mi joa keener nich froagt. Un Se ook nich. Un wat weet ick denn ook? Ick weet joa nix. Ick weet joa joar nix.«

»Ihr wißt genug, Mutter Jeschke.«

»Nei, nei, Geelhaar. Ick weet joar nix.«

»Das ist gerade genug, daß einer Nachts in seinem Garten ein Loch gräbt und wieder zuschüttet.«

»Joa, Geelhaar, ick weet nich, awers jed’ een möt doch in sien ejen Goarden en Loch buddeln künn’.«

»Freilich. Aber nicht um Mitternacht und nicht bei solchem Wetter.«

»Na, rieden’s mi man nich rin. Un moaken Se’t good mit mi ... Line, Line, segg doch ook wat.«

Und wirklich, Line trat in Folge dieser Aufforderung an den Gensdarmen heran und sagte, tief aufathmend, wie wenn sie mit einer plötzlichen und mächtigen Sinnen-Erregung zu kämpfen hätte: »Laß nur, Mutter Jeschke. Herr Geelhaar wird schon wissen, was er zu thun hat. Und wir werden es auch wissen. Das versteht sich doch von selbst. Nicht wahr, Herr Geelhaar?«

Dieser nickte zutraulich und sagte mit plötzlich verändertem und wieder freundlicher werdendem Tone: »Werde schon machen, Mamsell Line. Schulze Woytasch läßt ja, Gott sei Dank, mit sich reden und Vowinkel auch. Hauptsach’ is, daß wir den Fuchs überhaupt ins Eisen kriegen. Un is dann am Ende gleich,wannwir ihn haben und ob ihm der Balg heut oder morgen abgezogen wird.«

V

ierundzwanzig Stunden später kam – und zwar auf die Meldung hin, die Geelhaar, gleich nach seinem Gespräche mit der Jeschke, bei der Behörde gemacht hatte – von Küstrin her ein offener Wagen, in dem, außer dem Kutscher, der Justizrath und Hradscheck saßen. Die Luft ging scharf und die Sonne blendete, weßhalb Vowinkel, um sich gegen Beides zu schützen, seinen Mantel aufgeklappt, der Kutscher aber seinen Kopf bis an Nas’ und Ohren in den Pelzkragen hineingezogen hatte. Nur Hradscheck saß frei da, Luft und Licht, deren er seit länger als vier Wochen entbehrt hatte, begierig einsaugend. Der Wagen fuhr auf der Dammhöhe, von der aus sich das unten liegende Dorf bequem überblicken und beinah jedes einzelne Haus in aller Deutlichkeit erkennen ließ. Das da, mit dem schwarzen, theergestrichenen Gebälk, war das Schulhaus und das gelbe, mit dem gläsernen Aussichtsthurm, mußte Kunicke’s sein, Kunicke’s »Villa«, wie die Tschechiner es spöttisch nannten. Das niedrige, grad gegenüber aber, das war seine, das sah er an dem Birnbaum, dessen schwarzes Gezweig über die mit Schnee bedeckteDachfläche wegragte. Vowinkel bemerkte wohl, wie Hradscheck sich unwillkürlich auf seinem Sitze hob, aber nichts von Besorgniß drückte sich in seinen Mienen und Bewegungen aus, sondern nur Freude, seine Heimstätte wieder zu sehen.

Im Dorfe selbst schien man der Ankunft des justizräthlichen Wagens schon entgegen gesehen zu haben. Auf dem Vorplatz der Igel’schen Brett- und Schneidemühle, die man, wenn man von der Küstriner Seite her kam, als erstes Gehöft zu passiren hatte (gerade so wie das Orth’sche nach der Frankfurter Seite hin), stand der alte Brett- und Schneidemüller und fegte mit einem kurzen storrigen Besen den Schnee von der obersten Bretterlage fort, anscheinend aufs Eifrigste mit dieser seiner Arbeit beschäftigt, in Wahrheit aber nur begierig, den herankommenden Hradscheck eher als irgend ein anderer im Dorf gesehen zu haben. Denn Schneidemüller Igel, oder der »Schneidigel«, wie man ihn kurzweg und in der Regel mit absichtlich undeutlicher Aussprache nannte, war ein Topfkucker. Aber so topfkuckrig er war, so stolz und hochmüthig war er auch, und so wandt’ er sich in demselben Augenblicke, wo der Wagen an ihm vorüberfuhr, rasch wieder auf sein Haus zu, blos um nicht grüßen zu müssen. Hier nahm er, um seine Neugier, deren er sich schämen mochte, vor niemandem zu verrathen, Hut und Stock mit besonderer Langsamkeit vom Riegel und folgte dann dem Wagen, den er übrigens bald danach schon vor dem Hradscheck’schen Hause vorfahren sah.

Frau Hradscheck war nicht da. Statt ihrer übernahmes Kunicke, den sie darum gebeten haben mochte, den Wirth und so zu sagen die Honneurs des Hauses zu machen. Er führte denn auch den Justizrath vom Flur her in den Laden und von diesem in die dahinter befindliche Weinstube, wo man einen Imbiß bereit gestellt hatte. Vowinkel nahm aber, unter vorläufiger freundlicher Ablehnung, nur ein kleines Glas Portwein und trat dann in den Garten hinaus, wo sich bereits alles, was zur Dorfobrigkeit gehörte, versammelt hatte: Schulze Woytasch, Gensdarm Geelhaar, Nachtwächter Mewissen und drei bäuerliche Gerichtsmänner. Geelhaar, der, zur Feier des Tages, seinen Staats-Czako mit dem armslangen schwarzen Lampenputzer aufgesetzt hatte, ragte, mit Hilfe dieser Paradezuthaten, um fast drei Haupteslängen über den Rest aller Anwesenden hinaus. Das war der innere Zirkel. Im weitern Umkreis aber standen die, die blos aus Neugier sich eingefunden hatten, darunter der schon stark gefrühstückte Kantorssohn und Dorfdichter, während einige zwanzig eben aus der Schule herangekommene Jungens mit ihren Klapp-Pantinen auf das Kegelhaus geklettert waren, um von hier aus Zeuge zu sein, was wohl bei der Sache herauskommen würde. Vorläufig indeß begnügten sie sich damit, Schneebälle zu machen, mit denen sie nach den großen und kleinen Mädchen warfen, die hinter dem Gartenzaun der alten Jeschke standen. Alles plapperte, lachte, reckte den Hals, und wäre nicht Hradscheck selbst gewesen, der, die Blicke seiner alten Freunde vermeidend, ernst und schweigend vor sich hinsah, so hätte man glauben können, es sei Kirmeß oder eine winterliche Jahrmarktsscene.

Die Gerichtsmänner flüsterten und steckten die Köpfe zusammen, während Woytasch und Geelhaar sich umsahen. Es schien noch etwas zu fehlen, was auch zutraf. Als aber bald danach der alte Todtengräber Wonnekamp mit noch zwei von seinen Leuten erschien, rückte man näher an den Birnbaum heran und begann den Schnee, der hier lag, fortzuschippen. Das ging leicht genug, bis statt des Schnees die gefrorne Erde kam, wo nun die Pickaxt aushelfen mußte. Der Frost indessen war nicht tief in die Erde gedrungen, und so konnte man den Spaten nicht nur bald wieder zur Hand nehmen, sondern kam auch rascher vorwärts, als man anfangs gehofft hatte. Die herausgeworfenen Schollen und Lehmstücke wurden immer größer, je weicher der Boden wurde, bis mit einem Male der alte Todtengräber einem der Arbeiter in den Arm fiel und mit der seinem Stande zuständigen Ruhe sagte: »Nu giw mi moal; nu kümmt wat.« Dabei nahm er ihm das Grabscheit ohne weiteres aus der Hand und fing selber an zu graben. Aber ersichtlich mit großer Vorsicht. Alles drängte vor und wollte sehn. Und siehe da, nicht lange, so war ein Todter aufgedeckt, der zu großem Theile noch in Kleiderresten steckte. Die Bewegung wuchs, und aller Augen richteten sich auf Hradscheck, der, nach wie vor, vor sich hin sah und nur dann und wann einen scheuen Seitenblick in die Grube that.

»Nu hebben se’n,« lief ein Gemurmel den Gartenzaun entlang, unklar lassend, ob man Hradscheck oder den Todten meine; die Jungens auf dem Kegelhäuschen aber recktenihre Hälse noch mehr als vorher, trotzdem sie weder nah noch hoch genug standen, um irgend ’was sehn zu können.

Eine Pause trat ein. Dann nahm der Justizrath des Angeklagten Arm und sagte, während er ihn dicht an die Grube führte: »Nun, Hradscheck, was sagen Sie?«

Dieser verzog keine Miene, faltete die Hände wie zum Gebet und sagte dann fest und feierlich: »Ich sage, daß dieser Todte meine Unschuld bezeugen wird.«

Und während er so sprach, sah er zu dem alten Todtengräber hinüber, der den Blick auch verstand und, ohne weitere Fragen abzuwarten, geschäftsmäßig sagte: »Ja, der hier liegt, liegt hier schon lang. Ich denke zwanzig Jahre. Und der Pohlsche, der es sein soll, is noch keine zehn Wochen todt.«

Und siehe da, kaum daß diese Worte gesprochen waren, so war ihr Inhalt auch schon bewiesen und jeder schämte sich, so wenig kaltes Blut und so wenig Umsicht und Überlegung gehabt zu haben. In einem gewissen Entdeckungseifer waren alle wie blind gewesen und hatten unbeachtet gelassen, daß ein Schädel, um ein richtiger Schädel zu werden, auch sein Stück Zeit verlangt und daß die Todten ihre Verschiedenheiten und ihre Grade haben, gerade so gut wie die Lebendigen.

Am verlegensten war der Justizrath. Aber er sammelte sich rasch und sagte: »Todtengräber Wonnekamp hat Recht. Das ist nicht der Todte, den wir suchen. Und wenn er zwanzig Jahre in der Erde liegt, was ich keinen Augenblick bezweifle, so kann Hradscheck an diesem Todtenkeine Schuld haben. Und kann auch von einer früheren Schuld keine Rede sein. Denn Hradscheck ist erst im zehnten Jahr in diesem Dorf. Das alles ist jetzt erwiesen. Trotz alledem bleiben ein paar dunkle Punkte, worüber Aufklärung gegeben werden muß. Ich lebe der Zuversicht, daß es an dieser Aufklärung nicht fehlen wird, aber ehe sie gegeben ist, darf ich Sie, Herr Hradscheck, nicht aus der Untersuchung entlassen. Es wird sich dabei, was ich als eine weitere Hoffnung hier ausspreche, nur noch um Stunden und höchstens um Tage handeln.«

Und damit nahm er Kunicke’s Arm und ging in die Weinstube zurück, woselbst er nunmehr, in Gesellschaft von Woytasch und den Gerichtsmännern, dem für ihn servirten Frühstücke tapfer zusprach. Auch Hradscheck ward aufgefordert, sich zu setzen und einen Imbiß zu nehmen. Er lehnte jedoch ab und sagte, daß er mit seiner Mahlzeit lieber warten wolle, bis er im Küstriner Gefängniß sei.

So waren seine Worte.

Und diese Worte gefielen den Bauern ungemein. »Er will nicht an seinem eignen Tisch zu Gaste sitzen und das Brot, das er gebacken, nicht als Gnadenbrot essen. Da hat er Recht. Das möcht’ ich auch nicht.«

So hieß es und so dachten die Meisten.

Aber freilich nicht alle.

Gensdarm Geelhaar ging an dem Zaun entlang, über den, sammt andrem Weibervolk, auch Mutter Jeschke weggekuckt hatte. Natürlich auch Line.

Geelhaar tippte dieser mit dem Finger auf den Dutt und sagte: »Nu Line, was macht der Zopf?«

»Meiner?« lachte diese. »Hörens, Herr Gensdarm, jetzt kommtIhreran die Reih’.«

»Wird so schlimm nicht werden, Lineken ... Und Mutter Jeschke, was sagt die dazu?«

»Joa, wat sall se seggen? He is nu wedder ’rut. Awers he kümmt ook woll wedder ’rin.«

E

ine Woche war vergangen, in der die Tschechiner viel erlebt hatten. Das Wichtigste war: Hradscheck, nachdem er noch ein Küstriner Schlußverhör durchgemacht hatte, war wieder da. Schlicht und unbefangen, ohne Lücken und Widersprüche, waren die Dunkelheiten aufgeklärt worden, so daß an seiner Unschuld nicht länger zu zweifeln war. Es seien ihm, so hieß es in seiner vor Vowinkel gemachten Aussage, durch Unachtsamkeit, deren er sich selber zu zeihen habe, mehrere große Speckseiten verdorben, und diese möglichst unbemerkt im Garten zu vergraben, hab’ er an jenem Tage vorgehabt. Er sei denn auch, gleich nachdem seine Gäste die Weinstube verlassen hätten, ans Werk gegangen und habe, genau so wie’s die Jeschke gesehn und erzählt, an dem alten Birnbaum ein Loch zu graben versucht; als er aber erkannt habe, daß da was verscharrt liege, ja, dem Anscheine nach ein Todter, hab’ ihn eine furchtbare Angst gepackt, in Folge deren er nicht weiter gegraben, sondern das Loch rasch wieder zugeschüttet habe. Der Koffer, den die Jeschke gesehen haben wolle, das seien eben jene Speckseiten gewesen, die, dicht übereinandergepackt, an der Gartenthür gelegen hätten. »Aber wozu die Heimlichkeit und die Nacht?« hatte Vowinkel nach dieser Erklärung etwas spitz gefragt, worauf Hradscheck, in seiner Erzählung fortfahrend, ohne Verlegenheit und Unruhe geantwortet hatte: »Zu dieser Heimlichkeit seien für ihn zwei Gründe gewesen. Erstens hab’ er sich die Vorwürfe seiner Frau, die nur zu geneigt sei, von seiner Unachtsamkeit in Geschäftsdingen zu sprechen, ersparen wollen. Und er dürfe wohl hinzusetzen, wer verheirathet sei, der kenne das und wisse nur zu gut, wie gerne man sich solchen Anklagen und Streitscenen entziehe. Der zweite Grund aber sei noch wichtiger gewesen: die Rücksicht auf die Kundschaft. Die Bauern, wie der Herr Justizrath ja wisse, seien die schwierigsten Leute von der Welt, ewig voll Mißtrauen, und wenn sie derlei Dinge, wie Schinken und Speck, auch freilich nicht in seinem Laden zu kaufen pflegten, weil sie ja genug davon im eignen Rauch hätten, so zögen sie doch gleich Schlüsse vom einen aufs andre. Dergleichen hab’ er mehr als einmal durchgemacht und dann wochenlang aller Ecken und Enden hören müssen, er passe nicht auf. Ja, noch letzten Herbst, als ihm ganz ohne seine Schuld eine Tonne Heringe thranig geworden sei, habe Schneidigel überall im Dorfe geputscht und unter anderm zu Quaas und Kunicke gesagt: ›Uns wird er damit nicht kommen; aber die kleinen Leute, die, die ...‹«

Der Justizrath hatte hierbei gelächelt und zustimmend genickt, weil er die Bauern fast so gut wie Hradscheck kannte, so daß, nach Erledigung auchdiesesPunktes, eigentlich nichts übrig geblieben war als die Frage, »wasdenn nun, unter so bewandten Umständen, aus dem durchaus zu beseitigenden Speck geworden sei?« Welche Frage jedoch nur dazu beigetragen hatte, Hradscheck’s Unschuld vollends ins Licht zu stellen. »Er habe die Speckseiten an demselben Morgen noch an einer anderen Gartenstelle verscharrt; gleich nach Szulski’s Abreise.« »Nun, wir werden ja sehn,« hatte Vowinkel hierauf geantwortet und einen seiner Gerichtsdiener abgeschickt, um sich in Tschechin selbst über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Aussage zu vergewissern. Und als sich nun in kürzester Frist alles bestätigt oder mit anderen Worten der vergrabene Speck wirklich an der von Hradscheck angegebenen Stelle gefunden hatte, hatte man das Verfahren eingestellt, und an demselben Nachmittage noch war der unter so schwerem Verdacht Gestandene nach Tschechin zurückgekehrt und in einer stattlichen Küstriner Miethschaise vor seinem Hause vorgefahren. Ede, ganz verblüfft, hatte nur noch Zeit gefunden, in die Wohnstube, darin sich Frau Hradscheck befand, hineinzurufen: »Der Herr, der Herr ...«, worauf Hradscheck selbst mit der ihm eigenen Jovialität und unter dem Zurufe: »Nun Ede, wie geht’s?« in den Flur seines Hauses eingetreten, aber freilich im selben Augenblick auch wieder mit einem erschreckten »Was is, Frau?« zurückgefahren war. Ein Ausruf, den er wohl thun durfte. Denn gealtert, die Augen tief eingesunken und die Haut wie Pergament, so war ihm Ursel unter der Thür entgegengetreten.

***

Hradscheck war da, das war daseineTschechiner Ereigniß. Aber das andere stand kaum dahinter zurück: Eccelius hatte, den Sonntag darauf, über Sacharja 7, Vers 9 und 10 gepredigt, welche Stelle lautete: »So spricht der Herr Zebaoth: Richtet recht, und ein Jeglicher beweise an seinem Bruder Güte und Barmherzigkeit. Und thuet nicht Unrecht denFremdlingenund denke keiner wider seinen Bruder etwas Arges in seinem Herzen.« Schon bei Lesung des Textes und der sich daran knüpfenden Einleitungsbetrachtung hatten die Bauern aufgehorcht; als aber der Pastor das Allgemeine fallen ließ und, ohne Namen zu nennen, den Hradscheck’schen Fall zu schildern und die Trüglichkeit des Scheines nachzuweisen begann, da gab sich eine Bewegung kund, wie sie seit dem Sonntag (es ging nun ins fünfte Jahr), an welchem Eccelius auf die schweren sittlichen Vergehen eines als Bräutigam vor dem Altar stehenden reichen Bauernsohnes hingewiesen und ihn zu besserem Lebenswandel ermahnt hatte, nicht mehr dagewesen war. Beide Hradschecks waren in der Kirche zugegen und folgten jedem Worte des Geistlichen, der heute viel Bibelsprüche citirte, mehr noch als gewöhnlich.

Es war unausbleiblich, daß diese Rechtfertigungsrede zugleich zur Anklage gegen alle diejenigen wurde, die sich in der Hradscheck-Sache so wenig freundnachbarlich benommen und durch allerhand Zuträgereien entweder ihr Übelwollen oder doch zum mindesten ihre Leichtfertigkeit und Unüberlegtheit gezeigt hatten. Wer in erster Reihe damit gemeint war, konnte nicht zweifelhaft sein, und vieler Augen, nur nicht die der Bauern, die, wie herkömmlich,keine Miene verzogen, richteten sich auf die mitsammt ihrem »Lineken« auf der vorletzten Bank sitzende Mutter Jeschke, der Kanzel grad’ gegenüber, dicht unter der Orgel. Line, sonst ein Muster von Nichtverlegenwerden, wußte doch heute nicht wohin und verwünschte die alte Hexe, neben der sie das Kreuzfeuer so vieler Augen aushalten mußte. Mutter Jeschke selbst aber nickte nur leise mit dem Kopf, wie wenn sie jedes Wort billige, das Eccelius gesprochen, und sang, als die Predigt aus war, den Schlußvers ruhig mit. Ja sie blieb selbst unbefangen, als sie draußen, an den zu beiden Seiten des Kirchhofweges stehenden Frauen vorbeihumpelnd, erst die vorwurfsvollen Blicke der Älteren und dann das Kichern der Jüngeren über sich ergehen lassen mußte.

Zu Hause sagte Line: »Das war eine schöne Geschichte, Mutter Jeschke. Hätte mir die Augen aus dem Kopf schämen können.«

»Bis doch sünnst nicht so.«

»Ach was, sünnst. Hat er Recht oder nicht? Ich meine, der Alte drüben?«

»Ick weet nich, Line,« beschwichtigte die Jeschke. »He möt et joa weeten.«


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