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Hatte Wilberforce bisher schon, wenn er von dem Tode solcher vernahm, die ihm lieb und wert gewesen waren, immer an den eigenen Tod gedacht und sich nicht gegen die Mahnung verschlossen, die noch übrige Lebenszeit zur Vorbereitung auf denselben zu benutzen, so mußte ihm jetzt, wo er seine Lebenskraft von Tag zu Tage abnehmen fühlte, dieser Gedanke noch näher treten, diese Mahnung noch wichtiger werden.

Und es sollte jetzt auch in der That rasch mit seinem Leben zu Ende gehen. Als der 74jährige Greis im April 1833 seinen auf der Insel Wight angestellten Sohn besuchen wollte, wurde er von der Grippe befallen, die ihn schon öfters heimgesucht hatte, von der er aber immer in den heilsamen Bädern von Bath Heilung gefunden. Auch jetzt wurde er von den besorgten Seinigen wieder dorthin gebracht und blieb dort 2 ganze Monate. Aber die gehoffte Heilung wollte nicht eintreten. Im Gegenteile nahmen seine Kräfte zusehends ab, sodaß die Seinigen es für geratenhielten, ihn, ehe seine Kräfte noch weiter schwänden, nach London zu bringen und ihn dort der Pflege eines berühmten Arztes zu übergeben, der ihn schon einmal von der gleichen Krankheit schnell geheilt hatte.

Wilberforce fügte sich dem Wunsche seiner Angehörigen, obwohl es ihm selbst unzweifelhaft war, daß er keines irdischen Arztes mehr bedürfe. Er wollte sich eben in kindlicher Demut allem unterwerfen, was nur irgendwie als dem Willen Gottes entsprechend erschien, und dankte stets Gott für die Gnade, daß er ihn durch kein härteres Leiden prüfe, zumal durch kein solches, wodurch ihm die Klarheit des Geistes getrübt worden wäre.

Und wie klar blieb sein Geist! Ja wie gingen ihm die Geistesaugen heller und immer heller auf, die eigene Sündhaftigkeit und Unwürdigkeit vor Gott zu erkennen, aber auch in die Fülle der Gnade Gottes in Christo Jesu tiefe, beseligende Blicke zu thun! Immer wieder bezeugte er, daß er nicht wert sei der Barmherzigkeit und Treue, die Gott an ihm während seines ganzen Lebens gethan habe; immer wieder pries er mit den höchsten, begeistertsten Worten die Gnade, die ihn das höchste und beste habe gewinnen lassen, was es für den Menschen geben könne, den inneren Frieden, der in der Erlösung des Sohnes Gottes so festen und gewissen Grund habe.

»In Rücksicht auf mich selbst«, sagte er zu einem lieben alten Freund, der ihn auf seinem Krankenlager besuchte, und ihn auf die zukünftige Herrlichkeit verwies, welcher er mit Zuversicht entgegensehen dürfe, »in Rücksicht auf mich selbst habe ich nichts so sehr mit Nachdruck zu wiederholen als die Bitte des Zöllners: Gott, sei mir Sünder gnädig.«

»Wenn ich bedenke, wie viel arme Leute leiden ohnedie Bequemlichkeiten, welche ich habe, und die gütigen Freunde, welche um mich sind, so bin ich ganz beschämt darüber, wie es mir so gut geht.« Das war ein anderes seiner tief demütigen, dankerfüllten Worte.

Auch klagte er, wie er denn sein Leben lang sich selber nie genug gethan und sich stets für einen unnützen Knecht bekannt hatte, jetzt besonders darüber, daß er nicht mehr mit denen, die ihm nahe getreten seien, gebetet und sie nicht genug auf den rechten Weg gewiesen habe.

Stets waren seine Gedanken dem Heilande zugewandt, besonders wenn er Schmerzen hatte. In solch einer Stunde sagte er zu seinem Sohne Henry, der an sein Krankenlager geeilt war, und dem wir all die schönen Worte aus dem Munde des Sterbenden zu verdanken haben, die sich seinem Gedächtnisse unauslöschlich einprägten: »Gedenke daran, daß unser Heiland vom Himmel gekommen ist, und wenn uns ein kleiner Schmerz schon empfindlich ist, was hat Er nicht alles erduldet! Gewiß der Gedanke an die Leiden unseres Heilandes erregt Staunen und Verwunderung.«

Brachten ihm die zahlreichen Freunde, welche die Parlamentssitzung nach London zusammengeführt hatte und die es nicht versäumten, den von ihnen allen so hoch Geehrten fleißig zu besuchen, zarte Beweise ihrer Aufmerksamkeit und Teilnahme dar, so sagte er nachher wohl: »Wie ganz anders würden sie mich beurteilen und ansehen, wenn sie mich wahrhaft kennten!«

Am Freitage, den 26. Juli ließ sich der Kranke, um den herrlichen Sommertag zu genießen, auf seinem Stuhle ins Freie tragen; denn seine Schwäche ließ es ihm nicht mehr zu, auf den eigenen Füßen das Zimmer zu verlassen. Es war der Tag, an dem ein Gesetzesvorschlagwegen völliger Abschaffung der Sklaverei zum zweiten Male im Parlamente vorkam und auch zur Annahme gelangte. Als ihm die Nachricht davon überbracht und mitgeteilt wurde, daß auch die großen Geldopfer, die zur Entschädigung der Sklavenhalter für nötig erachtet wurden, kein Hindernis der Annahme des Gesetzes geworden seien, wie jubelte da der Leidende auf, der nun, was er als Jüngling gedacht, als Mann mit rastloser Ausdauer erstrebt hatte, vor seinem Ende noch mit dem sehnlich erwarteten Erfolge gekrönt sah! Mit welch inniger Dankbarkeit erhoben sich seine Blicke hinauf zu dem wolkenlosen Himmel, und falteten sich seine Hände bei dem Gebetsrufe: »O mein Gott, wie danke ich Dir, daß Du mich hast leben und ein Zeuge des Tages sein lassen, an dem sich England bereit erklärt hat, 20 Millionen Pfund für die Abschaffung der Sklaverei zu geben und sich von dieser Schande zu befreien!«

Wie ein stärkender Balsam schien diese Nachricht auf ihn zu wirken. Denn er fühlte sich am Abende dieses Tages so wohl und heiter, daß man sich schon der Hoffnung hingab; es werde doch noch möglich sein, ihn von London wegzubringen zu einem seiner Söhne, damit er im engsten Familienkreise seine Heimfahrt halte, an deren Nähe jetzt kaum mehr zu zweifeln war. Mit besonderer Inbrunst nahm er an der Abendandacht teil und freute sich der zarten Pflege und Aufmerksamkeit, die ihm alle widmeten.

»Was kann ein Mensch«, rief er aus, »zum Schlusse seines Lebens mehr wünschen, als von seiner Frau und von seinen Kindern gepflegt zu werden, welche alle in Freundlichkeit und Liebe gegen ihn wetteifern!«

Jedoch die ungewöhnliche freudige Aufregung diesesTages blieb nicht ohne Rückschlag. Am späten Abende stellte sich bei dem Kranken eine große Schwäche ein, und der folgende Tag brachte mehrere Schlaganfälle, die sein Gedächtnis schwächten und ihm große Leiden verursachten. Die Erklärung des Arztes, daß, wenn er diese Anfälle überlebe, noch schwerere Leiden, ja eine Störung des Verstandes in Aussicht ständen, mußte nun die Seinigen es als eine Gnade von Gott erbitten lassen, daß sein Ende nicht mehr allzu ferne sein möge.

»Ich bin in einem sehr leidenden Zustande«, klagte er am Sonntage in einem Augenblicke, da er ganz hellen, lichten Geistes war.

»Ja«, antwortete man ihm, »aber Sie haben ihren Fuß auf dem Felsen.«

»Ich wage nicht«, erwiderte er, »dies so bestimmt zu behaupten, aber ich hoffe, ich habe ihn darauf.«

Das waren seine letzten vernehmbaren Worte, und am Montage, den 29. Juli 1833 frühe morgens 3 Uhr hauchte er seinen letzten Seufzer aus.

Wer dürfte zweifeln, daß mit demselben die Seele des treuen Sklavenfreundes einging zu dem, der seines Herzens Trost und Teil war, weil er mit seinem heiligen Versöhnungs- und Erlösungsblute aller Sklaverei ein Ende gemacht hat, daß sie einging zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes?

Auf 73 Jahre 11 Monate hatte Wilberforce das reich gesegnete Erdenleben bringen dürfen, das wir aus den vorstehenden Blättern zu schildern versucht haben; aber für alle Zeiten wird sein Gedächtnis währen überall, wo man nach denen fragt, und um die sich bekümmert, welche in Wahrheit Wohlthäter der Menschheit gewesen sind.

Oder dürftest Du jetzt noch bezweifeln, lieber Leser, daß Wilberforce in der That ein solcher gewesen ist.

Hat er nicht durch unermüdliches Wirken demjenigen Teile der Menschheit, welcher vorher unbeanstandet das furchtbare Joch einer leib- und seelenmörderischen Knechtschaft getragen hatte und in der öffentlichen Meinung mit den Tieren fast auf gleiche Stufe gestellt gewesen war, nicht allein zur Milderung seiner Leiden geholfen, sondern auch zur Anerkennung seiner Menschenwürde und Menschenrechte?

Hat er nicht den übrigen Teil der Menschheit, der in seiner Verblendung der schwarzen und farbigen Rasse ohne Bedenken jenes furchtbare Joch der Sklaverei auferlegen zu dürfen geglaubt hatte, die Augen aufgethan und das Gewissen geschärft, das Jahrtausende hindurch geübte himmelschreiende Unrecht zu erkennen, und so den Fluch von ihm wenden helfen, der aus solchem Unrecht notwendig erwachsen muß?

Hat er nicht – und das möchten wir als die höchste Wohlthat preisen, die er der Menschheit erwiesen – durch sein ganzes Leben und Wirken es jedem, der nur sehenwill, klar und unwiderleglich unter die Augen gestellt, daß das wahre, lebendige Christentum die Quelle aller Tugenden ist, und daß zumal jene Tugenden, die allein befähigen großes für die Welt zu vollbringen, lediglich aus dieser Quelle geschöpft werden können: Der heilige Eifer, der für das in Gottes Namen begonnene Werk glüht, der feste Mannesmut, der vor keiner Gegnerschaft und vor keiner Widerwärtigkeit zurückbebt, die unermüdliche Geduld, die sich durch keine fehlgeschlagene Hoffnung beugen läßt, die hingebende Selbstverleugnung, die von jedem Suchen des Eigenen absteht?

Und wir freuen uns zum Schlusse noch sagen zu können, daß es Wilberforce nicht erging, wie so manchem anderen Wohlthäter der Menschheit vor ihm und nach ihm, daß er erst bei der dankbaren Nachwelt die verdiente Anerkennung fand, während die kurzsichtige Mitwelt sie ihm versagte, oder doch nicht in gebührendem Maße zollte. Nein, die Hochachtung, die er schon zu seinen Lebzeiten selbst bei Feinden und Gegnern gefunden hatte, sie trat sofort bei seinem Tode in das hellste Lichte und machte sich in der ehrenvollsten Weise kund.

Einstimmig erkannte das Parlament dem Verstorbenen die höchste Ehre zu, die England seinen großen Männern zu erweisen pflegt, daß nämlich sein Leichnam in der Westminsterabtei beigesetzt wurde, zur letzten Ruhestätte geleitet von den Mitgliedern des Ober- wie des Unterhauses, ja selbst von einem Prinzen des Königlichen Hauses und von dem Lordkanzler, die es nicht unter ihrer Würde erachteten, bei den Trägern des Leichentuches zu sein.

In seiner Vaterstadt Hull, sowie in York, der Hauptstadt der so lange von ihm vertretenen Grafschaft, wurden an seinem Begräbnistage Gedächtnisfeierlichkeiten für Wilberforce veranstaltet, und während ihm seine Vaterstadt später eine Denksäule errichtete, setzte die ganze Grafschaft ihm ein Denkmal anderer Art, das aber gewiß mehr als eine Denksäule dem Sinne und Geiste entsprach, in welchem der Geehrte während seiner Lebenszeit gewirkt hatte, sie gründete eine Blindenanstalt, zur Ehre seines Namens.

Auf den westindischen Inseln aber legten die Neger, die so viel Ursache hatten, seinen Namen zu segnen, bei der Nachricht von seinem Tode Trauerkleider an, und eben dasselbige that die farbige Bevölkerung in New-York.

Und doch, was waren alle diese Ehrenbezeugungen undVerherrlichungen des Verstorbenen gegenüber der Herrlichkeit, die der Herr im Himmel droben bereit hielt für seinen treuen Knecht, der mit dem reichen Pfunde, welches ihm anvertraut gewesen war, so wirksam gewuchert und im Dienste seines himmlischen Herrn mit hingebender Liebe gewirkt hatte, so lange es Tag für ihn war! Wie ist da gewiß wahr geworden an ihm das schöne Wort des 116. Psalms: »Der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten vor dem Herrn«! Wie durfte er dort gewiß voll seliger Freude jubeln mit den Worten desselben Psalms: »O Herr, ich bin Dein Knecht; du hast meine Bande zerrissen.«

Wenn aber der geneigte Leser dieses Büchleins sich gedrungen fühlt, nicht blos den Namen Wilberforce mit Hochachtung zu nennen, so oft er ihm auf die Zunge kommt, sondern sich auch an dem hochgeachteten Manne ein Vorbild zu nehmen, und zwar nicht allein an dem heiligen Eifer für alles Hohe und Heilige, der ihn durchglühte, an der hingebenden Pflichttreue, die ihn nie ruhen ließ, an seiner rührenden Demut und Bescheidenheit, die ihn seiner reichen Gaben, seiner gesegneten Wirksamkeit sich niemals selbst überheben ließ, sondern auch vor allem an dem unermüdlichen, sich selbst nie genug thuenden Dichten und Trachten, sowohl seine eigene Seligkeit zu schaffen, als auch Anderen auf den rechten Weg zur Seligkeit zu verhelfen, soweit dies in Menschenkraft liegt: so ist der innigste Wunsch dessen erfüllt, der diese Blätter geschrieben hat.


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