Chapter 4

"Sie sind nun einmal bestimmt entlassen, das weiß ich," rief derSchichtmeister resoluter, "ich kann gar nicht verstehen, daß Sie derPförtner hereingelassen hat, der hat es doch gewußt! Hat er Sie dennnicht darauf aufmerksam gemacht?"

Johann schüttelte stumm den Kopf, blieb beharrlich stehen, dumm und kindisch. Die beiden anderen Arbeiter trotteten weiter.

Der Schichtmeister holte den Portier. Zeternd redete er auf denselben ein, als er mit ihm ankam.

"Wie konnten Sie denn den Mann hereinlassen. Der Chef hat's doch ausdrücklich gesagt, daß er entlassen ist," bellte er.

Der Portier sah verärgert auf Johann und sagte ebenfalls: "Jaja, ich hab' Sie nur nicht gesehen. Sie sind entlassen. Sie haben hier nichts mehr zu suchen."

Johann knickte zusammen.

"Ja—ja, nu ja, dann muß ich gehn," stotterte er endlich heraus, ging in den Ankleideraum und entfernte sich. Niedergedrückt, fast beschämt trat er durch das große Fabrikportal ins Freie. Zermürbt kam er zu Hause an.

"Ja," sagte er tonlos zu Anna, "man hat mich rausgesetzt!"

"Da hast du es nun!" stieß diese heraus, "Trottel!" Die Vorwürfe begannen von neuem.

"Ich muß mich eben wieder um was anderes umsehn," brummte er ärgerlich.

"Und ich?! Wenn die Rienken uns hinaussetzt, was ist dann! Glaubst du, ich hab' mir umsonst meine Füße ausgerannt, daß wir ein wenig anständiger leben konnten! Du keine Arbeit, kein Geld, ich nichts zu tun—ich danke!" belferte sie.

"Nu ja, in Gottesnamen, es wird schon wieder werden!" schloß er und legte sich zu Bett. Machtlos stand Anna vor diesem Stumpfsinn. Vor Verbitterung zitterte sie am ganzen Körper und faustete in einem fort die Hände.

"Herrgott, es ist ja zum Davonlaufen!" schrie sie auf einmal:"Meinetwegen—ich geh!" Sie schmiß heftig die Tür zu. "DummesFrauenzimmer!" Er stieg aus dem Bett, rief ihr nach, aber esantwortete niemand mehr.

Wegen solcher Dummheiten war man plötzlich aus der Ordnung gerissen.—Er schloß die Tür wieder.

Der Nachtschlaf war auch zum Teufel.—

Er kleidete sich schließlich an und ging sie suchen.

Ohne nachzudenken, wanderte er zur Fleischgasse und fand sie auch dort. Bereits stand ein Herr in einem hellen Regenmantel vor ihr und lispelte. Johann trat an die beiden heran und riß Anna weg: "Unsinn! Komm!"

"Ich mag nicht!" knirschte sie eigensinnig und wollte sich losmachen.

Der Herr im Regenmantel ergriff ihre Partei und begann zu brüllen. Er schwang schon den Stock und wollte auf Johann einbauen. Da kam ein Schutzmann eiligen Schrittes angeflitzt, notierte den Namen des Herrn und nahm die beiden mit auf die Wache.

Alles Gejammer Annas half nichts. Das Erklären Johanns war vergebens.Sie mußten mit.

Häßlich, wie das Mißgeschick die Menschen gemein macht! Auf dem ganzen Weg überschüttete Anna Johann mit den wüstesten Schimpfworten und schließlich riß auch diesem die Geduld.

"Halt das Maul, dummes Vieh, dummes!" fluchte er, "hilft ja doch nichts! Was läufst du denn davon, so mitten in der Nacht! Jetzt hast du es."

"Vorwärts! Marsch-marsch!" knurrte der Schutzmann immer wieder.

V. Der Vorfall in der Fleischgasse hatte zur Folge, daß man Johann wegen Zuhälterei in Untersuchung behielt. Ein Verfahren wurde gegen ihn eingeleitet. Anna entließ man nach ungefähr zehn Tagen. Sie wurde polizeiärztlich untersucht und erhielt die übliche Erlaubniskarte der Prostituierten wieder. Als sie zu Hause ankam, war sie nicht wenig erstaunt. Die Rienken, nun einmal rabiat geworden, hatte die Gelegenheit benützt und pfänden lassen. Während der Haftzeit nämlich war der Monatserste gekommen, der Dritte, der Fünfte und der Siebente. So waren wenigstens die ziemlich eindeutigen Briefe der Bar- und Hausbesitzerin, die im Kasten steckten, datiert. Man sah es den schiefen, gekratzt-hingeflitzten Buchstaben der Schrift förmlich an, daß Sylvia Rienke das Warten auf den Mietszins satt hatte, das Warten und diese Mieter. "Diese, wo Kerle haben, die mir meine Gäste verjagen, können bei mir ziehen," hieß es endlich im Kündigungsbrief vom Achten. Und Recht behielt sie, die wackere Wirtin. Anna mußte ziehen. Sie verkaufte, was übriggeblieben war, und bezog ein Zimmer in der Nähe der Fleischgasse.

Die drohend gereckten Fäuste, die sie am Tage ihres Abzuges, plärrend und keifend, mit weißem Schaum vor dem Munde, der Rienken entgegenhielt, und das hämische, restlos rachsüchtige: "Das streich ich dir noch an, Mistvettel!" waren ein Anfang für ihr weiteres Verhalten. Jetzt gab es fast jeden Tag kleinere oder größere Unannehmlichkeiten in der Bar "Tip-Top". Anna hetzte Polizei und von ihr bestochene skandalsüchtige Gäste in das Lokal.

In der ganzen Fleischgasse war sie jetzt die Fleißigste. Mit einem Eifer, ja, mit einer geradezu fanatischen Selbstvergessenheit, wie man sie nur bei Verzweifelten oder Bohrend-Hassenden findet, verbiß sie sich ins Verdienen.

"Die?! Hm, die schleppt auf Rekord," ließ sich nicht selten eine andere Prostituierte vernehmen, wenn die Rede auf Anna kam. Und es stimmte.—

Das Merkwürdigste aber war, daß sie nunmehr alle Hebel in Bewegung setzte, um Johann frei zu bekommen. Sie warf das Geld weg an Rechtsanwälte, verfaßte eine Eingabe um die andere, bestürmte die Instanzen, rannte von Pontius zu Pilatus, ja, sie faßte zu guter Letzt sogar dem romantischen Plan, ihn mit Hilfe einiger Männer zu befreien, die ihr das Blaue vom Himmel herunterzuholen versprachen, ihr Geld und wieder Geld abnahmen und eines Tages verschwanden.

Und Johann?

Er lag den ganzen Tag auf der Pritsche, wurde sogar dick von dem Essen, das sie ihm schickte, und war stets ruhig und trocken, wenn sie ihn besuchen durfte. Als sie ihm von dem Auszug aus dem Rienkeschen Hause erzählte, hörte er stumm zu—dann, nach einer Weile, lächelte er und sagte: "Hml Hm,—war doch schön an dem Abend mit Hochvogel, hmhamhm!"

Er fand nichts Schlimmes daran, daß Anna manchmal klagte.

"Es ist—man müßte so was aufmachen, wie die Rienken hat," sagte er ein andermal wie aus einem dumpfen Gedankenkreis heraus.

Und wieder einmal, als Anna jammerte, daß alles Essen so teuer wäre, ließ er so etwas fallen wie: "Nuja, die Bauern machen sich jetzt gesund. Hm, die Bauern und die, die was für'n Magen verkaufen—"

Man sagt, der Weise überwindet und kommt zur vollkommenen Ruhe.

Es gibt Menschen, die ohne Empfindungsvermögen geboren werden. Und es sind welche, die, wenn die Schmerzen und Erschütterungen ihre Seele in zu rascher Aufeinanderfolge zermürben, zuletzt in eine völlige Stumpfheit münden. Zu diesen gehörte Johann Krill.

"Es war doch schön an dem Abend mit Hochvogel—so gemütlich!" und "So was wie die Rienken hat, müßt' man aufmachen." Das war er!—

Mittlerweile kam der Termin zur Verhandlung gegen ihn. Anna hetzte noch mehr herum. Sie schlief nicht mehr, sie vergaß das Essen.

Im Gerichtssaal hustete sie die ganze Zeit. Unstet liefen die Pupillen ihrer Augen von einem Winkel zum anderen. Auch die Rienken war als Zeuge geladen. Dummerweise war einer von den letzten Anwälten, die Anna genommen hatte, darauf gekommen, sie zu laden. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, dessen schweres Spitzengewirr vom speckigen Nacken kraus herabrann üher den hochgeschnürten, überquellenden Busen. Ein blutrotes Granatkollier prangte patzig auf der gelben, welken Haut ihres Halses, dessen blaue Äderung nur schlecht vom dick aufgetragenen Puder verwischt war. Ihre Froschhände waren beteuernd auf den Magen gepreßt und spielten manchmal mit dem Schildpatt-Lorgnon, das an einer breiten goldenen Kette herabhing.

"Ich bin gleich fertig mit meinen Aussagen, Herr Amtsrichter, ich hab' ein Geschäft und viel im Kopf," begann sie, als sie aufgerufen wurde.

"Die?!—Gott sei Dank, ich hab' immer anständige Bedienerinnen gehabt," fuhr sie fort, üher Anna befragt, und warf einen seitlichen, herablassenden Blick auf diese, "aber nun, man tappt auch einmal herein.—Ich hab' es mir aber—glauben Sie es mir, Herr Amtsrichter, ich bin fünfzehn Jahre auf dem gleichen Platz und weiß, was der Ruf für ein Geschäft ausmacht—ich hab' es mir geschworen: Rienken, sagt' ich mir, Rienken—von der Fleischgasse nimmst du keine mehr, nicht um die Welt!" Sie kam immer mehr in Zug.

"Vettel!" schrie Anna schrill und wurde verwarnt. Die Rienken drehte sich schnell um und dann wieder zum Richter. "Man soll sich nicht ärgern, Herr Amtsrichter?" Und sie schnitt eine weinerliche Miene:

"Wie hab' ich den Leuten geholfen und was hab' ich davon!—Es ist bloß gut, daß ich meinen Kopf nie verlier', es ist ja bloß gut, daß ich mich nie auf die gleiche Stufe stelle mit—mit—so was."

Und endlich zur Sache gerufen, erzählte sie weitschweifig, daß Johann die Stellung bei diesem Fabrikherrn nicht umsonst angenommen habe. "Und Nachtschicht—er wird schon gewußt haben, warum. Man kennt solche—Nachtschichten!" Und Herr Hochvogel?… Sie geriet etwas in Verwirrung. Nun, der habe bald klar gesehen, ein solcher Herr ließe sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen.

"Der muß her! Der muß Zeuge machen!" schrie Anna, und ihr Rechtsanwalt brachte es auch fertig. Nun wurde es aber noch ungünstiger. Obwohl dem Fabrikanten die ganze Sache äußerst unangenehm war, obwohl er sich außerordentlich zurückhielt und nichts gegen Johann eigentlich vorbringen konnte, als eben jenen üblen Vorfall in der Rienkeschen Bar—es machte alles einen schlechten, sehr schlechten Eindruck —Johann Krill wurde verurteilt.

Anna bekam einen minutenlangen Schreikrampf. Sie stürzte vor und wollte auf die Rienken los. Es mußten sie Schutzleute mit Gewalt wegbringen.

Johann, der ohne Erregung den Auftritten zusah, nahm alles mit Ruhe hin. Er lächelte fast verlegen, als ihn die Richter am Schluß fragten, ob er noch etwas zu sagen wünsche.

"Dumm," brummte er und kratzte sich hinter dem rechten Ohr, "dumm,Herr Richter, man tappt eben hinein und—und dann passiert allerhand."

Die steinernen Amtsmienen wußten einen Augenblick lang wirklich nicht, sollten sie lachen oder einige beruhigende Worte des Mitleids aus ihren Lippen lassen.

Damit war es zu Ende. Anna konnte Johann nun nicht mehr besuchen. Die beiden waren auseinander.—In ihrer Wut schlug Anna einige Tage später die zwei großen Fensterscheiben der Rienkeschen Bar ein und konnte mit Mühe nur überwältigt werden. Das Beil wurde ihr abgenommen und der herbeigerufene Schutzmann nahm sie mit.

Und wieder gab es einen Prozeß. Wegen Bedrohung und Sachbeschädigung wurde Anna Krill zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

Hier bricht der Faden ab. Es ist nichts mehr zu berichten.

Eine Million ist viel—eine Milliarde ist mehr.—Johann Krill istLegion.

Vielleicht arbeitet Johann Krill wieder irgendwo oder er trinkt, oder er hat den Halt verloren und sitzt weiter in Gefängnissen.

Anna—Sie wird eines Tages krank sein, wieder gesunden, wieder krank werden und so fort….

Das einzige, was bestehen bleibt, solange wie diese Gesellschaft, ist—die Rienken!

Wie lange noch?!

End of Project Gutenberg's Zur Freundlichen Erinnerung, by Oscar Maria Graf


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