The Project Gutenberg eBook ofZur freundlichen Erinnerung

The Project Gutenberg eBook ofZur freundlichen ErinnerungThis ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online atwww.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.Title: Zur freundlichen ErinnerungAuthor: Oskar Maria GrafRelease date: April 1, 2005 [eBook #7985]Most recently updated: September 20, 2012Language: GermanCredits: Produced by Eric Eldred, Marc D'Hooghe, Charles Franks, and the Online Distributed Proofreading Team*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG ***

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online atwww.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Zur freundlichen ErinnerungAuthor: Oskar Maria GrafRelease date: April 1, 2005 [eBook #7985]Most recently updated: September 20, 2012Language: GermanCredits: Produced by Eric Eldred, Marc D'Hooghe, Charles Franks, and the Online Distributed Proofreading Team

Title: Zur freundlichen Erinnerung

Author: Oskar Maria Graf

Author: Oskar Maria Graf

Release date: April 1, 2005 [eBook #7985]Most recently updated: September 20, 2012

Language: German

Credits: Produced by Eric Eldred, Marc D'Hooghe, Charles Franks, and the Online Distributed Proofreading Team

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG ***

Produced by Eric Eldred, Marc D'Hooghe, Charles Franks,

and the Online Distributed Proofreading Team

von

Zwölf Jahre Zuchthaus.Sinnlose Begebenheit.Die Lunge.Ohne Bleibe.Etappe.Michael Jürgert.Ein dummer Mensch.Ablauf.

Weit hatte es der Schlosser Peter Windel im Laufe einer beinahe zwanzigjährigen Arbeitszeit bei der Motorenfabrik Jank gebracht. Als blutjunger Geselle trat er damals in den Dienst und heute war er erster Werkmeister. Seine stumpfe, schweigende Energie, sein fanatischer Lerneifer und seine fast pedantische, aber keineswegs devote Pünktlichkeit hatten ihm Respekt und Achtung verschafft, bei den Arbeitern sowohl, wie bei den Vorgesetzten. Beliebt war er nicht, aber es war keiner in der ganzen Fabrik, der auf ein einmal gesprochenes Wort von Windel nichts gab. Es dauerte allerdings lange, bis er mehr als das Allernotwendigste sprach. Verschlossen, wortkarg und mit jener stoischen Strenge im Gesicht, die schon nahe an der Grenze des Mißmuts steht—so kannte man ihn seit Jahr und Tag. Noch dazu war er keineswegs eine Erscheinung. Von Gestalt klein und nicht gerade kräftig, etwas vornübergebeugt, mit langem Hals, auf dem ein unförmiger, zu großer Kopf mit borstigen, kurzen, schon etwas angegrauten Haaren und weitwegstehenden Ohren saß. Das lederne, scharfe Gesicht machte einen überreizten Eindruck. Die tiefliegenden, unruhigen Augen waren von vielen blutunterlaufenen Äderchen durchzogen. Aus dem schroffen Tal der Backen hob sich die plumpe, unregelmäßige Nase wie ein spitzer Hügel. Griesgrämig griff die massige, verfaltete Stirne von einer Schläfenbucht zur andern.

Das Merkwürdigste an diesem Antlitz aber war der untere Teil. Er schien fast von einem anderen Menschen zu sein, hatte etwas so Hilfloses und Schüchternes, daß man den Eindruck des Mädchenhaften nicht losbrachte, wenn nicht hin und wieder der geöffnete kleine, aufgeworfene Mund die eingerissenen, stark mitgenommenen Zähne gezeigt hätte. Kam noch hinzu ein ungewöhnlich kurzes, fast in den Hals gefallenes und nur durch einen ganz kleinen Ballen angedeutetes Kinn, aus dem ein spröder Knebelbart spritzte wie eine Rettung. Sonst hätte man buchstäblich der Meinung sein können, nach dem Hals ginge der Mund an.

Man sagt im allgemeinen, Pedanten, die ihr Dasein fast abgezirkelt genau ableben, hätten ein sorgfältig gepflegtes Erinnerungsvermögen und vergäßen die kleinste Kleinigkeit oft jahrelang nicht.

Peter Windel hatte keine Erinnerung.

Schließlich, daß man irgendwie zur Welt kommt, aufwächst und allmählich auf einen Namen hört, dann, in der Schule, noch auf einen zweiten; in die Lehre kommt, etliche Stellen wechselt; daß es einem schlecht oder besser geht, daß man auf einem Gottesacker unter anderen Leuten um ein Grab steht und den Kies auf den Sarg einer toten Mutter oder eines verstorbenen Vaters, eines Bruders oder einer Schwester fallen hört und endlich Hinterlassenschaftspapiere, Notariatszimmer und Pfandbriefe zu sehen bekommt,—das erlebt so ziemlich jeder Mensch auf die eine oder andere Weise.

Ein schepperndes Weckerläuten. Es ist noch tiefste Nacht draußen, die Fenster sind gefroren und hoch herauf verschneit, man hört auf den weiten, überschneiten Straßen nur seine eigenen Schritte knirschen. Aus Schnee und Dunkelheit kommt langsam eine flimmernde Straßenbahn, dann hinter einer gelben Fensterscheibe ein verschlafenes, ärgerliches Pförtnergesicht, üher einen Hof viele, dumpf trommelnde Schritte und ineinanderschwimmende Laute, endlich einen glatten Hebel in der Hand, —herumgezogen—und ratsch! ein ganzer Hauskoloß surrt bebend auf, die Riemen klatschen, ächzen, es hämmert, feilt, quietscht, kracht, klingt, braust—das wußte Peter Windel seit ewiger Zeit. Zwischendurch freilich auch Sommertage. Ein offenes Fenster, Kühle und Dämmerung und etliche schüchterne Vogeltriller beim Erwachen. Das meiste der zwanzig Jahre—: Nächte über technischen Büchern, Sonntagnachmittage über dem Zeichenblock und manchmal ein Zählen des ersparten Geldes. Öfters als wünschenswert Streitigkeiten, Zänkereien mit der halbtauben, beschränkten Logisfrau können noch hinzugezählt werden. Das war alles. Peter Windel hatte keine Erinnerung. Er kannte nur Interessen.

Wenn nicht—

Und hier beginnt diese Geschichte.

"Sie sind eine Sau! Vier Wochen kein frisches Handtuch, zwei Monate keine Bettwäsche gewechselt! Wenn das nicht aufhört, ziehe ich!" schrie Peter Windel an einem Sonntag seine Logisfrau an.

Wie immer. Das Weib blieb stehen, glotzte ihn an, verzog das Gesichtzu einer weinerlichen Grimasse und winselte ein paar unverständliche Worte heraus. Und weinte erst leise, dann immer unerträglicher.

Das Fenster stand offen. Es war Sommer. Klar fiel die Sonne in den Hof. Windel riß die Schranktüre auf, nahm seinen Regenmantel, schob die Frau beiseite und ging.

Vierzig Mark für ein Zimmer ist nicht viel und die Frau schnüffelte nicht, war uralt, hockte den ganzen Tag in der dumpfen Küche und lispelte Gebete. Unreinlich war sie nur von Zeit zu Zeit. Man mußte sie dann grob anschreien.—

Auf der Treppe fiel Peter ein, daß er "Die Elektrizität als Nutzkraft" vergessen hatte. Er drehte sich rasch um und ging zurück. Immer noch stand das Weib in der Zimmermitte, fast unbeweglich und wimmerte. Einen Augenblick maß sie Peter verärgert. Dann stampfte er mit dem Fuß auf den Boden.

"Herrgott nochmal!" stieß er heraus, warf seinen Mantel hin, riß die Bettlaken herunter, zog in aller Eile Decke und Kopfkissen ab und warf die ganze Wäsche der Frau vor die Füße, samt dem schmutzigen Handtuch. "Gehn Sie doch in die Küche mit Ihrem Lamentieren und legen Sie mir die Bettwäsche dann herein, ich mach's mir selber!" sagte er noch, nahm vom Nachtkasten das vergessene Buch und schmiß wütend die Türe zu.

"Meine Lies' … heut wird's das zweite Jahr!" wimmerte die Frau noch.Und fiel wieder in ihr wimmerndes Weinen.—

Als Peter Windel tief in der Abendstunde nach Hause kam, lag sie quer auf dem Zimmerboden, den Kopf auf die Waschtischkante geschlagen, eine ziemlich große Wunde auf der Stirn—reglos, steif.

Eine kleine Lache geronnenes Blut umgab den Kopf. Die Tote mußte sich in den hingeworfenen Bettüchern mit den Füßen verwickelt haben und dann hingefallen sein.

Peter Windel stand und stand. Er fühlte das Brennen des angesteckten Streichholzes nicht auf den Fingern. Erst als es wieder dunkel war, zuckte er ein wenig, steckte schnell ein neues an und ließ es wieder verglimmen. Stand und stand.

Plötzlich gab er sich einen Ruck und lief wie ein Irrer davon, ließ die Türen offen, polterte die Treppen hinunter, rannte hastig und totenbleich an Leuten vorbei und meldete das Geschehene auf der Polizeiwache. Als er mit zwei Schutzleuten und dem Polizeiarzt zurückkam, waren schon Leute aus den Türen gekommen und musterten ihn, trippelten nach und blieben an der Eingangstüre stehen mit gereckten Hälsen, brummten, lispelten.

Der eine der Schutzleute schloß endlich die Türe. Man machte Licht in Peters Zimmer, schaute eine Zeitlang auf die Tote, nahm die zwei oder drei schwarzen, verkohlten Streichholzköpfe auf ein Papier und sagte zu Windel, der säulenstarr dastand: "Setzen Sie sich."

Der Arzt beugte sich üher die Tote, ein Schutzmann prüfte dieWaschtischkante. Der Arzt nickte.

"Setzen Sie sich!" sagte ein Schutzmann strenger.

Peter brach endlich in einen Stuhl.

Die drei lispelten in der Ecke.

Der Arzt steckte seine Instrumente ein, hustete und stellte sich neben die Tote.

Ein Schutzmann nahm neben Peter Platz, einer blieb an dessen Seite stehen.

"Wann haben Sie die Frau verlassen?" fragte der Schutzmann und notierte.

Fragte weiter, mit einer gewissen hämischen Herausforderung:

"Haben Sie Beziehungen zu der Hullinger gehabt?"

"Nein."

"Wie lange wohnen Sie hier?"

"Und haben schon öfters solche Streitigkeiten mit der Hullinger gehabt?"

"Ja," sagte Peter.

"Und diesmal?"

"Weil sie mir schon vier Wochen keine frische Bettwäsche mehr gab."

"Sie waren also grob zu ihr?"

"Ja."

Und noch, was er Gehalt hätte, was er bezahlen müsse für Logis, ob die Hullinger vielleicht eine größere Hinterlassenschaft in bar irgendwo aufbewahrt, beziehungsweise ob ihm bekannt wäre, in welchen Verhältnissen die Hullinger gelebt habe.

Peter antwortete meistens mit Ja oder Nein. Seine Stimme klang zerbrochen und schwer.

"Dann muß ich im Hotel schlafen … Herr Schutzmann … wenn die Leiche hier liegenbleiben muß," sagte er endlich hilflos. Er hatte diese Anordnung vom Arzt gehört.

Da stand der Schutzmann selbstbewußt auf, sagte: "Sie kommen mit!"-Alle Menschen waren noch auf dem dunklen Hof, und entsetzte Blicke fielen auf die Davongehenden.

Wegen dringenden Verdachts, seine Logisfrau ermordet zu haben, wurde Peter Windel in Untersuchungshaft genommen und in einer Einzelzelle untergebracht. Vier hohe, glatte, mit kahler, graugrüner Ölfarbe gestrichene Wände umgaben ihn von nun ab. Unter der Lichtluke stand die hölzerne Pritsche, daneben der Abort. Auf dessen Deckel konnte man bei den Mahlzeiten den Eßnapf oder die blecherne Wasserkanne stellen.

Die erste Nacht lehnte Peter schlaflos an der kalten Tür. Als die Wärter in der Frühe aufschlossen, mußten sie fest drücken, bis seine steife Gestalt nachgab und endlich, als sie wütend fluchten, mechanisch etliche Schritte in den Raum machte. Während die Wärter die Brotration auf die Pritsche legten und den Kaffee in die blecherne Tasse gossen, stand der Gefangene die ganze Zeit unbeweglich und zusammengeschrumpft da. Sie achteten nicht weiter darauf und schlossen geräuschvoll wieder die Tür.—

Jetzt war Licht. Die Gefängnisuhr schlug sieben.

Peter schaute schüchtern im Raum herum und begann zu gehen. Gingstoisch die Wände lang. Immer zehn Schritte der Länge nach und zwölfSchritte der Breite nach. Den ganzen Tag, ohne innezuhalten, wenn manEssen oder Abendbrot brachte.—

Erst als das Licht beim Hereinbruch der zweiten Nacht verlosch, legte er sich auf die Pritsche, zog die rauhe Decke üher sich und schlief wie immer. Jäh erwachte er in der anderen Frühe. Es war stockdunkel. Er griff in die Gegend des Abortes, als suche er etwas oder wolle Licht anstecken und stieß dabei so hastig an die Wand der Wasserkanne, daß dieselbe mit einem Knall auf den Boden fiel und klatschend die Flüssigkeit aus ihr peitschte. Erschreckt schwang sich Peter von der Pritsche, hielt seine aufgeknöpften Kleider raffend zusammen und lauschte aufmerksam.—

Jetzt schlug es fünf. Er atmete auf und begann unsicher und vorsichtig umherzutasten. Auf einmal fühlte er die Nässe an seinen Füßen.

"Herrgott! Herrgott!" brummte er mürrisch und besann sich. Aber in diesem Augenblick räkelte wer an der Tür. Ein Atmen wurde vernehmbar, das Licht in der hohen Decke flammte auf und wieder standen die kahlen Mauern ringsherum, das kleine Loch glotzte in den totenstillen Raum.

"Was machen Sie denn da?!… Sind Sie ruhig!" brüllte der Wärter draußen ärgerlich. Peters Finger streckten sich und ließen von den Kleidern. Seine Hose fiel langsam herab. Ein Zittern schüttelte seinen ganzen Körper.

"Es ist schon fünf Uhr vorbei, ich muß weg!" hauchte er gedämpft.—Aber es war schon wieder dunkel. Und still.—

Erst nach einer Weile brachte Peter die Kraft auf, seine Hose hochzuziehen, und tastete sich zur Pritsche, legte sich darauf. Sein Herz schlug hörbar und mit jedem Uhrenschlag erregter. Um sechs Uhr schwang er sich empor und blieb dann hölzern sitzen.

Das Licht griff endlich wieder von der hohen Decke in den Raum. Die Tür öffnete sich unter dem Knarren der Schlüssel. Ein Wärter stellte das Frühstück herein und der andere an der Tür warf den Aufwischlumpen her und beide brummten und schimpften wegen des Wasserumschüttens, hießen Peter aufwischen. Fast froh darüber ergriff dieser den Lappen, kniete hin und wollte alles möglichst in die Länge ziehen. Aber die Wärter zeterten und trieben zur Eile.

"Vorwärts! Vorwärts! Glauben Sie, wir sind zu Ihrer Unterhaltung da!… Marsch! Marsch! … So … fertig!"

Sie rissen ihm den Lumpen aus der Hand und waren schon draußen. Wieder wich die Tür in die Wand zurück. Die Schlüssel knirschten. Das Guckloch starrte wie ein gräßliches, ausgestochenes Auge in den kahlen Raum.

Peter kniete benommen da. Lange.

Es war still! Still!!

Fürchterlich still!

Wie ein aufgescheuchtes Tier hob der Kniende plötzlich den Kopf, schaute scheu um sich und sprang mit einem Satz an den Abort, hob den Deckel und schloß ihn hastig wieder, hob und schloß.

Die Spülung rauschte. Auf und zu klappte der Deckel. Es krachte, rauschte. Immer hastiger, schneller, motorisch riß Peter auf und zu, auf und zu, immerfort, immerzu, nur um die Stille nicht mehr zu hören, hob und deckte zu, es rauschte, rauschte—bis der Wärter schrie: "Sie!! … Sie! Sind Sie verrückt geworden!!—Passen Sie auf! … Man ist schon mit anderen fertig geworden! … Warten Sie, Sie!!"

So erschrocken war Peter, daß er noch lange zitterte, dann ging er hastig wieder die zehn und die zwölf Schritte. Den ganzen Tag.—

Viele, viele Tage, jedesmal um fünf Uhr früh, erwachte Peter so jäh. Immer griff er hinüber zum Abortdeckel, wollte Licht anstecken, sprang auf, brachte seine Kleider in Ordnung,—machte etliche Schritte, stieß an die kalte Tür und prallte zurück.

Neunzehnunddreiviertel Jahre gleichmäßiges Aufstehen lassen sich schließlich nicht aus der Gewohnheit auslöschen.

Um sechs Uhr pfiff es. Wenn er am Hebel stand undihn herumriß, fing der mächtige Koloß der Fabrik zu surren an, die Riemen klatschten, quietschten, es krachte, bebte, hämmerte….

Peter war so mit dem Kopf an die Tür gestoßen, daß er taumelnd zurückfiel, glatt auf den Boden und liegenblieb.—

Wo!? Wo war man denn? Wo denn! Wo!!?

Auf der Welt? In der Hölle? Tief in der Erde?—

Es war still!

Nirgends war man! Nirgends! Gar nirgends!

In einem Grab, in einem luftleeren, steinernen Sarg! In einer fressenden Stille! Und durfte langsam, ganz langsam sterben. Niemand wußte, sah und hörte etwas. Es war still! Still!!—Still!!!

Doch—man hörte etwas, zeitweilig ein ganz fernes Klopfen, ein Kratzen in den Wänden. Aus einer anderen Gruft vielleicht?!—Nein! Es waren Holz—oder Mauerwürmer, die nagten, nagten, weil sie einen Kadaver witterten.—

Die dann herabfielen wie Tropfen und langsam in den Leibbohrten,—nagten, nagten und alles auffraßen!—

Das Licht kam wieder. Peter Windel stand auf, ging zehn und zwölfSchritte. Er aß jetzt auch.—

Endlich nach fünfzehn Wochen Haft fand die Verhandlung gegen Peter statt.

Stupid folgte der Gefangene den Wärtern durch lange Gänge, dann fühlte er Luft und bekam Angst, atmete sparsam.

Und dann saß er in einem Saal, sah Gestalten, sah starre Augen und hörte Redegeräusche um sich herum und aus sich heraus.

Zuerst saß er da wie eine leblose Puppe. Dann, mit jedem gehörten Wort, kam mehr und mehr das Leben in ihn. Sein Gesicht bewegte sich, als öffne es sich aus einer Erstarrung—und dann lag ein Lächeln die ganze Zeit auf seinen stoppeligen Falten und blieb.—

Die Dienstmagd vom Vorderhaus sagte aus. Einfach klangen ihre Worte.Sie sprach nicht zu viel und nicht zu wenig.

Das Geräusch der Worte war erst undeutlich, dann wurde es klarer und klang.—

Am fraglichen Sonntag nachmittags zwei Uhr vernahm diese Dienstmagd ein Wimmern aus dem offenen Fenster des Windelschen Zimmers. Dem folgte ein grobes, kurzes Schimpfen. Dann sah sie den Angeklagten auf der Treppe, wie er plötzlich innehielt und wieder umkehrte. Und wieder hörte sie das Wimmern, noch deutlicher sogar und ein wütenden Schimpfen, dann einen Türzuschlag und Windel mit grimmigem Gesicht die Treppe hinunterrennen.

Wie ruhig sie das sagte: "Und dann, gleich darauf, habe ich einen dumpfen Knall und einen kurzen, nicht recht lauten Schrei, der eher ein Stöhnen war, gehört und das Wimmern hat auf einmal aufgehört. Ich weiß nicht mehr genau, war's gleich nach dem Türzuschlagen oder ein wenig später. Ich bin dann zu meiner Schwester gegangen, weil ich Ausgang hatte…. Die Leute im Vorderhaus und im Hinterhaus? … Ja … soviel ich gesehen habe, die waren fast alle weggegangen … schon mittags…. Es war ja auch so schönes Wetter."

Peter Windel saß da und lauschte. Es klang!—

Er begann auf einmal langsam—dann aber stoßweise zu schluchzen. EineBewegung kam in den Saal. Eine Glocke läutete. Lauter rief wer!Ja!—Ja! Das konnte der Vesperruf in der großen Halle sein! Das wardasselbe, dünne, schrille Läuten.—

Dann klangen wieder Stimmen hin und her.

Der Chef, die Arbeiter und Angestellten und die frühere Logisfrau sagten günstig über den Angeklagten aus. Die letztere weinte sogar buchstäblich und sprach erregt, daß der Staatsanwalt sich verpflichtet fühlte, sie zu fragen, wie lange Windel sie kenne, ob er sie zuletzt noch aufgesucht und ob sie zu ihm in näherer Beziehung gestanden habe.

Die dicke Frau wurde darob sehr schrill, schrie und es läutete abermals. Peter Windel war wieder ruhig geworden und lächelte wieder.—

Lächelte, trotz der furchtbaren Anklagerede des Staatsanwalts, lächelte starr in den Raum, als der Rechtsanwalt redete und redete.—

Man fand keine Absicht in dieser Tat. Die Beweise waren zu mangelhaft. Der Angeklagte war ein unbescholtener Mensch. Bis in die Schulzeit hatten die eifrigen Nachforschungen der Behörden zurückgegriffen, nichts ließ auf einen jähzornigen, böswilligen Menschen schließen, sondern eher auf einen schüchternen, scheuen, dem das Leben stark mitgespielt hatte.—

"Alles, was die tote Frau Hullinger hinterlassen hat, fand man unberührt. Sie haben ein Zeugnis aus der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Aussagenden, daß der Angeklagte nie zu einer solchen Tat fähig sei. Wie kann man annehmen, daß ein solcher Mensch wegen einer geringfügigen Unreinlichkeit einfach eine alte Frau dermaßen an den Waschtisch wirft, daß sie augenblicklich tot ist!" rief der Verteidiger. Und viele nickten. Man hörte deutlich ein Aufatmen, als der Freispruch bekanntgegeben wurde und sah aufgeheiterte, fast erlöste Gesichter.—

Peter Windel war frei.

"Kommen Sie nur gleich wieder!" hatte sein Chef gesagt, als er ihm beim Weggehen die Hand drückte. Und der Rechtsanwalt hatte einen Blick wie ungefähr: "Na, das hätten wir wieder durchgedrückt!"

Nach fünfzehn Wochen spürten Peters zögernde

Schritte wieder Straßen, hörten seine Ohren Trambahnrattern, sahen seine Augen Menschen, Farben, Fenster, und er wußte selber nicht, wie und weshalb er plötzlich an einen Schalter herantrat und sagte: "Dritter Klasse! Ja!"

Er stieg auf den Zug und ging nicht in die Kupees. Eine Nacht lang stand er auf dem eisernen, ratternden Vorplatz eines Wagens und atmete.—

Der Wind pfiff. Der Zug sauste, riß die Luft auseinander, zog vorbeifliegende Lichter in die Länge, bohrte hemmungslos in eine dunkle, ungewisse Ferne.

Keine Wand mehr, keine zehn und zwölf Schritte, kein Ende—das Toben und Brausen wieder! Nur diesmal wie ein Flug durch einen unermeßlichen Raum.—

Aber—es ist nicht wahr! Man kann nichts wegtrinken, nichts vergessen machen, nichts auslöschen! Man trägt es mit sich wie ein unsichtbares Schneckenhaus und zuletzt!?—

Es sind immer wieder die kahlen, glatten Mauern, die Tür mit dem ausgestochenen Aug' in der Mitte, die zehn und zwölf Schritte….

Es klopft.—

Es kratzt in den Wänden. Die Würmer nagen. Sie warten und fallen plötzlich in einer Nacht wie schwere Tropfen herab, bohren sich ins Fleisch, nagen—nagen.—

Peter Windel hatte eine wilde Flucht hinter sich. Durch Städte und Dörfer war er gefahren, in Hotels und in Wirtschaften, in Animierkneipen oder am Leib eines Weibes hatte er die Nächte verbracht. Er trank, warf das Geld weg, aß, saß in den Theatern und den Kinos, in den Bars und Vergnügungslokalen jeder Klasse.

Es war immer wieder die Stille, das Stockdunkle, das Grab!—

Er floh und kehrte endlich wieder zurück zu Jank, nahm die Arbeit wieder auf und wurde ruhiger. Es trat die alte Regelmäßigkeit in sein Leben. Ereignislos verliefen die Jahre. Er wurde alt. Gebückt ging er.

Der Chef nahm ihn in die Abteilung für technische Angelegenheiten ins Bureau. Da saß er nun jeden Tag auf seinem Drehstuhl und rechnete, schlug das Buch zu, kam am ändern Tag wieder und rechnete.

Neben ihm saß das Schreibmaschinenfräulein, weiter am Fenster vorne der Ingenieur und manchmal auch der Chef.

Jahre.—

Plötzlich an einem Nachmittag gegen drei Uhr warf Peter Windel die Feder weg, riß sich fast soldatisch herum, ging an den Schreibtisch des Ingenieurs und sagte mit hohler, kalter Stimme: "Die Sache liegt vollkommen glatt. Für den Verlust mache ich Sie keinesfalls haftbar."

Steif stand er einen Augenblick vor dem verblüfften Herrn und drehte sich rasch um, rannte zur Tür und war weg.

Schon nach der Mittagspause hatte er sich den Hut unter denSchreibtisch gelegt. Und jetzt war er froh, daß kein ihm bekannterStraßenbahner den Wagen führte, in den er stieg.

Nach der fünften Haltestelle stieg er aus. Er war mitten in der Stadt."Das Urteil im Heinold-Prozeß! Zwölf Jahre Zuchthaus!" schrien dieZeitungsverkäufer und flatterten mit den Extrablättern herum.

Wichtige, gesprächige Gesichter tauchten auf, gedrängte Gruppen stauten sich um die Anschlagssäulen.

Peter bohrte seine Augen spähend in die staubige Luft. Nach einem regen Ausschreiten blieb er auf einmal stehen, murmelte etliche Worte heraus, drehte sich mechanisch herum und ging in den Blumenladen, vor dem er jetzt stand. Nach einer langen Weile kam er mit einem großen, auffallend schönen Rosenstrauß heraus, und ein kaltes Lächeln lag auf seinen störrischen Zügen.

"Lebenslänglich in einem Grab … da schon lieber gleich weg," hatte er gestern beim Treppenhinaufgehen gehört, und dann sagte eine andere Frau superklug: "Beantragt erst. Es hängt noch vom Gericht ab."

Heute war niemand im Treppenhaus. Auch die Wohnung war leer. Die Logisfrau war wahrscheinlich zum Putzen gegangen und ihr Mann kam erst gegen sieben Uhr abends von der Arbeit.

Peter öffnete rasch und schritt behend in sein Zimmer, legte behutsam den Rosenstrauß auf den Tisch und holte sich in der Küche warmes Wasser zum Rasieren.—

Als er bereits im Gebrock vor dem Spiegel stand, überfiel ihn aufeinmal ein maßloses Zittern, und eine Totenblässe überzog seinGesicht. Mit Gewalt straffte er seine Füße. Dann nahm er endlich denStrauß und verließ die Wohnung.

Es war schon dunkel, als er vor der Tür des Staatsanwalts Petersen stand und läutete.

"Ich möchte gern … wenn es erlaubt ist … dem Herrn Staatsanwalt diese Blumen bringen … und—und gratulieren," stotterte er dem Mädchen ins Gesicht. Das ließ ihn ein und führte ihn in ein Empfangszimmer. Nach ganz kurzer Zeit tat sich die Mitteltür auf, und Peter stand vor dem Staatsanwalt. Einen Augenblick hatte der Mann eine steinern ernste Miene, dann flossen alle Falten in ein Wohlwollen und er lächelte geschmeichelt.

Mit vielen unbeholfenen Verbeugungen reichte ihm Peter den Rosenstrauß und stotterte devot: "Für … für den außerordentlichen Eindruck, den ich von Ihrer Anklagerede empfing … nur eine kleine Erkenntlichkeit meiner Wenigkeit, Herr … Herr Staatsanwalt, Herr….!"

Der Staatsanwalt nahm ihm mit aller Freundlichkeit der Herablassung den Strauß aus der Hand, führte ihn an die Nase und sog in vollen Zügen den Duft ein, hob den Kopf wieder, sagte: "Ah …!" und drehte sich lächelnd um, zur anderen Tür schreitend: "Das muß ich gleich meiner Frau sagen…."

Jetzt, da er ihm den Rücken zugewendet hatte, rief Peter plötzlich mit schneidender Hast: "Eins, zwei, drei! … einen Augenblick …" und er lächelte, wie um sich zu besinnen … "sind drei … aber nein, nein! Das stimmt nicht! … Zehn und zwölf, verstehn Sie … sind?"

Der Staatsanwalt hatte sich erschreckt umgedreht, stand unschlüssig.Peters Mund bewegte sich fieberhaft. Schaum stand auf seinen Lippen:"Verstehn Sie … zehn und zwölf Schritte! Den ganzen Tag! Den ganzenMonat—ein Jahr—zwei!—drei!—vier—zwölf Jahre! Zwölf Jahre!!"

Und noch ehe der Staatsanwalt auf ihn zustürzen konnte, stieß ihmPeter mit aller Wucht sein feststehendes Messer in die Brust, daß erlautlos zusammenbrach und vornüber hinfiel. Dumpf hallte es. DerKörper warf sich etliche Male zuckend und blieb dann steif liegen.

Peters Mund ging auf und zu: "Zehn und zwölf Schritte—einen Tag, einen Monat—ein Jahr—zwölf Jahre, zwölf——"

Die Tür ging auf. Hoch stand ihr Dunkel. Etwas Buntes, Weißes flimmerte dazwischen! Peter schrie in einem Schrei:

"Für den Verlust mache ich Sie keinesfalls haftbar,—Zwölf Jahre Grab!Verstehn Sie … Das ausgestochene Aug'! Die Würmer! Zwölf Jahre …Verstehn Sie! Zwölf Jahre Nirgends! Nicht Hölle! Nicht Welt! Zehn undzwölf Schritte … die Wü-ü-ürmer!"….

Nach der irren Hast der ersten Worte spaltete sich die Stimme, überschlug sich und klang zuletzt wie ein keuchendes, ersticktes Stöhnen. Jetzt hielt er inne.

Die hohen Türen standen offen da. Schwarz und düster. Gegen ihn gerichtet wie drohende Rachen.

Die Gestalten und Gesichter waren fort. Es war still. Still!—Mit weit aufgerissenen Augen starrte Peter in diese Leere. Sein Körper begann zu schlottern, aber er riß sich zusammen. Er wich zurück. Sein Kopf stieß dumpf an den Fenstergriff. Erschrocken wandte er sich herum. Die Helle brach üher ihn. Er öffnete rasch.

Jetzt befiel ihn wieder das Zittern. Sein Gesicht verzerrte sich. Er wollte umsehen und wagte es nicht. Seine Arme umklammerten das Fensterkreuz.

Furchtbar schrie er: "Hilfe! Hi-ilfe!"

Er schwang sich plötzlich mit einem wilden Satz aufs Fenster und sprang in die Tiefe.—

Um es ohne Umschweife zu sagen—: Michel Zöll hatte heute einen gutenTag.

Vorgestern, als er stumpfsinnig in der Wärmestube der Arbeitsvermittlung saß und an dem nassen, verfilzten Zigarrenstummel saugte, den er auf dem Hergang in der Frühe gefunden hatte, kam sein Weib herein und sagte zu ihm: "Dein Alter ist gestorben … Vom Elektrizitätswerk haben sie hergeschickt, daß er auf der Straße umgefallen ist.—Schau nach!"

Es stimmte.

Jetzt lag der Tote unter der Erde.

"Ich komm schon!—Nachher!" sagte Michel zu seinem Weib nach demBegräbnis und schickte es heim, während er zur Logisfrau desVerstorbenen ging.—

Wie oft hatte Michel es nicht gehört, wenn Fußtritte auf ihn traten, wenn er in eine Ecke flog, wenn die Fäuste seines Vaters auf seinen Kopf niedersausten oder eine Eisenstange, ein Teller, eine Bürste: "Knochen, verstockter!—Der Teufel soll mich kreuzweis' holen, wenn ich dir einen Pfennig hinterlaß'! Ertränkt sollte man dich im ersten Bad haben, du Nichtsnutz!"

Mit sechszehn Jahren noch, als Michel schon im letzten Lehrjahr stand und eigentlich keine Last mehr war, wollte der Alte den Jungen wegräumen und übergoß ihn beim Heimkommen mit siedendem Kartoffelwasser, weil er das Vogelfutter für den Kanarienvogel mitzubringen vergessen hatte.

Michel mußte damals ins Krankenhaus gebracht werden und sah zum erstenmal, wie ein Bett aussah.

Es war schön in diesen hellen Räumen. Man sah viele fremde Menschen, die allerhand erzählten. Michel faßte Mut da und ging nach seiner Entlassung mit dem was er auf dem Leibe trug, auf die Wanderschaft, schlug sich auf alle mögliche Art und Weise durchs Leben.

Mutter—?! Ein komischer Begriff!

Michel hatte noch so etwas wie eine abgemagerte Frau in einem HaufenLumpen im Gedächtnis. Ein Paar spindeldürre Arme wie Stöcke. UndHüsteln.

Und das, was er nun seit ungefähr zwei Jahren unausgesetzt ablebte:Eben ein Zimmer voll Gerumpel, mit erstickender Luft und einemVogelbauer im staubigen Fenster.

Nur—daß Michels Weib zwei Kinder hatte und hin und wieder zum Putzen ging, daß das jetzige Zimmer keinen Vogelbauer hatte, ein klein wenig heller war, aber enger als das frühere.

Vor zwei Jahren war es etwas anders. Damals arbeitete Michel noch in der Motorenfabrik. Es war guter Verdienst. Aber wie der Teufel sein wollte, die Firma machte Bankrott, kam noch hinzu, daß das damalige Haus, in dem Michel mit Weib und Kindern in einer Zweizimmerwohnung hauste, in ein Warenhaus umgewandelt wurde, und die Leute nach langem Hin und Her auf die Straße gesetzt wurden.

Weshalb soviel Aufhebens machen! Die Entwicklung der Dinge läßt sich leicht denken. Die Hauptsache war immer: Man hatte zur Not ein Dach üher dem Kopf bekommen. Man wußte, wo man hingehörte.—

Nun, es ist etwas Wahres dran an dem Sprichwort: "Wo die Not am größten, ist Hilfe am nächsten."

Trotzdem der Verstorbene sich vielleicht geschworen haben mochte, nie und nimmermehr für Michel etwas zu hinterlassen, fiel dem Sohn jetzt die ganze erraffte Habschaft des Alten zu.—

Es war erst fünf Uhr nachmittags. Michel konnte in aller Ruhe das Zimmer des Verstorbenen durchstöbern und alles mitnehmen. Er fand außer baren fünftausend Mark einige Anzüge, von denen er den besten sogleich anzog, einen Überzieher, den er ebenfalls umlegte, und allerhand Gerumpel, das er dem Tändler Finsterhofer verkaufte.

Er war gut aufgelegt, der Michel, lachte und gab schließlich dem drängenden Tändler auch das ganze andere Geschleppe, die übrigen Anzüge und was da noch war.

Die Tasche voll Geld schritt er in die dämmernde Stadt.

"Ist doch gut, wenn man weiß, wer einen auf die Welt gebracht hat," brummte er aufgeheitert und ging in eine der bekannten Wirtschaften inder Bahnhofsnähe, um noch ein paar Gläser zur Feier des Tages zu trinken.

Es kam ihm merkwürdig vor, als er so unter den anderen Arbeitern,Zuhältern, Herumlungerern und alten Huren saß.

Einige kannten ihn und maßen ihn von der Seite.

"Hast das große Los gezogen, Michel! He … gibst was aus?" rief ihm ein Tisch zu und in jedem Blick war ein konstatierendes Zwinkern.

Michel setzte sich. Es tat ihm wohl, daß soviel Freundlichkeit ihn umgab. Auf seinem Gesicht war sogar eine Art Gönnerhaftigkeit.

"Meinetweg'n …," rief er und lachte, "trinkt. Mein Alter hat insGras gebissen! Es kommt mir nicht drauf an….!"

Und die Gesichter um ihn zäunten sich enger, fingen zu glänzen an.Man trank sich kameradschaftlich zu.

"Erste Runde … wer bezahlt!" schrie der martialische Kellner undOrdnungsmann in den Tisch.

"Daher!" schrie Michel und griff in seine Hosentasche, zog die Scheine heraus.

"Da gehn schon noch ein paar Runden, Michel?!" riefen mehrere.

"Kameradschaft bleibt Kameradschaft!" bekräftigte ein anderer.

Und Michel legte einen Hundertmarkschein auf den Tisch: "Soviel soll genug sein!"

Der Tisch war zufrieden, wurde laut, man brachte Bier und ließ Michel leben!

Dann stand Michel endlich auf. Einige wollten ihn noch halten, bettelten. Aber ein paar andere mischten sich ein und riefen: "Nein … richtig gesagt, sind wir zufrieden … der Michel kommt wieder!"

Und jeder drückte Micheln die Hand.

"Ein kreuzguter Mensch!" hörte dieser noch, als er die Tür hinter sich zuzog und seine Schritte eiliger straffte.

Die großen Bogenlampen leuchteten schon durch den nachtdurchwobenen Nebel. Aus den Kaffeehäusern griffen die Lichter, die Straßenbahnen flimmerten, surrten und läuteten.

Michel stieg nicht ein. Er ging zufrieden dahin und lächelte manchmal. Es schien, als wolle er noch einmal, ganz für sich allein, das eben zuteil gewordene Glück auskosten.

Er griff nach seinem Geld. Er griff hastiger. Nichts.

Seine Knie begannen zu schlottern, sein Herz stand jäh still. Er griff nochmal.

Das ganze Geld war weg. Man hatte es ihm gestohlen.

Er taumelte an eine Hauswand. Griff, suchte—suchte alle Taschen durch, vorsichtig, zitternd, furchtbar.

Nichts mehr.

Einen Augenblick stand er starr.

Die Trambahn surrte vorbei. Ganz dünner Schnee fiel. Die Lichter flimmerten. Es rauschte, rauschte—und war doch grauenhaft still. So als ob alles wie ein fließendes Wasser leise um ihn herumflösse. Er hörte es nicht und hörte es doch, hörte es wie ein verborgenes, leises Kichern….

Der Schnee fiel. Michel bewegte sich nicht von der Stelle.

Lange.—

Endlich gab er sich einen Ruck, rannte in die Wirtschaft zurück, auf den Tisch zu.

Es war keiner mehr da. Er fuhr den Ordnungsmann an. Fragte, flehte, weinte. Vergebens.

In sich zusammengesunken verließ er die Wirtschaft. Machte sich auf den Heimweg. Als er vor dem Haus stand, in dem er wohnte,—hielt er inne. Er griff nochmal in alle Taschen.

Dann, als er die Treppen emporstieg, schien es, als hätte sein Gang wieder die gewöhnliche Ruhe und Gleichgültigkeit, mit der er sonst dahinschritt. Der Dunst des Zimmers schlug ihm ätzend entgegen. Es war still und düster. Die zwei Kinder lagen im Korb, in einem Berg von Lumpen, und schliefen. Anna saß am Tisch, die Petroleumlampe flammte ärmlich und bläulich üher ihre Hände.

Gleichgültig schaute das Weib vom Sockenstopfen auf und rief: "Hast was gefunden?"

Michel schwieg, drehte sich umständlich um und schloß die Tür. Dann, seinem Weib wieder zugewendet, sagte er: "Zuwas stopfst' Socken? … Brauchst bloß Licht."

"Hast denn solang braucht?" fragte Anna und fixierte nunmehr die ungewohnte Kleidung ihres Mannes.

"Ja …," sagte Michel und zog seinen Überzieher aus, "ist eine schöneStrecke gewesen…."

"Ist ein schönes Stück Gewand," sagte Anna wieder, als Michel näher ans Licht getreten war und sich auszuziehen begann, "sonst hat er also nichts gehabt?"

Der Michel schnaubte ein paarmal auf. Dann rief er einsilbig: "Geh, leg dich nieder … für uns wär's besser gewesen, man hätt' uns im ersten Bad ertränkt … leg dich nieder, Alte!"

Und plumpsig ließ er sich ins Bett fallen, daß die Federn knarzten.Bald darauf lag auch Anna an seiner Seite.

Am ändern Tage trug Michel den Überzieher aufs Leihamt und gab Anna das Geld.

Wieder wie immer hockte er stumpfsinnig in der Wärmestube derArbeitsvermittlung.—

Die Arbeiterin Manztöter ist der Lungenschwindsucht erlegen. Sie war eine stille, fleißige Person. Sie schaffte sich auch etwas.

Vor vier Jahren trat sie in die Zigarettenfabrik Zuccalisto ein. Bauernmagd war sie vorher gewesen. Eine von den vielen, die die Stadt anzog, der Verdienst und die Aussicht auf eine baldige, einigermaßen erträgliche Ehe vielleicht.

Die Männer auf dem Lande waren plump und bedacht auf offene manchmal in den Stall, faßten sie an der Brust, packten ihr Kinn, leckten ihre Wangen. Ein rothaariger Knecht setzte ihr aufdringlich zu, stand und stand überall und schlug einmal sinnlos auf sie ein. Daraufhin floh sie in die Stadt.

Sie änderte sich nicht, sparte, arbeitete und war fromm ohne Bigotterie. Noch immer las sie das Wochenblatt jedesmal aus und den Roman und hielt sich außerdem "Die christliche Dienstmagd". Unter dem vielen Gemisch von afrikanischen Missionsberichten, fand sie eines Tages die Geschichte eines Farmers in Südwestafrika, leis überhaucht von friedlich-fleißigem Eheidyll.

Einem solchen sparte sie das Geld vielleicht.

Vierhundert Mark hatte sie schon auf der Sparkasse. Noch vielleicht zwei Jahre oder längstens drei und es wären tausend gewesen. Tausend Mark!—

Das ist schließlich nur Angewohnheit, daß man zur Vesper für fünfzigPfennig Käse oder ein Stück Wurst haben muß mit Bier. Kaffee mit einerSemmel geht auch oder Gerstenauflauf von Mittag. Machte schon wiederzwanzig Pfennig weniger.—

Außerdem kann man sich wöchentlich zweimal zu den Überstunden melden. Sind auch wieder drei Mark fünfzig Pfennig für je eine Stunde. Man macht jedesmal drei, sind zusammen wöchentlich einundzwanzig Mark. Eineinhalb Tagelohn mehr. Dann, wenn man heimkommt, ist's meistens schon dunkel, man braucht kein Licht mehr, legt sich einfach gleich ins Bett und schläft ein, hat gar keinen Hunger mehr.—

Zuletzt waren es schon sechshundert Mark. Sechshundert!

Und da kam die Lunge.

Und kurz darauf hätte es eine allgemeine Aufbesserung gegeben, weil die Zigarettenfabrik Zuccalisto fünfundvierzig Prozent Dividende verteilen konnte dieses Jahr und auch was tun wollte für ihre Arbeiter.

Es war schneidend kalt.—

Der Schutzmann an der Ecke sah einem angeheiterten Doppelpaar grießgrämig nach und knurrte mürrisch.

Durch den Gedanken, daß diese Leute nun in ihre warmen Stuben heimgingen und vor dem Zubettgehen vielleicht noch heißen Tee tranken und eine Kleinigkeit zu sich nahmen, hatte er sich davon abbringen lassen, weiter auf und ab zu gehen und seine durchfrorenen Beine durch zeitweiliges Stampfen einigermaßen warm zu erhalten. Jetzt stach die Kälte doppelt quälend in allen seinen Gliedern.

Er knirschte verdrossen, zog seinen Kopf noch tiefer in den aufgestülpten, starren Mantelkragen, bog mit sichtlicher Überwindung die steifgewordenen Knie und ging wieder weiter.—

Die Stimmen der Spätlinge verschwammen mehr und mehr. Es wurde wieder still. Wie ausgestorben dehnte sich das verlassene Geviert aus. Düster und drückend ragten die Hauswände empor. Der Schnee fiel dicht und sehr ruhig.—

Mißmutig schwenkte der Schutzmann in eine breitere Straße ein. Durch die gleichmäßiger verteilte Schneefläche schien es hier heller und weiter zu sein. Er blickte erleichtert in die weiße Eintönigkeit. Eine strichhaft hagere Gestalt kam auf ihn zu. Der Mann schien weder Kopf noch Arme zu haben. Nur die Beine warf er mechanisch nach vorne wie ein aufgezogenes Gespenst. Als er kaum noch fünf Schritte von ihm entfernt war, hustete der Schutzmann sehr vernehmlich und hob sein verärgertes Gesicht.

"Sie!" rief er dem Herankommenden gehässig laut entgegen und warf sich in straffere Haltung.

Die Gestalt blieb stocksteif stehen. Nur der Frost schüttelte sie.

"Haben Sie Papiere?" fragte der Schutzmann, noch einen Schritt machend, und musterte den Mann.

Der rührte sich nicht.

"Sie!!" brüllte der Schutzmann wie fluchend und leuchtete dem Fremden mit der Taschenlaterne entgegen. Alles an ihm war wieder in bester dienstlicher Ordnung.

Ein harkiger, abgerissener, verdorrter Baumstamm oder eine arg ramponierte Säule konnte es sein, was da im Lichtkreis stand. Raschen Blicks überflog sie der Polizist.

"Ihre Papiere!—Sind Sie denn taub!" schrie er abermals, wütend über das Aufgehalten werden bei solcher Kälte, und setzte schnell, wie witternd hinzu: "Oder haben Sie keine?"

Der Fremde zog endlich seine erstarrte Hand aus der tiefen Hosentasche und reichte ihm die schmutzigen, durchnäßten Ausweise.

"Karl Pruvik, Klempnergehilfe" stand auf der überleuchteten Invalidenkarte. Herkunft, Geburts—und letzter Dienstort und Datum waren verzeichnet. Abgestempelte Marken klebten auf der ersten Hälfte.

Der Schutzmann steckte das Papier unter den blauen Militärpaß und schlug diesen auf.

"Infanterist Pruvik, Karl.—14. Regiment" orientierte die erste Seite.

"Verwundet bei Luneville (Armschuß rechts), desgleichen bei Tarnopol(Knieschuß links), verwundet bei Verdun (Schulterschuß links)" war imAnhang eingetragen, und so und soviele Gefechte und Schlachten erwähntedas nächste Blatt.

Das Gesicht des Schutzmanns verlor mehr und mehr die stiere Härte, hob sich etwas höher aus dem Mantelkragen.

"Hm!—Auch Kriegsteilnehmer? … Ohne Bleibe, was?" sagte er mit zufriedener Ruhe und streckte dem regungslos Dastehenden die Papiere him. Dessen Gestalt schwankte ein klein wenig nach vorne.

"Hundekälte das! Warten Sie, es geht schon!" rief da der Schutzmannnoch loyaler und steckte dem Mann die Papiere hilfsbereit in dieRocktasche: "Ist ja noch nicht so spät. Noch alles offen in der Stadt.Sie kommen sicher unter!"

"So," sagte er eben, als in nächster Nähe die Uhr zehn schlug. EinenAugenblick horchte er auf, nickte und entfernte sich eilsamenSchritts. Schon von weitem erspähte er die Ablösung.

Karl Pruvik riß sich fest zusammen und schritt wieder weiter.

Der Schnee fiel und fiel.

Nach einer langen Weile wurde es endlich etwas lichter. Menschenstapften vorüber. Grelle Autolaternen glotzten üher einen freienPlatz. Üher einem mächtigen Säulenportal leuchteten groß dieBuchstaben "Schauspielhaus".

Vielleicht vom Licht angezogen verschnellerte Karl Pruvik unwillkürlich seine Schritte, eilte geraden Wegs auf den Theaterausgang zu. Eben strömte die Besucherschar aus den großen, glitzernden Toren. Er befand sich im Nu mitten im dichtesten Gemeng und drängte sich vorwärts. Eine warme Duftwelle schlug ihm entgegen, starkgeschminkte Gesichter tauchten auf und seltsam kühne Reflexe warf das grelle Licht auf glänzende, rauschende Damentoiletten. Überschnell schwirrten geschäftige Stimmen ineinander, Seidenrauschen, Lächeln, Autohupen und das fadendünne Zirpen süßlicher Tonfälle vermischten sich zu einem betäubenden Geräusch. "Einfach glänzend!" rief wer. "Rührend, wie die Hohlmann spielt!—Nein, einfach entzückend!" zwitscherte eine überhelle Stimme. "Huw, dieses Schweinewetter!-Kommt schnell ins Auto!" ließ sich zwischendurch vernehmen. Und wieder: "Kritisch gewertet—: Eine Glanzleistung in Regie und Spiel!" Dann das laute, aufdringliche Gekicher der Backfische: "Dieses herrliche Rüschenkleid, Mama!—Hast du gesehen,—den Sonnenschirm!—und das Biedermeierkostüm im dritten Akt? Entzückend!—Du Lilly, weißt du was! So gehen wir heuer im Fasching!—Gell Mammi! Gell!"

Es plätscherte fort und fort, oben, unten, überall. Abschiednehmen,Handküsse, Einladungen für das morgige Festessen, Lachen, Autovor—undAbfahren—alles wie ein flimmernder Hexentanz!—

Karl Pruvik war mittlerweile unbemerkt bis an das Eingangstor gelangt. Noch eine geschickte Finte und er hatte für heute nacht ein Dach über dem Kopf. Sein Herz schlug heftig. Es war wieder Leben in seine froststarren Glieder gekommen. Behende glitt er an den aufeinandergedrängten Gestalten vorbei und fühlte auf einmal Raum und Wärme. Er lugte spähend nach dem betreßten Portier, duckte sich mehr noch zusammen, hielt den Atem an, arbeitete sich an der Wand entlang.

Im selben Augenblick aber stockte die Bewegung des Menschentrupps. Erzerteilte sich und jäh brachen die Reden ab. Durch eine glotzendeGaffergasse hastete der Portier mit steinernem, finster drohendemGesicht auf ihn zu.

"Was suchen Sie denn da?—He! Sie! Sie!" schrie der Türhüter. Karl Pruvik zog wie ein gezüchtigter Hund die Schultern hoch und verbarg den Kopf völlig in seiner schlotternden Brust.

"Was Sie wollen, frag' ich!?" bellte der Portier hinter ihm und packte ihn heftig am Arm, riß ihn zurück. Ohne Wort und ohne Abwehr ließ sich der Eingedrungene von dem belfernden Türhüter und zwei inzwischen herbeigeeilten Logendienern ins Freie schieben. "Hm, sowas?—Sich ins Theater einzuschleichen!" sagte jemand von den Stehengebliebenen und schüttelte den Kopf. Der ins Stocken geratene Menschenhaufe bekam wieder Bewegung und drängte sich durch den Ausgang. Die Tore schlossen sich finster. Schwätzendtrabten die letzten Paare vorüber.

Karl Pruvik stand zögernd und benommen im glitzernden Schneegeflock. Einen Augenblick hatte es den Anschein, als straffe sich sein Körper, als hole er zu einem Satz aus und wolle in die vorbeigleitenden, duftenden, rauschenden, geschwätzigen Menschen springen, aber schließlich torkelte er doch üher die verschneite Freitreppe hinunter und bog in die Seitengasse ein, die vom Theaterplatz abzweigte. Ein letztes Auto surrte weg. Die Stimmen verloren sich in der Ferne. Die erleichternde Helligkeit, die die Beleuchtung des Theaterpalastes nach allen Seiten him verbreitet hatte, verlosch lautlos. Es war wieder ringsherum die fahle, unwirkliche Düsternis der Winternacht.—

Karl Pruvik hob den Kopf hilflos. Eine knappe Wurfweite vor ihm ragte etwas Schwarzes aus dem Schnee und bewegte sich wie schwebend von der Stelle. Willenlos und ohne Grund folgte er der Erscheinung.

Lange ging er so.

Es mußte schon tief nach Mitternacht sein. Trist gähnten die menschenleeren Straßen und Plätze.

Man stand am Rande des Stadtparkes. Die kerzengerade Gestalt verschwand zwischen den Bäumen.

In der aufgeworfenen Bahn der Spur schritt Karl Pruvik weiter. Es war viel dunkler hier. Die schneebeladenen Baumäste lasteten schwer herab. Nur zeitweilig gab sich eine hellere, freiere Stelle und undeutlich ließen sich eingemummte Bänke erkennen. Auf einer solchen hockte die zusammengekauerte Gestalt nun, der er die ganze Zeit gefolgt war. Stoisch ließ sich Karl Pruvik neben ihr nieder und legte wie aus einer plötzlichen Eingebung heraus seinen steifen Arm um nasse, scharfe Schultern. Lahm schmiegten sich die beiden Körper aneinander. "Kalt," murmelte es kaum hörbar aus dem Kopf, der haltlos auf seine Brust herabglitt.

"Kalt," brummte Pruvik ebenso leise und schloß seine Augen. Auch seinKopf sank herüber auf das Genick des anderen.

Kein Schnee fiel mehr. Es war seltsam—: Jetzt, da man schonungslos der Kälte ausgeliefert war, wußteman nicht mehr, war's eine rasende Hitze oder eine gänzliche Eisigkeit, was in den Gliedern brütete. Der ganze Körper hatte das Gewicht verloren. Es schien als schwebe er durch eine unsäglich friedliche Stille…. Auf einmal drückte etwas Hartes an den Arm, umklammerte, zerrte. Es schrie wie durch Nebelschwaden, dann näher. Es rüttelte stärker. Das Geschrei schwoll. Der Kopf' an der Brust bewegte sich stumm.

Karl Pruvik öffnete die Augen. Das grelle Licht einer Taschenlaterne stach ihm ins Gesicht, blendete, schmerzte.

"He!—He! Was ist da!!" schrie ein Schutzmann, riß erregt am Arm.

"Was ist denn das! Auf! Auf!!"

Alles tat wieder weh. Die zerfrorenen Knochen rührten sich, schmerzten, als seien sie alle einzeln abgeschlagen und bewegten sich wie in einem geplatzten Gipsverband klappernd von dannen.

Erst in der Stube der Polizeistation sah Karl Pruvik, daß noch einer neben ihm stand, genau so reglos und stumpf wie er. Auf den redeten die zwei Schutzleute ein, fragten, schrien ihn an.

Endlich nach einer Weile schritt man durch eine Tür und das Licht war aus den Augen. Die beiden lagen auf einer Pritsche, in warme Decken gewickelt. Die Glieder bewegten sich ohne Schmerz. Wärme kam langsam. Von Zeit zu Zeit berührten sich Arm oder Fuß.

Nach langer Zeit hörte Karl Pruvik wieder polternde Stimmen und kalte Luft huschte üher sein Gesicht. Die Pritsche knarrte und Schritte dumpften. Eine Tür fiel zu. Jetzt war es leer neben ihm.—

Es fiel gläseriges Tageslicht durch die vergitterte Luke, als er dieAugen öffnete.

Ein etwas ins Rundliche gehender Schutzmann mit gemütlichem, wohlig gerötetem Gesicht stand vor ihm und sagte in friedlichem Baß: "Sie können sich wieder fertig machen. Es liegt nichts vor gegen Sie!"

Karl Pruvik hob seinen übermüdeten Oberkörper auf der Pritsche.

"Haben Sie denn den andern gekannt?" fragte der Schutzmann.

Pruvik schüttelte dumpf den Kopf.

"Hat ein paarmal eingebrochen," erzählte der Polizist beiläufig und redete weiter: "Stehn Sie dann auf und kommen Sie. Sie können wieder gehen."

Karl Pruvik sah ihn verständnislos an.

"Eine harte Zeit jetzt—und hundekalt diesen Winter!" brummte derSchutzmann und bat Pruvik abermals aufzustehen.

Der erhob sich endlich und ging mit ihm durch die Tür in diePolizeistube hinaus.

Ein Wachtmeister saß am Tisch und hatte seine Papiere in der Hand, sah ohne Arg, beinahe mitleidig auf Pruvik.

"Sie können wieder gehen," sagte er in dienstlichem Brustton und reichte ihm Invalidenkarte und Militärpaß.

Karl Pruvik stand zögernd da und machte keine Bewegung.

"Es liegt nichts vor gegen Sie!—Daß einer keine Bleibe hat, kann jedem einmal passieren," sagte der Wachtmeister menschlich.

Pruvik nahm mechanisch seine Papiere.

"Grüß Gott," sagten die beiden Polizisten und nickten dem Gehenden zu.

Einer öffnete freundlich die Tür.

Karl Pruvik ging.

Es schneite nicht mehr auf den Straßen. Das Bleich des Tages tat den Augen weh. Ein Wind hatte sich erhoben und pfiff schonungslos um die scharfen Hausriffe. Es war kalt. Es war wirklich grausam kalt….

Der Stab für das Eisenbahnbauwesen der Ostarmee lag vor Dünaburg. Es ging die Rede von einem russischen Durchbruchsversuch. Die Baukompagnie 14 geriet ins Feuer. Es gab Verluste. Der Bau der Feldeisenbahn kam ins Stocken. Die Verbindung mit der Kampffront blieb auf Tage unterbrochen. Vom Oberkommando der Armee lief eine Beschwerde beim Stab ein. Drängende Befehle peitschten zur Beschleunigung. Der Major hatte wieder jenen gehässigen Ärger auf seinem finsteren Gesicht, der an den Brückenbau in Kowno vor der Ankunft des Kaisers erinnerte.

Zwei Tage vorher bereits überwölbte das fertiggebaute, riesige hölzerne Mittelstück die gesprengte Memelbrücke damals. Die Belastungsprobe war glatt verlaufen. Allenthalben sah man entspannte, befriedigte Gesichter. Die ermüdete Mannschaft trat schon zum Heimmarsch in die Quartiere zusammen. Plötzlich murrte ein langgezogenes, ruckendes Grollen über den nebeligen Fluß. Die Brückenmitte hatte nachgegeben, war fast um einen halben Meter tiefer gesunken. Eine Totenstille herrschte minutenlang. Dann bellten abgehackte Befehle durch die Luft. Die erschöpften Abteilungen schwärmten wankend auseinander, wieder auf die Brücke und ins eisige Wasser. Die ganze Nacht hämmerte, ächzte, krachte, schob und schrie es aus dem spärlich beleuchteten Gerüst des Notbaues und aus der Flußtiefe. Fieberhaft, mit verdrossenem, verbissenem Grimm wurde gearbeitet.

Wie Rudel totgehetzter Ziehtiere trotteten die Kolonnen am Morgen in die zerschossene Stadt.

Zwanzig Stunden wurde am darauffolgenden Tage gearbeitet. Zweiundzwanzig ununterbrochen am andern. Die Ruhr brach aus unter der Mannschaft.

Mehr als vierzig Mann starben, fünf ertranken in der Memel.

Als der Kaiser ankam, erhielt der Major das Eiserne Kreuz ersterKlasse.

"Herr Major,—hoffentlich ist es uns allen noch gegönnt, daß wir den Pour le merite ebenso vergnügt mit Ihnen feiern dürfen," sagte damals der geschnürte, glatzköpfige Stabsadjutant piepsend.

Und zerschlissen freundlich lächelte der Major: "Wenn Petersburg fällt!"—Damals ging es unaufhaltsam vor.

Nun stockte es erstmalig während des ganzen Feldzugs.—

Die Russen funkten sehr nahe. Die zurückgetriebenen Eisenbahnbaukompagnien verpendelten die Zeit mit nutzlosen Appellen. Vom Hauptquartier kam Befehl auf Befehl. Die Offiziere flitzten nervös und gewichtig herum. Bei der Mannschaft gab es Arreste.

Unübersehbare Mengen Baumaterialien stapelten sich und mußten liegenbleiben.

Der Major ritt die Bauzüge ab, schrie, polterte, teilte Strafen aus.

Fünfzehnhundert Russen, die an der Front gefangengenommen worden waren, trafen ein. Befehl zur Aufnahme des Weiterbaues der Feldeisenbahn erging.

Langsam rollten die stehengebliebenen Bauzüge vorwärts, in die tristen Schneefelder hinein. Vor, vor—immer noch vor ging es! Bis zu der Stelle, wo die Arbeit aufgegeben werden mußte.

Die Geschosse schwirrten hoch in der schneeigen Luft. Ganz nahe.

Schnee, Schnee. Kälte, Kälte.

Die Baukompagnie 14, 15 und die Russen marschierten auf dieArbeitsstellen.

"Mist!—Humbug!—Unsinn!" knurrte von Zeit zu Zeit irgendeiner halblaut.

In kilometerweiter Entfernung schlugen die Geschosse ein, warfenKotfontänen.

Schlaggg!—lag alles am Boden.

Man lag die halbe Zeit in Deckung. Die Arbeit machte kaum wesentlicheFortschritte.

Meldung erging an den zurückliegenden Stab.—

Der Ordonnanzreiter Peter Nirgend ritt durch den peitschenden Schnee. Das Pferd dampfte. Die Lenden spritzten Blut. Fiebernd bog sich der furchtsame Rücken im Galopp.—

Hauptmann und Oberleutnant der Baukompagnienempfingen den Heransprengenden mit mürrischen Gesichtern.

"Meldung vom Stab der Eisenbahntruppen!" keuchte Nirgend. Nur mit Mühe konnte er sich stramm halten.

Hastig öffnete der Hauptmann den Umschlag, überflog mit unterdrückterEntrüstung das Papier und sah auf den Oberleutnant, reichte es ihm.

"Hm!" brummte er kopfschüttelnd. "Hm!" machte der Oberleutnant gleichfalls achselzuckend und ratlos.

Dann stiegen beide in den Kanzleiwagen.

Peter Nirgend führte sein schweißtriefendes Pferd auf und ab. Aus denQuartierwagen der Mannschaft glotzten mißmutige Gesichter.

"Geht's vor?" fragte einer.

"Der Hund!" knurrten etliche dumpf, als Nirgend nickte. Der Kanzleiunteroffizier rief aus dem Wagen, übergab ihm die Rückmeldung an den Stab. Der gefrorene Boden klapperte unter den ausgreifenden Hufen des Pferdes. Schneewolken staubten auf und nichts mehr sah man.—

Ein abermaliger Befehl des Stabes bestimmte unverzügliche Aufnahme derArbeit und sofortige Herstellung der Verbindungslinie mit den Fronten.

Schon tags darauf meldeten die vorgeschickten Kompagnien schwere Verluste. Die fünfzehnhundert Russen weigerten sich, aus ihrem Bauzug zu gehen. Man prügelte sie heraus. Aber am selben Abend noch mußten die Züge zurückrollen. Viele Wagen waren zerstört. Die Eisenbahnlinie überall ramponiert.

Die ganze Nacht schrie es die Züge entlang. Neue Wagen wurden eingeschoben. Unaufhörlich wurde rangiert.—

Am andern Mittag raunte es von Ohr zu Ohr: "Es geht wieder vor!" Es ging ein Gerücht herum von einem scharfen Aufeinanderprallen zwischen Major und Hauptmann. Kurz darauf hieß es: "Antreten zum Appell!" Vor den gepferchten Reihen der zum abermaligen Vorrücken bestimmten Truppen hakte ein fremder Offizier auf und ab und hielt eine schwunghafte Rede. "Das deutsche Wesen darf nicht untergehen! Hurra! Hurra! Hurra!" schloß er und alles brüllte mit. Wie ein einziger Tierlaut klang's.

"Fürs Vaterland!" murrte einer zynisch beim Auseinandergehen.

"Für den Pour le mérite!" brummte ein bärtiger Kerl und sah herausfordernd auf die lethargischen Gesichter der Kameraden.

"Kotze!—Sich den Schwanz verbrennen ist die einzige Rettung!" murmelte der Mannschaftskoch stoisch.

"Nulpe! Wo denn?—Wenn weit und breit kein Puff ist!?" warf ihm derVagabund Tümpel hin und spuckte in großem Bogen durchs offene Fenster.

Tief am Nachmittag ächzten die Bauzüge abermals finster in die schneeige, verlassene Gegend hinaus.

Am zweiten Tag, als Nirgend von den Kompagnien zum Stab zurückritt, knallten Schüsse hinter ihm her. Einer davon streifte leicht seinen rechten Arm.

"Hu-u-und!" surrte es langgedehnt durch die kalten Nebelschwaden und lief ihm nach wie ein unterirdisches Grollen.

Gegen Morgen tauchten auf einmal die gelben Lichter der Bauzuglokomotiven auf und kamen zischend näher. Die vierzehnte Kompagnie war his auf zirka hundert Mann aufgerieben, und die fünfzehnte hatte gleichfalls zahlreiche Verwundete und Tote. Die Russen hatten in der allgemeinen Panik des Zurückflutens die Fluchtergriffen und irrten rudelweise in den Schneefeldern herum.—

Nirgend trat dumpf ins Leutnantszimmer des Stabsbureaus, straffte seine Glieder und sagte: "Zur Stelle!"

Der schmächtige, elegante Offizier drehte sich wippend, etwas nervös herum, maß den Hereingetretenen von oben his unten und fragte: "Na,—und?"

"Man hat mich angeschossen," sagte Nirgend unvermittelt.

"Ja—und?"

"Es waren welche von uns, Herr Leutnant."

Die gepflegten, spitzen Augenbrauen des Offiziers griffen zuckend in die plötzlich streng gefaltete Stirn.

"Quatsch!—Woraus schließen Sie denn das;" rief er wegwerfend.

"Weil jeder wütend ist," sagte der Meldereiter einfach.

"Halten Sie Ihr Maul, Sie Lümmel!—Was bilden Sie sich eigentlich ein!" belferte der Leutnant drohend und schnellte auf.

"Ich rede nicht um meinethalben," erzählte Nirgend ruhig und schaute dem Schimpfenden entschlossen ins Gesicht, "aber um den Pour le merite geht keiner mehr vor. Ich reite nicht mehr!"

"Wasss!!" zischte es durch die warme Zimmerluft.

Matratzenfeder. Die Tür des anderen Zimmers wurde ruckhaft aufgerissen.

"Wasss!—Was ist da!?" schnarrte der Major und machte einen Schritt auf Nirgend zu. Schon riß sich der Leutnant schlank und stramm herum, wollte melden. Aber der Soldat kam ihm zuvor, sagte, zum Major gewendet, mit der gleichen, einfachen Ruhe: "Ich reite nicht mehr, Herr Major! Um einen Pour le mérite geht keiner mehr vor, sagen alle!"

Einen Moment fielen die beiden Offiziere fast auseinander. Dann schrien sie, bellten drohend: "Hinaus! Hi-naus! Sie Schweinehund!"

Ganz korrekt drehte sich Nirgend um und ging aus dem Zimmer. In der angrenzenden Schreibstube wurde fieberhaft gearbeitet. Jeder saß geduckt da und kaum einer wagte aufzuschauen. Nur einige ängstliche Blicke trafen den Hindurchschreitenden. Der Stab nistete in einem einstöckigen Gelehrtenhaus. In den unteren Räumen waren die Bureaus, oberhalb die Schlafzimmer der Offiziere und auf dem Dachboden hausten die Mannschaften. Dort angelangt, legte Nirgend sich so wie er war aufs Stroh und zündete sich eine Zigarette an.

Es war merkwürdig, heute kam keiner zu Bett. Düster glomm der spärlich helle Kreis der brennenden Zigarette im Dunkel. Wie in einer verlassenen Totengruft lag man hier. Langsam fielen die Minuten von der Decke herab.

Eine lange Zeit verging.

Dann knarrten Schritte die Treppe herauf, kamen näher. Es mußten mehrere Leute sein. Peter Nirgend rührte sich nicht.

Die Tür wurde geöffnet. Im Lichtkreis einer Taschenlaterne tauchte undeutlich die Gestalt des Leutnants auf. Dahinter mußten noch einige Leute stehen. Zwei Seitengewehre funkelten zur Höhe.

Nirgend erhob sich ohne Hast. Irgendeine dunkle, breite Gestalt tappte herein, tastete herum und entzündete die Lampe. Jetzt traten der Leutnant und die zwei Soldaten mit den aufgepflanzten Seitengewehren an den Tisch, wo der Unteroffizier, der Licht gemacht hatte, stand. Der Leutnant verlas etwas von sofortiger Inhaftierung und Überweisung an ein Kriegsgericht, faltete den Bogen wieder, sah Nirgend flüchtig an und sagte zum Unteroffizier: "Wenn er in fünf Minuten nicht folgt, wenden Sie Gewalt an!"

"Zu Befehl, Herr Leutnant!" antwortete der strammgestandene Korporal.

"Naja!" sagte der Leutnant und ging.

Einige Augenblicke standen sich die Soldaten schweigend gegenüber.

"Kamerad!—Mensch?" brachte der Unteroffizier endlich heraus, stockte aber plötzlich und sagte dumpfer: "Packen Sie Ihre Sachen zusammen und kommen Sie."

"Seid ihr Vierzehner?" fragte Nirgend unbeweglich. Keine Antwort.Keine Bewegung der anderen. Starr standen die drei.

"Gestern nacht habt ihr auf mich geschossen—einer von eurer Kompagnie war's!—Weil ich den Befehl zu euch brachte zum Vorrücken.—Einen Denkzettel habt ihr dem Major geben wollen—jetzt macht ihr drei wieder die Handlanger der Ordensjäger!" stieß Nirgend heraus.

Keine Bewegung. Schweigen. Starr standen die drei. Wie glatte, finstereGlassturze. Alles rutschte an ihnen herab.


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