IX.

GletschereisGletschereis.

Gletschereis.

Gletschereis.

Eingedenk der vortrefflichen Eigenschaften des Rentieres, seiner Anspruchslosigkeit betreffs Ernährung, seiner universellen Nützlichkeit und seiner absoluten Unschädlichkeit und in Erinnerung an die Thatsache, daß es, wie fossile Reste — sogar fossile von Menschenhand bearbeitete Rentiergeweihe — es beweisen, einst über den größern Teil Mitteleuropas verbreitet gewesen sein muß, fragte ich mich oft, warum es wohl noch niemandem eingefallen sei, unsere Alpen mit diesen trefflichen Tieren zu bevölkern.Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß sie sich ganz gut akklimatisieren würden.

Die Nimrode unter den Schiffspassagieren, welche zu bequem waren, stundenweit bergauf- und thaleinwärts zu laufen, ließen ihre Mordlust an den arglos herumfliegenden Strandvögeln aus. Piff, paff, puff knallte es allerorten, und Dutzende von zwecklos getöteten oder verwundeten Enten, Möven und Eidergänsen fielen zur Erde oder zuckten im letzten Kampfe auf der glatten Meeresfläche. Ich freute mich stets königlich, wenn ein mit selbstbewußter Sicherheit abgegebener Schuß zum Ärger des Schützen und unter Halloh der Zuschauer den einzigen Effekt hatte, die Flug- oder Schwimmgeschwindigkeit des Zielobjektes um 100 pCt. zu beschleunigen, oder wenn eine Taucherente, welcher der tödliche Schuß galt, blitzschnell unter dem Wasser verschwand, um sehr vergnügt hundert Meter davon entfernt wieder aufzutauchen. Da in Spitzbergen kein Jagdschein notwendig ist, bleibt es vorläufig das Eldorado aller Jäger, bis die dortige Tierwelt so vernichtet sein wird, daß es sich nicht mehr lohnt, Pulver und Blei dorthin zu tragen. Allerdings sind ja nur einige Küstenstriche zugänglich und das mit 1000 Fuß dicker Eisschicht bedeckte Landesinnere wird den Eisbären und Polarfüchsen vorläufig noch ein sicherer Hort bleiben; aber wer weiß, mit welchen Mitteln sich das raffinierteste aller Raubtiere, der Mensch, in Zukunft auch diese unzugänglichen Einöden begehbar machen wird!

Die großartigste Jagdepoche Spitzbergens fällt in das siebenzehnte Jahrhundert. Anno 1607 lenkte der berühmte Seefahrer Hudson die Aufmerksamkeit der Welt auf dieungeheure Menge von Walfischen, Walrossen, Robben und wertvollen Pelztieren, welche jene noch wenig bekannte — zehn Jahre vorher durch den Holländer Barents entdeckte — Inselgruppe bevölkerte. Daraufhin fuhren alle seefahrenden Nationen hin und lagen sich zwanzig Jahre lang tüchtig in den Haaren, bis endlich durch einen Vertrag die Jagdgründe geregelt und verteilt wurden.

Die intensivste Fangthätigkeit entfaltete Holland. In der Smeerenberg (Smeer = Fett; bergen = verwahren) auf der Amsterdaminsel waren oft gleichzeitig gegen 300 holländische Schiffe anwesend; während der kurzen Sommermonate bevölkerten über 12,000 Menschen die öde Landschaft und die Mitternachtssonne war Jahrzehnte lang Zeuge aller nur denkbaren Laster; das spielend leicht verdiente Geld wanderte in Spiel- und Trinkhöllen und schuf ein arktisches Sodom und Gomorrha. Der Walfischfang blieb zweihundert Jahre eine so ergiebige Quelle des Reichtums, daß man in Holland unschlüssig war, ob dem Hafen von Smeerenberg oder demjenigen von Batavia größere Bedeutung beizumessen sei und welcher im Ernstfalle zuerst zu verteidigen wäre. Einige Zahlen mögen diese unglaublichen Thatsachen erhärten:

Der grönländische Wal, der bis 3000 Zentner schwer wird, bildete früher das Hauptwild der Gewässer Spitzbergens, hat sich jetzt aber infolge Jahrhunderte langen rücksichtslosesten Vernichtungskrieges fast ganz weiter nach Norden verzogen. Ein einziges Exemplar konnte 20,000 Mark an Wert abwerfen. Der Hauptwert liegt in derbis zu 40 Centimeter dicken Speckschichte zwischen Oberhaut und Muskelfleisch, welche zu Thran ausgesotten wird, und in den sogenannten Barten, jenen hornigen Kiefergebilden, aus welchen man das Fischbein gewinnt (2500 Kilogramm per Tier und mehr). Die Barten dienen dem Tiere dazu, seine Nahrung zu fangen; mit geöffnetem Maule von sechs Meter Länge und vier Meter Breite durchschwimmt es den Ozean, wobei Millionen kleinster gallertartiger Meertierchen des durchströmenden Wassers an den Bartenhaaren hängen bleiben und verschluckt werden, sobald sie sich in größerer Menge angesammelt haben. Wenn man erwägt, welche Billionen dieser kleinsten Organismen tagtäglich nötig sind, um einen derartigen Riesen zu ernähren, so kann man sich eine Vorstellung machen, in welcher Zahl sie im Ozean enthalten sein müssen. Sie machen das Polarmeer oft auf meilenweite Entfernung mißfarbig, und das sogenannte „schwarze Wasser“ wird aus naheliegenden Gründen von den Walfischfängern besonders gerne aufgesucht.

Die Holländer haben seiner Zeit jeden Sommer zu Hunderten dieser kostbaren Tiere erlegt, also buchstäblich Gold aus dem Meere gehoben. Genaue Zahlen aus jener Zeit sind mir nicht bekannt; dagegen erfuhr ich, daß eine amerikanische Walfischfanggesellschaft noch 1858 eine Jagdbeute von 20 Millionen Mark gemacht hat, und daß in den letzten Jahren von den verschiedenen norwegischen Walfischstationen (die wegen des entsetzlichen Gestankes, den die verwesenden Reste der Riesenleiber ausströmen, alle auf Inseln oder von menschlichen Ansiedelungen entfernten Küsten sich befinden) durchschnittlich 2 bis 3Millionen Mark per Jahr und per Station umgesetzt wurden.

Auch hier an der Küste der Adventbay trafen wir allerlei Ueberreste von Walfischleibern, unter anderm riesige, von der Sonne gebleichte Rücken-Wirbel, deren einer ein ganz respektables Gewicht repräsentierte.

Der Grönlandwal ist, wie oben erwähnt, in den Gewässern Norwegens und Spitzbergens fast ganz ausgestorben und in die vom Eise verbarrikadierten Zonen des höchsten Polarmeeres vertrieben. Die Arten, die dort noch gejagt werden, sind: der massige und wertvolle Blauwal, der Finnwal, das längste Tier der Erde, bis 100 Fuß lang, aber bedeutend schlanker als der Grönwal, und einige kleinere Walarten, alles sogenannte Furchenwale, weil ihre Bauchhaut im Gegensatz zum grönländischen Wale in Längsfurchen gelegt ist. Der Schrift von Georg Wegener entnehme ich, daß es auch eine Walart mit Zähnen giebt, von den Seeleuten „Speckhugger“ genannt, weil sie, nach berühmten Mustern, zu mehreren vereint ihre größten Vettern angreifen und große Stücke Speck aus ihrem Leibe herausreißen. Es sind Kämpfe beobachtet worden, bei welchen der geängstigte Großkapitalist in seiner Not weit über das Wasser hinaussprang, ohne das er die fest an seinem Bauche hängenden Schmarotzer abschütteln konnte.

Die Jagd auf Wale ist vier Seemeilen von der Küste entfernt für jedermann frei; dagegen darf die Verwertung der Beute nur auf norwegischem Gebiete stattfinden, weshalb ausländische Fänger nur im Dienste einer norwegischen Gesellschaft fischen dürfen oder aber einerAktiengesellschaft angehören müssen, die auch Norweger zu ihren Mitgliedern zählt.

In frühern Zeiten war der Walfischfang ein Geschäft voll Romantik und Gefahr. Auf ausgesetztem kleinem Ruderboote mußte man sich dem Tiere so weit zu nähern suchen, daß der Harpunier ihm den Widerhaken in den Leib schleudern konnte; da galt es denn, im gleichen Momente das Boot aus dem Bereiche der Schwanzflossenschläge des wütenden Tieres zu bringen, und nachher kamen die kritischen Minuten, wo der davonrasende verwundete Wal durch Abwickeln der Harpunenleine das Boot in Gefahr brachte. Oftmals hat eine Störung des blitzschnellen Ablaufes der Rolle Schiff und Leute in die Tiefe gerissen. Heutzutage bedient man sich zum Walfischfange jener kleinen Dampfboote, deren wir eines vor Hammerfest gekreuzt hatten. Es sind eiserne Dampfer von 70-80 Fuß Länge, die äußerst schnell fahren und am Bug eine drehbare Kanone tragen. Die Harpune, welche dieses Feuerrohr schleudert, ist an langer Leine am Schiff befestigt und enthält in ihrem Kopfe ein Sprenggeschoß, das im Momente des Eindringens in den Walfischkörper explodiert und lange Widerhaken hervorschnellen läßt; das furchtbar verwundete Tier schießt mit der Geschwindigkeit eines Blitzzuges in die Tiefe — gefolgt von der rasch sich abwickelnden Leine, kommt aber bald wieder zum Vorschein, um zu atmen oder aber — bereits verendet. Der Todeskampf ist zuweilen so furchtbar, daß er die ganze See in Aufruhr bringt. Mit Jubel wird es begrüßt, wenn das Tier nach dem Harpunenschuß Blut bläst, „die rote Flaggezeigt“; das bedeutet eine ganz rasch tödliche Verletzung von Herz und Lungen.

Es giebt wohl kein Tier, das für die Erforschung unserer Erde eine solche Rolle gespielt hat, wie der Walfisch. Seinen Spuren folgend drangen Walfischfänger schon in frühen Jahrhunderten bis in die nördlichen Meere, und lange vor Kolumbus haben baskische und normannische Walfischer den Weg nach Amerika zurückgelegt.

Dekor

„Malerische Gruppe“. — Beutezug an der Küste. — Fischerzelt. — Die Yacht des italienischen Kronprinzen. — Hotel Spitzbergen.

Unterdessen hatte sich der größte Teil der Schiffspassagiere ans Land gemacht, und wir bemerkten aus der Entfernung, wie sie sich zu einem Zuge ordneten, voraus einige Matrosen mit der deutschen, der amerikanischen und der Hamburger Flagge, dann die Schiffsoffiziere und die Musik; unter klingendem Spiele bewegte sich der Gewalthaufen landeinwärts. Da giebt’s was zu sehen; also im Trab über Stock und Stein und quatschende Pfützen, die Hände voll friedlichen Raubs: Pflanzen, Knochen und Steine, in der rechten die flatternde Schweizerfahne!

Vor einer sachten Erhebung machte der aus allen denkbaren Kostümen und Toiletten zusammengesetzte Zug Halt, und es wurde zu den vorjährigen Gedenkzeichen der Anwesenheit der „Auguste Viktoria“ auf Spitzbergen ein neues gesetzt, eine hübsch ausgestattete eiserne Tafel mit der Inschrift: „S. S. Auguste Viktoria, Hamburg; 12. Juli 1899.“ Ueber der Tafel thronte ein SchildHAmitP, getragen von einem Schiffsanker. Das GanzeAGwurde auf einem eisernen Stativ in den Boden gestoßen, mit Steinen malerisch blockiert und von den Matrosen mit Moosplatten und Blumen dekoriert. Unter dem Klange der verschiedenen Nationalhymnen (n. b.das „Rufst du mein Vaterland“ der Schweizerkehlen ging in dem „Heil dir im Siegeskranz“ nicht etwa unter; denn die Eidgenossen stunden, wie in der Schlacht bei Sempach, dicht beisammen) und Schwenken der Banner erhielt das Wahrzeichen unserer Nordlandsfahrt seine Weihe. Dann ordnete man sich (es war in der Person des Herrn Dreesen aus Flensburg ein vortrefflicher und weltbekannter Berufs-Photograph anwesend) zu einer „malerischen Gruppe“, um durch die nordische Sonne sich verewigen zu lassen. Ahnungslos stunden wir mit unserm Schweizerfähnlein in vorderer Reihe. „Die Flagge muss wech!“ rief’s aus der Hinterphalanx — nicht etwa aus Animosität gegen das weiße Kreuz im roten Feld, sondern weil der Reklamant mit Recht es sich verbitten konnte, daß seine Gesichtszüge durch ein Stück — wenn auch noch so patriotisch flatternden — Tuches zugedeckt würden. Wir marschierten also unverwundet in die hinterste Reihe; von dort her aber fällt die hochgehaltene Schweizerfahne auf der gelungenen Photographie zu allererst in die Augen: in der Mitte der Fähnrich, vor ihm die beiden getreuen Lebensgefährtinnen, rechts und links als Stützen des Vaterlandes Papa Laroche und Professor Böhringer.

Da wurde dann gleich die patriotische Erregung weiter ausgeschmiedet: Im Glockensund wollten wir am folgenden Tage offiziell das eidgenössische Banner aufpflanzen und von dem Lande für Mutter Helvetia Besitz ergreifen; Professor B. übernahm die Festrede, und Papa L. wurde einstimmig zum Admiral der schweizerischen Marine ernannt. In das schöne Projekt fieleinbitterer Tropfen: Die Flasche Sonnenberger-Thurgauer war bis auf die Nagelprobe geleert; wir hatten „keine zweite zu versenden“, und für den Festredner und den Admiral blieb als einziger bescheidener Genuß das Riechen an der leeren Flasche, deren Duft aber noch genügte, ihre Züge freundlich zu verklären. Ein tückischer Polarnebel hat aber den Plan vereitelt und damit auch die Gefahr einer politischen Intervention des übrigen Europas abgewendet.

Nachdem die Zehntels-Sekunde Ruhe und freundliches Lächeln, welche der Photograph verlangt hatte, glücklich überstanden war, zerstreute sich das Volk nach allen Richtungen, und bald bot das fremdartige Gelände ein recht malerisches und bewegtes Bild: Ueberall kleinere Gruppen von entzückten Blumensammlern, da und dort ein blutdürstiger Jäger zum Schuß bereit, an allen Ecken Amateurphotographen männlichen, namentlich aber weiblichen und sogar sächlichen Geschlechts. Einzelne, vorab die Schiffsbemannung, stürmten, ohne Rücksicht auf bodenlosen Sumpf, landeinwärts und bergaufwärts, und männiglich kehrte mit zusammengelesenen Rentiergeweihen und andern Raritäten zurück. Einen Bären brachte Keiner; auch die größten Blagueure mußtengestehen, keinen solchen, nicht einmal von weitem, erblickt oder gewittert zu haben. Auch das ersehnte Walroß ließ sich nirgends sehen.

Wir begnügten uns mit dem leicht Erreichbaren, und unser Schatz wuchs zusehends. Abgesehen von reizenden Pflanzen erbeuteten wir seltene Mineralien, Steinkohlen, prächtige Versteinerungen von Kryptogamen und allerlei Blattpflanzen. Dann erregte unser Interesse die Menge und Verschiedenartigkeit des herumliegenden Treibholzes; teilweise zeigte sich dasselbe bearbeitet, entstammte also Fahrzeugen, die vielleicht in Westindien Schiffbruch gelitten hatten und deren Fragmente durch den Golfstrom hieher geführt worden waren. Andere Stücke entpuppten sich als Lerchen- und Erlenholz, und ich ließ mir erzählen, daß an der Ostküste Spitzbergens erstaunliche Mengen dieser Stämme mit Regelmäßigkeit angeschwemmt werden und oft ganze Buchten ausfüllen. Sie wurzelten einst in dem großen sibirischen Stromgebiete, wurden durch die im Sommer hochanschwellenden Gewässer ihrem Stammorte entführt, ins Meer geschwemmt und gelangten mit dem Polarstrom endlich an Spitzbergens eisumgürtete Küste. Es ist ja bekannt, daß diese Treibhölzer den Bewohnern der baumlosen Gegenden Grönlands, Islands — überhaupt der Polarländer — seit Jahrhunderten ihr Nutz- und Brennholz liefern, und die Kenntnis der arktischen Meere und ihrer Strömungen ist nicht zum mindesten durch das großartige Phänomen des Treibholzes erweitert worden.

Eine überaus interessante Thatsache ist es, daß man in Spitzbergen oft stundenweit im Innern und auf beträchtlicherHöhe über dem Meeresspiegel, zu welcher die größte Springflut niemals gelangen kann, Treibholz und Walfischknochen findet. Daraus zieht man den Schluß, daß im Laufe der Jahrhunderte entweder das Land sich gehoben oder das Meer sich gesenkt haben muß. Diese Niveauveränderung wird auch in Skandinavien beobachtet. Eingehauene Klippenzeichen haben sich innert 40 Jahren um nahezu 50 Centimeter gehoben, und eiserne Ringe, die vor vielen Jahren zum Anbinden der Kähne dienten und welche durch einen umgemalten weißen Kreis weithin sichtbar gemacht sind, stehen jetzt so hoch, daß sie nicht mehr gebraucht werden können. Da man die alten Strandlinien weder unter sich, noch mit dem Meeresspiegel parallel findet, wird eher an eine Bodenerhebung, als an ein Sinken der Wasserfläche zu denken sein.

Einige der von mir gesammelten Treibholzstücke mögen seit Jahrhunderten dort gelegen haben, ohne zu faulen; ihr Volumen ist unverändert, und die Holzfaserung ist deutlich zu sehen; aber man glaubt zuerst, ein hellesMineralzu finden, und ist erstaunt über das geringe, jedenfalls noch unter demjenigen des Korkholzes stehende spezifische Gewicht. Auch Ueberreste von Tieren schleppten wir mit, unter anderm einen Rentierschädel, in dessen Höhlungen sich allerlei arktische Moose und Blütenpflänzchen angesiedelt hatten; dann Mövenflügel, Knochen, Geweihe und andere Herrlichkeiten mehr.

Es war sehr unterhaltend, nachher an Bord die vom Lande her Zurückkehrenden zu beobachten; die unglaublichsten Dinge wurden hergebracht, und in mancher Kabine sah es gegen das Ende der Fahrt, namentlichals in Tromsö die Lappen ihre duftenden Gegenstände noch an den Mann und die Frau gebracht hatten, aus wie in einem Naturalienkabinett; auch die Atmosphäre stimmte, und ich will hier verraten, daß verschiedene Passagiere einige von ihren mit Stolz gezeigten und mit Liebe geborgenen Trophäen — des zunehmenden Aromas halber — nächtlicher Weise dem verschwiegenen Ozean anvertrauten. Das Aroma aber blieb, wie das Phlegma beim Spiritus.

Einen besondern Anziehungspunkt bildete die kleine Ansiedlung der norwegischen Fischerfamilie, welche im hölzernen Touristenhaus der Vesteraalen-Dampfschiffgesellschaft überwintert, nun aber ihre Zelte bezogen hatte und eifrig der Jagd oblag. Ihre edelste Beute war ein Eisbär, dessen Pelz samt Kopf sie zur Konservierung der Haare in ein Faß mit Salzlauge gesteckt hatten. 180 Kronen d. h. zirka 250 Franken sollte das Prachtstück kosten (in Bergen wurde für einen ausgearbeiteten Pelz gleicher Größe das 2½fache verlangt), und um 150 Kronen erstand es schließlich ein Herr kurz vor der Abfahrt der „Auguste Viktoria“, von Vielen beneidet um den Kauf, zu dem sie die Courage nicht gehabt hatten. Da wiederholte sich dann die Geschichte vom Fuchs und den sauren Trauben; „die Farbe des Pelzes war nicht schön; wahrscheinlich ließen die Haare sehr bald; das Ausmachen würde ein Heidengeld kosten“ etc. etc. „„Aber ein Esel war ich doch, daß ich den Prachtskerl nicht gekauft habe; so ’n Fell! und dazu direkt ab Spitzbergen!““ meinte ein Ehrlicher.

So lange der Eisbär keinen festen Besitzer hatte,wurde er gehörig ausgenützt. Die zartesten Damen ließen sich an der Seite des grausamen Tieres, dessen Kopf allerdings kaum mehr blutdürstig aus der Salzlauge hervorguckte, photographieren. Einige von Photograph Dreesen arrangierte Gruppen vor der Fischerhütte, inmitten der mannigfachen Beute um den mächtigen Kopf des nordischen Eiskönigs gelagert und durch die schlichten Fischersleute verstärkt, verdienten das Attribut malerisch im höchsten Grade.

Als wir wissensdurstige (neugierige?) Schweizer unsere Köpfe ins Innere des Hauptzeltes steckten, lagen die Männer noch schnarchend unter ihren Fellen am Boden, während die Frauen und ein zirka sechsjähriges Kind sehr munter die vielen Fremdlinge musterten. Der Haus- und Familienhund — ein langhaariger Spitz — hatte längst das Weite gesucht; auf zirka 200 Meter Distanz bellte er die „Auguste Viktoria“ und ihre am Land promenierenden Insaßen an und beantwortete jeden Lockruf und jede Annäherung damit, daß er davon und wie verrückt in weiten Kreisen herumrannte.

Das niedrige Zelt enthielt außer den Schlaflagern die unerläßlichsten Haushaltungs- und Küchengegenstände; neben der Kaffeemühle thronte eine Guitarre, die wohl einst die mehrmonatliche Polarnacht kürzen half. Wie melancholisch mögen ihre Saiten in die nordlichtdämmernde Eiswüste hinausgeklungen und was werden sich die lauschenden Bären und Blaufüchse dabei gedacht haben!

Unterdessen erhoben sich auch die Väter des Fischerzeltes und eröffneten sofort einen kleinen Markt; außer der mannigfachen Jagdbeute: kostbaren Fuchsbälgen — bis100 Kronen pro Stück gewertet — Rentier- und Robbenfellen und Geweihen, getrockneten und frischen Fischen und Vögeln aller Arten wurden namentlich auch sehr schöne Versteinerungen feilgeboten, welche sie bei Jagdstreifzügen in den nächstliegenden Thälern und Gebirgsstöcken gesammelt hatten.

Einige Säcke voll Eiderdaunen stunden verkaufsbereit, jener feinsten Flaumfedern, mit welchen die Eidergänse ihre Brutnester dicht und warm polstern und welche ihnen von den Sammlern unter dem Leibe und den Eiern weggeraubt werden, meist mit samt einem Teil der letztern. Ich beobachtete eben einen originellen Handel, den der eine unserer norwegischen Lotsen abschloß, als Hochzeitsgeschenk für seine drei im kommenden Monat gleichzeitig sich verheiratenden Töchter, wie er mir sagte. Die zwei Fischer offerierten ihm einen mit Eiderdaunen vollgestopften Sack zu 50 Mark. Das Gewicht taxierten sie — da eine Wage fehlte — aus freier Schätzung auf 50 Kilo, „Wägung vorbehalten“. Der Käufer bezweifelte die Richtigkeit der Taxation, und als ich, als Unparteiischer darum ersucht, die Last auf höchstens 40 Kilo schätzte, wurde ohne weiteres von den FischerndiesesGewicht in Rechnung gesetzt und der Preis auf 40 Mark reduziert. Der Käufer machte ein gutes Geschäft. Beim Reinigen der Daunen gehen allerdings fast zwei Drittel verloren, so daß ihn schließlich — die Reinigungsspesen mitberücksichtigt — das Kilo auf 4 Mark zu stehen kommen wird. Aber schon in Tromsoe bezahlt man 36 Mark pro Kilo, und weiter südwärts sind die Preise noch höher. Alles in allem wird also der Vater seinen Töchtern je einGeschenk im Werte von 180 Mark machen, für welches er nur 20 Mark zu bezahlen brauchte.

Gegen Abend — als wir schon die Hauptmahlzeit hinter uns hatten — also zirka 9 Uhr, tauchte plötzlich eine Yacht auf, die vom Eisfjord her sich unserer Bay näherte. Wer mochte das sein? Bald erkannte das Auge des Kapitäns die italienische Flagge und signalisierte den Kronprinzen von Italien mit Gemahlin und Gefolge. Rasch wanderte das grüßende Flaggenzeichen auf die Mastspitze; die Kapelle erhielt Ordre, die königlichen Gäste anzublasen und sich zur Empfangshymne bereit zu stellen, und — was Beine hatte — stund auf Promenadendeck, um die Ankömmlinge zu sehen. Jetzt — ein mächtig widerhallender Salutschuß. Die kronprinzliche Yacht ist in unmittelbarer Nähe und beginnt grüßend unsern Schiffskoloß zu umkreisen. In diesem Moment intoniert unsere wackere Schiffskapelle im Bewußtsein, ganz das Richtige getroffen zu haben — den Garibaldimarsch. Potz Wetter, gab das eine Aufregung! Der erste Schiffsoffizier kam im Galopp gerannt und benannte den Kapellmeister mit dem obersten Bestandteil einer nützlichen und sonst harmlosen zoologischen Spezies; die Harmonien brachen bei dem zirka siebenten Takte jäh ab und „es kam umgehend zum Vortrag“ die regelrechte königlich italienische Nationalhymne. Ob der Kronprinz den Lapsus bemerkt, weiß ich nicht; eingedenk der guten Freundschaft zwischen seinem Großvater und dem Manne, der ihm die Krone brachte, Garibaldi, hätte er sich jedenfalls nicht darüber zu ärgern brauchen.

Neben der Junogestalt seiner montenegrinischen Gattinsah der kleinere und schwächliche italienische Thronfolger nicht gerade imponierend aus. In dem gebrechlichen Körper soll aber, wie zuverlässige italienische Berichterstatter uns sagten, ein feingebildeter Geist und trefflicher Charakter wohnen.

Yacht des Kronprinzen von Italien vor SpitzbergenYacht des Kronprinzen von Italien vor Spitzbergen.

Yacht des Kronprinzen von Italien vor Spitzbergen.

Yacht des Kronprinzen von Italien vor Spitzbergen.

Die Yacht war — nachdem sie dem Herzog der Abruzzen das Geleit gegeben — hieher gekommen, um wo möglich Proviant aufzunehmen; da das Adventbayunterkunftshaus aber noch leer stund, mußte sie unverrichteter Sache weiterfahren. Selbstverständlich hatte es sich unser italienische Fürst nicht nehmen lassen, die königlichen Hoheiten rasch an Bord ihres Fahrzeuges zubesuchen. Dreimal umkreiste dasselbe unsere stolze „Auguste Viktoria“; dann richtete es seinen Kurs unter gegenseitigem Winken und Tücherwehen und Abschiedsrufen nach Süden.

Als Nansen am 26. Juli 1896 nach dreijähriger Abwesenheit im Polareise auf Franz Josephsland zum erstenmal wieder mit Menschen zusammentraf, erfüllte ihn keine aus der Heimat eingehende Nachricht mit solchem Staunen, wie die Kunde von dem Touristenhotel, welches die Vesteraalen-Dampfergesellschaft auf Spitzbergen errichtet hatte. Es war auch wirklich einefin de siècle-That, in dem einsamen nordischen Inselreiche, das bisher nur von Walfischfängern und Nordpolfahrern berührt worden, ein Unterkunftshaus für Touristen zu schaffen, dasselbe während der zwei Sommermonate durch regelmäßigen zehntägigen Dampferverkehr mit dem norwegischen Festlande zu verbinden und sogar — ein Postamt, natürlich mit Ansichtspostkarten, daselbst zu installieren. Kommandant des zwischen Spitzbergen und Hammerfest zirkulierenden Dampfers ist Otto Sverdrup, der berühmte Kapitän der „Fram“ Nansens; als Wirt auf Spitzbergen funktioniert jener Bernt Bentsen, welcher von Nansen seinerzeit noch in letzter Stunde vor Abfahrt der „Fram“ in Tromsoe für die Nordpolexpedition angeworben war. Sportsleute haben nun Gelegenheit, mit Retourbillet nach Spitzbergen zu fahren und nach Belieben einige Wochen in der Adventbay zu verweilen. Alles zur Meer- und Küstenjagd Notwendige steht dort zu ihrer Verfügung, und für 10 Kronen (zirka 14 Franken) per Tag finden sie in dem „Hotel“ reichliche und gute Verpflegung und Unterkunft.

Wie schon gemeldet, war die Bude während unserer Anwesenheit noch geschlossen, da der Dampfer, welcher Wirt und Proviant und die ganze Installation bringen sollte, das blockierende Eis nicht zu durchdringen vermochte. Die Gesellschaft hat allen Grund, dies zu bedauern; denn die 350 Passagiere der „Auguste Viktoria“, von den durstigen Musikanten und Schiffsleuten nicht zu sprechen, hätten ihr eine reiche Einnahme gesichert. Einen Schoppen auf Spitzbergen hätte jeder getrunken und der Rarität halber wohl auch ein bißchen Walfischragout oder Ähnliches gekostet.

Das kleine Hotel macht, aus der Nähe gesehen, einen ganz freundlichen Eindruck; es ist ein einstöckiges Holzhaus im Chaletstil mit geräumiger Veranda. An ein größeres Speisezimmer mit Wiener Sesseln reihen sich beidseitig kleine schmucklose Schlafräume an mit je 4-6 nach Art der Schiffskojen übereinander angebrachten Holzpritschen. Ein Miniatureckzimmerchen war, wie einzelne rudimentäre Utensilien erkennen ließen, Postoffice und „Schreibsalon“. Sogar ein halbvollendeter norwegischer Brief lag auf dem tintenbeklexten Löschpapier.

Wir umstöberten das einsame Haus wie Einbrecher, probierten jede Klinke, suchten jeden Laden, dessen Jalousien dürftigen Einblick gewährte, zu öffnen, und einige junge Amerikaner erstiegen unter Führung des Schiffsposthalters sogar das Dach, von wo sie sich Eingang verschaffen konnten. Ihre Beute waren einige sehr leere Champagner- und Bierflaschen.

Zum Schlusse postierten sich die 10 Mitglieder unserer Tischgesellschaft möglichst malerisch auf der Veranda undließen sich, um ein bleibendes Andenken an den mehrwöchentlichen gemütlichen Verkehr auf der „Auguste Viktoria“ zu haben, photographieren. Der Zahlmeister des Schiffes — gar nicht unser Freund — hatte die Unverfrorenheit, sich uneingeladen der Gruppe auch einzuverleiben; wir rächten uns dadurch, daß wir beschlossen, den gutgenährten, etwas protzigen Herrn in Uniform auf unserm Bilde als — Hotelportier zu deklarieren.

Hotel Adventbay (Spitzbergen)Hotel Adventbay (Spitzbergen).

Hotel Adventbay (Spitzbergen).

Hotel Adventbay (Spitzbergen).

Die ganze Nacht — sie war ja taghell, flogen die Dampfbarkassen zwischen Schiff und Küste hin und her. Immer wieder zog’s einen ans Land, um nochmals die Wunder der nordischen Blütenwelt aus der Nähe zu sehen oder noch irgend etwas Interessantes zu erleben oder zu erbeuten.

Und an Bord herrschte die allerbeste Stimmung. Die sonnige Nacht war so lau, daß man ohne Überzieher auf Deck lustwandeln oder bequem ausgestreckt die wunderbare Szenerie genießen konnte. Mit überraschender Schärfe stachen die Konturen der Gebirge und Firnfelder gegen den blauen Himmel ab, und die auf der Uferlandschaftnoch herumkrabbelnden Touristlein sah man in all’ ihren Bewegungen lächerlich deutlich. Der Kontrast zwischen der Eintagsfliege Mensch und den grandiosen Marksteinen der Ewigkeit ist mir kaum je so zum Bewußtsein gekommen.

Zu Bett mochte niemand; das erhebende Gefühl, glücklich am Endziel der Fahrt angelangt zu sein, und eine Flut ganz neuer, ungeahnter Eindrücke verscheuchte allen Schlaf. Im Biersalon wurde — ohne Respekt vor der Polizeistunde — stramm konzertiert; nach Mitternacht zog’s auch uns solide Naturkneiper noch zu Pschorr und belegten Brötchen, und wir erwischten als Zugemüse gerade noch den geistreichen Berliner-Walzer: „Ist denn kein Stuhl da, Stuhl da, Stuhl da für meine Hulda, Hulda, Hulda?“, der von der ganzen fröhlichen Gesellschaft — in allen Stimmlagen und Geschlechtern — gleichviel ob leer der Mund oder proviantvoll — mit der nötigen Inbrunst mitgesungen wurde.

Endlich gab’s Ruhe und Frieden; der größte Teil der Menschheit schlief, unbekümmert um die nachtschwärmenden Ausnahmen, und erwachte erst, als andern Morgens in aller Frühe die Ankerkette rasselte und unser Meerriese wieder zu atmen und sich zu recken begann.

Dekor

Abfahrt aus der Adventbay. — Polarnebel. — Seekrankheit. — Herrliche Einfahrt in den Fjord von Tromsoe.

Der Morgen des 13. Juli war nicht von tadelloser Schönheit. Nebel und Wolken verhüllten den größern Teil der majestätischen Gebirgs- und Gletscherlandschaft; aber das Gewölk war in Bewegung und wer während der Ausfahrt aus dem Eisfjord auf Deck stund und rückwärts schaute, konnte abteilungsweise nochmals alle die Herrlichkeiten genießen, welche sich tags zuvor ihm eingeprägt hatten. Bald erschien ein imposanter schneebedeckter Gebirgsstock in der Wolkenlücke, bald ein sonnenglänzender Gletscher, dessen Ende nicht abzusehen war, bald ein grünender, schneefleckiger Abhang, und oft glaubte man, die Strahlen der Sonne müßten im nächsten Augenblicke den Schleier zerreißen, der über der nordischen Landschaft hing. Aber wenn eben die Konturen erscheinen wollten und man im Begriff war, das malerische Gesamtbild der Küste Spitzbergens nochmals in sich aufzunehmen, so verschwand es wieder in dem neckischen Naturspiel, und man mußte zufrieden sein, in irgend einem Teile des Gesichtsfeldes ein kleines Stück Welt zu erblicken.

Je mehr wir uns dem offenen Meere näherten, desto dichter wurden Gewölk und Nebel; schließlich sah man kaum mehr zehn Schritte vorwärts; der Nachbar auf Deck erschien, auch wenn man fast Schulter an Schulter mit ihm stund, in ziemlicher Entfernung, und man konversierte wie Schwerhörige oder durch Hauslängen Getrennte.

Vom Kapitän erging der Befehl, die wasserdichte Schotte zu schließen und die Rettungsboote klar zu machen. Dann ertönte jede Minute das schreckliche Getöse des Nebelhorns. Diese Maßregeln hatten für Nervöse und Zaghafte etwas Beunruhigendes; dem ruhig Überlegenden gaben sie ein Gefühl von Sicherheit. Immerhin mag da und dort einer die Querschotte zum Kuckuck gewünscht haben, wenn er — vielleicht in sehr pressanten Geschäften — von seiner Kabine aus eine kleine Exkursion unternehmen wollte und die altgewohnten Wege plötzlich durch eine eiserne Wand verrammelt sah.

Langsam, langsam durchschnitt unser Schiff Nebel und Wellen; Kapitän und Lotsen verließen die Kommandobrücke nie, und auf jedem Auslugposten spähte ein Matrose in die graue Ungewißheit hinaus. Das Bewußtsein, möglicherweise in unmittelbarer Nähe der Yacht des italienischen Kronprinzen zu sein und sie gelegentlich anzurennen, mag wohl die Aufmerksamkeit und Vorsicht noch vermehrt haben.

Nach 2 Uhr mußten wir auf der Höhe des Bellsund sein, in den wir einlaufen sollten. Das war nun allerdings in dem Nebel eine absolute Unmöglichkeit. Der Kapitän ließ anhalten; in fast lautloser Stille, welchenur das grauenhafte Heulen des Nebelhorns unterbrach, hob und senkte sich unser mächtiges Schiff auf der nebelbedeckten Flut und in gespannter Erwartung harrten wir des Momentes, wo der Nebel zerreißen und wir die Riesengletscher des Glockensundes erblicken könnten. Aber er kam nicht und nach 1½-stündigem Warten meldete ein Anschlag, „daß ein Anlaufen des Bellsundes leider unmöglich sei und die Fahrt nach Tromsoe fortgesetzt werden müsse.“ Dann begann wieder das rhythmische Geräusch der Maschinen; unser Schiff drehte nach Süden und wir schwenkten die Hüte und riefen dem naheliegenden, aber unsichtbaren Spitzbergen unser Lebewohl zu — alle, trotz der Enttäuschung, in ganz vergnügter Stimmung, nach und nach sogar Professor B., der doch seine zweifellos schöne, für den Bellsund bestimmte Schützenfestrede nicht hatte ablassen können.

Der Nebel wich nicht bis zum späten Abend, und wir fuhren nur mit halber Geschwindigkeit, die übrigens, um Kohlen zu sparen, bis Tromsoe beibehalten wurde, auch nachdem die Welt wieder durchsichtig geworden war. Auf Deck blieb noch alles vollzählig, während die Reihen an der Tafel bedenkliche Lücken aufwiesen. Das Drama, blaß und angstschweißtriefend mit zugehaltenem Munde plötzlich bei der besten Nummer des Menus vom Tische aufzustehen und — von hundert mitleidlosen Augenpaaren verfolgt — hinauszuwanken, mochten Vorsichtige nicht riskieren; wenn man zu spät kommt, ist’s für alle Beteiligten unangenehm. Aber auch unter den Tapfern, die mutig vor ihrem beladenen Teller saßen, gab’s einige Opfer, und ich sah k. k. höhere Staatsbeamte, deren sonstblühende Gesichtsfarbe wachsbleich geworden und deren Gangart beim plötzlichen Verlassen des Speisesaales von ihrer gewohnten Gravität auffallend eingebüßt hatte. Oben schimpften sie dann über das elende Sodawasser, mit dem sie sich gestern den Magen verdorben hätten.

Probiert wurde wohl alles gegen die Seekrankheit: Fasten, wenig essen und trinken, viel essen und trinken (das zuletzt genannte Verfahren fand die meisten Liebhaber), Tropfen, Zeltli, Pulver, Cognac, Sekt etc., und eine Lady schützte sich gegen den gefürchteten Zustand durch das Aufsetzen einer — dunkelroten Brille. Die Sache ist nicht so ganz widersinnig, als sie auf den ersten Blick aussieht. Der Ausgangspunkt der Krankheit ist das Gehirn, nicht der Magen, und es mag wohl sein, daß die Eintrittspforten des Gesichtsorganes dabei eine wichtige Rolle spielen. Wenigstens erleichtert das Schließen der Augen die Pein um etwas. Geistige Ablenkung thut auch gut; die Skater und Jasser brauchten keine „Brechschüsseln“, und eine Dame, die der Krankheit sehr unterworfen ist, erzählte mir, daß sie und ihr Mann vollständig gefeit die Fahrt über das sehr stürmische mittelländische Meer gemacht hätten, nachdem sie bei der Ausfahrt aus Alexandrien zu ihrem großen und nachhaltigen Schrecken die Thatsache entdeckt, daß ihnen eine Tasche mit 6000 Franken in Gold beim Einbooten gestohlen worden war.

Unser Trio blieb vorläufig gesund — meine Wenigkeit für alle Zeiten — und nach Tisch musterte ich fröhlich rauchend die verschiedenen Situationen auf dem Promenadendeck. Wie zum Hohne spielte die Kapelle einenStraußwalzer: Wein, Weib und Gesang: „Was soll die Angst, was soll die Pein?“ Diese Reminiscenz an das letzte Konzert des Oratorien-Gesang-Vereins im neuen Saale des Hotels Bahnhof trieb dem Präses fast das Wasser in die Augen.

Am heutigen Abend stieg nun allerdings jeder und jede sehr rasch in die Klappe; das Meer wurde recht unangenehm, und von Schlafen war nicht die Rede. Geächz rechts und links und gegenüber in den Kabinen, und noch prägnantere Geräusche bildeten die musikalische Unterhaltung. MeinVis-à-vis— ein strammer Rittmeister — wurde als hülflose Jammergestalt von dem braven Steward zu Bett gebracht und mit wahrhaft mütterlicher Sorgfalt und Ratschlägen zugedeckt: „So jetzt legen Sie sich ’mal steif auf den Rücken, den Kopf tief und schließen Sie die Augen und schnaufen Sie, was das Zeug hält, und wenn’s was gibt, so ist hier gleich beim Kopfende ein Aschenbecher.“ Von dieser Form sind die blechernen Behälter, welche die vorsorgliche „Auguste Viktoria“ ihren Gästen bei zweifelhaften Zuständen empfangsbereit an das Schmerzenslager steckt.

Na nu! Das Ding wird aber ungemütlich! Das hob sich und senkte sich und legte sich ein bißchen nach rechts und ein bißchen nach links, bald der Vorsteven höher, bald der Hintersteven, und hie und da hatte man die schwer zu beschreibende Empfindung, als ob alle Bewegungen auf einmal sich vollzögen und im Innern des Körpers die entsprechende spiralige Verkrümmung der Seele hervorriefen. Sogar meine hinter den Spiegel gesteckte Schweizerfahne verlor das Gleichgewicht und fiel nach Mitternacht mit Gepolter zu Boden.

Frühzeitig und gerne verließ man seine Lagerstätte, an deren Holzwerk sich bald die rechten, bald die linken Rippen gescheuert hatten, und bestieg etwas gerädert das Deck, wo’s wenigstens herrlich frische Luft gab und das wiederholte Schauspiel spritzender Wale. Das Wetter hatte sich gebessert. Der Nebel war ganz gewichen; richtiger — wir waren indessen in nebelfreie südlichere Breiten gekommen. Spitzbergen selbst mag noch länger in seinem undurchsichtigen und kalten Gewand gesteckt haben.

Unsere Kapelle blies zu ungewohnter Stunde — schon vor dem ersten Frühstück — eine choralartige Melodie; darüber befragt, gab unser überaus höfliche und deshalb eine Antwort nie versagende Tischsteward die Auskunft, es sei heute deutscher Buß-, Dank- und Bettag. Unsere darauf eingestellte Stimmung geriet aber ins Wanken, sobald als Nr. 2 des musikalischen Programmes „die Holzauk’tschon im Grunewald“ ertönte, und der nie verlegene Kellner berichtigte dann sofort den Buß- und Bettag in das Geburtsfest Wanamakers, welchem die Kapelle ein Ständchen brachte, und das stimmte denn auch.

Gegen Abend waren wir schon wieder im Bereich der norwegischen Schären und glitten ruhig und bei herrlichstem klarem Himmel durch die spiegelglatten Fluten, jeden Augenblick durch ein neues Landschaftsbild entzückt. Alles war wieder gesund und vergnügt. Wir schienen innert Tagesfrist in eine ganz andere Welt versetzt. Das Schauspiel der Mitternachtssonne erlebten wir hier in einer Pracht, wie es wohl Nordlandsfahrern selten so zuteil wird. Solche Farbengluten hatte ich nie zuvor gesehen, und wenn man im Übermaß des Entzückens das Allerschönste zu sehen und zu genießen glaubte, so brachte eine Wendung des Schiffes — eine Biegung um eine Landzunge — das vorher Unglaubliche — eine nochmalige Steigerung der prachtvollen Szenerie. Die photographischen Apparate waren die ganze Nacht in Thätigkeit und einzelne Passagiergruppen ließen sich der Kuriosität halber beim Glanze der Mitternachtssonne abkonterfeien.

Bis halb 3 Uhr saßen und stunden wir dann, ein weihevoll, ja dieser göttlichen Naturoffenbarung gegenüber fromm gestimmtes Volk, dicht gedrängt auf dem Vorderdeck und ließen die Wunder Gottes an uns vorüberziehen. Die nach Tromsoe leitenden Fjords zeigen saftig grüne Ufer am Fuße schnee- und gletschergekrönter, steilaufsteigender Berginseln; ab und zu erblickt man eine menschliche Niederlassung, eine kleine freundliche Kirche, umgeben von Fischerhütten. Trotz der vorgerückten Stunde war das Wasser sehr belebt. Malerische Segler, Fischerboote kreuzten, während die Insassen die Netze auswarfen. Einmal grüßten wir auch einen Walfischdampfer, und wo das Ufer bewohnt war, nahten sich kleine Kähne mit neugierigen Mädchen unserm langsam und ruhig dahingleitenden Riesen. — Diese kleinen Fahrzeuge sind nach Art der Wikingerschiffe vorn und hinten hoch aufgebaut und gewähren, namentlich wenn bunt gekleidete Norwegerinnen am Ruder und Steuer sitzen, einen äußerst malerischen Anblick. Da ereignete es sich dann allerdings, daß die weihevolle Stille plötzlich durch lautes Zurufen und Grüßen unterbrochen wurde, und die freundlichen Wikingerinnenließen mit Winken nicht nach, bis wir um eine Ecke ihrem Gesichtskreis entschwunden waren.

Gegen halb 3 Uhr erfüllte ich die schwere Pflicht, die märchenhaft schöne Welt zu verlassen und mich für einige Stunden zu Bett zu legen. Aber das ging nicht leicht; kaum hatte ich einige Schritte in der Richtung meiner 80 Meter weiter zurückliegenden Kabine gethan, so wurden sie durch neue Ausrufe des Entzückens der staunenden Menge gehemmt, und ichmußtemich immer wieder umdrehen und immer wieder nochmals beide Augen voll nehmen von der Pracht und Herrlichkeit.

Endlich lag ich und — schlief nicht, aber ruhte und zehrte an dem Bewußtsein, daß diese Einfahrt nach Tromsoe im Glanze der Mitternachtssonne und im Gegensatze zu der kurz vorher erlebten Polarnebelöde wohl das Schönste an der ganzen Reise sein und bleiben werde. Und doch gab’s noch weitere Steigerungen!

Dekor

Ankunft in Tromsoe. — Besuch im Lappenlager. — Die Stadt Tromsoe. — Küstenlappen. — Musikabend an Bord. — Spaziergang beim Schein der Mitternachtssonne.

Gegen 8 Uhr fuhren wir in den eigentlichen Tromsoesund, welcher, zirka 500 Meter breit, die Insel mit der gleichnamigen Stadt von dem norwegischen Festlande trennt. Die Temperatur war eine so unerwartet hohe, sommerlich schwüle, daß sie einen schweißtriefenden Berliner Kommerzienrat zu dem Reime entflammte:

„Gestern in Spitzbergen,Heute in Schwitzbergen“

„Gestern in Spitzbergen,Heute in Schwitzbergen“

„Gestern in Spitzbergen,

Heute in Schwitzbergen“

Tromsoe ist eine Stadt von 6300 Einwohnern, mit lebhaftem Fisch-, Thran- und Pelzhandel; sie nimmt sich vom Sund her ganz stattlich aus. Die großen, der Fischereiindustrie dienenden Strandhäuser — Magazine, Dörranstalten, Schiffswerften etc. — stehen auf hohen Pfählen, die je nach Ebbe oder Flut mehr oder weniger im Wasser verschwinden. Man glaubt eine Pfahlbaustation vor sich zu haben. Aus dem Hauptstadtbilde, das im wesentlichen aus Holzhäusern besteht, springen einige Kirchen und als größere Bauten das neue Museum, das Gymnasium und ein Lehrerseminar in die Augen.

Der Abhang des Berges, an dessen Fuß Tromsoe liegt, ist teilweise mit Birken und Ebereschen bewachsen und in den größern Lichtungen des Dünen-Waldes liegen recht hübsche Villen mit gaisblattumrankten Altanen; zu oberst auf dem Berge ist der Abend-Korso von ganz Tromsoe — ein Vergnügungsgarten, in welchem nur alkoholfreie Getränke zu haben sind. Der würde bei uns leer stehen; in Norwegen aber bildet er den Mittelpunkt einer fröhlichen und — wie man mir sagte — niemals ins Rohe ausartenden Geselligkeit.

Sehr interessant ist das Leben imHafenvon Tromsoe; dort liegen außer Frachtdampfern und Seglern verschiedener Nationen namentlich auch die für den Fang von Walrossen, Robben und Walfischen ausgerüsteten Jagdschiffe. Mitten im Sund ankerte die weißglänzende Yacht des Fürsten von Monaco, die wohl mit dem Ertrag des prunkvollen Elendes in Monte Carlo erbaut und unterhalten wurde. Von unserm Schiffe aus bemerkten wir während der Einfahrt ein äußerst bewegtes Leben auf dem weithin sichtbaren Hauptplatze der Stadt — eine bunte Volksmenge, welche mit Fahnen und Blechmusik sich vorwärts schob. Wir vermuteten eine kirchliche Prozession; es handelte sich aber, wie wir nachher erfuhren — um ein Schützenfest. Also auch hier wie bei uns.

Unter den Klängen der norwegischen Hymne und Grüßen vom Strande zum Deck und umgekehrt fiel der Anker. Der erste, der nun in Funktion trat, war unser wackerer Postmeister. Die in Tromsoe auf uns wartenden Postsendungen wurden an Bord geschafft und im Konversationssaal zu Händen ihrer Adressaten unter dieStewards verteilt — bei sorgfältig verschlossenen Thüren, um die ungeduldig harrenden und andrängenden briefgierigen Passagiere fernzuhalten. Vierzehn Tage waren wir nun ohne Nachrichten aus der Heimat, wenn auch nicht ohne alle Kunde von der Welt; denn an jeder Haltestation, wo Telegraph und Zeitungen sich fanden, wurde von einem Vertreter der Hapag in englischer und deutscher Sprache ein Extrakt der wichtigsten Weltereignisse angefertigt und jeweils am „schwarzen Brette“ unseres Schiffes angeschlagen, wo’s dann nachher zirka eine Stunde lang her- und zuging wie auf einer Börse.

Das allgemeine Programm für den heutigen Tag lautete: Vormittags Sehenswürdigkeiten in Tromsoe, nachmittags Besuch des Lappenlagers in Tromsdal auf dem gegenüberliegenden Festlande. Wir drei machten die Sache in umgekehrter Reihenfolge, um dem Gedränge zu entgehen und ungestört beobachten und genießen zu können. Während die Dampfbarkassen Gruppe um Gruppe nach Westen ans Land führten, suchte ich mir unter den unser Schiff umkreisenden norwegischen und lappischen Booten ein passendes heraus, dem ich die Leiber von drei Eidgenossen anvertrauen durfte. Es war ein wetterharter, muskelstarker Frithjof, der uns auf kleinem Nachen ostwärts über den Sund ruderte. Wir benützten die stille Ueberfahrt, um ungestört durch das nahe Getriebe der Welt die eingegangenen Briefe zu lesen, ersehnte Nachrichten aus der Heimat, gottlob von allen Seiten nur Gutes. Das hob unsere Reisestimmung.

Nach halbstündiger Fahrt erreichten wir Storstennaes (Naes = Nase, eine in Norwegen immer wiederkehrendeOrtsbezeichnung für auf Landzungen gelegene Ortschaften), wo einige Bauernhöfe und auch ein kleines Gasthaus den Eingang in das grüne Romsdal hüten. Ein breiter Fußweg führt durch Wiesen und dann durch einen lichten Wald von 3-5 Meter hohen Birken sanft aufsteigend thalaufwärts, während in der Tiefe ein rauschender Strom dem Fjorde zueilt. Die Luft war heiß und schwül und zahllose Mücken peinigten die Wanderer, fast wie in tropischem Lande; hie und da war auch ein den Pfad kreuzender Bergbach zu durchwaten. Aber was focht uns das alles an? Rechts und links vom Wege duftete es wunderbar — reizende Waldblumen in allen Farben; gradaus fiel der Blick auf den unten lichtgrünen, oben schneebedeckten Tromsdalstind, der das Thal gegen Osten abschließt, rückwärts glänzte der blaue Fjord und seitwärts in der Tiefe schäumte ein ungestümes, breites Schneewasser. Ab und zu begegneten wir bereits einigen Lappen, die mit selbstverfertigten Artikeln zu Markte zogen, in Rentierfelle oder blaue Kittel gekleidet, schmutzig und unsagbar duftig, jeder, wie der Erdball, mit und in seiner eigenen Atmosphäre kreisend. Wehe dem, der sie kreuzte! Aber die Gesichtsbildung fanden wir durchaus nicht häßlich, wie man sie sonst schildert, weder beim weiblichen noch beim männlichen Geschlechte, und wenn wir einen Jungen oder Alten mit unserm stereotypen Gruß: „Grüetzi Lappi“ anredeten, ging sogar etwas recht Freundliches, fast Anmutiges über seine Züge.

Nach ¾stündigem Marsche und einigen schließlichen Seufzern über Hitze und Schnacken hatten wir das Ziel erreicht und befanden uns inmitten des Lappenlagers,einer zerstreuten Gruppe von Stein- und Lehmhütten; auch einige durch Birkenstämme gestützte Leinwandzelte liegen dazwischen, bevölkert durch Lappen aller Lebensalter und durch Ziegen, Kühe und Hunde, welche in friedlichem Durcheinander sich in die herrlich grünen, aber stellenweise morastigen Rasenplätze teilten.

Die Lappen im Norden Schwedens, Norwegens und Rußlands — deren Zahl sich gegenwärtig auf 30,000 beläuft — sind der letzte Ueberrest des großen Stammes, der einst ganz Skandinavien beherrschte. Nach einem Grenzvertrag vom Jahre 1751 haben die schwedischen Lappen das Recht, mit ihren Rentieren im Sommer nach der norwegischen Meeresküste zu ziehen und dort zu weiden, wogegen den norwegischen Lappen und ihren Herden im Winter das waldigere, geschütztere schwedische Land offen steht. Zur Zeit sind es nur noch gegen 2000 der in Skandinavien lebenden Lappen, welche nomadisieren, während die übrigen, also die Mehrzahl, sich im Laufe der letzten Jahrhunderte wesentlich unter dem Einflusse der auch nach Norden drängenden seßhaften Norweger als Fischer und Handwerker in schmutzigen Hütten angesiedelt hat, ohne aber ihre ethnographischen Eigentümlichkeiten einzubüßen. Der einzige Reichtum der nomadisierenden Lappen besteht in ihren Rentierherden; vom Rentier entnehmen sie alles, was sie zu ihrer Nahrung und Kleidung bedürfen. Aber für den Unterhalt einer einzigen Familie ist eine beträchtliche Zahl notwendig; wer nicht mehr als 100 Tiere besitzt, muß sich schon einem größeren Besitzer anschließen, zu welchem er dann in ein Dienstverhältnis tritt.

Das von uns besuchte Lappenlager zählt zirka 10 associerte Familien, zu welchen Rentierherden von insgesamt 3000 Stück gehören.


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