Kwang-Su, der Kaiser von China.
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Kwang-Su, der Sohn des Himmels, der Herr der zehntausend Jahre, kam, wie man sich in Peking ziemlich allgemein erzählt, durch ein Verbrechen auf den Drachenthron, eine interessante und doch kaum bekannte Geschichte. Sein Vorgänger, der junge Kaiser Tung-Chih, starb im Januar 1875 an den Blattern, trotzdem seine Aerzte für über tausend Taels (viertausend Mark) Joßpapierchen verbrennen ließen, um den Segen des Himmels auf ihn herabzuflehen und den in ihm steckenden Teufel zu vertreiben. Tung-Chih hinterließ eine junge hübsche Witwe, Ah-Lu-Té, deren Zustand einen nachgeborenen Thronerben erwarten ließ. Dann wäre Ah-Lu-Té als Kaiserin-Mutter während der jungen Jahre ihres Sohnes Regentin geworden, und die beiden bisherigen Regentinnen, die Witwen des 1861 verstorbenen Kaisers Hien-föng, hätten abdanken müssen. Das paßte ihnen natürlicherweise keineswegs, und so nahmen sie denn, wie man sich in Peking erzählt, zu einem Pülverchen Zuflucht, das die junge Nebenbuhlerin gleich nach dem Tode des Kaisers aus dem Wege räumte. Die beiden alten Damen beriefen sofort die mandschurischen Prinzen zu einem Familienrate und ließen den kaum mehr als drei Jahre alten Prinzen Tsai-tjen, den Sohn des Prinzen Chun, als Thronerben erklären. Es war Mitternacht, als die Wahl erfolgte, aber die Kaiserinnen mußten doch ihr Bedenken über die Gesetzlichkeit dieses kleinen Staatsstreiches à la chinois haben, denn ohne eine Minute Zeit zu verlieren, ließen sie das schlafende Kind wecken und in den Beratungssaal bringen. Dort empfing der arme heulende Junge die Huldigung der Prinzen und wurde unter dem Namen Kwang-Su, d. h. erhabene Nachfolge, zum Kaiser ausgerufen. In der Pekinger Staatszeitung aber erschien die Nachricht, der verstorbene Kaiser hätte ihn selbst zu seinem Thronerben ernannt.
Natürlich konnte der den Windeln kaum entwachsene Knabe das gewaltige Staatsschiff noch nicht lenken, und so blieben die beiden alten Witwen an der Spitze der Regierung um zu schalten und zu walten, wie es ihnen beliebte. Im Jahre 1881 starb die Kaiserin des östlichen Zimmers, Tung-Tai-Hau, und die Kaiserin des westlichen Zimmers, Si-Tai-Hau, führte die Zügel der Regierung bis Anfang März 1889, d. h. bis zur Mündigkeitserklärung des regierenden Kaisers ganz allein. Seither trägt sie den Titel Kaiserin-Exregentin, aber in Wirklichkeit ist sie immer noch allmächtig und führt den Kaiser am Gängelbande.
Das kleine Söhnchen des Himmels durfte sich seiner Kindheit nicht lange erfreuen. Schon einige Monate nach seiner Erwählung zum Kaiser wurde ein Shi-foo oder Hofmeister für ihn ernannt, und die Pekinger Staatszeitung verkündete auch die Namen der für die Erziehung und Ausbildung des Knaben bestimmten Lehrer. Das astronomische Amt, dem die Feststellung der günstigsten Tage für alle kaiserlichen Unternehmungen obliegt, bestimmte den 14. Mai 1876 für den Beginn des Unterrichtes. An diesem Tage erschien der kleine Kwang-Su, geführt von seinem Vater, zum erstenmal im Schulzimmer. Dort lagen die gelahrten Männer, die ihm angemessene und zweckmäßige Lehren zu erteilen hatten, auf den Knieen und empfingen ihren Schüler, Gebete murmelnd und mit der Stirne den Boden berührend. Kwang-Su überreichte ihnen nun eine Schrift, worin er sie bat, ihn in der chinesischen Weisheit zu unterrichten, und damit begann die Studienzeit des Kaisers, die ohne Unterbrechung bis zu seiner Verheiratung, d. h. bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahre währte. Von Schuleschwänzen, Spielen und Unterhalten war bei dem jungen Kwang-Su keine Rede, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er gewiß lieber den Kaiser aufgesteckt und wäre Prinz geblieben. Seine tägliche Beschäftigung, sein Verhalten gegenüber den Lehrern, das ganze Zeremoniell ihres Empfanges und ihrer Verabschiedung nach empfangener Lektion ist auf das strengste geregelt. Schon um drei oder vier Uhr morgens begann der Unterricht, zunächst in chinesischer Sprache und Litteratur; dann folgten mandschurische und mongolische Lektionen, der Unterricht in den verschiedenen chinesischen Dialekten, Reiten, Fechten, Turnen, Bogenschießen. Dies ging so mit kurzen Unterbrechungen für die Mahlzeiten den ganzen Tag fort, und mit Sonnenuntergang mußte der Kleine ins Bett, um am nächsten Morgen mit Sonnenaufgang wieder seine chinesischen Lektionen zu empfangen. Die starren Lehrer verstanden keinen Spaß. Nutzten die Ermahnungen nichts, so wurde das Bambusstäbchen zu Hilfe genommen. Da man aber den Sohn des Himmels nicht wie einen gewöhnlichen Sterblichen durchbläuen kann, so wurde ein anderer Junge für ihn geprügelt. Dieser Prügelknabe, in chinesischer Sprache Hahachutze, war von gleichem Alter wie der Kaiser und hatte alle Stockschläge, die eigentlich für die kaiserlichen Weichteile bestimmt waren, zu empfangen. Der Kaiser mußte dabei zusehen. In ähnlicher Weise hatten früher auch europäische Monarchen ihre Prügelknaben, z. B. Heinrich IV. von Frankreich, Edward VI. und Edward VII. von England, ja während der Regierung mancher Souveräne giebt es heute noch Prügelknaben, Minister genannt.
Im Jahre 1889 vollendete Kwang-Su sein fünfzehntes Lebensjahr. Schon vorher wurde von der Kaiserin-Regentin eine passende Braut für ihn ausgesucht, und die Staatszeitung vom 28. Oktober 1888 enthält darüber folgendes kaiserliche Edikt:
„Seitdem der Kaiser in aller Ehrfurcht das Erbe seiner Vorfahren angetreten hat, ist er allmählich zum Manne gereift, und es geziemt sich nun, daß eine Person von hervorragenden Eigenschaften als seine Gemahlin ausgewählt werde, damit sie ihn in den Pflichten des Palastes und in seinen tugendhaften Bestrebungen unterstütze. Die Wahl ist auf Yeh-ho-na-la gefallen. Sie ist die Tochter des stellvertretenden Bannergenerals Kwei-Hsiang, eine tugendhafte Jungfrau von angenehmem Aeußeren und Vorzügen. Wir befehlen, daß sie zur Kaiserin erhoben werde.â€
Straße in Peking.âGRÖSSERES BILD
Straße in Peking.
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Damit aber der Kaiser nicht unvertraut mit den ehelichen Pflichten seine neue Gemahlin heimführe, wurde ihm schon ein Jahr vorher eine Lehrmeisterin beigegeben. Diese Fei wird stets unter den hübschesten Töchtern der mandschurischen Bannerleute ausgesucht und muß ein Jahr älter als der Kaiser, also fünfzehn Jahre alt sein. Von wem diese ihrerseits die ehelichen Pflichten lernt, wird in dem Zeremonienbuche nicht gesagt.
Unmittelbar nach der Vermählung des Kaisers erfolgte seine Thronbesteigung. Eine Krönung giebt es an den orientalischen Höfen nicht, ebensowenig, wie es Kronen giebt. Zunächst wurden kaiserliche Prinzen in großem Aufzuge nach den Tempeln des Himmels und der Erde, sowie nach der kaiserlichen Ahnenhalle gesandt, um dort die Thronbesteigung des Kaisers zu verkünden. Am folgenden Tage stattete der Kaiser, begleitet von allen Prinzen und dem ganzen prächtigen Gefolge der abtretenden Kaiserin-Regentin einen Besuch ab, und am 4. März erfolgte der feierliche Regierungsantritt unter großartigem Zeremoniell, an welchem der ganze Hof mit seinen Tausenden von Würdenträgern und Garden teilnahm. Die Feierlichkeiten fanden jedoch durchwegs innerhalb der Mauern der Palaststadt statt, und von den Hunderten von Millionen chinesischer Unterthanen war nicht ein einziger Zeuge derselben. Selbst bis heute haben nur die höchsten Würdenträger des Reiches und einige der ausländischen Gesandten den Kaiser von Angesicht zu Angesicht gesehen. Bei der Thronbesteigung aber waren auch diese nicht zugegen, und was man davon erfuhr, entstammt dem in der Regierungszeitung veröffentlichten Zeremoniell.
Sobald die kaiserlichen Astrologen vom Chien-ching-Thore der Palaststadt aus verkündeten, daß der günstige Augenblick für den Regierungsantritt gekommen sei, verließ der Kaiser, in seine mit Drachen bestickten Galagewänder gekleidet, seine Gemächer und bestieg eine Prachtsänfte, in welcher er zu der Chung-ho-Halle getragen wurde. Dort nahm er die Huldigung der Beamten und Bannerleute des inneren Palastes entgegen und begab sich nun in seiner Sänfte nach der eigentlichen Thronhalle (Tai-ho), vor welcher ihn sein ganzer Hofstaat unter den Klängen der Musik empfing. Dem Eingange zunächst standen die Prinzen und höchsten Staatsbeamten; dann kamen zehn Palastgardisten mit vergoldeten Helmen und mit Pantherschweifen verzierten Hellebarden; ferner zehn Palastgardisten mit Gürtelschwertern; Beamte des Zeremonienamtes; fünf kaiserliche Elefanten, unzählige Banner- und Standartenträger, Garden, Musikkorps. Während die ganze Gesellschaft sich zur Erde warf, betrat der Kaiser die Halle und bestieg den in der Mitte stehenden Thron, eine hohe Plattform, auf welcher sich ein breiter Stuhl mit hoher Rückenlehne befand. Auf diesen Thronstuhl ließ sich der Kaiser nach mandschurischer Art mit untergeschlagenen Beinen nieder. Die Musik verstummte, und die Beamten des Zeremonienamtes führten der Majestät nun die kaiserlichen Prinzen, die mongolischen Fürsten, den hohen Adel und die Würdenträger des großen Reiches zur Huldigungvor den Thron. Auf ein Zeichen des Zeremonienmeisters knieten alle nieder, und der Reichsherold befahl nun die Urkunde der Regierungsübernahme zu verlesen. Damit war die Thronbesteigung vorüber, und der Kaiser kehrte als Herrscher über China nach seinem Palaste zurück.
Nur durch die seltenen Empfänge der ausländischen Gesandten sind Berichte über das eigentümliche, aber stets würdevolle Zeremoniell am chinesischen Kaiserhofe durch europäische Augenzeugen in die Oeffentlichkeit gelangt. So empfing der Kaiser gelegentlich des 60. Geburtstages der Kaiserin-Exregentin die Gesandten, um die Glückwünsche ihrer Souveräne in Empfang zu nehmen.
Der Schauplatz des feierlichen Staatsaktes war einem ostasiatischen Blatte zufolge diesmal das Wenhuatien (d. h. Halle der Blüten der Litteratur), ein älteres Gebäude von mäßiger Größe im südöstlichen Teile des Palastes. Dasselbe dient zur Abhaltung einer litterarischen Feierlichkeit im zweiten Monat jeden Jahres, bei welcher dem Kaiser von einigen hervorragenden Mitgliedern der Hanlinakademie Vorträge über die Klassiker gehalten werden. Der Eingang für die fremden Vertreter und ihre Begleiter fand durch das Tunghuamen (das östliche Blumenthor) statt, die einzige Oeffnung in der Ostmauer des inneren Palastes. Dort wurden die Sänften zurückgelassen, und man begab sich zu Fuß durch den weiten ummauerten Hofraum, an den Spalier bildenden Palastgarden vorbei, nach dem Chuanhsintien (Halle der Offenbarung der Herzensgüte), einem kleineren dreigeteilten Gebäude, in welchem den mythischen Kaisern und alten Weisen einstmals Opfer dargebracht wurden und das in diesem Falle als Wartesaal für die Gesandten diente. Die letzteren wurden hier durch die Prinzen und Minister des Tsungli-Yamens empfangen, um dann nach kurzem Aufenthalt durch das Wenhuamen (Thor der Blüten der Litteratur) nach einer Reihe offenbar für den Zweck besonders hergerichteter blauer Zelte geleitet zu werden, die dicht neben dem Wenhuatien lagen und in denen für jede Gesandtschaft ein besonderer Raum hergestellt war.
Von hier aus begaben sich die Vertreter mit ihrem Gefolge nach dem Audienzsaal, bis zu der äußeren Freitreppe desselben durch zwei Palastbeamte, vor den Thron durch zwei Minister des Tsungli-Yamens geleitet. Zwanzig Minuten vor zwölf Uhr wurde der Aelteste des diplomatischen Korps, der Gesandte der Vereinigten Staaten, geladen, die übrigen folgten der Amtsdauer nach. Das Weitere spielte sich dann in ähnlicher Weise ab, wie bei früheren Audienzen: der Gesandte näherte sich mit seinen Begleitern unter drei Verbeugungen der Estrade, auf welcher der Kaiser saß und zu der mehrere Stufen emporführten, hielt darauf eine kurze Ansprache, in der er des feierlichen Ereignisses gedachte, und überreichte, nachdem dieselbe von dem betreffenden Gesandtschaftsdolmetscher ins Chinesische, von dem zur Seite des Kaisers stehenden Prinzen Kung bezw. Ching (beide wechselten bei den einzelnen Gesandten ab) ins Mandschurische übertragen war, das Glückwunschschreibenseines Souveräns bezw. Präsidenten in die Hände des ihm entgegenkommenden Prinzen, der es auf den mit gelber Seide behangenen Tisch vor den Kaiser legte.
Das vom deutschen Kaiser gesandte Glückwunschschreiben bestand in buchförmig zusammengelegten Pergamentblättern, auf denen der Text in mehreren Farben kunstvoll ausgeführt war und die durch zwei massive, mit weißem Leder überzogene und mit reicher Goldverzierung sowie dem kaiserlichen Namenszuge geschmückte Deckel zusammengehalten wurden. Das Ganze, ein vornehmes Kunstwerk, das allgemeine Bewunderung erregte, lag in einem eleganten Holzkasten, auf dem ebenfalls ein großes W mit der Kaiserkrone angebracht war.
Der Monarch neigte das Haupt beim Empfang, sprach dann in vernehmlichem Tone zu dem links neben ihm knieenden Prinzen einige Sätze, in denen er seiner Genugthuung und Freude Ausdruck gab, dieser wiederholte die Worte, nachdem er die Estrade verlassen, dem Dolmetscher auf Chinesisch, der letztere in seiner Landessprache dem Gesandten. Damit war die Audienz beendet, und der Gesandte verließ, abermals unter Verbeugungen und in derselben Weise geleitet wie vorher, die Empfangshalle.
Das orientalische Zeremoniell machte sich hierbei in bedeutsamer Weise geltend: das Wenhuatien hat in seiner Südwand drei Eingänge, zu denen drei steinerne Freitreppen emporführen; solange nun der Gesandte Träger des kaiserlichen Schreibens war, überließ man ihm den vornehmsten Zugang, d. h. die große mit einem Teppich belegte Mitteltreppe und die Mittelthüre, die sonst nur von dem Kaiser benutzt wird; der Ausgang fand dagegen durch die linke Seitenthüre statt.
Dem ganzen Vorgang ließ sich eine majestätische Würde nicht absprechen. Der Kaiser saß, wie bemerkt, auf einer Estrade an einem mit gelber Seide behangenen Tische; hinter ihm befanden sich die üblichen Paraphernalien: der Wandschirm, die Pfauenwedel; zur Rechten standen zwei Prinzen des kaiserlichen Hauses, zur Linken der Prinz von Kechin und Prinz Kung bezw. Prinz Ching. In der Halle selbst bildeten schwerttragende Garden zu beiden Seiten Spalier, dahinter standen Eunuchen und Palastbeamte. Das bei weitem Interessanteste in der ganzen Scene war natürlich die Person des mit Zobelpelz und Staatsmütze angethanen jugendlichen Monarchen. Die ungewöhnlich großen, glänzenden schwarzen Augen gaben dem zarten, fast kindlichen Gesichte ein ungemein sympathisches Aussehen, das auch durch die von einem kürzlich überstandenen Fieberanfall herrührende Blässe durchaus nicht beeinträchtigt wurde.
Beim Heraustreten aus der Halle bot sich dem Auge ein malerisches Bild. Zu beiden Seiten, d. h. nach Ost und West, von der nach Süden zu führenden Freitreppe zog sich in weit ausholendem Bogen die lange Reihe der Palastgarden entlang, davor und dahinter bewegten sich Scharen von Beamten in ihren langen Tuniken mit den buntgestickten viereckigen Rangabzeichen auf Brust und Rücken.Bei aller Geschäftigkeit war keine eilige oder überstürzende Bewegung zu beobachten, alles ging, dem chinesischen Amtscharakter entsprechend, feierlich und würdevoll zu. Wandte man sich nach rechts, so erblickte man am Ende des weiten Platzes die hohe, mit gelbglasierten Ziegeln gedeckte Mauer, welche die lange Reihe der Mittelhallen des Palastes einschließt; am Südende derselben gewahrte man das dreiteilige Tsoyimen (Linkes Thor der Rechtlichkeit), und jenseits davon, weit darüber hinausragend, erhob sich der mächtige Bau der Taihohalle, das durch seine architektonischen Verhältnisse am meisten hervorragende Gebäude der Kaiserstadt. Das Ganze wirkte, wie jede chinesische Anlage, weniger durch die Einzelausführung als vielmehr durch das Kolossale der Ausdehnung und das Würdevolle der Gruppierung.
In diplomatischen Kreisen wurde es entschieden mit Genugthuung begrüßt, daß der chinesische Hof sich endlich entschlossen hat, den mit so ängstlicher Sorgfalt gehüteten inneren Palast den fremden Vertretern zu öffnen und so eine endgültige Lösung der langwierigen Audienzfrage herbeizuführen. Wie schwer ihm dies geworden sein mag, haben die jahrelangen Verhandlungen zur Genüge dargethan.
Die Hauptpflichten des Kaisers von China bestehen darin, seinen Vorfahren zu opfern, seiner Stieftante, der alten Kaiserin-Exregentin, alle fünf Tage einen Besuch zu machen, in den Tempeln des Himmels und der Erde zu beten und den Großwürdenträgern Audienz zu erteilen, in denen alle laufenden Regierungsgeschäfte erledigt werden. Nach den Mitteilungen, die ich von Pekinger Diplomaten erhielt, soll der Kaiser viel intelligenter und energischer sein als seine Vorgänger. Dem Aussehen nach ist er klein, mager, bartlos, mit einem unverhältnismäßig großen Kopf; doch machte er auf die wenigen europäischen Gesandten, die ihn zu Gesicht bekommen haben, einen sehr günstigen Eindruck. Daß er auch bestrebt ist, sich über die Grenzen der Purpurstadt hinaus zu informieren, geht aus vielen Thatsachen hervor. Er hat das Studium der englischen Sprache begonnen, er liest die ihm zur Sanktionierung vorgelegten Berichte, und wo er Bestechlichkeit oder Nachlässigkeit der Beamten wittert, läßt er sofort von den Censoren genaue Untersuchungen einleiten. Vor einigen Jahren wurde die ganze chinesische Welt durch die Nachricht überrascht, daß der Kaiser selbst die Prüfung der Zöglinge der Pekinger Hanlinakademie vorgenommen hätte, ein unerhörtes Ereignis. Diese Akademie ist die höchste litterarische Anstalt Chinas. Ihre Mitglieder sind hohe Würdenträger, Mandarine, Gesandte und dergleichen, und aus ihnen rekrutieren sich nach erfolgreich bestandenen Prüfungen die Examinatoren in den Provinzen, sowie die Lehrer für den kaiserlichen Thronfolger, wie für die kaiserlichen Kinder überhaupt. Seine Majestät ist zwar bisher trotz seiner zehnjährigen Ehe mit so vielen Gemahlinnen noch nicht mit Nachkommenschaft gesegnet worden, aber die Lehrer für eine solche sind schon da. Nun hat sich die in ganz China so ausgebreitete Bestechlichkeit sogar bis an diese Hanlinakademie herangewagt, und die Beamten, welche die sowichtigen und einträglichen Examinatorenstellen erlangen wollen, liefern mit ihren schriftlichen Prüfungsarbeiten gleichzeitig eine mehr oder minder hohe Geldsumme ab. Wie eine Bombe fiel nun unter die Prüfungskommission der Befehl des Kaisers, die schriftlichen Arbeiten der Aspiranten ihm vorzulegen. Bei der Durchsicht stürzte er die Rangliste von unterst zu oberst; sechs Beamte, welche die Kommission an die letzte Stelle gesetzt hatte, erlangten die höchsten Ehren, andere, welche in die erste Klasse aufgenommen worden waren, wurden in die dritte oder vierte gestellt, einige sogar ganz abgewiesen. Unter den Aspiranten befand sich auch Tsui-Kuo-Yin, der frühere chinesische Gesandte in den Vereinigten Staaten, ein angesehener, ehrwürdiger Mandarin zweiter Klasse und Lehrer des kaiserlichen Thronfolgers. Seine Arbeit schien den Kaiser nicht befriedigt zu haben, denn es wurde ihm sein Mandarinknopf zweiter Klasse und sein Rang als Lehrer entzogen.
Auch sonst zeigt der Kaiser große Selbständigkeit; das Köpfen oder Degradieren der Generale während des Krieges mit Japan erfolgte direkt auf seinen Befehl; entgegen der Mehrzahl seiner Mandarine dringt er auf die Organisation seiner Armee nach europäischem Muster, und überlebt seine Dynastie die jetzige heftige Erschütterung, so dürften bald bessere Zeiten für China kommen, vorausgesetzt, daß er nicht durch irgend ein Pülverchen vorher aus dem Leben geschafft wird. Seine Hofschranzen, Eunuchen und mandschurischen Bannerleute sind natürlich bestrebt, ihn möglichst von dem direkten Verkehr mit der Außenwelt fernzuhalten und alles durch ihre habgierigen, stets offenen Hände zu leiten. Selbst Audienzen bei dem Sohne des Himmels müssen in vielen Fällen durch hohe Summen erkauft werden; Pfauenfedern, Mandarinknöpfe und sonstige Auszeichnungen sind ziemlich offen im Markt, kurz, alles ist demjenigen erreichbar, der zahlen kann. Zu diesen elenden Verhältnissen in der unmittelbaren Umgebung des Kaisers haben wohl auch die vielen Prinzen beigetragen, von denen nur die wenigsten standesgemäße Bezüge haben. Andere haben wohl Zutritt zu den obersten Aemtern und damit auch Einfluß, aber dafür keine Bezüge, und so lassen sie sich häufig ihren Einfluß bezahlen. Viele befinden sich in ganz untergeordneten Stellungen, ja sogar als Diener in den Gesandtschaften und bei Fremden, aber sie gehören doch zu dem kaiserlichen Clan, dessen Oberhaupt der Kaiser ist und der seine eigene Verwaltung und seine eigene Gerichtsbarkeit besitzt.
Die ganze prinzliche Gesellschaft ist in zwei Gruppen eingeteilt, deren erste, die Tsung-schih, nur die direkten Nachkommen des Gründers der Dynastie und ersten Kaisers umfaßt. Sie sind dadurch kenntlich, daß sie einen gelben Gürtel tragen. Die zweite, Gioro genannte Gruppe, umfaßt alle Abkömmlinge der Nebenlinien, und ihre Mitglieder tragen einen roten Gürtel. Die Gesamtzahl der männlichen Mitglieder des kaiserlichen Clans dürfte etwa sechstausend betragen; ein eigenes Familienamt in Mukden, der Hauptstadt der Mandschurei, verwaltet die Archiveund kontrolliert die Ansprüche jedes Prinzen. Die ganze Gesellschaft ist je nach ihrer näheren oder entfernteren Verwandtschaft mit dem Kaiser in zwölf verschiedene Grade eingeteilt. Die Prinzen erster Klasse heißen Tsin Wang, d. h. Prinzen von Geblüt, und beziehen aus der kaiserlichen Schatulle eine jährliche Apanage von etwa 35000 Mark, Seidenstoffe, Lebensmittel, und verfügen außerdem über eine Hofhaltung von 350 Personen; Prinzen zweiter Klasse, Kiun Wang, d. h. Söhne der Prinzen erster Klasse, haben die Hälfte der genannten Einkünfte und Hofhaltung; Prinzen dritter Klasse, Beile, ein Drittel, solche vierter Klasse, Beitse, ein Viertel, und so fort bis herab zu der letzten Klasse, deren Mitglieder nur etwa zwölf Mark monatlich und einige Rationen erhalten. Etwa 500 Mark werden ihnen bei ihrer Verheiratung und eine ähnliche Summe für Beerdigungskosten bei etwaigen Todesfällen in ihrer Familie gewährt. Natürlich können sie damit ihr Auskommen nicht finden, und so nehmen sie zu allerhand unerlaubten Mitteln Zuflucht, um zu Geld zu kommen. Ja, Wells Williams erzählt in seinem ausgezeichneten Buche The middle Kingdom, daß sie nicht selten ihre Frauen zu Tode mißhandeln, um nur so oft als möglich die Beerdigungs- und Hochzeitskosten zu erhalten.
Von der Pracht der orientalischen Höfe, besonders der indischen und javanischen, ist in China nur sehr wenig zu sehen. Die goldstrotzenden, glänzenden Uniformen, Ordensketten und Sterne fehlen gänzlich, die langen weiten Gewänder sind wohl aus reichen schweren Seidenstoffen, aber mit Ausnahme der Brustplatten, welche die Abzeichen des Ranges bilden, schmucklos und in dunklen Farben. Der Kaiser verläßt seinen Palast nur, um sich nach einem Tempel zu begeben oder die Kaiserin-Exregentin zu besuchen. Einige hundert berittener Garden, dann die gelbe kaiserliche Sänfte, dann wieder einige hundert Garden mit Bogen und Pfeilen bewaffnet, das ist alles. Die rot-weiß-blau gekleideten Sänftenträger dürfen während der ganzen Promenade nicht miteinander sprechen, nicht spucken oder sich räuspern; gewahren die Garden irgend einen Neugierigen, so machen sie ihn durch wohlgezielte Pfeile darauf aufmerksam, daß der Anblick des kaiserlichen Zuges verboten ist.
Die Ausgänge nach den verschiedenen Tempeln, die Ahnenopfer und Besuche bei der Kaiserin-Mutter bilden beinahe die einzige Abwechselung in dem einförmigen, arbeitsvollen Leben des jungen Kaisers. Zuweilen läßt er sich auch in dem prachtvollen Park der verbotenen Stadt spazieren fahren. Festlichkeiten, Theater- und Tanzvorstellungen kommen nur selten vor, und auch zu diesen werden nur einige der nächststehenden Prinzen und Minister geladen, niemals Frauen. Gewöhnlich werden die Vorstellungen am folgenden Tage für die Kaiserinnen und Damen des Hofes wiederholt, und dann sind wieder die Herren abwesend.