Der Zustand der menschlichen Gesellschaft in Vergangenheit und G1egenwart bietet für das Auge des Menschenfreundes in vielfacher Beziehung ein wenig erfreuliches Bild. Es zeigt uns riesige Gegensätze von höchstem Glück und von tiefstem Elend, Grenzenlose Armut neben grenzenlosem Reichtum, grenzenlose Gewalt neben grenzenloser Ohnmacht, grenzenloser Überfluss neben grenzenloser Entbehrung, Übermass von Arbeit neben Nichtsthuerei und Faulenzertum, politische Freiheit neben wirtschaftlichem Knechttum, fabelhaftes Wissen neben tiefster Unwissenheit, Schönes und Herrliches jeder Art neben Hässlichem und Abstossendem jeder Art, höchste Erhebung menschlichen Seins und Könnens neben dessen tiefster Versunkenheit, blöder dumpfer Aberglauben neben höchster Geistesfreiheit — das ist der Charakter einer Gesellschaft, welche in der Grösse und dem Widerstreit dieser Gegensätze die schlimmsten, hinter uns liegenden Zeiten politischer Unterdrückung und Sklaverei noch überbieten zu wollen scheint. Von jeher haben die Menschen untereinander und gegen ihr eignes Geschlecht in einer Weise gewütet, im Vergleich mit welcher die wildesten und grausamsten Bestien als fromme Lämmer erscheinen müssen. Aber wenn auch diese Zeiten wildester Barbarei und Zerfleischungswut in zivilisieren Ländern grösstenteils vorüber sind, so wiederholen sie sich doch in andrer2Form in jenen erschütternden gesellschaftlichen Tragödien von Mord, Selbstmord, Hungertod, unverschuldeter Krankheit, frühzeitigem Tod, Arbeitslosigkeit u. s. w., welche wir beinahe tagtäglich an uns vorüber müssen ziehen lassen, ohne im Stande zu sein, ihre schreckliche Wiederkehr zu verhüten oder ohne ihnen mehr als eine kurze Regung des Mitleids schenken zu können. Tagtäglich sehen wir Menschen aus Mangel der notwendigsten Lebensbedürfnisse schnell oder langsam zu Grunde gehen, während dicht neben ihnen der besser situierte Teil der Gesellschaft in Überfluss und Wohlleben erstickt, und während der National-Wohlstand einen nie gesehenen, aber in der Regel nur Einzelnen zu Gute kommenden Aufschwung nimmt. Wenn wir sehen, dass Hunderttausende in Üppigkeit verderben, während Millionen dasselbe Schicksal erleiden durch Darben und Entbehren, so wird man beinahe versucht, jenem englischen Schriftsteller Recht zu geben, welcher fragt: »Ist es in Ordnung, dass Millionen beinahe Hungers sterben, damit einige Tausende an Dyspepsie (Magenüberladung) zu Grunde gehen?«Die Statistik hat die traurige Thatsache an das Liebt gebracht, dass die durchschnittliche Lebensdauer der Armen kaum etwas mehr, als die Hälfte der Lebensdauer der Reichen beträgt. Also wird der Arme durch die einfache Thatsache seiner Armut nicht bloss um den Genuss des Lebens, sondern auch um das Leben selbst gebracht. Am schwersten lastet dieser Fluch der Armut auf der armen, unschuldigen Kinderwelt, welche schon mit ihrem ersten Atemzuge den Keim eines frühen Todes oder späterer Krankheit in sich aufnimmt, und zwar hauptsächlich durch gesellschaftliches Verschulden. Die Statistik zeigt, dass im Durchschnitt schon die Hälft3e aller Kinder der Armen vor Erreichung des fünften Lebensjahres dieses irdische Jammerthal wieder verlässt infolge von Mangel, schlechter Pflege u. s. w. Der riesige nationalökonomische Schaden dieses fortwährenden zwecklosen Kommens und Gehens springt in die Augen. Alle die Millionen Ausgaben an Geld und Arbeit, welche auf diese Kleinen verwendet worden sind, gehen mit ihrem Tode für die Gesamtheit unwiderbringlich verloren und können nie wieder durch deren spätere Thätigkeit ersetzt werden.Muss es nicht das Herz des Menschenfreundes auf das Tiefste betrüben, wenn er die Kinder der Armen in Pfützen und Kothaufen nach Speiseresten wühlen sieht, welche den Reichen für ihre Hunde und Katzen zu schlecht sind — oder wenn er hören muss, dass ganze Scharen von Kindern morgens ohne Frühstück in die Schulen getrieben werden — oder wenn er von verzweifelten Vätern oder Müttern lesen muss, welche sich und ihre Kinder einem freiwilligen Tode opfern, um dem Tode durch Hunger oder Entbehrung zu entgehen — oder wenn er sehen muss, wie eine politische oder geschäftliche Krisis ganze Scharen fleissiger Arbeiter ohne Nahrung für sich selbst und für die Ihrigen auf das Pflaster wirft — oder wenn er beobachten muss, wie die Zunahme der Verbrechen gegen Leben und Eigentum zumeist einem heimlich geführten Kriege der Besitzlosen gegen die Besitzenden entspringt — oder wenn er die Überzeugung gewinnen muss, dass Egoismus und Selbstsucht die Grundsäulen sind, auf denen die menschliche Gesellschaft aufgebaut ist, u. s. w.? Wenn wir unsre grossen Städte, unsre mächtigen Industriebezirke durchwandern, so haben wir fast bei jedem Schritte Gelegenheit, zu bemerken, wie unmit4telbar neben, über und unter den Stätten des Reichtums, und Glanzes die Höhlen des Lasters und Elends sich verbergen, wie neben brechenden Tischen und übersatten Magen der hohläugige Hunger still seine Qualen duldet, und wie neben Wohlleben und Übermut jeder Art die hoffnungslose Entbehrung entweder scheu und ängstlich in schmutzige Winkel sich verkriecht oder in düsterer Verzweiflung schreckliche Thaten gegen Staat und Gesellschaft ausbrütet. Ein sehr berechtigtes Sprüchwort sagt: »Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.« Aber wie viele essen, die nicht arbeiten oder nie gearbeitet haben, und wie viele arbeiten, die sich nicht satt essen können! Woraus der unabweisbare Schluss folgt, dass diejenigen, welche arbeiten, nicht bloss für sich, sondern auch für die Erhaltung eines ganzen Heeres von Müssiggängern thätig sein müssen. Man wende nicht ein, dass diese Müssiggänger von den Anstrengungen oder Verdiensten ihrer Vorfahren leben, da gerade die notwendigsten Lebensbedürfnisse nicht zum voraus geschaffen werden können und, wenn verzehrt, notwendig vorher durch die Anstrengungen der Mitlebenden erzeugt worden sein müssen.Aber diese ungleiche Verteilung gilt nicht bloss für diematerielle, sondern auch für diegeistigeNahrung. Wie viele Talente oder Genies müssen den Pflug des Alltaglebens ziehen, weil ihnen nicht das Glück an der Wiege gelächelt hat, während oft die beschränktesten Köpfe auf den Sesseln der Macht oder Gelehrsamkeit sich breit machen. Gerade die idealste geistige Arbeit belohnt sich in der Regel am schlechtesten. Philosophen und Dichter sind in der Regel geborene Proletarier und ernten erst nach ihrem Tode die Ehren, welche ihnen im Leben hätten zukommen5müssen, während hastige und oberflächliche Fabrikarbeit nach dem Geschmack des grossen Haufens sich schon während des Lebens am besten lohnt, Man denke beispielsweise an die erbärmliche, an den Haaren herbeigezogene Situationskomik in unserm deutschen Lustspiel, die nur Hohlköpfe ergötzen kann und trotzdem auf unsern Bühnen, welche geistige Erziehungsanstalten für das Volk sein sollten, alle besseren Erzeugnisse mehr oder weniger in den Hintergrund drängt. Ebenso wie den Theatern, die sich ganz vom zahlenden Publikum abhängig machen, ergeht es unsern Zeitungen und Wochenschriften, deren höchstes Ideal die Abonnentenzahl bildet und bilden muss, und welche darum in der Regel weit mehr Gewicht auf den zeitweiligen Geschmack des Publikums neben den Interessen ihrer Leiter und Eigentümer legen, als auf Verbreitung von Wahrheit und Aufklärung. Ein ähnlicher Vorwurf kann, wenn auch in minderem Grade, der Buch-Litteratur nicht erspart werden, in welcher männlicher Gradsinn und philosophische Überzeugungstreue sicher sind, überall gegen einen Berg von Gemeinheit, Unwissenheit, Verleumdung oder Teilnahmlosigkeit ankämpfen zu müssen, während elende, auf Neugier oder Sensation berechnete oder den Vorurteilen der Masse schmeichelnde Machwerke ebenso sicher sind, tausende von begierigen Lesern zu finden. Welchen grenzenlos nachteiligen Einfluss diese notgedrungene Unterwürfigkeit unter den gerade herrschenden Geist oder Geschmack oder unter eingewurzelte Vorurteile des lesenden Publikums haben muss und bereits gehabt hat, ist zu bekannt, als dass es mehr als einer Hinweisung darauf bedürfte. Wie oft wird man, wenn man das Facit unsrer Zeitungs- und Buchlitteratur zu ziehen v6ersucht, an das bittere WortShakespeareserinnert: »Wahrheit ist ein Hund, der ins Loch muss und hinausgepeitscht wird, während Madame Schosshündin (d. h. die Lüge) am Feuer stehen und stinken darf.«Wenn man sich nun die Frage nach den Ursachen dieser betrübenden Erscheinung vorlegt, so glauben wir die Antwort in einem Zustand zu finden, dessen genauere Kenntnis uns durch die jetzt alle andern Wissenschaften an Erfolg und Bedeutung weit überragendeNaturwissenschaftan die Hand gegeben wird. Es ist jener unerbittlicheKampfum dasDaseinoder jener Existenzkampf, welcher seitDarwineine so grosse Berühmtheit erlangt hat. Er ist zunächst hergenommen aus der Pflanzen- und Tierwelt, wo er zu einer wesentlichen Ursache der Umwandlung und des Fortschritts wird, indem in der Regel nur die Kräftigsten, Fähigsten, durch die eine oder andre Eigenheit Bevorzugten den Sieg in diesem Kampf oder Wettbewerb über ihre Genossen davontragen. Anlass zu Bemitleidung giebt uns dieser Kampf in der Regel nicht, weil der Tod schnell ist, weil er ohne volles Bewusstsein erlitten wird, und weil in der Regel nur die persönliche Tüchtigkeit oder Eigenart entscheidend ist. Es ist ein Kampf, welcher von den Einzelnen mit den im ganzen gleichen Mitteln des Krieges oder der Flucht oder des Wettbewerbs geführt wird, und wobei der Einzelne keine Bevorzugung vor andern durch den Schutz der Gesellschaft geniesst. Die Fülle und der Reichtum der Natur steht ihnen allen ziemlieh gleichmässig zu Gebot, und es giebt keine Privilegien, welche dem einen verbieten würden, etwas zu nehmen, was dem andern gestattet ist. Nur individuelle Kraft oder Fähigkeit ist entscheidend. Wenn das Tier seine Höhle oder sein7Nest allerdings auch sein Eigentum nennt, so muss es doch gewärtig sein, in diesem Besitz jederzeit durch andre Stärkere gestört oder daraus verdrängt zu werden.Ganz anders aber gestaltet sich infolge seiner sozialen Einrichtungen dieser Kampf bei dem Menschen, welcher, wenn er zur Welt kommt, bereits alle oder alle guten Plätze an der Tafel des Lebens besetzt findet und, wenn ihm nicht Geburt, Reichtum, Rang u. s. w. zu Hilfe kommen, von vornherein dazu verurteilt ist, seine Kräfte und sein Leben im Dienste und zum Vorteil derjenigen, welche im Besitze sind und welchen dieser Besitz durch die Gesamtheit garantiert wird, aufzubrauchen. Daher siegt hier nicht immer der Beste, sondern der Reichste, nicht der Tüchtigste, sondern der Mächtigste, nicht der Fähigste oder Fleissigste, sondern der durch seine soziale Stellung Bevorzugte, nicht der Klügste, sondern der Verschmitzteste, nicht der Redlichste, sondern derjenige, welcher die mannigfachen Hilfsmittel politischer und gesellschaftlicher Ausbeutung in der Hand hat und dieselben am Schlauesten zu benutzen versteht. Daher es denn auch, da sich dieses Verhältnis von Generation zu Generation forterbt, nicht anders sein kann, als dass mit der Zeit jener Zustand extremer gesellschaftlicher Ungleichheit daraus erwächst, welcher den Charakter der gegenwärtigen Gesellschaft bildet und in immer steigendem Masse bilden wird, und welcher bereits geschildert worden ist. Übrigens bietet der Daseinskampf des Menschen zwei ganz verschiedene Seiten dar, welche man strenge auseinander halten muss. Die eine Seite besteht in demKampf des Menschen gegen die Naturund deren die freie Entfaltung seiner Kräfte beengende Schranken, — ein Kampf, den er bekanntlich8mit dem allergrössten Erfolge geführt hat und mit täglich grösserem Erfolge führt. An diesem Erfolge nehmen alle Menschen in grösserem oder geringerem Masse teil oder können daran teilnehmen.Die zweite Seite stellt sich dar als derKampf des Menschen gegen seinesgleichen, welcher indessen ebensowohl ein direkter wie ein indirekter Kampf oder Wettbewerb um die Existenzbedingungen sein kann. Dieser Kampf ist in demselben Masse, wie der Kampf gegen die Natur leichter geworden ist, schwerer, grausamer und unerbittlicher geworden. Auch wird derselbe um so heftiger, je grösser der Fortschritt auf materiellem Gebiete wird, und je mehr die Zahl der Menschen und der Umfang ihrer Bedürfnisse zunimmt. Durch ihn sind Egoismus und Individualismus zu Weltherrschern geworden. Es ist ein allgemeiner Konkurrenz-Kampf oder ein Krieg aller gegen alle, wobei der Tod des einen das Brot des andern, das Unglück des einen das Glück des andern bedingt. Der mächtige Trieb der Selbsterhaltung und der Zwang des gesellschaftlichen Egoismus überwiegt alles; ein Widerstand gegen denselben ist nicht möglich, ausser bei schwerer Strafe der Widerstrebenden. Denn wo das Wohl oder Interesse des Einzelnen in Frage kommt, da kennt der gesellschaftliche Egoismus in der Regel ebensowenig Mitleid oder Schonung, wie der Tiger, wenn er sein Opfer zerreisst; und man kann oder darf dieses dem Einzelnen nicht einmal zum Vorwurf machen, da der Trieb oder das Interesse der Selbsterhaltung innerhalb eines gesellschaftlichen Organismus, wie er zur Zeit noch besteht, ihm sein Verhalten gebieterisch vorschreibt, wenn er nicht den eignen Untergang herbeiführen oder beschleunigen will. Se9lbst der aufopferndste Menschenfreund kann sich diesem Gebot des Egoismus nicht entziehen, ohne sich selbst den grössten Gefahren auszusetzen. Es ist gewissermassen eine grosse und allgemeine Flucht oder ein Wettrennen der Furcht vor der Not und Entbehrung des Lebens, ohne Mitleid oder Hilfe für die dabei zu Boden Sinkenden, ähnlich jenem berüchtigten Übergang der grossen Armee über die Beresina, wo jeder nur für die eigne Rettung besorgt war und besorgt sein musste. Wer nicht niedergetreten sein will, muss selbst niedertreten und dem allgemeinen Feldgeschrei folgen: »Rette sich wer kann! Unterliege wer muss!« Auch hat sich durch Gewohnheit das Gefühl des Einzelnen für die Schrecken eines solchen Zustandes nach und nach in ähnlicher Weise abgestumpft, wie es sich gegen die Schrecken einer Schlacht bei den Kämpfenden abzustumpfen pflegt.Wer kennt nicht das berühmte Buch des AmerikanersBellamy, worin derselbe den Zustand der menschlichen Gesellschaft mit einer grossen, bequem eingerichteten Kutsche vergleicht, welche von einer kleineren Anzahl von Menschen besetzt ist, während die grössere davor gespannte Mehrzahl diese Kutsche mit Aufbietung aller Kräfte über Berge und Thäler, durch Sümpfe und Moräste schleppt, getrieben von der Peitsche des Hungers, der als Kutscher auf dem Bocke sitzt! Ich halte das Gleichnis, wie alle Gleichnisse, in vieler Beziehung für schief oder hinkend, aber im grossen und ganzen muss es doch das Richtige getroffen haben, wie der beispiellose Erfolg des Buches beweist. Derselbe wäre nicht denkbar, wenn nicht eine grosse Mehrzahl von Menschen tief von der Überzeugung eines unnatürlichen und ungerechten Zustandes der heutigen menschlichen Gesellschaft10durchdrungen wäre und in dem Buche mehr oder weniger eine Offenbarung der eignen, sie bewegenden Gefühle gefunden hätte.Es wird wohl nicht viele geben, welche ernstlich zu leugnen wagen, dass ein solcher Zustand der Gesellschaft von den grössten ökonomischen und moralischen Nachteilen begleitet ist und begleitet sein muss. Einerseits erzeugen Armut, Besitzlosigkeit und Mangel an Erziehung und Bildung die meisten Verbrechen gegen Staat und Gesellschaft, während andrerseits übertriebener Reichtum Müssiggang und allerhand Laster im Gefolge hat; wodurch Staat und Gemeinde genötigt werden, eine kostspielige Justiz mit allen ihren hässlichen Anhängseln und eine ebenso kostspielige Armenpflege zu unterhalten. In moralischer Beziehung erzeugt der allgemeine Konkurrenzkampf hässliche Leidenschaften, wie Neid, Hass, Mitleidlosigkeit, Geldgier, Hartherzigkeit, gegenseitige Verfolgungssucht statt gegenseitiger Liebe und Unterstützung. Jeder denkt und handelt nur für sich und sein eignes Interesse, weil er weiss, dass im Notfall kein anderer für ihn eintreten oder dass er an der Gesamtheit keine Stütze finden würde. In einer richtig organisierten Gesellschaft müsste der Gewinn des Einzelnen zugleich der Gewinn der Gesamtheit sein und umgekehrt, und das Motto derselben müsste heissen: »Einer für alle und alle für einen«, während jetzt in der; Regel das Gegenteil stattfindet. Unsre grössten Gewinne erzielen wir durch eine der traurigsten Ursachen oder durch den Tod derjenigen, welche uns im Leben die liebsten waren, indem wir sie beerben. Der Baumeister und alle bei Bauten beschäftigten Arbeiter müssen sich freuen, wenn Häuser einstürzen oder abbrennen; die Grubenarbeiter desgle11ichen, wenn hunderte ihrer unglücklichen Kameraden im Dunste der Bergwerke ersticken; der Arzt muss sich freuen, wenn es viele Krankheiten giebt; der Advokat nährt sich von Prozessen, welche seinen Mitbürgern Ruhe und Vermögen rauben; der Richter muss Gefallen haben an grossen Kriminalprozessen; die Offiziere müssen sich freuen, wenn das grösste Übel, welches die Menschheit betreffen kann, der Krieg ausbricht, weil sie davon Beförderung erwarten; der Familienvater muss sich freuen, wenn seine Nachkommenschaft möglichst klein bleibt, obgleich der eigentliche Zweck der Familie dabei verloren geht; der Wirt oder der Verkäufer geistiger Getränke muss sich freuen, wenn die Trunksucht, und die verlorenen Töchter des Volkes müssen sich freuen, wenn die Unzucht zunimmt; alle Handwerker und Produzenten müssen sich freuen, wenn die von ihnen erzeugten Gegenstände übermässig rasch verbraucht werden; ein Gewitter oder Hagelschlag wird trotz des durch solche Naturereignisse angerichteten Schadens von dem Glaser oder Versicherungsagenten gern gesehen; wie denn überhaupt beinahe alles, was dem einen Schaden, dem ändern Verdienst bringtMan könnte noch lange mit Aufzählung ähnlicher Beispiele fortfahren, aber diese Vermehrung würde am dem Resultat nichts ändern.Dazu kommt der demoralisierende Charakter der Arbeit selbst, welche in der Regel nicht aus Interesse für das Gemeinwohl, sondern aus Zwang der Umstände geleistet wird. Der heutige Arbeiter ist ein Sklave wie ehedem, nur mit dem Unterschiede, dass ihn nicht die Peitsche des Herrn, sondern diejenige des Hungers in die Abhängigkei12t von seinem Arbeitgeber treibt. Aber dieser Arbeitgeber selbst ist wieder ein Sklave — ein Sklave des Kapitals, der Konkurrenz, der Geschäftskrisen, der Strikes, der Verluste und oft in weit schlimmerer Lage, als der von ihm bezahlte Arbeiter.Ist so der Widersinn des Systems schon gross genug inmoralischerBeziehung, so ist er noch grösser inökonomischerHinsicht, Denn während die Erde so viele Nahrungsstoffe hervorbringt, dass die ganze lebende Menschheit reichlich damit versorgt werden könnte, und bei richtiger, von gemeinsamen Grundsätzen geleiteter Bewirtschaftung noch viel mehr hervorbringen könnte, und während der Nationalwohlstand und die Ansammlung kolossa. Reichtümer in einzelnen Händen eine nie gesehene Höhe erreichen, müssen wir fortwährend mitten im Überfluss jene Szenen von Hunger, Entbehrung, unverschuldetem Kranksein und frühzeitigem Sterben erleben, die bereits geschildert worden sind. Wie heuchlerisch ist die Fürsorge des Staates für seine Bürger, um dieselben vor der kleinsten Versündigung gegen Leben, Eigentum oder Gesundheit zu schätzen, während er ruhig zusieht oder duldet, dass fortwährend Tausende durch Not, Elend und Entbehrung schnell oder langsam in einen bald freiwilligen, bald unfreiwilligen Tod getrieben werden, oder dass durch mangelhafte Erziehung und Ernährung eine an Geist und Körper verkrüppelte Jugend emporwächst, die mit der Zeit die Strafgerichte beschäftigt, die Gefängnisse füllt oder der Armenpflege zur Last fällt. Man erlässt scharfe Gesetze gegen Tierquälerei, aber man hat kein Auge für jene entsetzliche Menschenquälerei, welche erlaubt, dass blasse, schwindsüchtige Mädchen oder Frauen, ja ganze Bevölkerungen, wie die13schlesischen und erzgebirgischen Handweber, Tag und Nacht für Löhne arbeiten, welche kaum hinreichen, sie vor dem Hungertode zu schützen; oder dass andre tausende, um desselben Zweckes willen, Leben und Gesundheit in absolut schädlichen Fabrikationszweigen zum Opfer bringen; oder dass barfüssige, kaum mit Lumpen bekleidete Kinder bei Winterskälte in den Strassen unsrer Städte umherirren; oder dass ein Dutzend Menschen in einem Wohnraume zusammengedrängt ist, der kaum für einen Einzigen hinreicht, während ein andrer zehn oder zwölf Zimmer und mehr für sich allein zur Verfügung hat; oder dass die Wohnungen der Armen oft schlechter sind, als die Hundehütten und Pferdeställe der Reichen; oder dass vielen nichts übrig bleibt, als ihre Nächte im Freien zuzubringen, auf die Gefahr hin, dafür verfolgt und bestraft zu werden, während beispielsweise in Berlin 40000 Wohnungen leer stehen; oder dass es Menschen giebt, welche aus Hunger und Nahrungssorgen schnell oder langsam zu Grunde gehen, während der blosse Abfall von dem Tische der Reichen oder ein geringer Prozent ihres Überflusses solches verhüten könnte, u. s. w. u. s. w.Wenn man in Gebirgsgegenden sehen muss, wie sich fette Weiber von keuchenden und schwitzenden Menschen mit höchster Gefahr für deren Leben und Gesundheit auf hohe Aussichtspunkte hinaufschleppen lassen, bloss um eines armseligen Geldlohnes willen, so muss man mit Hass gegen eine Gesellschaftsordnung erfüllt werden, welche dem Gott Mammon erlaubt, seine elenden Geldsklaven ebenso zu den niedrigsten Sklavendiensten und zur blinden Unterwürfigkeit unter seine Gebote zu zwingen, wie es ehedem den Herrn über Sklaven oder Leibeigene zu thun erlaubt war.14Ich wiederhole, dass es im allgemeinen nur wenige geben wird, welche diese nackten Thatsacheu zu leugnen oder den damit verbundenen Zustand als solchen zu verteidigen wagen. Man erkennt die sozialen Schäden und Widersinnigkeiten als solche an, wie ja schon daraus hervorgeht, dass die dadurch hervorgerufene Litteratur mit zahllosen Besserungsvorschlägen fast unabsehbar geworden ist. Aber — so pflegt man diesen Vorschlägen gegenüber zu antworten — der Zustand ist leider nicht zu ändern. Es war von jeher so und wird immer so sein und bleiben. Ungleichheit ist ein notwendiges Attribut der menschlichen Gesellschaft. Zu allen Zeiten hat es Adel und Stände, Reiche und Arme gegeben, und die grosse Masse ist immer nur zum Arbeiten und Gehorchen dagewesen. Vernunft und Gerechtigkeit in sozialer Beziehung sind immer Ideale geblieben; und alle Gesellschafts-Idealisten, Plato mit seinem Vernunftstaat an der Spitze, haben in der Praxis stets schmählich Schiffbruch gelitten. Wollte man auch heute alle Besitztümer gleichmässig verteilen, so würde sehr bald wieder die alte Ungleichheit da sein. Auch würde, wie eine Berechnung leicht ergiebt, eine solche allgemeine Verteilung des Besitzes dem Einzelnen verhältnismässig nur sehr geringen Gewinn einbringen.Man versäumt dabei nicht, an die grossen Wohlthaten der Konkurrenz zu erinnern, welche den eigentlichen Sporn der Arbeit und des Fortschritts bildet und welche es zu Wege gebracht hat, dass sich heutzutage durch die Billigkeit der Erzeugnisse die Konsumtion mehr oder weniger nach der Produktion richtet, während man früher allgemein der Meinung war, dass das umgekehrte Verhältnis das allein15richtige oder mögliche sei.Aber wie soll diesen Einwänden begegnet, wie soll geholfen werden? Diese Frage ist um so schwieriger zu beantworten, als bis jetzt alle die zahllosen Versuche und Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage erfolglos geblieben sind. Dies darf jedoch den Menschenfreund nicht abschrecken, immer wieder von neuem an Mittel der Abhilfe zu denken. Es muss geholfen werden und — was die Hauptsache ist — eskanngeholfen werden.Esmussgeholfen werden, wenn man nicht riskieren will, dass jede politische Umwälzung oder Erschütterung der Gegenwart (und an solchen fehlt es ja niemals) von schweren sozialen Erschütterungen begleitet sein wird. Ein allgemeines Gefühl sozialer Unbehaglichkeit oder Ungerechtigkeit, namentlich in den niederen Schichten der Bevölkerung, hat sich der Mehrzahl der Menschen bemächtigt, und eine künftige Revolution wird nicht, mehr, wie in der ersten und zweiten französischen Revolution, vor dem »Eigentum« stehen bleiben. An deutlichen Anzeichen dieser in den Tiefen der Volksseele tigerartig gärenden Leidenschaften und Gelüste fehlt es ja in keiner Weise; dieselben werden sich zu gelegener Zeit Luft machen, ohne dass man im Stande sein wird, durch Gewaltmassregeln etwas andres zu erreichen, als die Erziehung von Märtyrern und Fanatikern. Die Nihilisten in Russland, die Communards in Frankreich, die Sozialdemokraten in Deutschland, die Fenier, die Irredentisten, die Dynamiteriche, der sein Haupt immer mehr erhebende und förmlich Schule machende Anarchismus sind gewissermassen nur die Sturmvögel oder Warnungssignale einer kommenden Umwälzung; und der Staatsweise oder16Staatslenker, der sie unbeachtet lassen wollte, würde dem Schiffer gleichen, der die sein Schiff vor dem Sturm umflatternden Seemöven nicht beachtet oder dieselben mehr als Verfolgungs-Objekte, denn als Warner behandelt. Denn »wer seine Zeit damit verbringt, Jagd zu machen auf die Möven, wird vom Sturm überrascht und beschädigt werden an Leben und Gut.« (Radenhausen.)Sollte es aber auch, was ja nicht unmöglich wäre, gelingen, durch Gewaltmassregeln jeden Versuch einer sozialen Umwälzung dauernd zu unterdrücken, so würde doch damit die geschilderte Unzufriedenheit und Unbehaglichkeit aus dem Schosse der Gesellschaft nicht nur nicht entfernt, sondern nur noch vermehrt oder gesteigert werden. Es würde mit der Zeit eine Art heimlichen Kriegszustandes zwischen den besitzenden und den nicht-besitzenden Klassen der Gesellschaft entstehen, welcher die Ruhe und das Glück des Gemeinwesens nicht weniger alterieren würde, als ein offener Krieg. Denn wenn man beispielsweise erfährt, dass im Jahre 1864 in England dreitausend Personen ein jährliches Einkommen von ungefähr 500 Millionen Mark, oder mehr als das jährliche Gesamteinkommen aller Ackerbauarbeiter von ganz England und Wales, unter sich teilten, so wird man einen dauernden sozialen Frieden auf dem Boden eines solchen Missverhältnisses wohl kaum für möglich halten dürfen.Glücklicherweise fehlt es nicht an der Möglichkeit, diesem Zustand zu begegnen oder den drohenden Sturm nicht zum Ausbruch kommen zu lassen, ohne dass man nötig hätte, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen, und zwar mit Hilfe einer Anzahl friedlicher Reformen, welche, auf dem17Boden der jetzigen Gesellschaftsordnung stehend, von da langsam und allmählich zu einem besseren Zustand der Dinge hinüberleiten — vorausgesetzt, dass es gelingt, die Mehrzahl der Menschen von der Wohlthätigkeit und Notwendigkeit solcher Massregeln zu überzeugen. Wir sehen hierbei selbstverständlich ab von jener radikalen oder radikalsten Lösung der sozialen Frage, wie sie derKommunismusverlangt. Ein solcher Zustand, wobei der gesamte Besitz gemeinschaftlich und die Arbeit ganz frei oder freiwillig sein würde, und von dem noch einmal ausführlicher die Rede sein wird, wäre wohl denkbar, ist aber für jetzt in grösserem Massstabe unausführbar, teils wegen der allgemeinen Abneigung gegen denselben, teils wegen der Schwäche der menschlichen Natur, welche durch lange Jahre des Egoismus und Individualismus für Ertragung derartiger Idealzustände unfähig geworden ist. Ein solcher Zustand würde erst möglich sein am Ende einer langjährigen Erziehung des menschlichen Geistes im Sinne des Altruismus und Kollektivismus oder der allgemeinen Bruder- und Menschenliebe.Es bleibt sonach nichts übrig, als Ausschau nach andern Mitteln oder Hilfen zu halten. Hier wird uns denn wieder der richtige Fingerzeig gegeben durch dieNaturwissenschaft, welche heutzutage bestimmt sein dürfte, nicht bloss diegeistige, sondern auch diesozialeBefreiung der Menschheit zu bewirken.Ich komme dabei zurück auf den von dieser Wissenschaft in das rechte Licht gesetztenKampf um das Dasein, welcher leider unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen noch ganz den Charakter des rohen Daseinskampfes der Natur trägt, nur mit dem Unterschied, dass e18rhiermit mehr oder wenigergleichen, dort mit sehrungleichenMitteln gekämpft wird.Da lautet denn das erlösende Losungswort:Ersetzung der Naturmacht durch die Vernunftmacht, d. h. möglichste Ausgleichung der Mittel und Umstände, unter denen und mit denen gekämpft wird. An die Stelle des Einzelkampfes um das Dasein muss ein gemeinsamer Kampf allerfürdas Dasein treten. Mit ändern Worten: die Stelle des rohen Naturkampfes muss ein gemeinschaftlicher, durch Vernunft und Gerechtigkeit geregelter sozialer Kampf um die Lebensbedingungen ersetzen.Der Kampf, wie er unter den jetzigen sozialen Verhältnissen geführt wird, verdient den Namen eines eigentlichen Kampfes, eines Wettbewerbs mit gleichen Mitteln weit weniger, als denjenigen einer gesetzlich geregeltenUnterdrückung. Oder wie wäre anders der Kampf eines Menschen zu bezeichnen, den man, allenfalls mit einem hölzernen Säbel bewaffnet, gegen Flinten und Kanonen schicken wollte Oder der Wettlauf eines Menschen mit blossen Füssen mit einem andern, der Pferde oder Eisenbahnen zur Verfügung hätte! Oder wie wäre anders der Wettbewerb zwischen zwei Menschen zu bezeichnen, von denen der eine alle Vorteile von Rang, Reichtum, Erziehung, Bildung, sozialer Stellung u. s. w. für sich hätte, während der andre über nichts verfügte, als über die Kraft seiner nackten Arme und seines ungebildeten Verstandes!Der Ausgang eines solchen Kampfes oder Wettbewerbs ist zum voraus entschieden. In der Regel ist das Schicksal des einzeln19en Menschen schon in seiner Geburt besiegelt und das gesellschaftliche Sklaventum desjenigen, dessen Wiege in der Hütte eines armen Mannes gestanden hat, mit seinem ersten Atemzuge entschieden. »Die Fesseln einer niederen Geburt«, sagt J. C.Fischer1»schleppen wir durch das ganze Leben, und an ihnen zerschellt oft die unerhörteste Anstrengung eines ganzen Lebens.«Zwar wird man entgegnen, dass man sehr eklatante Ausnahmen von dieser Regel kennt. Man wird z. B. an den vor kurzem gestorbenen AmerikanerJay Goulderinnern, der als armer Hirtenjunge in Amerika einwanderte und als beispielloser Millionär starb. Diese Ausnahmen oder Glücksfälle können und sollen nicht geleugnet werden; aber sie sind eben nur überaus seltene Ausnahmen, welche die Regel nicht umstürzen. In der Regel erhalten sich Rang und Reichtum bei einzelnen Familien oder Ständen oder Gesellschaftsschichten für unbestimmt lange Zeiten.Glücklicherweise fehlt den unterdrückten Klassen der Gesellschaft das volle Bewusstsein oder die volle Empfindung ihrer Lage. Die Macht der Gewohnheit stumpft ihr Gefühl dafür ab und lässt sie dasjenige, was doch nur Menschenwerk ist, als eine unvermeidliche Fügung des Schicksals betrachten. Wenn dies nicht so wäre, würden wir schon längst jene soziale Revolution haben, welche fortwährend angekündigt wird, aber dennoch nicht kommen will. Auch hat es die Natur weise so eingerichtet, dass das Glück mehr im Charakter und Temperament des Einzelnen, als in den äusseren Lebensumständen liegt. Wer ein glücklich angelegtes Temperament hat, wird sich in jeder Lebenslage mehr oder weniger wohl fühlen, während ein Melancholiker oder e20in zu Ängstlichkeit und Trübsinn geneigter Mensch durch keine Glücksumstände froh oder zufrieden gemacht werden kann.Trotzdem zeigen die bereits angeführten Umstände und Erscheinungen deutlich, dass sich die Gesellschaft im grossen und ganzen in hohem Grade unwohl fühlt und einer kommenden Umwälzung entgegensteuert. Die erschreckende Ausbreitung der Sozialdemokratie wäre unbegreiflich, wenn nicht das Bewusstsein ihrer gedrückten Lage in den unteren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft in fortwährendem Zunehmen begriffen wäre. »Thatsache ist«, sagt F. A.Langein seiner vortrefflichen Schrift über die Arbeiterfrage2, »dass der Kampf um das Dasein gerade jetzt wieder in der mächtigsten und entscheidendsten Schicht der Nation in seiner ganzen ermattenden Schwere empfunden wird, und dass die Geister beginnen, der Einförmigkeit dieses Druckes überdrüssig zu werden.«Eine Änderung dieses trüben Zustandes ist, wie gesagt, nur möglich durch eine grössere Ausgleichung in den Mitteln, womit jeder einzelne seinen Kampf um das Dasein kämpft — eine Ausgleichung, welche sich vor allen Dingen auf die Besitzes-Verhältnisse zu erstrecken hat. Ferner durch die Umwandlung des Einzelkampfes in eben gemeinschaftlichen, solidarisch verbundenen Kampf aller gegen die Übel des Lebens, welche da sind Hunger, Kälte, Elend, Entbehrung, Krankheit, Alter, Unfall, Invalidität und Tod, oder durch Herbeiführung eines Zustandes, in welchem das Wohl des Einzelnen mehr oder weniger identisch wird mit dem Wohl der Gesamtheit und umgekehrt — ein Zustand, in welchem21das schöne Wort zur Wahrheit wird: »Einer für alle und alle für einen.«Ein solcher Zustand wäre, wie ich glaube, sehr leicht herbeizuführen, ohne das der Arbeits- und Erwerbstrieb des Einzelnen darunter Not leidet, so dass jeder die Früchte seines eigenen Fleisses, seiner eigenen Thätigkeit und Intelligenz geniesst und zwar durch Herbeiführung einer Versöhnung zwischen den Einzel- und den Gesamt-Interessen.Allerdings muss zugegeben werden, dass einevollständigeAusgleichung in dieser Richtung — wenigstens für den Anfang — kaum als möglich gedacht werden kann. Aber auch schon eineteilweiseAusgleichung muss und wird von den wohlthätigsten Folgen begleitet sein und wird voraussichtlich allmählich zu einem Zustande hinüberleiten, der eine gänzliche Lösung der sozialen Frage in Aussicht stellt. Namentlich wird der an sich so wohlthätige Sporn der Konkurrenz durch diese Lösung nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil geschärft werden, indem jeder nur die Früchte seines eigenen Fleisses geniessen und nicht auf Kosten andrer wird leben können. Auch ist die Lösung möglich ohne Verwischung der natürlichen Ungleichheiten der Gesellschaft durch Geburt, Familie, Wohnort, Anlage, inneres Bedürfnis, geistige und körperliche Vorzüge, Verschiedenheit der Beschäftigung u. s. w. Diese natürlichen Ungleichheiten oder Verschiedenheiten können nicht beseitigt werden, weil in der Natur des Menschen und der Dinge selbst gelegen. In einer Versöhnung des Individualismus mit dem Kollektivismus, vulgo Sozialismus, oder in einer richtig organisierten Übereinstimmung der Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen mit den Interessen und Bedürfnissen der Gesamtheit scheint daher22das ganze soziale Problem der Zukunft zu liegen. »Es ist schlechthin undenkbar«, sagt W. E.Backhaus3, »dass in einem Staatsganzen, dessen Einrichtungen auf dem Vernunftgesetz beruhen, Sozialismus und Individualismus als feindliche Kräfte gegeneinander wirken sollten.« Die innige Verbindung des individualistischen Gedankens mit dem sozialistischen, des Individuums mit der Gesellschaft bedeutet in Wahrheit die Durchführung des grossen staatswirtschaftlichen Grundgesetzes, nach welchem der Vorteil des Einzelnen stets auch der Vorteil der Gesamtheit sein soll. Es ist hohe Zeit, dass der Konflikt zwischen Einzel- und Gesamtinteressen im wirtschaftlichen Leben der Völker seine Lösung finde — eine Lösung, welche nicht in der Hand dunkler Schicksalsmächte, sondern einzig und allein in der Hand des Menschen selbst liegt. »Sozialwirtschaft und Individualwirtschaft gehören in einem Staatsganzen zu einander; sie ergänzen und fördern sich gegenseitig; sie gehören zusammen wie Leib und Seele u. s. w.«Was nun die Mittel dieser Versöhnung oder der sozialen Erlösung betrifft, so können dieselben dreierlei Art sein. Sie heissen1) Abschaffung der sog. Bodenrente oder Zurückführung des von Natur- und Rechtswegen allen gehörigen Eigentums an Grund und Boden in den Besitz der Gesamtheit (mit selbstverständlichem Einschluss der Wasserkräfte und des Bergbaues).2) Reform d. h. allmähliche, gradweise bis zur viell23eicht gänzlichen Abschaffung sich steigernde Reform der Erbrechte.3) Umwandlung des Staates in eine allgemeine, solidarisch verbundene Versicherungsgesellschaft gegen Krankheit, Alter, Unfall, Invalidität und Tod.Was den ersten Punkt betrifft, so kann es wohl kaum einen weniger anfechtbaren Grundsatz des Naturrechts geben, als denjenigen, dass die Mutter Erde, die uns alle erzeugt hat, die aber von niemand erzeugt worden ist, und ohne welche menschliches Dasein eine Unmöglichkeit sein würde, nicht einzelnen, sondern allen gehört. Gleichwie der Mensch ein Produkt der Erde ist, so muss auch sein Dasein in dem Anrecht an den Besitz derselben begründet sein. Der Mensch ist nichts und vermag nichts ohne den Beistand der Mutter Erde und ihrer nie versiegenden Kraft; er kann nichts erwerben, nichts hervorbringen, nichts besitzen ohne Benutzung ihrer Kräfte und ihrer Gaben. Daraus folgt, dass nach den einfachsten Grundsätzen der Billigkeit und Gerechtigkeit die Benutzung dieser Gaben und Kräfte jedem zur Welt Gekommenen in gleicher Weise zur Verfügung stehen muss, und dass das Recht an den Grund und Boden ein ebensolches Naturrecht ist, wie das Recht, die freie Luft zu atmen oder das der Erde entquellende Wasser zu trinken oder sich von der Sonne bescheinen zu lassen. Leider wird diesem Grundsatz in der Wirklichkeit in greulicher Weise Hohn gesprochen. Eine Reihe von Umständen, wie Gewalt, Eroberung, Krieg, Vererbung, Kauf, Schenkung, Feudal- und Lehnsgüterwesen u. s. w. haben es im Laufe der Zeit dahin gebracht, dass eine Minderheit durch den Besitz von Grund und Boden zur Beherrscherin der ganzen Menschheit geworden ist, bis schliesslich alles so verteilt war, dass kein Platz oder Raum für den zu spät Gekommenen übrig geblieben,24und dass dieser, wenn er nicht selbst zufällig als Besitzer geboren ist, in der Luft hängen bleiben müsste, wenn er nicht sofort das Recht der Niederlassung dadurch erkaufen würde, dass er seine von der Natur ihm verliehenen Arbeitskräfte denen, welche im Besitz des Bodens und der Arbeitsmittel sind, leibeigen giebt. Die ungeheure Macht der Gewohnheit hat es dahin gebracht, dass die grosse Mehrzahl der Menschen diesen rechtlosen Zustand als etwas Natürliches oder Selbstverständliches hinnimmt, während derjenige, der den Ursachen desselben nachgeht, alsbald findet, dass das private Eigentum an Grund und Boden nicht von der Natur, sondern von Gewalt und Usurpation herkommt Auch war dieses Naturrecht im frühesten Altertum fast Überall mehr oder weniger anerkannt, so in Palästina, Griechenland, Italien, Germanien, Gallien, Indien, China, Japan, Peru u. s. w. Schon in den ältesten geschichtlichen Urkunden unsres Geschlechts finden wir den Gedanken der Gemeinsamkeit des Bodens deutlich ausgesprochen, so namentlich in der Bibel, deren zahlreiche darauf bezügliche Aussprüche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Zwar war bei den alten Hebräern der Grund und Boden Familieneigentum; aber alle fünfzig Jahre fand eine Neuverteilung des Bodens statt. Ebenso erkannte der chinesische DenkerLaotsein dem Besitz der Erde ein allen Menschen vom Weltall-Gott anvertrautes heiliges Gut. Dementsprechend war das Bodeneigentumsrecht in China nur ein Nutzungsrecht und nur als solches Übertragbar, während das Eigentum selbst der durch den Staat repräsentierten Gesamtheit verblieb und in der Theorie noch bis auf den heutigen Tag verbleibt. Erst infolge einer langen Reihe von Gewaltmassregeln un25d Usurpationen konnte die individuelle Aneignung des Grundes und Bodens in China durchgesetzt werden. Ebenso war es in Japan, wo erst die mongolischen Eroberer mit Gewalt das Feudalsystem einführten. Die Indier kannten vor der englischen Eroberung weder das Recht der Veräusserung des Grundeigentums, noch das Testament.NachBackhaus(a. a. O.) erscheint es als höchst wahrscheinlich, wenn nicht als gewiss, dass Grund und Boden im Anfang der Geschichte überall Gemeinbesitz der Völker gewesen sind. Auch haben sich die alten Philosophen dafür erklärt.Aristoteleserklärt, dass Grund und Boden notwendig Gemeingut sein müsse, undPlatoverlangt, dass jedem Bürger ein gleich grosses oder gleich ertragsfähiges Stück Land als unteilbar und unveräusserlich zur Benutzung übergeben werde. Auch hatten Rom und Griechenland anfangs dementsprechende Acker-Verfassungen. In Sparta hielt das Verbot des Bodenverkaufs und des Testaments lange Zeit die Gleichheit des Besitzes aufrecht; und in Athen unterwarfenSolonund seine Nachfolger das individuelle Eigentum überhaupt schweren Beschränkungen, wahrscheinlich als Reminiscenzen eines anfänglichen Kommunismus, Auch in Rom hat sich das individuelle Eigentum an Grund und Boden nur nach und nach aus dem gemeinsamen herausgebildet. Anfangs Gemeinde-Eigentum wurde es später zum Eigentum der einzelnen Familien und Geschlechter, welche letzteren in Bezug auf den Besitz gewissermassen nur eine einzige Person bildeten. Erst mit dem Gesetz der zwölf Tafeln und mit der Einführung der Rechte von Verkauf und Testament gewann das individuelle Eigentum das Übergewicht über das gemeinsame. Das grosse Grundeigentum26verschlang allmählich das kleine, und es entstanden Zustände, wie wir sie jetzt noch in England zu beobachten Gelegenheit haben. Sicher ist es auch, dass nach altemgermanischemRecht der grösste und unentbehrlichste Teil des bewirtschafteten Bodens oder die sog. Aussenmark Gemeinbesitz der Markgenossen war, während die sog. Binnenmark dem Einzelnen nur in der Eigenschaft als »Verwalter« gehörte. »Eine Ausnutzung und Ausbeutung des Grundbesitzes und der Bodenkraft durch Einzelne zum Zwecke des ausschliesslich eignen Vorteils war den alten Deutschen gänzlich unbekannt.« Und diesem Bodenrecht und dem dadurch bethätigten Gemeinsinn verdankten die alten Germanen ihre Freiheit und ihre unerschöpfliche Kraft. Erst dem dämonisch wirkenden Geist der römischen Gesetzgebung mit ihrer übermässigen Betonung der persönlichen Besitz- und Eigentumsrechte gelang es, auch im alten Germanien ein Privatrecht auf den Bodenbesitz zu schauen. Es war das Nessushemd, welches die sterbende Roma dem germanischen Riesen arglistig vermachte. Aber so urgesund waren die alten germanischen Rechtseinrichtungen, dass sich Reste des Gemeinde-Eigentums unter verschiedenen Bezeichnungen bis heute in einzelnen deutschen Landen und Ortschaften erhalten haben. Der Zeitschrift »Freiland«, dem Organ der Deutschen Gesellschaft für Bodenbesitzreform, ist es gelungen, nachzuweisen, dass in Deutschland noch mehr als hundert Ortschaften existieren, welche im glücklichen Besitze von Gemein-Eigentum an Grund und Boden geblieben sind. Noch weit mehr ist diese Einrichtung erhalten geblieben in einem grossen Teile von Russland, sowie in manchen Dörfern Serbiens und Kroatiens, auch bei vielen asiatischen Horde27n in der Form des russischen sog. »Mir«, wobei das Land gemeinschaftlich von allen Gemeindemitgliedern besessen und bebaut und die Ernte gleichmässig verteilt wird. In der Schweiz findet sich ein Überrest dieser alten Einrichtung in der Form des sog. »Allmend«. In ganz Afrika besteht nachLetourneau4die Individualisierung und Mobilisierung, des Grundeigentums nur ausnahmsweise. Ebenso ist es mit dem eingeborenen Amerikanertum, bei welchem die Jagd- und Fischgründe nicht dem Einzelnen, sondern dem Stamm oder der Tribus angehören. In Java besteht noch überall Gemeinsamkeit des Bodens und eine Verfassung, welche sich sehr derjenigen des bereits erwähnten russischen Dorfsystems »Mir« nähert. Bei den alten Peruanern bestand nachPrescott5ein systematisch durchgeführter und von oben geleiteter Kommunismus, welcher zur Folge hatte, dass es keine Armut und keinen Mangel gab, und dass für Alte, Schwache, Kranke oder vom Unglück Betroffene ausreichend gesorgt war u. s. w.Wendet man diese Erfahrungen auf die Vorgeschichte des Menschen an, so ist man wohl genötigt, anzunehmen, dass, wie Verfasser in seiner Schrift über das goldene Zeitalter näher ausgeführt hat, die wilden Horden der Urzeit das persönliche Eigentumsrecht so wenig oder in so beschränkter Weise kannten oder achteten, wie die Wilden der Gegenwart; — und zwar nicht bloss bei Jägern und Fischern, bei denen ein festes Eigentum an Grund und Boden kaum möglich war, sondern auch bei Ackerbauern. Nur die Waffen und Werkzeuge,28welche sich der Einzelne selbst angefertigt hatte, galten als sein persönliches Eigentum, obgleich es nachPlutarchsogar noch den alten Lacedämoniern erlaubt war, sich der Pferde, Hunde und Werkzeuge ihrer Nachbarn zu bedienen, wenn diese keinen Gebrauch davon machten.Die Rückkehr zu den alten Zuständen oder die Rückgabe des von Natur- und Rechtswegen allen gehörigen Besitzes von Grund und Boden an die Gesamtheit ist übrigens — auch abgesehen von allen sozialen oder naturrechtlichen Gründen — eine solche ökonomische oder staatswirtschaftliche Notwendigkeit, dass sie auf die Dauer trotz allen Widerstrebens gar nicht umgangen werden kann. Denn bei dem riesigen Anwachsen der Bevölkerung in den europäischen Ländern giebt es kein andres Mittel, um den Boden auf seine äusserste Ertragsfähigkeit auszubeuten. Es kann und darf daher dem einzelnen Besitzer eines Grundstücks nicht überlassen bleiben, ob und bis zu welchem Grade er dasselbe ertragsfähig machen will oder nicht, sondern es muss dem Boden im Interesse der Gesamtheit alles abgerungen werden, was ihm irgend abgerungen werden kann. Dieses kann aber nur geschehen durch den auf die Grundsätze der wissenschaftlichen Landwirtschaft gestützten Grossbetrieb, sowie dadurch, dass kein Fleckchen Erde nach Massgabe seiner Lage und Beschaffenheit unbenutzt bleibt, während der Privatbetrieb hierin ganz willkürlich und sehr oft unrationell verfährt oder verfahren kann. Nirgendwo tritt dieses deutlicher zu Tage, als in England, wo bekanntlich der gesamte, für Ackerbau bestimmte Grund und Boden bei einer Bevölkerung von ca. 35 Millionen in den Händen von nur 14-15000 Eigentümern sich befindet, welche daraus — in der Regel arbeitslos und ohne jede eigene Bemühung29— eine jährliche Rente von nicht weniger als 4000 Millionen Mark ziehen, Von dem riesigen Güter-Komplex des Herzogs von Sutherland z. B. (11 Mill. Acker) befinden sich nur ca. 23000 Acker unter Cultur; und das Gesamterträgnis berechnet sich im Durchschnitt aufeineMark pro Acker, während dasselbe in einzelnen Teilen auf das Vierzigfache gesteigert werden könnte. Aber die unermesslich reichen englischen Landlords ziehen es vor, aus kulturfähigern Boden, auf welchem sich tausende fleissiger Menschen ernähren könnten, Schaftriften oder Wildparks oder Rennbahnen oder herrschaftliche Gärten u. s. w. zu machen, und nehmen keinen Anstand, die Ansiedler oder Einwohner zu diesem Zweck unbarmherzig auszutreiben; und Ähnliches geschieht, wenn auch nicht in gleich hohem Grade, wie in England, überall. So besitzen in Deutschland die zehn grössten Grundbesitzer ein Neuntel der gesamten angebauten Bodenfläche Deutschlands, während Frankreich hinsichtlich der Verteilung von Grund und Boden weit besser daran ist. Sogar in Amerika, wo doch Überfluss an Grund und Boden vorhanden ist, machen sich die traurigen Folgen des privaten Bodenbesitzes bereits in solcher Weise geltend, dass die bekannte Schrift des Amerikaners H.Georgeüber Fortschritt und Armut, worin jener Besitz als Hauptquelle des sozialen Übels dargestellt wird, Millionen von Lesern finden konnte. Es war eine der thörichtesten und zugleich ungerechtesten Handlungen oder Versäumnisse der amerikanischen Staatsverwaltung, dass sie nicht, was ihr ein Leichtes gewesen wäre, das unermessliche Landgebiet, das ihr zu Gebote stand, von vornherein für National-Eigentum erklärte und parzellenweise an Private verpachtete, sondern dasselbe teils an Monopolisten und Pr30ivatgesellschaften verschenkte, teils zu Schleuderpreisen an Private wegwarf, teils der willkürlichen Besitzergreifung überliess. Eine Ausnahme hat man nur mit dem grossen Nationalpark im Staate Colorado gemacht, welcher beinahe so gross ist, wie das Königreich Sachsen — aber nicht zu nationalökonomischen, sondern zu Zwecken des Privatvergnügens für Reiche und Vermögende. Hätte man es mit dem gesamten Grund und Boden so gemacht, so müsste jetzt ein unermesslicher, nicht zu erschöpfender Nationalreichtum des amerikanischen Volkes die Folge sein, während dieser riesige Schatz jetzt nur dem Privatnutzen dient. Am auffallendsten und ungerechtesten erscheint ein solcher Privatnutzen dort, wo durch einfache Vermehrung der Bevölkerung der Wert des Grundeigentums oft bis in das Ungemessene steigt, wie namentlich in der Mitte und Nähe wachsender Grossstädte, wo oft Landstrecken, welche vorher beinahe keinen Wert hatten, binnen kurzer Zeit zu wahren Goldfeldern für ihre Besitzer werden, — und zwar ohne jedes eigne Zuthun oder Verdienst der letzteren, lediglich durch den Fleiss und die Thätigkeit der Gesamtheit, welche nichtsdestoweniger dieses Resultat ihres Fleisses ohne jeden Abzug dem einzelnen Privateigentümer in den Schoss wirft.Was nun die Art und Weise des Übergangs des Privatbesitzes an Grund und Bodens in denjenigen des Staates oder der Gesamtheit betrifft, so ist dieses eine sekundäre Frage, welche von den verschiedenen Verteidigern der Bodenbesitzreform in verschiedener Weise beantwortet wird. Es versteht sich dabei von selbst, dass von einer gewaltsamen Aneignung nicht die Rede sein kann, sondern nur von einer Ablösung der Rente oder des Bodens selbst gegen massige31und abschätzungsweise festzustellende Entschädigung, Denn, wenn sich auch, wie nachgewiesen, sehr viele und vielleicht gerade die bedeutendsten Besitztitel an Grund und Boden nicht aus rechtlichem Erwerb, sondern aus den Zeiten der Gewalt herschreiben, so darf doch, da nach Verlauf so langer Zeit Untersuchungen über die Rechtlichkeit der Erwerbstitel nicht mehr angestellt und die Nachkommen nicht für die Sünden der Voreltern verantwortlich gemacht werden können, niemand in seinen jetzt bestehenden Rechtsansprüchen gekränkt oder benachteiligt werden.Die weitgehendste Art und Weise wäre ein Rückkauf nach vorheriger Abschätzung — wobei kleinere Güter oder Grundstücke nach ihrem vollen Wert bezahlt, sehr grosse aber einer gewissen Reduktion des Preises unterworfen werden müssten, — entweder gegen bar oder gegen eine in Form von Pfandbriefen auszugebende Staatsrente. Allerdings würden hierzu für den Anfang grosse Geldmittel notwendig sein; aber sie würden kein ernstliches Hindernis bilden, wenn durch Annahme meines zweiten Vorschlags auf Einschränkung der Erbrechte der ganze Bodenbesitz oder wenigstens der grösste Teil desselben im Laufe eines oder weniger Menschenleben an den Staat zurückfallen würde. Dazu käme sodann der durch Zunahme der Bevölkerung und rationellere Bewirtschaftung des Bodens im Grossbetrieb fort und fort steigende Bodenwert, welche Steigerung unter allen Umständen, als durch die Gesamtheit erarbeitet, auch der Gesamtheit oder dem Staate zu Gute kommen müsste.Die erklärten Anhänger der Bodenbesitzreform, welche sich in Deutschland zu einem besonderen »Bund« mit einer Anzahl von Zweigvereinen zusammengetha32n haben und im Besitze eines besonderen, in Berlin erscheinenden Organs unter dem Titel »Freiland« sind, scheinen in ihrer Mehrzahl der Ansicht zu sein, dass »die Überführung des Grundbesitzes, bez. der Grundrente, aus den Händen einzelner in die Hände der Gesamtheit«, welche laut Statut den Zweck ihrer Bestrebungen bildet, hinreichend sei, um, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar eine vollständige Lösung der sozialen Frage herbeizuführen. Sie erwarten davon durch Beseitigung des Hypothekenwesens in letzter Linie die Beseitigung der Macht des Privatkapitals an Grund und Boden, sowie derjenigen des mobilen Kapitals überhaupt, indem sie den überwiegenden Privatbesitz an Grund und Boden für die Ursache aller sozial-wirtschaftlichen Drangsale und für die Grundlage aller wirtschaftlichen Unfreiheit erklären. Namentlich wird dadurch nachBackhaus(a. a. O.) dem »furchtbar wütenden Schrecknis« des DämonsZins, welcher noch weit fürchterlicher ist, als der Kriegsdämon, weil er keinen Frieden kennt und sich ununterbrochen vermehrt, ein gewisser Halt geboten werden. Der Zins hat die ganze Gesellschaft in ein einziges grosses Kriegslager verwandelt, in welchem ihm täglich Menschenopfer ohne Zahl dargebracht werden. Denn unter der Herrschaft des Privatbodenmonopols und seiner Wirkungen ist die überwältigende Mehrheit jedes Volkes den Grossgrundherren und Grosskapitalisten in ähnlicher Weise zinspflichtig geworden, wie seinerzeit die kleinen Bürger Roms und die unterjochten Völker den römischen Latifundienbesitzern und Grosskapitalisten zinspflichtig waren.Wenn nun Verfasser bloss im Sinne der bisherigen Schule der Badenbesitzreformer zu reden hätte, so könnte er hier abbrechen, da diese Schule, wi33e gesagt, Gründe zu haben glaubt, um von der Verwirklichung ihrer Bestrebungen eine endgültige Beseitigung des sozialen Elends zu erwarten. Da er aber diese Erwartung nicht zu teilen vermag, so ist er genötigt, im Sinne seines tiefer gehenden Ausgleichs in den Mitteln, mit denen der Einzelne seinen Kampf um das Dasein zu bestehen hat, zur Erörterung seines zweiten Vorschlags hinsichtlich der Beschränkung, bezw. Beseitigung der Erbrechte oder des Erbkapitalismus überzugehen.Verfasser ist sich wohl bewusst, dass er mit diesem Vorschlag gewissermassen in ein Wespennest sticht und sich auf kritische Anfeindungen jeder Art gefasst machen muss. Denn wo das persönliche Interesse des Einzelnen in das Spiel kommt, da hat jede ruhige und gerechte Überlegung ein Ende. Das Recht, seinen Kindern und Kindeskindern dasjenige zu hinterlassen, was er selbst erworben hat, will sich niemand nehmen lassen, Auch hat der Einzelne darin vollkommen recht, solange er sich auf dem Boden der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse weiss. Aber ein ganz anderes ist es, wenn der Sozialreformer Verhältnisse voraussieht, welche ganz anders geartet sind und geartet sein müssen. Denn so wie politische Revolutionen nicht mit Rosenwasser gemacht werden, so können auch soziale Reformen von erfolgreicher Wirkung nicht mit halben oder unzureichenden Massregeln gemacht werden. Übrigens darf ich mich zur Unterstützung meines Vorschlags vor allen Dingen darauf berufen, dass die Erbschaftssteuer längst als eine der gerechtesten und am wenigsten drückenden anerkannt und angewendet worden ist, und dass man derselben nur eine grössere Ausdehnung, namentlich in der indirekten Erbfolge, zu geben braucht, um meinem Vorschlage mehr und mehr nahe zu kommen. Auch mehren sich die Anhänger34einer solchen Idee der Besteuerung in der gelehrten wie ungelehrten Welt von Jahr zu Jahr, und es fehlt nicht an angesehenen, selbst konservativen Staatsrechtslehrern, welche sich im Prinzip dafür aussprechen, wieBrinz,Röscher,Marlo,Umpfenbach,Schäffle,Pfizer,Bluntschli,Baron,Hallieru. s. w. Dass die eigentlichen Sozialisten zustimmen, versteht sich beinahe von selbst. Schon der Basler Internationale Arbeiterkongress von 1869 hat Abschaffung des privaten Grundeigentums und des Erbrechts in sein Programm aufgenommen; und der französische kollektivistische Sozialisten-Kongress von 1880 setzte als letzten Punkt seines Programms »Abschaffung des Erbrechts für Seitenverwandte und jedes direkten Erbrechts von mehr als 20000 Franks« fest. Auch das Programm der englischen Radikalen acceptiert ganz und voll die beiden genannten Forderungen. Unter den neueren Schriftstellern radikaler Richtung hat sich namentlichMax Nordauin seinem berühmten Buch über die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit mit durchschlagenden Gründen auf den Boden dieser Anschauung gestellt Nach meiner Meinung ist eine solche Reform der Erbrechte oder eine Beschränkung, resp. Abschaffung des Erbkapitalismuseine einfache Forderung der sozialen Gerechtigkeit. Denn niemand wird es als dieser Forderung entsprechend ansehen können, dass unter den Menschen, welche, wenn auch mit verschiedenen Eigenschaften, doch mit demselben Anrecht an Existenz auf die Welt kommen, der eine gewissermassen mit dem Breilöffel, der andre mit dem Hungerlutscher im Munde geboren wird. Niemand wird es als Ausfluss natürlicher Gerechtigkeit betrachten können, wenn der eine schon in der35Wiege auf Millionen sich wälzt oder einen grossen Teil des Grundes und Bodens, welcher allen gehören sollte, sein eigen nennt, ohne dass er das geringste persönliche Verdienst dabei hat, während der andre, wie des Menschen Sohn, nicht weiss, wo er sein Haupt hinlegen soll, um von den Mühen und Lasten seines armseligen Daseins auszuruhen. Man vergegenwärtige sich die Caprice jenes reichen Engländers, welcher sein ganzes grosses Vermögen einer ihm persönlich ganz fremden Dame vermachte, bloss weil er Gefallen an ihrer schönen Nase gefunden hatte, und ähnliche Beispiele einer total unsinnigen Vererbung an unbedürftige Erben. Man denke an die Vermächtnisse an die tote Hand oder an die Kirche, welche nur zum Schaden der Allgemeinheit verwendet werden, an die hässliche Erbschleicherei, an die zahllosen Erbstreitigkeiten, welche oft die tiefste Entzweiung ganzer Familien herbeiführen und den hässlichsten Trieben der Menschennatur Nahrung geben, an die Nachteile der Fideikommisse, an die durch stete Vererbung aufrechterhaltenen ungeheuren Privatvermögen, welche einen Staat im Staate, eine Geldmacht innerhalb der Staatsmacht darstellen, an die Vererbung an ganz entfernte Seitenlinien, deren Angehörige den Erblasser nie gesehen oder gekannt haben u. s. w. Das sog.Testamentoder freie Verfügungsrecht über die Hinterlassenschaft ist auch durchaus kein Ausfluss des Naturrechts, sondern eine Erfindung späterer Zeiten, wahrscheinlich römischen Ursprungs; es war z. B. im alten Deutschland ganz unbekannt. Die älteste Stufe des Eigentums war vielmehr, wie die ausgezeichneten Untersuchungen vonLaboulayeundLaveleyeüber die Entstehung der Eigentumsbegriffe nachgewiesen haben, das36Gemein-Eigentum. Erst das römische Recht mit seiner übermässigen, bereits erwähnten Betonung des Individualismus und der persönlichen Besitz- und Eigentumsrechte machte dem ehemaligen Zustand der Dinge ein Ende und trieb die letzteren im Sinne des persönlichen Egoismus auf die Spitze — ein Verhältnis, an dem wir heute noch leider schwer zu kranken haben. Heute hat, wieLavelayesagt, das Eigentum seinen ehemaligen sozialen Charakter ganz verloren. Vollständig verschieden von dem, was es im Anfang war, hat es nichts Gemeinsames mehr an sich. Privilegiert, fessellos, ohne Rückhalt oder Verpflichtung scheint es, ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesamtheit, keinen andern Zweck als das Wohlsein des Individuums zu verfolgen u. s. w.
Der Zustand der menschlichen Gesellschaft in Vergangenheit und G1egenwart bietet für das Auge des Menschenfreundes in vielfacher Beziehung ein wenig erfreuliches Bild. Es zeigt uns riesige Gegensätze von höchstem Glück und von tiefstem Elend, Grenzenlose Armut neben grenzenlosem Reichtum, grenzenlose Gewalt neben grenzenloser Ohnmacht, grenzenloser Überfluss neben grenzenloser Entbehrung, Übermass von Arbeit neben Nichtsthuerei und Faulenzertum, politische Freiheit neben wirtschaftlichem Knechttum, fabelhaftes Wissen neben tiefster Unwissenheit, Schönes und Herrliches jeder Art neben Hässlichem und Abstossendem jeder Art, höchste Erhebung menschlichen Seins und Könnens neben dessen tiefster Versunkenheit, blöder dumpfer Aberglauben neben höchster Geistesfreiheit — das ist der Charakter einer Gesellschaft, welche in der Grösse und dem Widerstreit dieser Gegensätze die schlimmsten, hinter uns liegenden Zeiten politischer Unterdrückung und Sklaverei noch überbieten zu wollen scheint. Von jeher haben die Menschen untereinander und gegen ihr eignes Geschlecht in einer Weise gewütet, im Vergleich mit welcher die wildesten und grausamsten Bestien als fromme Lämmer erscheinen müssen. Aber wenn auch diese Zeiten wildester Barbarei und Zerfleischungswut in zivilisieren Ländern grösstenteils vorüber sind, so wiederholen sie sich doch in andrer2Form in jenen erschütternden gesellschaftlichen Tragödien von Mord, Selbstmord, Hungertod, unverschuldeter Krankheit, frühzeitigem Tod, Arbeitslosigkeit u. s. w., welche wir beinahe tagtäglich an uns vorüber müssen ziehen lassen, ohne im Stande zu sein, ihre schreckliche Wiederkehr zu verhüten oder ohne ihnen mehr als eine kurze Regung des Mitleids schenken zu können. Tagtäglich sehen wir Menschen aus Mangel der notwendigsten Lebensbedürfnisse schnell oder langsam zu Grunde gehen, während dicht neben ihnen der besser situierte Teil der Gesellschaft in Überfluss und Wohlleben erstickt, und während der National-Wohlstand einen nie gesehenen, aber in der Regel nur Einzelnen zu Gute kommenden Aufschwung nimmt. Wenn wir sehen, dass Hunderttausende in Üppigkeit verderben, während Millionen dasselbe Schicksal erleiden durch Darben und Entbehren, so wird man beinahe versucht, jenem englischen Schriftsteller Recht zu geben, welcher fragt: »Ist es in Ordnung, dass Millionen beinahe Hungers sterben, damit einige Tausende an Dyspepsie (Magenüberladung) zu Grunde gehen?«Die Statistik hat die traurige Thatsache an das Liebt gebracht, dass die durchschnittliche Lebensdauer der Armen kaum etwas mehr, als die Hälfte der Lebensdauer der Reichen beträgt. Also wird der Arme durch die einfache Thatsache seiner Armut nicht bloss um den Genuss des Lebens, sondern auch um das Leben selbst gebracht. Am schwersten lastet dieser Fluch der Armut auf der armen, unschuldigen Kinderwelt, welche schon mit ihrem ersten Atemzuge den Keim eines frühen Todes oder späterer Krankheit in sich aufnimmt, und zwar hauptsächlich durch gesellschaftliches Verschulden. Die Statistik zeigt, dass im Durchschnitt schon die Hälft3e aller Kinder der Armen vor Erreichung des fünften Lebensjahres dieses irdische Jammerthal wieder verlässt infolge von Mangel, schlechter Pflege u. s. w. Der riesige nationalökonomische Schaden dieses fortwährenden zwecklosen Kommens und Gehens springt in die Augen. Alle die Millionen Ausgaben an Geld und Arbeit, welche auf diese Kleinen verwendet worden sind, gehen mit ihrem Tode für die Gesamtheit unwiderbringlich verloren und können nie wieder durch deren spätere Thätigkeit ersetzt werden.Muss es nicht das Herz des Menschenfreundes auf das Tiefste betrüben, wenn er die Kinder der Armen in Pfützen und Kothaufen nach Speiseresten wühlen sieht, welche den Reichen für ihre Hunde und Katzen zu schlecht sind — oder wenn er hören muss, dass ganze Scharen von Kindern morgens ohne Frühstück in die Schulen getrieben werden — oder wenn er von verzweifelten Vätern oder Müttern lesen muss, welche sich und ihre Kinder einem freiwilligen Tode opfern, um dem Tode durch Hunger oder Entbehrung zu entgehen — oder wenn er sehen muss, wie eine politische oder geschäftliche Krisis ganze Scharen fleissiger Arbeiter ohne Nahrung für sich selbst und für die Ihrigen auf das Pflaster wirft — oder wenn er beobachten muss, wie die Zunahme der Verbrechen gegen Leben und Eigentum zumeist einem heimlich geführten Kriege der Besitzlosen gegen die Besitzenden entspringt — oder wenn er die Überzeugung gewinnen muss, dass Egoismus und Selbstsucht die Grundsäulen sind, auf denen die menschliche Gesellschaft aufgebaut ist, u. s. w.? Wenn wir unsre grossen Städte, unsre mächtigen Industriebezirke durchwandern, so haben wir fast bei jedem Schritte Gelegenheit, zu bemerken, wie unmit4telbar neben, über und unter den Stätten des Reichtums, und Glanzes die Höhlen des Lasters und Elends sich verbergen, wie neben brechenden Tischen und übersatten Magen der hohläugige Hunger still seine Qualen duldet, und wie neben Wohlleben und Übermut jeder Art die hoffnungslose Entbehrung entweder scheu und ängstlich in schmutzige Winkel sich verkriecht oder in düsterer Verzweiflung schreckliche Thaten gegen Staat und Gesellschaft ausbrütet. Ein sehr berechtigtes Sprüchwort sagt: »Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.« Aber wie viele essen, die nicht arbeiten oder nie gearbeitet haben, und wie viele arbeiten, die sich nicht satt essen können! Woraus der unabweisbare Schluss folgt, dass diejenigen, welche arbeiten, nicht bloss für sich, sondern auch für die Erhaltung eines ganzen Heeres von Müssiggängern thätig sein müssen. Man wende nicht ein, dass diese Müssiggänger von den Anstrengungen oder Verdiensten ihrer Vorfahren leben, da gerade die notwendigsten Lebensbedürfnisse nicht zum voraus geschaffen werden können und, wenn verzehrt, notwendig vorher durch die Anstrengungen der Mitlebenden erzeugt worden sein müssen.Aber diese ungleiche Verteilung gilt nicht bloss für diematerielle, sondern auch für diegeistigeNahrung. Wie viele Talente oder Genies müssen den Pflug des Alltaglebens ziehen, weil ihnen nicht das Glück an der Wiege gelächelt hat, während oft die beschränktesten Köpfe auf den Sesseln der Macht oder Gelehrsamkeit sich breit machen. Gerade die idealste geistige Arbeit belohnt sich in der Regel am schlechtesten. Philosophen und Dichter sind in der Regel geborene Proletarier und ernten erst nach ihrem Tode die Ehren, welche ihnen im Leben hätten zukommen5müssen, während hastige und oberflächliche Fabrikarbeit nach dem Geschmack des grossen Haufens sich schon während des Lebens am besten lohnt, Man denke beispielsweise an die erbärmliche, an den Haaren herbeigezogene Situationskomik in unserm deutschen Lustspiel, die nur Hohlköpfe ergötzen kann und trotzdem auf unsern Bühnen, welche geistige Erziehungsanstalten für das Volk sein sollten, alle besseren Erzeugnisse mehr oder weniger in den Hintergrund drängt. Ebenso wie den Theatern, die sich ganz vom zahlenden Publikum abhängig machen, ergeht es unsern Zeitungen und Wochenschriften, deren höchstes Ideal die Abonnentenzahl bildet und bilden muss, und welche darum in der Regel weit mehr Gewicht auf den zeitweiligen Geschmack des Publikums neben den Interessen ihrer Leiter und Eigentümer legen, als auf Verbreitung von Wahrheit und Aufklärung. Ein ähnlicher Vorwurf kann, wenn auch in minderem Grade, der Buch-Litteratur nicht erspart werden, in welcher männlicher Gradsinn und philosophische Überzeugungstreue sicher sind, überall gegen einen Berg von Gemeinheit, Unwissenheit, Verleumdung oder Teilnahmlosigkeit ankämpfen zu müssen, während elende, auf Neugier oder Sensation berechnete oder den Vorurteilen der Masse schmeichelnde Machwerke ebenso sicher sind, tausende von begierigen Lesern zu finden. Welchen grenzenlos nachteiligen Einfluss diese notgedrungene Unterwürfigkeit unter den gerade herrschenden Geist oder Geschmack oder unter eingewurzelte Vorurteile des lesenden Publikums haben muss und bereits gehabt hat, ist zu bekannt, als dass es mehr als einer Hinweisung darauf bedürfte. Wie oft wird man, wenn man das Facit unsrer Zeitungs- und Buchlitteratur zu ziehen v6ersucht, an das bittere WortShakespeareserinnert: »Wahrheit ist ein Hund, der ins Loch muss und hinausgepeitscht wird, während Madame Schosshündin (d. h. die Lüge) am Feuer stehen und stinken darf.«Wenn man sich nun die Frage nach den Ursachen dieser betrübenden Erscheinung vorlegt, so glauben wir die Antwort in einem Zustand zu finden, dessen genauere Kenntnis uns durch die jetzt alle andern Wissenschaften an Erfolg und Bedeutung weit überragendeNaturwissenschaftan die Hand gegeben wird. Es ist jener unerbittlicheKampfum dasDaseinoder jener Existenzkampf, welcher seitDarwineine so grosse Berühmtheit erlangt hat. Er ist zunächst hergenommen aus der Pflanzen- und Tierwelt, wo er zu einer wesentlichen Ursache der Umwandlung und des Fortschritts wird, indem in der Regel nur die Kräftigsten, Fähigsten, durch die eine oder andre Eigenheit Bevorzugten den Sieg in diesem Kampf oder Wettbewerb über ihre Genossen davontragen. Anlass zu Bemitleidung giebt uns dieser Kampf in der Regel nicht, weil der Tod schnell ist, weil er ohne volles Bewusstsein erlitten wird, und weil in der Regel nur die persönliche Tüchtigkeit oder Eigenart entscheidend ist. Es ist ein Kampf, welcher von den Einzelnen mit den im ganzen gleichen Mitteln des Krieges oder der Flucht oder des Wettbewerbs geführt wird, und wobei der Einzelne keine Bevorzugung vor andern durch den Schutz der Gesellschaft geniesst. Die Fülle und der Reichtum der Natur steht ihnen allen ziemlieh gleichmässig zu Gebot, und es giebt keine Privilegien, welche dem einen verbieten würden, etwas zu nehmen, was dem andern gestattet ist. Nur individuelle Kraft oder Fähigkeit ist entscheidend. Wenn das Tier seine Höhle oder sein7Nest allerdings auch sein Eigentum nennt, so muss es doch gewärtig sein, in diesem Besitz jederzeit durch andre Stärkere gestört oder daraus verdrängt zu werden.Ganz anders aber gestaltet sich infolge seiner sozialen Einrichtungen dieser Kampf bei dem Menschen, welcher, wenn er zur Welt kommt, bereits alle oder alle guten Plätze an der Tafel des Lebens besetzt findet und, wenn ihm nicht Geburt, Reichtum, Rang u. s. w. zu Hilfe kommen, von vornherein dazu verurteilt ist, seine Kräfte und sein Leben im Dienste und zum Vorteil derjenigen, welche im Besitze sind und welchen dieser Besitz durch die Gesamtheit garantiert wird, aufzubrauchen. Daher siegt hier nicht immer der Beste, sondern der Reichste, nicht der Tüchtigste, sondern der Mächtigste, nicht der Fähigste oder Fleissigste, sondern der durch seine soziale Stellung Bevorzugte, nicht der Klügste, sondern der Verschmitzteste, nicht der Redlichste, sondern derjenige, welcher die mannigfachen Hilfsmittel politischer und gesellschaftlicher Ausbeutung in der Hand hat und dieselben am Schlauesten zu benutzen versteht. Daher es denn auch, da sich dieses Verhältnis von Generation zu Generation forterbt, nicht anders sein kann, als dass mit der Zeit jener Zustand extremer gesellschaftlicher Ungleichheit daraus erwächst, welcher den Charakter der gegenwärtigen Gesellschaft bildet und in immer steigendem Masse bilden wird, und welcher bereits geschildert worden ist. Übrigens bietet der Daseinskampf des Menschen zwei ganz verschiedene Seiten dar, welche man strenge auseinander halten muss. Die eine Seite besteht in demKampf des Menschen gegen die Naturund deren die freie Entfaltung seiner Kräfte beengende Schranken, — ein Kampf, den er bekanntlich8mit dem allergrössten Erfolge geführt hat und mit täglich grösserem Erfolge führt. An diesem Erfolge nehmen alle Menschen in grösserem oder geringerem Masse teil oder können daran teilnehmen.Die zweite Seite stellt sich dar als derKampf des Menschen gegen seinesgleichen, welcher indessen ebensowohl ein direkter wie ein indirekter Kampf oder Wettbewerb um die Existenzbedingungen sein kann. Dieser Kampf ist in demselben Masse, wie der Kampf gegen die Natur leichter geworden ist, schwerer, grausamer und unerbittlicher geworden. Auch wird derselbe um so heftiger, je grösser der Fortschritt auf materiellem Gebiete wird, und je mehr die Zahl der Menschen und der Umfang ihrer Bedürfnisse zunimmt. Durch ihn sind Egoismus und Individualismus zu Weltherrschern geworden. Es ist ein allgemeiner Konkurrenz-Kampf oder ein Krieg aller gegen alle, wobei der Tod des einen das Brot des andern, das Unglück des einen das Glück des andern bedingt. Der mächtige Trieb der Selbsterhaltung und der Zwang des gesellschaftlichen Egoismus überwiegt alles; ein Widerstand gegen denselben ist nicht möglich, ausser bei schwerer Strafe der Widerstrebenden. Denn wo das Wohl oder Interesse des Einzelnen in Frage kommt, da kennt der gesellschaftliche Egoismus in der Regel ebensowenig Mitleid oder Schonung, wie der Tiger, wenn er sein Opfer zerreisst; und man kann oder darf dieses dem Einzelnen nicht einmal zum Vorwurf machen, da der Trieb oder das Interesse der Selbsterhaltung innerhalb eines gesellschaftlichen Organismus, wie er zur Zeit noch besteht, ihm sein Verhalten gebieterisch vorschreibt, wenn er nicht den eignen Untergang herbeiführen oder beschleunigen will. Se9lbst der aufopferndste Menschenfreund kann sich diesem Gebot des Egoismus nicht entziehen, ohne sich selbst den grössten Gefahren auszusetzen. Es ist gewissermassen eine grosse und allgemeine Flucht oder ein Wettrennen der Furcht vor der Not und Entbehrung des Lebens, ohne Mitleid oder Hilfe für die dabei zu Boden Sinkenden, ähnlich jenem berüchtigten Übergang der grossen Armee über die Beresina, wo jeder nur für die eigne Rettung besorgt war und besorgt sein musste. Wer nicht niedergetreten sein will, muss selbst niedertreten und dem allgemeinen Feldgeschrei folgen: »Rette sich wer kann! Unterliege wer muss!« Auch hat sich durch Gewohnheit das Gefühl des Einzelnen für die Schrecken eines solchen Zustandes nach und nach in ähnlicher Weise abgestumpft, wie es sich gegen die Schrecken einer Schlacht bei den Kämpfenden abzustumpfen pflegt.Wer kennt nicht das berühmte Buch des AmerikanersBellamy, worin derselbe den Zustand der menschlichen Gesellschaft mit einer grossen, bequem eingerichteten Kutsche vergleicht, welche von einer kleineren Anzahl von Menschen besetzt ist, während die grössere davor gespannte Mehrzahl diese Kutsche mit Aufbietung aller Kräfte über Berge und Thäler, durch Sümpfe und Moräste schleppt, getrieben von der Peitsche des Hungers, der als Kutscher auf dem Bocke sitzt! Ich halte das Gleichnis, wie alle Gleichnisse, in vieler Beziehung für schief oder hinkend, aber im grossen und ganzen muss es doch das Richtige getroffen haben, wie der beispiellose Erfolg des Buches beweist. Derselbe wäre nicht denkbar, wenn nicht eine grosse Mehrzahl von Menschen tief von der Überzeugung eines unnatürlichen und ungerechten Zustandes der heutigen menschlichen Gesellschaft10durchdrungen wäre und in dem Buche mehr oder weniger eine Offenbarung der eignen, sie bewegenden Gefühle gefunden hätte.Es wird wohl nicht viele geben, welche ernstlich zu leugnen wagen, dass ein solcher Zustand der Gesellschaft von den grössten ökonomischen und moralischen Nachteilen begleitet ist und begleitet sein muss. Einerseits erzeugen Armut, Besitzlosigkeit und Mangel an Erziehung und Bildung die meisten Verbrechen gegen Staat und Gesellschaft, während andrerseits übertriebener Reichtum Müssiggang und allerhand Laster im Gefolge hat; wodurch Staat und Gemeinde genötigt werden, eine kostspielige Justiz mit allen ihren hässlichen Anhängseln und eine ebenso kostspielige Armenpflege zu unterhalten. In moralischer Beziehung erzeugt der allgemeine Konkurrenzkampf hässliche Leidenschaften, wie Neid, Hass, Mitleidlosigkeit, Geldgier, Hartherzigkeit, gegenseitige Verfolgungssucht statt gegenseitiger Liebe und Unterstützung. Jeder denkt und handelt nur für sich und sein eignes Interesse, weil er weiss, dass im Notfall kein anderer für ihn eintreten oder dass er an der Gesamtheit keine Stütze finden würde. In einer richtig organisierten Gesellschaft müsste der Gewinn des Einzelnen zugleich der Gewinn der Gesamtheit sein und umgekehrt, und das Motto derselben müsste heissen: »Einer für alle und alle für einen«, während jetzt in der; Regel das Gegenteil stattfindet. Unsre grössten Gewinne erzielen wir durch eine der traurigsten Ursachen oder durch den Tod derjenigen, welche uns im Leben die liebsten waren, indem wir sie beerben. Der Baumeister und alle bei Bauten beschäftigten Arbeiter müssen sich freuen, wenn Häuser einstürzen oder abbrennen; die Grubenarbeiter desgle11ichen, wenn hunderte ihrer unglücklichen Kameraden im Dunste der Bergwerke ersticken; der Arzt muss sich freuen, wenn es viele Krankheiten giebt; der Advokat nährt sich von Prozessen, welche seinen Mitbürgern Ruhe und Vermögen rauben; der Richter muss Gefallen haben an grossen Kriminalprozessen; die Offiziere müssen sich freuen, wenn das grösste Übel, welches die Menschheit betreffen kann, der Krieg ausbricht, weil sie davon Beförderung erwarten; der Familienvater muss sich freuen, wenn seine Nachkommenschaft möglichst klein bleibt, obgleich der eigentliche Zweck der Familie dabei verloren geht; der Wirt oder der Verkäufer geistiger Getränke muss sich freuen, wenn die Trunksucht, und die verlorenen Töchter des Volkes müssen sich freuen, wenn die Unzucht zunimmt; alle Handwerker und Produzenten müssen sich freuen, wenn die von ihnen erzeugten Gegenstände übermässig rasch verbraucht werden; ein Gewitter oder Hagelschlag wird trotz des durch solche Naturereignisse angerichteten Schadens von dem Glaser oder Versicherungsagenten gern gesehen; wie denn überhaupt beinahe alles, was dem einen Schaden, dem ändern Verdienst bringtMan könnte noch lange mit Aufzählung ähnlicher Beispiele fortfahren, aber diese Vermehrung würde am dem Resultat nichts ändern.Dazu kommt der demoralisierende Charakter der Arbeit selbst, welche in der Regel nicht aus Interesse für das Gemeinwohl, sondern aus Zwang der Umstände geleistet wird. Der heutige Arbeiter ist ein Sklave wie ehedem, nur mit dem Unterschiede, dass ihn nicht die Peitsche des Herrn, sondern diejenige des Hungers in die Abhängigkei12t von seinem Arbeitgeber treibt. Aber dieser Arbeitgeber selbst ist wieder ein Sklave — ein Sklave des Kapitals, der Konkurrenz, der Geschäftskrisen, der Strikes, der Verluste und oft in weit schlimmerer Lage, als der von ihm bezahlte Arbeiter.Ist so der Widersinn des Systems schon gross genug inmoralischerBeziehung, so ist er noch grösser inökonomischerHinsicht, Denn während die Erde so viele Nahrungsstoffe hervorbringt, dass die ganze lebende Menschheit reichlich damit versorgt werden könnte, und bei richtiger, von gemeinsamen Grundsätzen geleiteter Bewirtschaftung noch viel mehr hervorbringen könnte, und während der Nationalwohlstand und die Ansammlung kolossa. Reichtümer in einzelnen Händen eine nie gesehene Höhe erreichen, müssen wir fortwährend mitten im Überfluss jene Szenen von Hunger, Entbehrung, unverschuldetem Kranksein und frühzeitigem Sterben erleben, die bereits geschildert worden sind. Wie heuchlerisch ist die Fürsorge des Staates für seine Bürger, um dieselben vor der kleinsten Versündigung gegen Leben, Eigentum oder Gesundheit zu schätzen, während er ruhig zusieht oder duldet, dass fortwährend Tausende durch Not, Elend und Entbehrung schnell oder langsam in einen bald freiwilligen, bald unfreiwilligen Tod getrieben werden, oder dass durch mangelhafte Erziehung und Ernährung eine an Geist und Körper verkrüppelte Jugend emporwächst, die mit der Zeit die Strafgerichte beschäftigt, die Gefängnisse füllt oder der Armenpflege zur Last fällt. Man erlässt scharfe Gesetze gegen Tierquälerei, aber man hat kein Auge für jene entsetzliche Menschenquälerei, welche erlaubt, dass blasse, schwindsüchtige Mädchen oder Frauen, ja ganze Bevölkerungen, wie die13schlesischen und erzgebirgischen Handweber, Tag und Nacht für Löhne arbeiten, welche kaum hinreichen, sie vor dem Hungertode zu schützen; oder dass andre tausende, um desselben Zweckes willen, Leben und Gesundheit in absolut schädlichen Fabrikationszweigen zum Opfer bringen; oder dass barfüssige, kaum mit Lumpen bekleidete Kinder bei Winterskälte in den Strassen unsrer Städte umherirren; oder dass ein Dutzend Menschen in einem Wohnraume zusammengedrängt ist, der kaum für einen Einzigen hinreicht, während ein andrer zehn oder zwölf Zimmer und mehr für sich allein zur Verfügung hat; oder dass die Wohnungen der Armen oft schlechter sind, als die Hundehütten und Pferdeställe der Reichen; oder dass vielen nichts übrig bleibt, als ihre Nächte im Freien zuzubringen, auf die Gefahr hin, dafür verfolgt und bestraft zu werden, während beispielsweise in Berlin 40000 Wohnungen leer stehen; oder dass es Menschen giebt, welche aus Hunger und Nahrungssorgen schnell oder langsam zu Grunde gehen, während der blosse Abfall von dem Tische der Reichen oder ein geringer Prozent ihres Überflusses solches verhüten könnte, u. s. w. u. s. w.Wenn man in Gebirgsgegenden sehen muss, wie sich fette Weiber von keuchenden und schwitzenden Menschen mit höchster Gefahr für deren Leben und Gesundheit auf hohe Aussichtspunkte hinaufschleppen lassen, bloss um eines armseligen Geldlohnes willen, so muss man mit Hass gegen eine Gesellschaftsordnung erfüllt werden, welche dem Gott Mammon erlaubt, seine elenden Geldsklaven ebenso zu den niedrigsten Sklavendiensten und zur blinden Unterwürfigkeit unter seine Gebote zu zwingen, wie es ehedem den Herrn über Sklaven oder Leibeigene zu thun erlaubt war.14Ich wiederhole, dass es im allgemeinen nur wenige geben wird, welche diese nackten Thatsacheu zu leugnen oder den damit verbundenen Zustand als solchen zu verteidigen wagen. Man erkennt die sozialen Schäden und Widersinnigkeiten als solche an, wie ja schon daraus hervorgeht, dass die dadurch hervorgerufene Litteratur mit zahllosen Besserungsvorschlägen fast unabsehbar geworden ist. Aber — so pflegt man diesen Vorschlägen gegenüber zu antworten — der Zustand ist leider nicht zu ändern. Es war von jeher so und wird immer so sein und bleiben. Ungleichheit ist ein notwendiges Attribut der menschlichen Gesellschaft. Zu allen Zeiten hat es Adel und Stände, Reiche und Arme gegeben, und die grosse Masse ist immer nur zum Arbeiten und Gehorchen dagewesen. Vernunft und Gerechtigkeit in sozialer Beziehung sind immer Ideale geblieben; und alle Gesellschafts-Idealisten, Plato mit seinem Vernunftstaat an der Spitze, haben in der Praxis stets schmählich Schiffbruch gelitten. Wollte man auch heute alle Besitztümer gleichmässig verteilen, so würde sehr bald wieder die alte Ungleichheit da sein. Auch würde, wie eine Berechnung leicht ergiebt, eine solche allgemeine Verteilung des Besitzes dem Einzelnen verhältnismässig nur sehr geringen Gewinn einbringen.Man versäumt dabei nicht, an die grossen Wohlthaten der Konkurrenz zu erinnern, welche den eigentlichen Sporn der Arbeit und des Fortschritts bildet und welche es zu Wege gebracht hat, dass sich heutzutage durch die Billigkeit der Erzeugnisse die Konsumtion mehr oder weniger nach der Produktion richtet, während man früher allgemein der Meinung war, dass das umgekehrte Verhältnis das allein15richtige oder mögliche sei.Aber wie soll diesen Einwänden begegnet, wie soll geholfen werden? Diese Frage ist um so schwieriger zu beantworten, als bis jetzt alle die zahllosen Versuche und Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage erfolglos geblieben sind. Dies darf jedoch den Menschenfreund nicht abschrecken, immer wieder von neuem an Mittel der Abhilfe zu denken. Es muss geholfen werden und — was die Hauptsache ist — eskanngeholfen werden.Esmussgeholfen werden, wenn man nicht riskieren will, dass jede politische Umwälzung oder Erschütterung der Gegenwart (und an solchen fehlt es ja niemals) von schweren sozialen Erschütterungen begleitet sein wird. Ein allgemeines Gefühl sozialer Unbehaglichkeit oder Ungerechtigkeit, namentlich in den niederen Schichten der Bevölkerung, hat sich der Mehrzahl der Menschen bemächtigt, und eine künftige Revolution wird nicht, mehr, wie in der ersten und zweiten französischen Revolution, vor dem »Eigentum« stehen bleiben. An deutlichen Anzeichen dieser in den Tiefen der Volksseele tigerartig gärenden Leidenschaften und Gelüste fehlt es ja in keiner Weise; dieselben werden sich zu gelegener Zeit Luft machen, ohne dass man im Stande sein wird, durch Gewaltmassregeln etwas andres zu erreichen, als die Erziehung von Märtyrern und Fanatikern. Die Nihilisten in Russland, die Communards in Frankreich, die Sozialdemokraten in Deutschland, die Fenier, die Irredentisten, die Dynamiteriche, der sein Haupt immer mehr erhebende und förmlich Schule machende Anarchismus sind gewissermassen nur die Sturmvögel oder Warnungssignale einer kommenden Umwälzung; und der Staatsweise oder16Staatslenker, der sie unbeachtet lassen wollte, würde dem Schiffer gleichen, der die sein Schiff vor dem Sturm umflatternden Seemöven nicht beachtet oder dieselben mehr als Verfolgungs-Objekte, denn als Warner behandelt. Denn »wer seine Zeit damit verbringt, Jagd zu machen auf die Möven, wird vom Sturm überrascht und beschädigt werden an Leben und Gut.« (Radenhausen.)Sollte es aber auch, was ja nicht unmöglich wäre, gelingen, durch Gewaltmassregeln jeden Versuch einer sozialen Umwälzung dauernd zu unterdrücken, so würde doch damit die geschilderte Unzufriedenheit und Unbehaglichkeit aus dem Schosse der Gesellschaft nicht nur nicht entfernt, sondern nur noch vermehrt oder gesteigert werden. Es würde mit der Zeit eine Art heimlichen Kriegszustandes zwischen den besitzenden und den nicht-besitzenden Klassen der Gesellschaft entstehen, welcher die Ruhe und das Glück des Gemeinwesens nicht weniger alterieren würde, als ein offener Krieg. Denn wenn man beispielsweise erfährt, dass im Jahre 1864 in England dreitausend Personen ein jährliches Einkommen von ungefähr 500 Millionen Mark, oder mehr als das jährliche Gesamteinkommen aller Ackerbauarbeiter von ganz England und Wales, unter sich teilten, so wird man einen dauernden sozialen Frieden auf dem Boden eines solchen Missverhältnisses wohl kaum für möglich halten dürfen.Glücklicherweise fehlt es nicht an der Möglichkeit, diesem Zustand zu begegnen oder den drohenden Sturm nicht zum Ausbruch kommen zu lassen, ohne dass man nötig hätte, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen, und zwar mit Hilfe einer Anzahl friedlicher Reformen, welche, auf dem17Boden der jetzigen Gesellschaftsordnung stehend, von da langsam und allmählich zu einem besseren Zustand der Dinge hinüberleiten — vorausgesetzt, dass es gelingt, die Mehrzahl der Menschen von der Wohlthätigkeit und Notwendigkeit solcher Massregeln zu überzeugen. Wir sehen hierbei selbstverständlich ab von jener radikalen oder radikalsten Lösung der sozialen Frage, wie sie derKommunismusverlangt. Ein solcher Zustand, wobei der gesamte Besitz gemeinschaftlich und die Arbeit ganz frei oder freiwillig sein würde, und von dem noch einmal ausführlicher die Rede sein wird, wäre wohl denkbar, ist aber für jetzt in grösserem Massstabe unausführbar, teils wegen der allgemeinen Abneigung gegen denselben, teils wegen der Schwäche der menschlichen Natur, welche durch lange Jahre des Egoismus und Individualismus für Ertragung derartiger Idealzustände unfähig geworden ist. Ein solcher Zustand würde erst möglich sein am Ende einer langjährigen Erziehung des menschlichen Geistes im Sinne des Altruismus und Kollektivismus oder der allgemeinen Bruder- und Menschenliebe.Es bleibt sonach nichts übrig, als Ausschau nach andern Mitteln oder Hilfen zu halten. Hier wird uns denn wieder der richtige Fingerzeig gegeben durch dieNaturwissenschaft, welche heutzutage bestimmt sein dürfte, nicht bloss diegeistige, sondern auch diesozialeBefreiung der Menschheit zu bewirken.Ich komme dabei zurück auf den von dieser Wissenschaft in das rechte Licht gesetztenKampf um das Dasein, welcher leider unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen noch ganz den Charakter des rohen Daseinskampfes der Natur trägt, nur mit dem Unterschied, dass e18rhiermit mehr oder wenigergleichen, dort mit sehrungleichenMitteln gekämpft wird.Da lautet denn das erlösende Losungswort:Ersetzung der Naturmacht durch die Vernunftmacht, d. h. möglichste Ausgleichung der Mittel und Umstände, unter denen und mit denen gekämpft wird. An die Stelle des Einzelkampfes um das Dasein muss ein gemeinsamer Kampf allerfürdas Dasein treten. Mit ändern Worten: die Stelle des rohen Naturkampfes muss ein gemeinschaftlicher, durch Vernunft und Gerechtigkeit geregelter sozialer Kampf um die Lebensbedingungen ersetzen.Der Kampf, wie er unter den jetzigen sozialen Verhältnissen geführt wird, verdient den Namen eines eigentlichen Kampfes, eines Wettbewerbs mit gleichen Mitteln weit weniger, als denjenigen einer gesetzlich geregeltenUnterdrückung. Oder wie wäre anders der Kampf eines Menschen zu bezeichnen, den man, allenfalls mit einem hölzernen Säbel bewaffnet, gegen Flinten und Kanonen schicken wollte Oder der Wettlauf eines Menschen mit blossen Füssen mit einem andern, der Pferde oder Eisenbahnen zur Verfügung hätte! Oder wie wäre anders der Wettbewerb zwischen zwei Menschen zu bezeichnen, von denen der eine alle Vorteile von Rang, Reichtum, Erziehung, Bildung, sozialer Stellung u. s. w. für sich hätte, während der andre über nichts verfügte, als über die Kraft seiner nackten Arme und seines ungebildeten Verstandes!Der Ausgang eines solchen Kampfes oder Wettbewerbs ist zum voraus entschieden. In der Regel ist das Schicksal des einzeln19en Menschen schon in seiner Geburt besiegelt und das gesellschaftliche Sklaventum desjenigen, dessen Wiege in der Hütte eines armen Mannes gestanden hat, mit seinem ersten Atemzuge entschieden. »Die Fesseln einer niederen Geburt«, sagt J. C.Fischer1»schleppen wir durch das ganze Leben, und an ihnen zerschellt oft die unerhörteste Anstrengung eines ganzen Lebens.«Zwar wird man entgegnen, dass man sehr eklatante Ausnahmen von dieser Regel kennt. Man wird z. B. an den vor kurzem gestorbenen AmerikanerJay Goulderinnern, der als armer Hirtenjunge in Amerika einwanderte und als beispielloser Millionär starb. Diese Ausnahmen oder Glücksfälle können und sollen nicht geleugnet werden; aber sie sind eben nur überaus seltene Ausnahmen, welche die Regel nicht umstürzen. In der Regel erhalten sich Rang und Reichtum bei einzelnen Familien oder Ständen oder Gesellschaftsschichten für unbestimmt lange Zeiten.Glücklicherweise fehlt den unterdrückten Klassen der Gesellschaft das volle Bewusstsein oder die volle Empfindung ihrer Lage. Die Macht der Gewohnheit stumpft ihr Gefühl dafür ab und lässt sie dasjenige, was doch nur Menschenwerk ist, als eine unvermeidliche Fügung des Schicksals betrachten. Wenn dies nicht so wäre, würden wir schon längst jene soziale Revolution haben, welche fortwährend angekündigt wird, aber dennoch nicht kommen will. Auch hat es die Natur weise so eingerichtet, dass das Glück mehr im Charakter und Temperament des Einzelnen, als in den äusseren Lebensumständen liegt. Wer ein glücklich angelegtes Temperament hat, wird sich in jeder Lebenslage mehr oder weniger wohl fühlen, während ein Melancholiker oder e20in zu Ängstlichkeit und Trübsinn geneigter Mensch durch keine Glücksumstände froh oder zufrieden gemacht werden kann.Trotzdem zeigen die bereits angeführten Umstände und Erscheinungen deutlich, dass sich die Gesellschaft im grossen und ganzen in hohem Grade unwohl fühlt und einer kommenden Umwälzung entgegensteuert. Die erschreckende Ausbreitung der Sozialdemokratie wäre unbegreiflich, wenn nicht das Bewusstsein ihrer gedrückten Lage in den unteren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft in fortwährendem Zunehmen begriffen wäre. »Thatsache ist«, sagt F. A.Langein seiner vortrefflichen Schrift über die Arbeiterfrage2, »dass der Kampf um das Dasein gerade jetzt wieder in der mächtigsten und entscheidendsten Schicht der Nation in seiner ganzen ermattenden Schwere empfunden wird, und dass die Geister beginnen, der Einförmigkeit dieses Druckes überdrüssig zu werden.«Eine Änderung dieses trüben Zustandes ist, wie gesagt, nur möglich durch eine grössere Ausgleichung in den Mitteln, womit jeder einzelne seinen Kampf um das Dasein kämpft — eine Ausgleichung, welche sich vor allen Dingen auf die Besitzes-Verhältnisse zu erstrecken hat. Ferner durch die Umwandlung des Einzelkampfes in eben gemeinschaftlichen, solidarisch verbundenen Kampf aller gegen die Übel des Lebens, welche da sind Hunger, Kälte, Elend, Entbehrung, Krankheit, Alter, Unfall, Invalidität und Tod, oder durch Herbeiführung eines Zustandes, in welchem das Wohl des Einzelnen mehr oder weniger identisch wird mit dem Wohl der Gesamtheit und umgekehrt — ein Zustand, in welchem21das schöne Wort zur Wahrheit wird: »Einer für alle und alle für einen.«Ein solcher Zustand wäre, wie ich glaube, sehr leicht herbeizuführen, ohne das der Arbeits- und Erwerbstrieb des Einzelnen darunter Not leidet, so dass jeder die Früchte seines eigenen Fleisses, seiner eigenen Thätigkeit und Intelligenz geniesst und zwar durch Herbeiführung einer Versöhnung zwischen den Einzel- und den Gesamt-Interessen.Allerdings muss zugegeben werden, dass einevollständigeAusgleichung in dieser Richtung — wenigstens für den Anfang — kaum als möglich gedacht werden kann. Aber auch schon eineteilweiseAusgleichung muss und wird von den wohlthätigsten Folgen begleitet sein und wird voraussichtlich allmählich zu einem Zustande hinüberleiten, der eine gänzliche Lösung der sozialen Frage in Aussicht stellt. Namentlich wird der an sich so wohlthätige Sporn der Konkurrenz durch diese Lösung nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil geschärft werden, indem jeder nur die Früchte seines eigenen Fleisses geniessen und nicht auf Kosten andrer wird leben können. Auch ist die Lösung möglich ohne Verwischung der natürlichen Ungleichheiten der Gesellschaft durch Geburt, Familie, Wohnort, Anlage, inneres Bedürfnis, geistige und körperliche Vorzüge, Verschiedenheit der Beschäftigung u. s. w. Diese natürlichen Ungleichheiten oder Verschiedenheiten können nicht beseitigt werden, weil in der Natur des Menschen und der Dinge selbst gelegen. In einer Versöhnung des Individualismus mit dem Kollektivismus, vulgo Sozialismus, oder in einer richtig organisierten Übereinstimmung der Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen mit den Interessen und Bedürfnissen der Gesamtheit scheint daher22das ganze soziale Problem der Zukunft zu liegen. »Es ist schlechthin undenkbar«, sagt W. E.Backhaus3, »dass in einem Staatsganzen, dessen Einrichtungen auf dem Vernunftgesetz beruhen, Sozialismus und Individualismus als feindliche Kräfte gegeneinander wirken sollten.« Die innige Verbindung des individualistischen Gedankens mit dem sozialistischen, des Individuums mit der Gesellschaft bedeutet in Wahrheit die Durchführung des grossen staatswirtschaftlichen Grundgesetzes, nach welchem der Vorteil des Einzelnen stets auch der Vorteil der Gesamtheit sein soll. Es ist hohe Zeit, dass der Konflikt zwischen Einzel- und Gesamtinteressen im wirtschaftlichen Leben der Völker seine Lösung finde — eine Lösung, welche nicht in der Hand dunkler Schicksalsmächte, sondern einzig und allein in der Hand des Menschen selbst liegt. »Sozialwirtschaft und Individualwirtschaft gehören in einem Staatsganzen zu einander; sie ergänzen und fördern sich gegenseitig; sie gehören zusammen wie Leib und Seele u. s. w.«Was nun die Mittel dieser Versöhnung oder der sozialen Erlösung betrifft, so können dieselben dreierlei Art sein. Sie heissen1) Abschaffung der sog. Bodenrente oder Zurückführung des von Natur- und Rechtswegen allen gehörigen Eigentums an Grund und Boden in den Besitz der Gesamtheit (mit selbstverständlichem Einschluss der Wasserkräfte und des Bergbaues).2) Reform d. h. allmähliche, gradweise bis zur viell23eicht gänzlichen Abschaffung sich steigernde Reform der Erbrechte.3) Umwandlung des Staates in eine allgemeine, solidarisch verbundene Versicherungsgesellschaft gegen Krankheit, Alter, Unfall, Invalidität und Tod.Was den ersten Punkt betrifft, so kann es wohl kaum einen weniger anfechtbaren Grundsatz des Naturrechts geben, als denjenigen, dass die Mutter Erde, die uns alle erzeugt hat, die aber von niemand erzeugt worden ist, und ohne welche menschliches Dasein eine Unmöglichkeit sein würde, nicht einzelnen, sondern allen gehört. Gleichwie der Mensch ein Produkt der Erde ist, so muss auch sein Dasein in dem Anrecht an den Besitz derselben begründet sein. Der Mensch ist nichts und vermag nichts ohne den Beistand der Mutter Erde und ihrer nie versiegenden Kraft; er kann nichts erwerben, nichts hervorbringen, nichts besitzen ohne Benutzung ihrer Kräfte und ihrer Gaben. Daraus folgt, dass nach den einfachsten Grundsätzen der Billigkeit und Gerechtigkeit die Benutzung dieser Gaben und Kräfte jedem zur Welt Gekommenen in gleicher Weise zur Verfügung stehen muss, und dass das Recht an den Grund und Boden ein ebensolches Naturrecht ist, wie das Recht, die freie Luft zu atmen oder das der Erde entquellende Wasser zu trinken oder sich von der Sonne bescheinen zu lassen. Leider wird diesem Grundsatz in der Wirklichkeit in greulicher Weise Hohn gesprochen. Eine Reihe von Umständen, wie Gewalt, Eroberung, Krieg, Vererbung, Kauf, Schenkung, Feudal- und Lehnsgüterwesen u. s. w. haben es im Laufe der Zeit dahin gebracht, dass eine Minderheit durch den Besitz von Grund und Boden zur Beherrscherin der ganzen Menschheit geworden ist, bis schliesslich alles so verteilt war, dass kein Platz oder Raum für den zu spät Gekommenen übrig geblieben,24und dass dieser, wenn er nicht selbst zufällig als Besitzer geboren ist, in der Luft hängen bleiben müsste, wenn er nicht sofort das Recht der Niederlassung dadurch erkaufen würde, dass er seine von der Natur ihm verliehenen Arbeitskräfte denen, welche im Besitz des Bodens und der Arbeitsmittel sind, leibeigen giebt. Die ungeheure Macht der Gewohnheit hat es dahin gebracht, dass die grosse Mehrzahl der Menschen diesen rechtlosen Zustand als etwas Natürliches oder Selbstverständliches hinnimmt, während derjenige, der den Ursachen desselben nachgeht, alsbald findet, dass das private Eigentum an Grund und Boden nicht von der Natur, sondern von Gewalt und Usurpation herkommt Auch war dieses Naturrecht im frühesten Altertum fast Überall mehr oder weniger anerkannt, so in Palästina, Griechenland, Italien, Germanien, Gallien, Indien, China, Japan, Peru u. s. w. Schon in den ältesten geschichtlichen Urkunden unsres Geschlechts finden wir den Gedanken der Gemeinsamkeit des Bodens deutlich ausgesprochen, so namentlich in der Bibel, deren zahlreiche darauf bezügliche Aussprüche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Zwar war bei den alten Hebräern der Grund und Boden Familieneigentum; aber alle fünfzig Jahre fand eine Neuverteilung des Bodens statt. Ebenso erkannte der chinesische DenkerLaotsein dem Besitz der Erde ein allen Menschen vom Weltall-Gott anvertrautes heiliges Gut. Dementsprechend war das Bodeneigentumsrecht in China nur ein Nutzungsrecht und nur als solches Übertragbar, während das Eigentum selbst der durch den Staat repräsentierten Gesamtheit verblieb und in der Theorie noch bis auf den heutigen Tag verbleibt. Erst infolge einer langen Reihe von Gewaltmassregeln un25d Usurpationen konnte die individuelle Aneignung des Grundes und Bodens in China durchgesetzt werden. Ebenso war es in Japan, wo erst die mongolischen Eroberer mit Gewalt das Feudalsystem einführten. Die Indier kannten vor der englischen Eroberung weder das Recht der Veräusserung des Grundeigentums, noch das Testament.NachBackhaus(a. a. O.) erscheint es als höchst wahrscheinlich, wenn nicht als gewiss, dass Grund und Boden im Anfang der Geschichte überall Gemeinbesitz der Völker gewesen sind. Auch haben sich die alten Philosophen dafür erklärt.Aristoteleserklärt, dass Grund und Boden notwendig Gemeingut sein müsse, undPlatoverlangt, dass jedem Bürger ein gleich grosses oder gleich ertragsfähiges Stück Land als unteilbar und unveräusserlich zur Benutzung übergeben werde. Auch hatten Rom und Griechenland anfangs dementsprechende Acker-Verfassungen. In Sparta hielt das Verbot des Bodenverkaufs und des Testaments lange Zeit die Gleichheit des Besitzes aufrecht; und in Athen unterwarfenSolonund seine Nachfolger das individuelle Eigentum überhaupt schweren Beschränkungen, wahrscheinlich als Reminiscenzen eines anfänglichen Kommunismus, Auch in Rom hat sich das individuelle Eigentum an Grund und Boden nur nach und nach aus dem gemeinsamen herausgebildet. Anfangs Gemeinde-Eigentum wurde es später zum Eigentum der einzelnen Familien und Geschlechter, welche letzteren in Bezug auf den Besitz gewissermassen nur eine einzige Person bildeten. Erst mit dem Gesetz der zwölf Tafeln und mit der Einführung der Rechte von Verkauf und Testament gewann das individuelle Eigentum das Übergewicht über das gemeinsame. Das grosse Grundeigentum26verschlang allmählich das kleine, und es entstanden Zustände, wie wir sie jetzt noch in England zu beobachten Gelegenheit haben. Sicher ist es auch, dass nach altemgermanischemRecht der grösste und unentbehrlichste Teil des bewirtschafteten Bodens oder die sog. Aussenmark Gemeinbesitz der Markgenossen war, während die sog. Binnenmark dem Einzelnen nur in der Eigenschaft als »Verwalter« gehörte. »Eine Ausnutzung und Ausbeutung des Grundbesitzes und der Bodenkraft durch Einzelne zum Zwecke des ausschliesslich eignen Vorteils war den alten Deutschen gänzlich unbekannt.« Und diesem Bodenrecht und dem dadurch bethätigten Gemeinsinn verdankten die alten Germanen ihre Freiheit und ihre unerschöpfliche Kraft. Erst dem dämonisch wirkenden Geist der römischen Gesetzgebung mit ihrer übermässigen Betonung der persönlichen Besitz- und Eigentumsrechte gelang es, auch im alten Germanien ein Privatrecht auf den Bodenbesitz zu schauen. Es war das Nessushemd, welches die sterbende Roma dem germanischen Riesen arglistig vermachte. Aber so urgesund waren die alten germanischen Rechtseinrichtungen, dass sich Reste des Gemeinde-Eigentums unter verschiedenen Bezeichnungen bis heute in einzelnen deutschen Landen und Ortschaften erhalten haben. Der Zeitschrift »Freiland«, dem Organ der Deutschen Gesellschaft für Bodenbesitzreform, ist es gelungen, nachzuweisen, dass in Deutschland noch mehr als hundert Ortschaften existieren, welche im glücklichen Besitze von Gemein-Eigentum an Grund und Boden geblieben sind. Noch weit mehr ist diese Einrichtung erhalten geblieben in einem grossen Teile von Russland, sowie in manchen Dörfern Serbiens und Kroatiens, auch bei vielen asiatischen Horde27n in der Form des russischen sog. »Mir«, wobei das Land gemeinschaftlich von allen Gemeindemitgliedern besessen und bebaut und die Ernte gleichmässig verteilt wird. In der Schweiz findet sich ein Überrest dieser alten Einrichtung in der Form des sog. »Allmend«. In ganz Afrika besteht nachLetourneau4die Individualisierung und Mobilisierung, des Grundeigentums nur ausnahmsweise. Ebenso ist es mit dem eingeborenen Amerikanertum, bei welchem die Jagd- und Fischgründe nicht dem Einzelnen, sondern dem Stamm oder der Tribus angehören. In Java besteht noch überall Gemeinsamkeit des Bodens und eine Verfassung, welche sich sehr derjenigen des bereits erwähnten russischen Dorfsystems »Mir« nähert. Bei den alten Peruanern bestand nachPrescott5ein systematisch durchgeführter und von oben geleiteter Kommunismus, welcher zur Folge hatte, dass es keine Armut und keinen Mangel gab, und dass für Alte, Schwache, Kranke oder vom Unglück Betroffene ausreichend gesorgt war u. s. w.Wendet man diese Erfahrungen auf die Vorgeschichte des Menschen an, so ist man wohl genötigt, anzunehmen, dass, wie Verfasser in seiner Schrift über das goldene Zeitalter näher ausgeführt hat, die wilden Horden der Urzeit das persönliche Eigentumsrecht so wenig oder in so beschränkter Weise kannten oder achteten, wie die Wilden der Gegenwart; — und zwar nicht bloss bei Jägern und Fischern, bei denen ein festes Eigentum an Grund und Boden kaum möglich war, sondern auch bei Ackerbauern. Nur die Waffen und Werkzeuge,28welche sich der Einzelne selbst angefertigt hatte, galten als sein persönliches Eigentum, obgleich es nachPlutarchsogar noch den alten Lacedämoniern erlaubt war, sich der Pferde, Hunde und Werkzeuge ihrer Nachbarn zu bedienen, wenn diese keinen Gebrauch davon machten.Die Rückkehr zu den alten Zuständen oder die Rückgabe des von Natur- und Rechtswegen allen gehörigen Besitzes von Grund und Boden an die Gesamtheit ist übrigens — auch abgesehen von allen sozialen oder naturrechtlichen Gründen — eine solche ökonomische oder staatswirtschaftliche Notwendigkeit, dass sie auf die Dauer trotz allen Widerstrebens gar nicht umgangen werden kann. Denn bei dem riesigen Anwachsen der Bevölkerung in den europäischen Ländern giebt es kein andres Mittel, um den Boden auf seine äusserste Ertragsfähigkeit auszubeuten. Es kann und darf daher dem einzelnen Besitzer eines Grundstücks nicht überlassen bleiben, ob und bis zu welchem Grade er dasselbe ertragsfähig machen will oder nicht, sondern es muss dem Boden im Interesse der Gesamtheit alles abgerungen werden, was ihm irgend abgerungen werden kann. Dieses kann aber nur geschehen durch den auf die Grundsätze der wissenschaftlichen Landwirtschaft gestützten Grossbetrieb, sowie dadurch, dass kein Fleckchen Erde nach Massgabe seiner Lage und Beschaffenheit unbenutzt bleibt, während der Privatbetrieb hierin ganz willkürlich und sehr oft unrationell verfährt oder verfahren kann. Nirgendwo tritt dieses deutlicher zu Tage, als in England, wo bekanntlich der gesamte, für Ackerbau bestimmte Grund und Boden bei einer Bevölkerung von ca. 35 Millionen in den Händen von nur 14-15000 Eigentümern sich befindet, welche daraus — in der Regel arbeitslos und ohne jede eigene Bemühung29— eine jährliche Rente von nicht weniger als 4000 Millionen Mark ziehen, Von dem riesigen Güter-Komplex des Herzogs von Sutherland z. B. (11 Mill. Acker) befinden sich nur ca. 23000 Acker unter Cultur; und das Gesamterträgnis berechnet sich im Durchschnitt aufeineMark pro Acker, während dasselbe in einzelnen Teilen auf das Vierzigfache gesteigert werden könnte. Aber die unermesslich reichen englischen Landlords ziehen es vor, aus kulturfähigern Boden, auf welchem sich tausende fleissiger Menschen ernähren könnten, Schaftriften oder Wildparks oder Rennbahnen oder herrschaftliche Gärten u. s. w. zu machen, und nehmen keinen Anstand, die Ansiedler oder Einwohner zu diesem Zweck unbarmherzig auszutreiben; und Ähnliches geschieht, wenn auch nicht in gleich hohem Grade, wie in England, überall. So besitzen in Deutschland die zehn grössten Grundbesitzer ein Neuntel der gesamten angebauten Bodenfläche Deutschlands, während Frankreich hinsichtlich der Verteilung von Grund und Boden weit besser daran ist. Sogar in Amerika, wo doch Überfluss an Grund und Boden vorhanden ist, machen sich die traurigen Folgen des privaten Bodenbesitzes bereits in solcher Weise geltend, dass die bekannte Schrift des Amerikaners H.Georgeüber Fortschritt und Armut, worin jener Besitz als Hauptquelle des sozialen Übels dargestellt wird, Millionen von Lesern finden konnte. Es war eine der thörichtesten und zugleich ungerechtesten Handlungen oder Versäumnisse der amerikanischen Staatsverwaltung, dass sie nicht, was ihr ein Leichtes gewesen wäre, das unermessliche Landgebiet, das ihr zu Gebote stand, von vornherein für National-Eigentum erklärte und parzellenweise an Private verpachtete, sondern dasselbe teils an Monopolisten und Pr30ivatgesellschaften verschenkte, teils zu Schleuderpreisen an Private wegwarf, teils der willkürlichen Besitzergreifung überliess. Eine Ausnahme hat man nur mit dem grossen Nationalpark im Staate Colorado gemacht, welcher beinahe so gross ist, wie das Königreich Sachsen — aber nicht zu nationalökonomischen, sondern zu Zwecken des Privatvergnügens für Reiche und Vermögende. Hätte man es mit dem gesamten Grund und Boden so gemacht, so müsste jetzt ein unermesslicher, nicht zu erschöpfender Nationalreichtum des amerikanischen Volkes die Folge sein, während dieser riesige Schatz jetzt nur dem Privatnutzen dient. Am auffallendsten und ungerechtesten erscheint ein solcher Privatnutzen dort, wo durch einfache Vermehrung der Bevölkerung der Wert des Grundeigentums oft bis in das Ungemessene steigt, wie namentlich in der Mitte und Nähe wachsender Grossstädte, wo oft Landstrecken, welche vorher beinahe keinen Wert hatten, binnen kurzer Zeit zu wahren Goldfeldern für ihre Besitzer werden, — und zwar ohne jedes eigne Zuthun oder Verdienst der letzteren, lediglich durch den Fleiss und die Thätigkeit der Gesamtheit, welche nichtsdestoweniger dieses Resultat ihres Fleisses ohne jeden Abzug dem einzelnen Privateigentümer in den Schoss wirft.Was nun die Art und Weise des Übergangs des Privatbesitzes an Grund und Bodens in denjenigen des Staates oder der Gesamtheit betrifft, so ist dieses eine sekundäre Frage, welche von den verschiedenen Verteidigern der Bodenbesitzreform in verschiedener Weise beantwortet wird. Es versteht sich dabei von selbst, dass von einer gewaltsamen Aneignung nicht die Rede sein kann, sondern nur von einer Ablösung der Rente oder des Bodens selbst gegen massige31und abschätzungsweise festzustellende Entschädigung, Denn, wenn sich auch, wie nachgewiesen, sehr viele und vielleicht gerade die bedeutendsten Besitztitel an Grund und Boden nicht aus rechtlichem Erwerb, sondern aus den Zeiten der Gewalt herschreiben, so darf doch, da nach Verlauf so langer Zeit Untersuchungen über die Rechtlichkeit der Erwerbstitel nicht mehr angestellt und die Nachkommen nicht für die Sünden der Voreltern verantwortlich gemacht werden können, niemand in seinen jetzt bestehenden Rechtsansprüchen gekränkt oder benachteiligt werden.Die weitgehendste Art und Weise wäre ein Rückkauf nach vorheriger Abschätzung — wobei kleinere Güter oder Grundstücke nach ihrem vollen Wert bezahlt, sehr grosse aber einer gewissen Reduktion des Preises unterworfen werden müssten, — entweder gegen bar oder gegen eine in Form von Pfandbriefen auszugebende Staatsrente. Allerdings würden hierzu für den Anfang grosse Geldmittel notwendig sein; aber sie würden kein ernstliches Hindernis bilden, wenn durch Annahme meines zweiten Vorschlags auf Einschränkung der Erbrechte der ganze Bodenbesitz oder wenigstens der grösste Teil desselben im Laufe eines oder weniger Menschenleben an den Staat zurückfallen würde. Dazu käme sodann der durch Zunahme der Bevölkerung und rationellere Bewirtschaftung des Bodens im Grossbetrieb fort und fort steigende Bodenwert, welche Steigerung unter allen Umständen, als durch die Gesamtheit erarbeitet, auch der Gesamtheit oder dem Staate zu Gute kommen müsste.Die erklärten Anhänger der Bodenbesitzreform, welche sich in Deutschland zu einem besonderen »Bund« mit einer Anzahl von Zweigvereinen zusammengetha32n haben und im Besitze eines besonderen, in Berlin erscheinenden Organs unter dem Titel »Freiland« sind, scheinen in ihrer Mehrzahl der Ansicht zu sein, dass »die Überführung des Grundbesitzes, bez. der Grundrente, aus den Händen einzelner in die Hände der Gesamtheit«, welche laut Statut den Zweck ihrer Bestrebungen bildet, hinreichend sei, um, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar eine vollständige Lösung der sozialen Frage herbeizuführen. Sie erwarten davon durch Beseitigung des Hypothekenwesens in letzter Linie die Beseitigung der Macht des Privatkapitals an Grund und Boden, sowie derjenigen des mobilen Kapitals überhaupt, indem sie den überwiegenden Privatbesitz an Grund und Boden für die Ursache aller sozial-wirtschaftlichen Drangsale und für die Grundlage aller wirtschaftlichen Unfreiheit erklären. Namentlich wird dadurch nachBackhaus(a. a. O.) dem »furchtbar wütenden Schrecknis« des DämonsZins, welcher noch weit fürchterlicher ist, als der Kriegsdämon, weil er keinen Frieden kennt und sich ununterbrochen vermehrt, ein gewisser Halt geboten werden. Der Zins hat die ganze Gesellschaft in ein einziges grosses Kriegslager verwandelt, in welchem ihm täglich Menschenopfer ohne Zahl dargebracht werden. Denn unter der Herrschaft des Privatbodenmonopols und seiner Wirkungen ist die überwältigende Mehrheit jedes Volkes den Grossgrundherren und Grosskapitalisten in ähnlicher Weise zinspflichtig geworden, wie seinerzeit die kleinen Bürger Roms und die unterjochten Völker den römischen Latifundienbesitzern und Grosskapitalisten zinspflichtig waren.Wenn nun Verfasser bloss im Sinne der bisherigen Schule der Badenbesitzreformer zu reden hätte, so könnte er hier abbrechen, da diese Schule, wi33e gesagt, Gründe zu haben glaubt, um von der Verwirklichung ihrer Bestrebungen eine endgültige Beseitigung des sozialen Elends zu erwarten. Da er aber diese Erwartung nicht zu teilen vermag, so ist er genötigt, im Sinne seines tiefer gehenden Ausgleichs in den Mitteln, mit denen der Einzelne seinen Kampf um das Dasein zu bestehen hat, zur Erörterung seines zweiten Vorschlags hinsichtlich der Beschränkung, bezw. Beseitigung der Erbrechte oder des Erbkapitalismus überzugehen.Verfasser ist sich wohl bewusst, dass er mit diesem Vorschlag gewissermassen in ein Wespennest sticht und sich auf kritische Anfeindungen jeder Art gefasst machen muss. Denn wo das persönliche Interesse des Einzelnen in das Spiel kommt, da hat jede ruhige und gerechte Überlegung ein Ende. Das Recht, seinen Kindern und Kindeskindern dasjenige zu hinterlassen, was er selbst erworben hat, will sich niemand nehmen lassen, Auch hat der Einzelne darin vollkommen recht, solange er sich auf dem Boden der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse weiss. Aber ein ganz anderes ist es, wenn der Sozialreformer Verhältnisse voraussieht, welche ganz anders geartet sind und geartet sein müssen. Denn so wie politische Revolutionen nicht mit Rosenwasser gemacht werden, so können auch soziale Reformen von erfolgreicher Wirkung nicht mit halben oder unzureichenden Massregeln gemacht werden. Übrigens darf ich mich zur Unterstützung meines Vorschlags vor allen Dingen darauf berufen, dass die Erbschaftssteuer längst als eine der gerechtesten und am wenigsten drückenden anerkannt und angewendet worden ist, und dass man derselben nur eine grössere Ausdehnung, namentlich in der indirekten Erbfolge, zu geben braucht, um meinem Vorschlage mehr und mehr nahe zu kommen. Auch mehren sich die Anhänger34einer solchen Idee der Besteuerung in der gelehrten wie ungelehrten Welt von Jahr zu Jahr, und es fehlt nicht an angesehenen, selbst konservativen Staatsrechtslehrern, welche sich im Prinzip dafür aussprechen, wieBrinz,Röscher,Marlo,Umpfenbach,Schäffle,Pfizer,Bluntschli,Baron,Hallieru. s. w. Dass die eigentlichen Sozialisten zustimmen, versteht sich beinahe von selbst. Schon der Basler Internationale Arbeiterkongress von 1869 hat Abschaffung des privaten Grundeigentums und des Erbrechts in sein Programm aufgenommen; und der französische kollektivistische Sozialisten-Kongress von 1880 setzte als letzten Punkt seines Programms »Abschaffung des Erbrechts für Seitenverwandte und jedes direkten Erbrechts von mehr als 20000 Franks« fest. Auch das Programm der englischen Radikalen acceptiert ganz und voll die beiden genannten Forderungen. Unter den neueren Schriftstellern radikaler Richtung hat sich namentlichMax Nordauin seinem berühmten Buch über die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit mit durchschlagenden Gründen auf den Boden dieser Anschauung gestellt Nach meiner Meinung ist eine solche Reform der Erbrechte oder eine Beschränkung, resp. Abschaffung des Erbkapitalismuseine einfache Forderung der sozialen Gerechtigkeit. Denn niemand wird es als dieser Forderung entsprechend ansehen können, dass unter den Menschen, welche, wenn auch mit verschiedenen Eigenschaften, doch mit demselben Anrecht an Existenz auf die Welt kommen, der eine gewissermassen mit dem Breilöffel, der andre mit dem Hungerlutscher im Munde geboren wird. Niemand wird es als Ausfluss natürlicher Gerechtigkeit betrachten können, wenn der eine schon in der35Wiege auf Millionen sich wälzt oder einen grossen Teil des Grundes und Bodens, welcher allen gehören sollte, sein eigen nennt, ohne dass er das geringste persönliche Verdienst dabei hat, während der andre, wie des Menschen Sohn, nicht weiss, wo er sein Haupt hinlegen soll, um von den Mühen und Lasten seines armseligen Daseins auszuruhen. Man vergegenwärtige sich die Caprice jenes reichen Engländers, welcher sein ganzes grosses Vermögen einer ihm persönlich ganz fremden Dame vermachte, bloss weil er Gefallen an ihrer schönen Nase gefunden hatte, und ähnliche Beispiele einer total unsinnigen Vererbung an unbedürftige Erben. Man denke an die Vermächtnisse an die tote Hand oder an die Kirche, welche nur zum Schaden der Allgemeinheit verwendet werden, an die hässliche Erbschleicherei, an die zahllosen Erbstreitigkeiten, welche oft die tiefste Entzweiung ganzer Familien herbeiführen und den hässlichsten Trieben der Menschennatur Nahrung geben, an die Nachteile der Fideikommisse, an die durch stete Vererbung aufrechterhaltenen ungeheuren Privatvermögen, welche einen Staat im Staate, eine Geldmacht innerhalb der Staatsmacht darstellen, an die Vererbung an ganz entfernte Seitenlinien, deren Angehörige den Erblasser nie gesehen oder gekannt haben u. s. w. Das sog.Testamentoder freie Verfügungsrecht über die Hinterlassenschaft ist auch durchaus kein Ausfluss des Naturrechts, sondern eine Erfindung späterer Zeiten, wahrscheinlich römischen Ursprungs; es war z. B. im alten Deutschland ganz unbekannt. Die älteste Stufe des Eigentums war vielmehr, wie die ausgezeichneten Untersuchungen vonLaboulayeundLaveleyeüber die Entstehung der Eigentumsbegriffe nachgewiesen haben, das36Gemein-Eigentum. Erst das römische Recht mit seiner übermässigen, bereits erwähnten Betonung des Individualismus und der persönlichen Besitz- und Eigentumsrechte machte dem ehemaligen Zustand der Dinge ein Ende und trieb die letzteren im Sinne des persönlichen Egoismus auf die Spitze — ein Verhältnis, an dem wir heute noch leider schwer zu kranken haben. Heute hat, wieLavelayesagt, das Eigentum seinen ehemaligen sozialen Charakter ganz verloren. Vollständig verschieden von dem, was es im Anfang war, hat es nichts Gemeinsames mehr an sich. Privilegiert, fessellos, ohne Rückhalt oder Verpflichtung scheint es, ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesamtheit, keinen andern Zweck als das Wohlsein des Individuums zu verfolgen u. s. w.
Der Zustand der menschlichen Gesellschaft in Vergangenheit und G1egenwart bietet für das Auge des Menschenfreundes in vielfacher Beziehung ein wenig erfreuliches Bild. Es zeigt uns riesige Gegensätze von höchstem Glück und von tiefstem Elend, Grenzenlose Armut neben grenzenlosem Reichtum, grenzenlose Gewalt neben grenzenloser Ohnmacht, grenzenloser Überfluss neben grenzenloser Entbehrung, Übermass von Arbeit neben Nichtsthuerei und Faulenzertum, politische Freiheit neben wirtschaftlichem Knechttum, fabelhaftes Wissen neben tiefster Unwissenheit, Schönes und Herrliches jeder Art neben Hässlichem und Abstossendem jeder Art, höchste Erhebung menschlichen Seins und Könnens neben dessen tiefster Versunkenheit, blöder dumpfer Aberglauben neben höchster Geistesfreiheit — das ist der Charakter einer Gesellschaft, welche in der Grösse und dem Widerstreit dieser Gegensätze die schlimmsten, hinter uns liegenden Zeiten politischer Unterdrückung und Sklaverei noch überbieten zu wollen scheint. Von jeher haben die Menschen untereinander und gegen ihr eignes Geschlecht in einer Weise gewütet, im Vergleich mit welcher die wildesten und grausamsten Bestien als fromme Lämmer erscheinen müssen. Aber wenn auch diese Zeiten wildester Barbarei und Zerfleischungswut in zivilisieren Ländern grösstenteils vorüber sind, so wiederholen sie sich doch in andrer2Form in jenen erschütternden gesellschaftlichen Tragödien von Mord, Selbstmord, Hungertod, unverschuldeter Krankheit, frühzeitigem Tod, Arbeitslosigkeit u. s. w., welche wir beinahe tagtäglich an uns vorüber müssen ziehen lassen, ohne im Stande zu sein, ihre schreckliche Wiederkehr zu verhüten oder ohne ihnen mehr als eine kurze Regung des Mitleids schenken zu können. Tagtäglich sehen wir Menschen aus Mangel der notwendigsten Lebensbedürfnisse schnell oder langsam zu Grunde gehen, während dicht neben ihnen der besser situierte Teil der Gesellschaft in Überfluss und Wohlleben erstickt, und während der National-Wohlstand einen nie gesehenen, aber in der Regel nur Einzelnen zu Gute kommenden Aufschwung nimmt. Wenn wir sehen, dass Hunderttausende in Üppigkeit verderben, während Millionen dasselbe Schicksal erleiden durch Darben und Entbehren, so wird man beinahe versucht, jenem englischen Schriftsteller Recht zu geben, welcher fragt: »Ist es in Ordnung, dass Millionen beinahe Hungers sterben, damit einige Tausende an Dyspepsie (Magenüberladung) zu Grunde gehen?«Die Statistik hat die traurige Thatsache an das Liebt gebracht, dass die durchschnittliche Lebensdauer der Armen kaum etwas mehr, als die Hälfte der Lebensdauer der Reichen beträgt. Also wird der Arme durch die einfache Thatsache seiner Armut nicht bloss um den Genuss des Lebens, sondern auch um das Leben selbst gebracht. Am schwersten lastet dieser Fluch der Armut auf der armen, unschuldigen Kinderwelt, welche schon mit ihrem ersten Atemzuge den Keim eines frühen Todes oder späterer Krankheit in sich aufnimmt, und zwar hauptsächlich durch gesellschaftliches Verschulden. Die Statistik zeigt, dass im Durchschnitt schon die Hälft3e aller Kinder der Armen vor Erreichung des fünften Lebensjahres dieses irdische Jammerthal wieder verlässt infolge von Mangel, schlechter Pflege u. s. w. Der riesige nationalökonomische Schaden dieses fortwährenden zwecklosen Kommens und Gehens springt in die Augen. Alle die Millionen Ausgaben an Geld und Arbeit, welche auf diese Kleinen verwendet worden sind, gehen mit ihrem Tode für die Gesamtheit unwiderbringlich verloren und können nie wieder durch deren spätere Thätigkeit ersetzt werden.Muss es nicht das Herz des Menschenfreundes auf das Tiefste betrüben, wenn er die Kinder der Armen in Pfützen und Kothaufen nach Speiseresten wühlen sieht, welche den Reichen für ihre Hunde und Katzen zu schlecht sind — oder wenn er hören muss, dass ganze Scharen von Kindern morgens ohne Frühstück in die Schulen getrieben werden — oder wenn er von verzweifelten Vätern oder Müttern lesen muss, welche sich und ihre Kinder einem freiwilligen Tode opfern, um dem Tode durch Hunger oder Entbehrung zu entgehen — oder wenn er sehen muss, wie eine politische oder geschäftliche Krisis ganze Scharen fleissiger Arbeiter ohne Nahrung für sich selbst und für die Ihrigen auf das Pflaster wirft — oder wenn er beobachten muss, wie die Zunahme der Verbrechen gegen Leben und Eigentum zumeist einem heimlich geführten Kriege der Besitzlosen gegen die Besitzenden entspringt — oder wenn er die Überzeugung gewinnen muss, dass Egoismus und Selbstsucht die Grundsäulen sind, auf denen die menschliche Gesellschaft aufgebaut ist, u. s. w.? Wenn wir unsre grossen Städte, unsre mächtigen Industriebezirke durchwandern, so haben wir fast bei jedem Schritte Gelegenheit, zu bemerken, wie unmit4telbar neben, über und unter den Stätten des Reichtums, und Glanzes die Höhlen des Lasters und Elends sich verbergen, wie neben brechenden Tischen und übersatten Magen der hohläugige Hunger still seine Qualen duldet, und wie neben Wohlleben und Übermut jeder Art die hoffnungslose Entbehrung entweder scheu und ängstlich in schmutzige Winkel sich verkriecht oder in düsterer Verzweiflung schreckliche Thaten gegen Staat und Gesellschaft ausbrütet. Ein sehr berechtigtes Sprüchwort sagt: »Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.« Aber wie viele essen, die nicht arbeiten oder nie gearbeitet haben, und wie viele arbeiten, die sich nicht satt essen können! Woraus der unabweisbare Schluss folgt, dass diejenigen, welche arbeiten, nicht bloss für sich, sondern auch für die Erhaltung eines ganzen Heeres von Müssiggängern thätig sein müssen. Man wende nicht ein, dass diese Müssiggänger von den Anstrengungen oder Verdiensten ihrer Vorfahren leben, da gerade die notwendigsten Lebensbedürfnisse nicht zum voraus geschaffen werden können und, wenn verzehrt, notwendig vorher durch die Anstrengungen der Mitlebenden erzeugt worden sein müssen.Aber diese ungleiche Verteilung gilt nicht bloss für diematerielle, sondern auch für diegeistigeNahrung. Wie viele Talente oder Genies müssen den Pflug des Alltaglebens ziehen, weil ihnen nicht das Glück an der Wiege gelächelt hat, während oft die beschränktesten Köpfe auf den Sesseln der Macht oder Gelehrsamkeit sich breit machen. Gerade die idealste geistige Arbeit belohnt sich in der Regel am schlechtesten. Philosophen und Dichter sind in der Regel geborene Proletarier und ernten erst nach ihrem Tode die Ehren, welche ihnen im Leben hätten zukommen5müssen, während hastige und oberflächliche Fabrikarbeit nach dem Geschmack des grossen Haufens sich schon während des Lebens am besten lohnt, Man denke beispielsweise an die erbärmliche, an den Haaren herbeigezogene Situationskomik in unserm deutschen Lustspiel, die nur Hohlköpfe ergötzen kann und trotzdem auf unsern Bühnen, welche geistige Erziehungsanstalten für das Volk sein sollten, alle besseren Erzeugnisse mehr oder weniger in den Hintergrund drängt. Ebenso wie den Theatern, die sich ganz vom zahlenden Publikum abhängig machen, ergeht es unsern Zeitungen und Wochenschriften, deren höchstes Ideal die Abonnentenzahl bildet und bilden muss, und welche darum in der Regel weit mehr Gewicht auf den zeitweiligen Geschmack des Publikums neben den Interessen ihrer Leiter und Eigentümer legen, als auf Verbreitung von Wahrheit und Aufklärung. Ein ähnlicher Vorwurf kann, wenn auch in minderem Grade, der Buch-Litteratur nicht erspart werden, in welcher männlicher Gradsinn und philosophische Überzeugungstreue sicher sind, überall gegen einen Berg von Gemeinheit, Unwissenheit, Verleumdung oder Teilnahmlosigkeit ankämpfen zu müssen, während elende, auf Neugier oder Sensation berechnete oder den Vorurteilen der Masse schmeichelnde Machwerke ebenso sicher sind, tausende von begierigen Lesern zu finden. Welchen grenzenlos nachteiligen Einfluss diese notgedrungene Unterwürfigkeit unter den gerade herrschenden Geist oder Geschmack oder unter eingewurzelte Vorurteile des lesenden Publikums haben muss und bereits gehabt hat, ist zu bekannt, als dass es mehr als einer Hinweisung darauf bedürfte. Wie oft wird man, wenn man das Facit unsrer Zeitungs- und Buchlitteratur zu ziehen v6ersucht, an das bittere WortShakespeareserinnert: »Wahrheit ist ein Hund, der ins Loch muss und hinausgepeitscht wird, während Madame Schosshündin (d. h. die Lüge) am Feuer stehen und stinken darf.«Wenn man sich nun die Frage nach den Ursachen dieser betrübenden Erscheinung vorlegt, so glauben wir die Antwort in einem Zustand zu finden, dessen genauere Kenntnis uns durch die jetzt alle andern Wissenschaften an Erfolg und Bedeutung weit überragendeNaturwissenschaftan die Hand gegeben wird. Es ist jener unerbittlicheKampfum dasDaseinoder jener Existenzkampf, welcher seitDarwineine so grosse Berühmtheit erlangt hat. Er ist zunächst hergenommen aus der Pflanzen- und Tierwelt, wo er zu einer wesentlichen Ursache der Umwandlung und des Fortschritts wird, indem in der Regel nur die Kräftigsten, Fähigsten, durch die eine oder andre Eigenheit Bevorzugten den Sieg in diesem Kampf oder Wettbewerb über ihre Genossen davontragen. Anlass zu Bemitleidung giebt uns dieser Kampf in der Regel nicht, weil der Tod schnell ist, weil er ohne volles Bewusstsein erlitten wird, und weil in der Regel nur die persönliche Tüchtigkeit oder Eigenart entscheidend ist. Es ist ein Kampf, welcher von den Einzelnen mit den im ganzen gleichen Mitteln des Krieges oder der Flucht oder des Wettbewerbs geführt wird, und wobei der Einzelne keine Bevorzugung vor andern durch den Schutz der Gesellschaft geniesst. Die Fülle und der Reichtum der Natur steht ihnen allen ziemlieh gleichmässig zu Gebot, und es giebt keine Privilegien, welche dem einen verbieten würden, etwas zu nehmen, was dem andern gestattet ist. Nur individuelle Kraft oder Fähigkeit ist entscheidend. Wenn das Tier seine Höhle oder sein7Nest allerdings auch sein Eigentum nennt, so muss es doch gewärtig sein, in diesem Besitz jederzeit durch andre Stärkere gestört oder daraus verdrängt zu werden.Ganz anders aber gestaltet sich infolge seiner sozialen Einrichtungen dieser Kampf bei dem Menschen, welcher, wenn er zur Welt kommt, bereits alle oder alle guten Plätze an der Tafel des Lebens besetzt findet und, wenn ihm nicht Geburt, Reichtum, Rang u. s. w. zu Hilfe kommen, von vornherein dazu verurteilt ist, seine Kräfte und sein Leben im Dienste und zum Vorteil derjenigen, welche im Besitze sind und welchen dieser Besitz durch die Gesamtheit garantiert wird, aufzubrauchen. Daher siegt hier nicht immer der Beste, sondern der Reichste, nicht der Tüchtigste, sondern der Mächtigste, nicht der Fähigste oder Fleissigste, sondern der durch seine soziale Stellung Bevorzugte, nicht der Klügste, sondern der Verschmitzteste, nicht der Redlichste, sondern derjenige, welcher die mannigfachen Hilfsmittel politischer und gesellschaftlicher Ausbeutung in der Hand hat und dieselben am Schlauesten zu benutzen versteht. Daher es denn auch, da sich dieses Verhältnis von Generation zu Generation forterbt, nicht anders sein kann, als dass mit der Zeit jener Zustand extremer gesellschaftlicher Ungleichheit daraus erwächst, welcher den Charakter der gegenwärtigen Gesellschaft bildet und in immer steigendem Masse bilden wird, und welcher bereits geschildert worden ist. Übrigens bietet der Daseinskampf des Menschen zwei ganz verschiedene Seiten dar, welche man strenge auseinander halten muss. Die eine Seite besteht in demKampf des Menschen gegen die Naturund deren die freie Entfaltung seiner Kräfte beengende Schranken, — ein Kampf, den er bekanntlich8mit dem allergrössten Erfolge geführt hat und mit täglich grösserem Erfolge führt. An diesem Erfolge nehmen alle Menschen in grösserem oder geringerem Masse teil oder können daran teilnehmen.Die zweite Seite stellt sich dar als derKampf des Menschen gegen seinesgleichen, welcher indessen ebensowohl ein direkter wie ein indirekter Kampf oder Wettbewerb um die Existenzbedingungen sein kann. Dieser Kampf ist in demselben Masse, wie der Kampf gegen die Natur leichter geworden ist, schwerer, grausamer und unerbittlicher geworden. Auch wird derselbe um so heftiger, je grösser der Fortschritt auf materiellem Gebiete wird, und je mehr die Zahl der Menschen und der Umfang ihrer Bedürfnisse zunimmt. Durch ihn sind Egoismus und Individualismus zu Weltherrschern geworden. Es ist ein allgemeiner Konkurrenz-Kampf oder ein Krieg aller gegen alle, wobei der Tod des einen das Brot des andern, das Unglück des einen das Glück des andern bedingt. Der mächtige Trieb der Selbsterhaltung und der Zwang des gesellschaftlichen Egoismus überwiegt alles; ein Widerstand gegen denselben ist nicht möglich, ausser bei schwerer Strafe der Widerstrebenden. Denn wo das Wohl oder Interesse des Einzelnen in Frage kommt, da kennt der gesellschaftliche Egoismus in der Regel ebensowenig Mitleid oder Schonung, wie der Tiger, wenn er sein Opfer zerreisst; und man kann oder darf dieses dem Einzelnen nicht einmal zum Vorwurf machen, da der Trieb oder das Interesse der Selbsterhaltung innerhalb eines gesellschaftlichen Organismus, wie er zur Zeit noch besteht, ihm sein Verhalten gebieterisch vorschreibt, wenn er nicht den eignen Untergang herbeiführen oder beschleunigen will. Se9lbst der aufopferndste Menschenfreund kann sich diesem Gebot des Egoismus nicht entziehen, ohne sich selbst den grössten Gefahren auszusetzen. Es ist gewissermassen eine grosse und allgemeine Flucht oder ein Wettrennen der Furcht vor der Not und Entbehrung des Lebens, ohne Mitleid oder Hilfe für die dabei zu Boden Sinkenden, ähnlich jenem berüchtigten Übergang der grossen Armee über die Beresina, wo jeder nur für die eigne Rettung besorgt war und besorgt sein musste. Wer nicht niedergetreten sein will, muss selbst niedertreten und dem allgemeinen Feldgeschrei folgen: »Rette sich wer kann! Unterliege wer muss!« Auch hat sich durch Gewohnheit das Gefühl des Einzelnen für die Schrecken eines solchen Zustandes nach und nach in ähnlicher Weise abgestumpft, wie es sich gegen die Schrecken einer Schlacht bei den Kämpfenden abzustumpfen pflegt.Wer kennt nicht das berühmte Buch des AmerikanersBellamy, worin derselbe den Zustand der menschlichen Gesellschaft mit einer grossen, bequem eingerichteten Kutsche vergleicht, welche von einer kleineren Anzahl von Menschen besetzt ist, während die grössere davor gespannte Mehrzahl diese Kutsche mit Aufbietung aller Kräfte über Berge und Thäler, durch Sümpfe und Moräste schleppt, getrieben von der Peitsche des Hungers, der als Kutscher auf dem Bocke sitzt! Ich halte das Gleichnis, wie alle Gleichnisse, in vieler Beziehung für schief oder hinkend, aber im grossen und ganzen muss es doch das Richtige getroffen haben, wie der beispiellose Erfolg des Buches beweist. Derselbe wäre nicht denkbar, wenn nicht eine grosse Mehrzahl von Menschen tief von der Überzeugung eines unnatürlichen und ungerechten Zustandes der heutigen menschlichen Gesellschaft10durchdrungen wäre und in dem Buche mehr oder weniger eine Offenbarung der eignen, sie bewegenden Gefühle gefunden hätte.Es wird wohl nicht viele geben, welche ernstlich zu leugnen wagen, dass ein solcher Zustand der Gesellschaft von den grössten ökonomischen und moralischen Nachteilen begleitet ist und begleitet sein muss. Einerseits erzeugen Armut, Besitzlosigkeit und Mangel an Erziehung und Bildung die meisten Verbrechen gegen Staat und Gesellschaft, während andrerseits übertriebener Reichtum Müssiggang und allerhand Laster im Gefolge hat; wodurch Staat und Gemeinde genötigt werden, eine kostspielige Justiz mit allen ihren hässlichen Anhängseln und eine ebenso kostspielige Armenpflege zu unterhalten. In moralischer Beziehung erzeugt der allgemeine Konkurrenzkampf hässliche Leidenschaften, wie Neid, Hass, Mitleidlosigkeit, Geldgier, Hartherzigkeit, gegenseitige Verfolgungssucht statt gegenseitiger Liebe und Unterstützung. Jeder denkt und handelt nur für sich und sein eignes Interesse, weil er weiss, dass im Notfall kein anderer für ihn eintreten oder dass er an der Gesamtheit keine Stütze finden würde. In einer richtig organisierten Gesellschaft müsste der Gewinn des Einzelnen zugleich der Gewinn der Gesamtheit sein und umgekehrt, und das Motto derselben müsste heissen: »Einer für alle und alle für einen«, während jetzt in der; Regel das Gegenteil stattfindet. Unsre grössten Gewinne erzielen wir durch eine der traurigsten Ursachen oder durch den Tod derjenigen, welche uns im Leben die liebsten waren, indem wir sie beerben. Der Baumeister und alle bei Bauten beschäftigten Arbeiter müssen sich freuen, wenn Häuser einstürzen oder abbrennen; die Grubenarbeiter desgle11ichen, wenn hunderte ihrer unglücklichen Kameraden im Dunste der Bergwerke ersticken; der Arzt muss sich freuen, wenn es viele Krankheiten giebt; der Advokat nährt sich von Prozessen, welche seinen Mitbürgern Ruhe und Vermögen rauben; der Richter muss Gefallen haben an grossen Kriminalprozessen; die Offiziere müssen sich freuen, wenn das grösste Übel, welches die Menschheit betreffen kann, der Krieg ausbricht, weil sie davon Beförderung erwarten; der Familienvater muss sich freuen, wenn seine Nachkommenschaft möglichst klein bleibt, obgleich der eigentliche Zweck der Familie dabei verloren geht; der Wirt oder der Verkäufer geistiger Getränke muss sich freuen, wenn die Trunksucht, und die verlorenen Töchter des Volkes müssen sich freuen, wenn die Unzucht zunimmt; alle Handwerker und Produzenten müssen sich freuen, wenn die von ihnen erzeugten Gegenstände übermässig rasch verbraucht werden; ein Gewitter oder Hagelschlag wird trotz des durch solche Naturereignisse angerichteten Schadens von dem Glaser oder Versicherungsagenten gern gesehen; wie denn überhaupt beinahe alles, was dem einen Schaden, dem ändern Verdienst bringtMan könnte noch lange mit Aufzählung ähnlicher Beispiele fortfahren, aber diese Vermehrung würde am dem Resultat nichts ändern.Dazu kommt der demoralisierende Charakter der Arbeit selbst, welche in der Regel nicht aus Interesse für das Gemeinwohl, sondern aus Zwang der Umstände geleistet wird. Der heutige Arbeiter ist ein Sklave wie ehedem, nur mit dem Unterschiede, dass ihn nicht die Peitsche des Herrn, sondern diejenige des Hungers in die Abhängigkei12t von seinem Arbeitgeber treibt. Aber dieser Arbeitgeber selbst ist wieder ein Sklave — ein Sklave des Kapitals, der Konkurrenz, der Geschäftskrisen, der Strikes, der Verluste und oft in weit schlimmerer Lage, als der von ihm bezahlte Arbeiter.Ist so der Widersinn des Systems schon gross genug inmoralischerBeziehung, so ist er noch grösser inökonomischerHinsicht, Denn während die Erde so viele Nahrungsstoffe hervorbringt, dass die ganze lebende Menschheit reichlich damit versorgt werden könnte, und bei richtiger, von gemeinsamen Grundsätzen geleiteter Bewirtschaftung noch viel mehr hervorbringen könnte, und während der Nationalwohlstand und die Ansammlung kolossa. Reichtümer in einzelnen Händen eine nie gesehene Höhe erreichen, müssen wir fortwährend mitten im Überfluss jene Szenen von Hunger, Entbehrung, unverschuldetem Kranksein und frühzeitigem Sterben erleben, die bereits geschildert worden sind. Wie heuchlerisch ist die Fürsorge des Staates für seine Bürger, um dieselben vor der kleinsten Versündigung gegen Leben, Eigentum oder Gesundheit zu schätzen, während er ruhig zusieht oder duldet, dass fortwährend Tausende durch Not, Elend und Entbehrung schnell oder langsam in einen bald freiwilligen, bald unfreiwilligen Tod getrieben werden, oder dass durch mangelhafte Erziehung und Ernährung eine an Geist und Körper verkrüppelte Jugend emporwächst, die mit der Zeit die Strafgerichte beschäftigt, die Gefängnisse füllt oder der Armenpflege zur Last fällt. Man erlässt scharfe Gesetze gegen Tierquälerei, aber man hat kein Auge für jene entsetzliche Menschenquälerei, welche erlaubt, dass blasse, schwindsüchtige Mädchen oder Frauen, ja ganze Bevölkerungen, wie die13schlesischen und erzgebirgischen Handweber, Tag und Nacht für Löhne arbeiten, welche kaum hinreichen, sie vor dem Hungertode zu schützen; oder dass andre tausende, um desselben Zweckes willen, Leben und Gesundheit in absolut schädlichen Fabrikationszweigen zum Opfer bringen; oder dass barfüssige, kaum mit Lumpen bekleidete Kinder bei Winterskälte in den Strassen unsrer Städte umherirren; oder dass ein Dutzend Menschen in einem Wohnraume zusammengedrängt ist, der kaum für einen Einzigen hinreicht, während ein andrer zehn oder zwölf Zimmer und mehr für sich allein zur Verfügung hat; oder dass die Wohnungen der Armen oft schlechter sind, als die Hundehütten und Pferdeställe der Reichen; oder dass vielen nichts übrig bleibt, als ihre Nächte im Freien zuzubringen, auf die Gefahr hin, dafür verfolgt und bestraft zu werden, während beispielsweise in Berlin 40000 Wohnungen leer stehen; oder dass es Menschen giebt, welche aus Hunger und Nahrungssorgen schnell oder langsam zu Grunde gehen, während der blosse Abfall von dem Tische der Reichen oder ein geringer Prozent ihres Überflusses solches verhüten könnte, u. s. w. u. s. w.Wenn man in Gebirgsgegenden sehen muss, wie sich fette Weiber von keuchenden und schwitzenden Menschen mit höchster Gefahr für deren Leben und Gesundheit auf hohe Aussichtspunkte hinaufschleppen lassen, bloss um eines armseligen Geldlohnes willen, so muss man mit Hass gegen eine Gesellschaftsordnung erfüllt werden, welche dem Gott Mammon erlaubt, seine elenden Geldsklaven ebenso zu den niedrigsten Sklavendiensten und zur blinden Unterwürfigkeit unter seine Gebote zu zwingen, wie es ehedem den Herrn über Sklaven oder Leibeigene zu thun erlaubt war.14Ich wiederhole, dass es im allgemeinen nur wenige geben wird, welche diese nackten Thatsacheu zu leugnen oder den damit verbundenen Zustand als solchen zu verteidigen wagen. Man erkennt die sozialen Schäden und Widersinnigkeiten als solche an, wie ja schon daraus hervorgeht, dass die dadurch hervorgerufene Litteratur mit zahllosen Besserungsvorschlägen fast unabsehbar geworden ist. Aber — so pflegt man diesen Vorschlägen gegenüber zu antworten — der Zustand ist leider nicht zu ändern. Es war von jeher so und wird immer so sein und bleiben. Ungleichheit ist ein notwendiges Attribut der menschlichen Gesellschaft. Zu allen Zeiten hat es Adel und Stände, Reiche und Arme gegeben, und die grosse Masse ist immer nur zum Arbeiten und Gehorchen dagewesen. Vernunft und Gerechtigkeit in sozialer Beziehung sind immer Ideale geblieben; und alle Gesellschafts-Idealisten, Plato mit seinem Vernunftstaat an der Spitze, haben in der Praxis stets schmählich Schiffbruch gelitten. Wollte man auch heute alle Besitztümer gleichmässig verteilen, so würde sehr bald wieder die alte Ungleichheit da sein. Auch würde, wie eine Berechnung leicht ergiebt, eine solche allgemeine Verteilung des Besitzes dem Einzelnen verhältnismässig nur sehr geringen Gewinn einbringen.Man versäumt dabei nicht, an die grossen Wohlthaten der Konkurrenz zu erinnern, welche den eigentlichen Sporn der Arbeit und des Fortschritts bildet und welche es zu Wege gebracht hat, dass sich heutzutage durch die Billigkeit der Erzeugnisse die Konsumtion mehr oder weniger nach der Produktion richtet, während man früher allgemein der Meinung war, dass das umgekehrte Verhältnis das allein15richtige oder mögliche sei.Aber wie soll diesen Einwänden begegnet, wie soll geholfen werden? Diese Frage ist um so schwieriger zu beantworten, als bis jetzt alle die zahllosen Versuche und Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage erfolglos geblieben sind. Dies darf jedoch den Menschenfreund nicht abschrecken, immer wieder von neuem an Mittel der Abhilfe zu denken. Es muss geholfen werden und — was die Hauptsache ist — eskanngeholfen werden.Esmussgeholfen werden, wenn man nicht riskieren will, dass jede politische Umwälzung oder Erschütterung der Gegenwart (und an solchen fehlt es ja niemals) von schweren sozialen Erschütterungen begleitet sein wird. Ein allgemeines Gefühl sozialer Unbehaglichkeit oder Ungerechtigkeit, namentlich in den niederen Schichten der Bevölkerung, hat sich der Mehrzahl der Menschen bemächtigt, und eine künftige Revolution wird nicht, mehr, wie in der ersten und zweiten französischen Revolution, vor dem »Eigentum« stehen bleiben. An deutlichen Anzeichen dieser in den Tiefen der Volksseele tigerartig gärenden Leidenschaften und Gelüste fehlt es ja in keiner Weise; dieselben werden sich zu gelegener Zeit Luft machen, ohne dass man im Stande sein wird, durch Gewaltmassregeln etwas andres zu erreichen, als die Erziehung von Märtyrern und Fanatikern. Die Nihilisten in Russland, die Communards in Frankreich, die Sozialdemokraten in Deutschland, die Fenier, die Irredentisten, die Dynamiteriche, der sein Haupt immer mehr erhebende und förmlich Schule machende Anarchismus sind gewissermassen nur die Sturmvögel oder Warnungssignale einer kommenden Umwälzung; und der Staatsweise oder16Staatslenker, der sie unbeachtet lassen wollte, würde dem Schiffer gleichen, der die sein Schiff vor dem Sturm umflatternden Seemöven nicht beachtet oder dieselben mehr als Verfolgungs-Objekte, denn als Warner behandelt. Denn »wer seine Zeit damit verbringt, Jagd zu machen auf die Möven, wird vom Sturm überrascht und beschädigt werden an Leben und Gut.« (Radenhausen.)Sollte es aber auch, was ja nicht unmöglich wäre, gelingen, durch Gewaltmassregeln jeden Versuch einer sozialen Umwälzung dauernd zu unterdrücken, so würde doch damit die geschilderte Unzufriedenheit und Unbehaglichkeit aus dem Schosse der Gesellschaft nicht nur nicht entfernt, sondern nur noch vermehrt oder gesteigert werden. Es würde mit der Zeit eine Art heimlichen Kriegszustandes zwischen den besitzenden und den nicht-besitzenden Klassen der Gesellschaft entstehen, welcher die Ruhe und das Glück des Gemeinwesens nicht weniger alterieren würde, als ein offener Krieg. Denn wenn man beispielsweise erfährt, dass im Jahre 1864 in England dreitausend Personen ein jährliches Einkommen von ungefähr 500 Millionen Mark, oder mehr als das jährliche Gesamteinkommen aller Ackerbauarbeiter von ganz England und Wales, unter sich teilten, so wird man einen dauernden sozialen Frieden auf dem Boden eines solchen Missverhältnisses wohl kaum für möglich halten dürfen.Glücklicherweise fehlt es nicht an der Möglichkeit, diesem Zustand zu begegnen oder den drohenden Sturm nicht zum Ausbruch kommen zu lassen, ohne dass man nötig hätte, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen, und zwar mit Hilfe einer Anzahl friedlicher Reformen, welche, auf dem17Boden der jetzigen Gesellschaftsordnung stehend, von da langsam und allmählich zu einem besseren Zustand der Dinge hinüberleiten — vorausgesetzt, dass es gelingt, die Mehrzahl der Menschen von der Wohlthätigkeit und Notwendigkeit solcher Massregeln zu überzeugen. Wir sehen hierbei selbstverständlich ab von jener radikalen oder radikalsten Lösung der sozialen Frage, wie sie derKommunismusverlangt. Ein solcher Zustand, wobei der gesamte Besitz gemeinschaftlich und die Arbeit ganz frei oder freiwillig sein würde, und von dem noch einmal ausführlicher die Rede sein wird, wäre wohl denkbar, ist aber für jetzt in grösserem Massstabe unausführbar, teils wegen der allgemeinen Abneigung gegen denselben, teils wegen der Schwäche der menschlichen Natur, welche durch lange Jahre des Egoismus und Individualismus für Ertragung derartiger Idealzustände unfähig geworden ist. Ein solcher Zustand würde erst möglich sein am Ende einer langjährigen Erziehung des menschlichen Geistes im Sinne des Altruismus und Kollektivismus oder der allgemeinen Bruder- und Menschenliebe.Es bleibt sonach nichts übrig, als Ausschau nach andern Mitteln oder Hilfen zu halten. Hier wird uns denn wieder der richtige Fingerzeig gegeben durch dieNaturwissenschaft, welche heutzutage bestimmt sein dürfte, nicht bloss diegeistige, sondern auch diesozialeBefreiung der Menschheit zu bewirken.Ich komme dabei zurück auf den von dieser Wissenschaft in das rechte Licht gesetztenKampf um das Dasein, welcher leider unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen noch ganz den Charakter des rohen Daseinskampfes der Natur trägt, nur mit dem Unterschied, dass e18rhiermit mehr oder wenigergleichen, dort mit sehrungleichenMitteln gekämpft wird.Da lautet denn das erlösende Losungswort:Ersetzung der Naturmacht durch die Vernunftmacht, d. h. möglichste Ausgleichung der Mittel und Umstände, unter denen und mit denen gekämpft wird. An die Stelle des Einzelkampfes um das Dasein muss ein gemeinsamer Kampf allerfürdas Dasein treten. Mit ändern Worten: die Stelle des rohen Naturkampfes muss ein gemeinschaftlicher, durch Vernunft und Gerechtigkeit geregelter sozialer Kampf um die Lebensbedingungen ersetzen.Der Kampf, wie er unter den jetzigen sozialen Verhältnissen geführt wird, verdient den Namen eines eigentlichen Kampfes, eines Wettbewerbs mit gleichen Mitteln weit weniger, als denjenigen einer gesetzlich geregeltenUnterdrückung. Oder wie wäre anders der Kampf eines Menschen zu bezeichnen, den man, allenfalls mit einem hölzernen Säbel bewaffnet, gegen Flinten und Kanonen schicken wollte Oder der Wettlauf eines Menschen mit blossen Füssen mit einem andern, der Pferde oder Eisenbahnen zur Verfügung hätte! Oder wie wäre anders der Wettbewerb zwischen zwei Menschen zu bezeichnen, von denen der eine alle Vorteile von Rang, Reichtum, Erziehung, Bildung, sozialer Stellung u. s. w. für sich hätte, während der andre über nichts verfügte, als über die Kraft seiner nackten Arme und seines ungebildeten Verstandes!Der Ausgang eines solchen Kampfes oder Wettbewerbs ist zum voraus entschieden. In der Regel ist das Schicksal des einzeln19en Menschen schon in seiner Geburt besiegelt und das gesellschaftliche Sklaventum desjenigen, dessen Wiege in der Hütte eines armen Mannes gestanden hat, mit seinem ersten Atemzuge entschieden. »Die Fesseln einer niederen Geburt«, sagt J. C.Fischer1»schleppen wir durch das ganze Leben, und an ihnen zerschellt oft die unerhörteste Anstrengung eines ganzen Lebens.«Zwar wird man entgegnen, dass man sehr eklatante Ausnahmen von dieser Regel kennt. Man wird z. B. an den vor kurzem gestorbenen AmerikanerJay Goulderinnern, der als armer Hirtenjunge in Amerika einwanderte und als beispielloser Millionär starb. Diese Ausnahmen oder Glücksfälle können und sollen nicht geleugnet werden; aber sie sind eben nur überaus seltene Ausnahmen, welche die Regel nicht umstürzen. In der Regel erhalten sich Rang und Reichtum bei einzelnen Familien oder Ständen oder Gesellschaftsschichten für unbestimmt lange Zeiten.Glücklicherweise fehlt den unterdrückten Klassen der Gesellschaft das volle Bewusstsein oder die volle Empfindung ihrer Lage. Die Macht der Gewohnheit stumpft ihr Gefühl dafür ab und lässt sie dasjenige, was doch nur Menschenwerk ist, als eine unvermeidliche Fügung des Schicksals betrachten. Wenn dies nicht so wäre, würden wir schon längst jene soziale Revolution haben, welche fortwährend angekündigt wird, aber dennoch nicht kommen will. Auch hat es die Natur weise so eingerichtet, dass das Glück mehr im Charakter und Temperament des Einzelnen, als in den äusseren Lebensumständen liegt. Wer ein glücklich angelegtes Temperament hat, wird sich in jeder Lebenslage mehr oder weniger wohl fühlen, während ein Melancholiker oder e20in zu Ängstlichkeit und Trübsinn geneigter Mensch durch keine Glücksumstände froh oder zufrieden gemacht werden kann.Trotzdem zeigen die bereits angeführten Umstände und Erscheinungen deutlich, dass sich die Gesellschaft im grossen und ganzen in hohem Grade unwohl fühlt und einer kommenden Umwälzung entgegensteuert. Die erschreckende Ausbreitung der Sozialdemokratie wäre unbegreiflich, wenn nicht das Bewusstsein ihrer gedrückten Lage in den unteren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft in fortwährendem Zunehmen begriffen wäre. »Thatsache ist«, sagt F. A.Langein seiner vortrefflichen Schrift über die Arbeiterfrage2, »dass der Kampf um das Dasein gerade jetzt wieder in der mächtigsten und entscheidendsten Schicht der Nation in seiner ganzen ermattenden Schwere empfunden wird, und dass die Geister beginnen, der Einförmigkeit dieses Druckes überdrüssig zu werden.«Eine Änderung dieses trüben Zustandes ist, wie gesagt, nur möglich durch eine grössere Ausgleichung in den Mitteln, womit jeder einzelne seinen Kampf um das Dasein kämpft — eine Ausgleichung, welche sich vor allen Dingen auf die Besitzes-Verhältnisse zu erstrecken hat. Ferner durch die Umwandlung des Einzelkampfes in eben gemeinschaftlichen, solidarisch verbundenen Kampf aller gegen die Übel des Lebens, welche da sind Hunger, Kälte, Elend, Entbehrung, Krankheit, Alter, Unfall, Invalidität und Tod, oder durch Herbeiführung eines Zustandes, in welchem das Wohl des Einzelnen mehr oder weniger identisch wird mit dem Wohl der Gesamtheit und umgekehrt — ein Zustand, in welchem21das schöne Wort zur Wahrheit wird: »Einer für alle und alle für einen.«Ein solcher Zustand wäre, wie ich glaube, sehr leicht herbeizuführen, ohne das der Arbeits- und Erwerbstrieb des Einzelnen darunter Not leidet, so dass jeder die Früchte seines eigenen Fleisses, seiner eigenen Thätigkeit und Intelligenz geniesst und zwar durch Herbeiführung einer Versöhnung zwischen den Einzel- und den Gesamt-Interessen.Allerdings muss zugegeben werden, dass einevollständigeAusgleichung in dieser Richtung — wenigstens für den Anfang — kaum als möglich gedacht werden kann. Aber auch schon eineteilweiseAusgleichung muss und wird von den wohlthätigsten Folgen begleitet sein und wird voraussichtlich allmählich zu einem Zustande hinüberleiten, der eine gänzliche Lösung der sozialen Frage in Aussicht stellt. Namentlich wird der an sich so wohlthätige Sporn der Konkurrenz durch diese Lösung nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil geschärft werden, indem jeder nur die Früchte seines eigenen Fleisses geniessen und nicht auf Kosten andrer wird leben können. Auch ist die Lösung möglich ohne Verwischung der natürlichen Ungleichheiten der Gesellschaft durch Geburt, Familie, Wohnort, Anlage, inneres Bedürfnis, geistige und körperliche Vorzüge, Verschiedenheit der Beschäftigung u. s. w. Diese natürlichen Ungleichheiten oder Verschiedenheiten können nicht beseitigt werden, weil in der Natur des Menschen und der Dinge selbst gelegen. In einer Versöhnung des Individualismus mit dem Kollektivismus, vulgo Sozialismus, oder in einer richtig organisierten Übereinstimmung der Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen mit den Interessen und Bedürfnissen der Gesamtheit scheint daher22das ganze soziale Problem der Zukunft zu liegen. »Es ist schlechthin undenkbar«, sagt W. E.Backhaus3, »dass in einem Staatsganzen, dessen Einrichtungen auf dem Vernunftgesetz beruhen, Sozialismus und Individualismus als feindliche Kräfte gegeneinander wirken sollten.« Die innige Verbindung des individualistischen Gedankens mit dem sozialistischen, des Individuums mit der Gesellschaft bedeutet in Wahrheit die Durchführung des grossen staatswirtschaftlichen Grundgesetzes, nach welchem der Vorteil des Einzelnen stets auch der Vorteil der Gesamtheit sein soll. Es ist hohe Zeit, dass der Konflikt zwischen Einzel- und Gesamtinteressen im wirtschaftlichen Leben der Völker seine Lösung finde — eine Lösung, welche nicht in der Hand dunkler Schicksalsmächte, sondern einzig und allein in der Hand des Menschen selbst liegt. »Sozialwirtschaft und Individualwirtschaft gehören in einem Staatsganzen zu einander; sie ergänzen und fördern sich gegenseitig; sie gehören zusammen wie Leib und Seele u. s. w.«Was nun die Mittel dieser Versöhnung oder der sozialen Erlösung betrifft, so können dieselben dreierlei Art sein. Sie heissen1) Abschaffung der sog. Bodenrente oder Zurückführung des von Natur- und Rechtswegen allen gehörigen Eigentums an Grund und Boden in den Besitz der Gesamtheit (mit selbstverständlichem Einschluss der Wasserkräfte und des Bergbaues).2) Reform d. h. allmähliche, gradweise bis zur viell23eicht gänzlichen Abschaffung sich steigernde Reform der Erbrechte.3) Umwandlung des Staates in eine allgemeine, solidarisch verbundene Versicherungsgesellschaft gegen Krankheit, Alter, Unfall, Invalidität und Tod.Was den ersten Punkt betrifft, so kann es wohl kaum einen weniger anfechtbaren Grundsatz des Naturrechts geben, als denjenigen, dass die Mutter Erde, die uns alle erzeugt hat, die aber von niemand erzeugt worden ist, und ohne welche menschliches Dasein eine Unmöglichkeit sein würde, nicht einzelnen, sondern allen gehört. Gleichwie der Mensch ein Produkt der Erde ist, so muss auch sein Dasein in dem Anrecht an den Besitz derselben begründet sein. Der Mensch ist nichts und vermag nichts ohne den Beistand der Mutter Erde und ihrer nie versiegenden Kraft; er kann nichts erwerben, nichts hervorbringen, nichts besitzen ohne Benutzung ihrer Kräfte und ihrer Gaben. Daraus folgt, dass nach den einfachsten Grundsätzen der Billigkeit und Gerechtigkeit die Benutzung dieser Gaben und Kräfte jedem zur Welt Gekommenen in gleicher Weise zur Verfügung stehen muss, und dass das Recht an den Grund und Boden ein ebensolches Naturrecht ist, wie das Recht, die freie Luft zu atmen oder das der Erde entquellende Wasser zu trinken oder sich von der Sonne bescheinen zu lassen. Leider wird diesem Grundsatz in der Wirklichkeit in greulicher Weise Hohn gesprochen. Eine Reihe von Umständen, wie Gewalt, Eroberung, Krieg, Vererbung, Kauf, Schenkung, Feudal- und Lehnsgüterwesen u. s. w. haben es im Laufe der Zeit dahin gebracht, dass eine Minderheit durch den Besitz von Grund und Boden zur Beherrscherin der ganzen Menschheit geworden ist, bis schliesslich alles so verteilt war, dass kein Platz oder Raum für den zu spät Gekommenen übrig geblieben,24und dass dieser, wenn er nicht selbst zufällig als Besitzer geboren ist, in der Luft hängen bleiben müsste, wenn er nicht sofort das Recht der Niederlassung dadurch erkaufen würde, dass er seine von der Natur ihm verliehenen Arbeitskräfte denen, welche im Besitz des Bodens und der Arbeitsmittel sind, leibeigen giebt. Die ungeheure Macht der Gewohnheit hat es dahin gebracht, dass die grosse Mehrzahl der Menschen diesen rechtlosen Zustand als etwas Natürliches oder Selbstverständliches hinnimmt, während derjenige, der den Ursachen desselben nachgeht, alsbald findet, dass das private Eigentum an Grund und Boden nicht von der Natur, sondern von Gewalt und Usurpation herkommt Auch war dieses Naturrecht im frühesten Altertum fast Überall mehr oder weniger anerkannt, so in Palästina, Griechenland, Italien, Germanien, Gallien, Indien, China, Japan, Peru u. s. w. Schon in den ältesten geschichtlichen Urkunden unsres Geschlechts finden wir den Gedanken der Gemeinsamkeit des Bodens deutlich ausgesprochen, so namentlich in der Bibel, deren zahlreiche darauf bezügliche Aussprüche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Zwar war bei den alten Hebräern der Grund und Boden Familieneigentum; aber alle fünfzig Jahre fand eine Neuverteilung des Bodens statt. Ebenso erkannte der chinesische DenkerLaotsein dem Besitz der Erde ein allen Menschen vom Weltall-Gott anvertrautes heiliges Gut. Dementsprechend war das Bodeneigentumsrecht in China nur ein Nutzungsrecht und nur als solches Übertragbar, während das Eigentum selbst der durch den Staat repräsentierten Gesamtheit verblieb und in der Theorie noch bis auf den heutigen Tag verbleibt. Erst infolge einer langen Reihe von Gewaltmassregeln un25d Usurpationen konnte die individuelle Aneignung des Grundes und Bodens in China durchgesetzt werden. Ebenso war es in Japan, wo erst die mongolischen Eroberer mit Gewalt das Feudalsystem einführten. Die Indier kannten vor der englischen Eroberung weder das Recht der Veräusserung des Grundeigentums, noch das Testament.NachBackhaus(a. a. O.) erscheint es als höchst wahrscheinlich, wenn nicht als gewiss, dass Grund und Boden im Anfang der Geschichte überall Gemeinbesitz der Völker gewesen sind. Auch haben sich die alten Philosophen dafür erklärt.Aristoteleserklärt, dass Grund und Boden notwendig Gemeingut sein müsse, undPlatoverlangt, dass jedem Bürger ein gleich grosses oder gleich ertragsfähiges Stück Land als unteilbar und unveräusserlich zur Benutzung übergeben werde. Auch hatten Rom und Griechenland anfangs dementsprechende Acker-Verfassungen. In Sparta hielt das Verbot des Bodenverkaufs und des Testaments lange Zeit die Gleichheit des Besitzes aufrecht; und in Athen unterwarfenSolonund seine Nachfolger das individuelle Eigentum überhaupt schweren Beschränkungen, wahrscheinlich als Reminiscenzen eines anfänglichen Kommunismus, Auch in Rom hat sich das individuelle Eigentum an Grund und Boden nur nach und nach aus dem gemeinsamen herausgebildet. Anfangs Gemeinde-Eigentum wurde es später zum Eigentum der einzelnen Familien und Geschlechter, welche letzteren in Bezug auf den Besitz gewissermassen nur eine einzige Person bildeten. Erst mit dem Gesetz der zwölf Tafeln und mit der Einführung der Rechte von Verkauf und Testament gewann das individuelle Eigentum das Übergewicht über das gemeinsame. Das grosse Grundeigentum26verschlang allmählich das kleine, und es entstanden Zustände, wie wir sie jetzt noch in England zu beobachten Gelegenheit haben. Sicher ist es auch, dass nach altemgermanischemRecht der grösste und unentbehrlichste Teil des bewirtschafteten Bodens oder die sog. Aussenmark Gemeinbesitz der Markgenossen war, während die sog. Binnenmark dem Einzelnen nur in der Eigenschaft als »Verwalter« gehörte. »Eine Ausnutzung und Ausbeutung des Grundbesitzes und der Bodenkraft durch Einzelne zum Zwecke des ausschliesslich eignen Vorteils war den alten Deutschen gänzlich unbekannt.« Und diesem Bodenrecht und dem dadurch bethätigten Gemeinsinn verdankten die alten Germanen ihre Freiheit und ihre unerschöpfliche Kraft. Erst dem dämonisch wirkenden Geist der römischen Gesetzgebung mit ihrer übermässigen Betonung der persönlichen Besitz- und Eigentumsrechte gelang es, auch im alten Germanien ein Privatrecht auf den Bodenbesitz zu schauen. Es war das Nessushemd, welches die sterbende Roma dem germanischen Riesen arglistig vermachte. Aber so urgesund waren die alten germanischen Rechtseinrichtungen, dass sich Reste des Gemeinde-Eigentums unter verschiedenen Bezeichnungen bis heute in einzelnen deutschen Landen und Ortschaften erhalten haben. Der Zeitschrift »Freiland«, dem Organ der Deutschen Gesellschaft für Bodenbesitzreform, ist es gelungen, nachzuweisen, dass in Deutschland noch mehr als hundert Ortschaften existieren, welche im glücklichen Besitze von Gemein-Eigentum an Grund und Boden geblieben sind. Noch weit mehr ist diese Einrichtung erhalten geblieben in einem grossen Teile von Russland, sowie in manchen Dörfern Serbiens und Kroatiens, auch bei vielen asiatischen Horde27n in der Form des russischen sog. »Mir«, wobei das Land gemeinschaftlich von allen Gemeindemitgliedern besessen und bebaut und die Ernte gleichmässig verteilt wird. In der Schweiz findet sich ein Überrest dieser alten Einrichtung in der Form des sog. »Allmend«. In ganz Afrika besteht nachLetourneau4die Individualisierung und Mobilisierung, des Grundeigentums nur ausnahmsweise. Ebenso ist es mit dem eingeborenen Amerikanertum, bei welchem die Jagd- und Fischgründe nicht dem Einzelnen, sondern dem Stamm oder der Tribus angehören. In Java besteht noch überall Gemeinsamkeit des Bodens und eine Verfassung, welche sich sehr derjenigen des bereits erwähnten russischen Dorfsystems »Mir« nähert. Bei den alten Peruanern bestand nachPrescott5ein systematisch durchgeführter und von oben geleiteter Kommunismus, welcher zur Folge hatte, dass es keine Armut und keinen Mangel gab, und dass für Alte, Schwache, Kranke oder vom Unglück Betroffene ausreichend gesorgt war u. s. w.Wendet man diese Erfahrungen auf die Vorgeschichte des Menschen an, so ist man wohl genötigt, anzunehmen, dass, wie Verfasser in seiner Schrift über das goldene Zeitalter näher ausgeführt hat, die wilden Horden der Urzeit das persönliche Eigentumsrecht so wenig oder in so beschränkter Weise kannten oder achteten, wie die Wilden der Gegenwart; — und zwar nicht bloss bei Jägern und Fischern, bei denen ein festes Eigentum an Grund und Boden kaum möglich war, sondern auch bei Ackerbauern. Nur die Waffen und Werkzeuge,28welche sich der Einzelne selbst angefertigt hatte, galten als sein persönliches Eigentum, obgleich es nachPlutarchsogar noch den alten Lacedämoniern erlaubt war, sich der Pferde, Hunde und Werkzeuge ihrer Nachbarn zu bedienen, wenn diese keinen Gebrauch davon machten.Die Rückkehr zu den alten Zuständen oder die Rückgabe des von Natur- und Rechtswegen allen gehörigen Besitzes von Grund und Boden an die Gesamtheit ist übrigens — auch abgesehen von allen sozialen oder naturrechtlichen Gründen — eine solche ökonomische oder staatswirtschaftliche Notwendigkeit, dass sie auf die Dauer trotz allen Widerstrebens gar nicht umgangen werden kann. Denn bei dem riesigen Anwachsen der Bevölkerung in den europäischen Ländern giebt es kein andres Mittel, um den Boden auf seine äusserste Ertragsfähigkeit auszubeuten. Es kann und darf daher dem einzelnen Besitzer eines Grundstücks nicht überlassen bleiben, ob und bis zu welchem Grade er dasselbe ertragsfähig machen will oder nicht, sondern es muss dem Boden im Interesse der Gesamtheit alles abgerungen werden, was ihm irgend abgerungen werden kann. Dieses kann aber nur geschehen durch den auf die Grundsätze der wissenschaftlichen Landwirtschaft gestützten Grossbetrieb, sowie dadurch, dass kein Fleckchen Erde nach Massgabe seiner Lage und Beschaffenheit unbenutzt bleibt, während der Privatbetrieb hierin ganz willkürlich und sehr oft unrationell verfährt oder verfahren kann. Nirgendwo tritt dieses deutlicher zu Tage, als in England, wo bekanntlich der gesamte, für Ackerbau bestimmte Grund und Boden bei einer Bevölkerung von ca. 35 Millionen in den Händen von nur 14-15000 Eigentümern sich befindet, welche daraus — in der Regel arbeitslos und ohne jede eigene Bemühung29— eine jährliche Rente von nicht weniger als 4000 Millionen Mark ziehen, Von dem riesigen Güter-Komplex des Herzogs von Sutherland z. B. (11 Mill. Acker) befinden sich nur ca. 23000 Acker unter Cultur; und das Gesamterträgnis berechnet sich im Durchschnitt aufeineMark pro Acker, während dasselbe in einzelnen Teilen auf das Vierzigfache gesteigert werden könnte. Aber die unermesslich reichen englischen Landlords ziehen es vor, aus kulturfähigern Boden, auf welchem sich tausende fleissiger Menschen ernähren könnten, Schaftriften oder Wildparks oder Rennbahnen oder herrschaftliche Gärten u. s. w. zu machen, und nehmen keinen Anstand, die Ansiedler oder Einwohner zu diesem Zweck unbarmherzig auszutreiben; und Ähnliches geschieht, wenn auch nicht in gleich hohem Grade, wie in England, überall. So besitzen in Deutschland die zehn grössten Grundbesitzer ein Neuntel der gesamten angebauten Bodenfläche Deutschlands, während Frankreich hinsichtlich der Verteilung von Grund und Boden weit besser daran ist. Sogar in Amerika, wo doch Überfluss an Grund und Boden vorhanden ist, machen sich die traurigen Folgen des privaten Bodenbesitzes bereits in solcher Weise geltend, dass die bekannte Schrift des Amerikaners H.Georgeüber Fortschritt und Armut, worin jener Besitz als Hauptquelle des sozialen Übels dargestellt wird, Millionen von Lesern finden konnte. Es war eine der thörichtesten und zugleich ungerechtesten Handlungen oder Versäumnisse der amerikanischen Staatsverwaltung, dass sie nicht, was ihr ein Leichtes gewesen wäre, das unermessliche Landgebiet, das ihr zu Gebote stand, von vornherein für National-Eigentum erklärte und parzellenweise an Private verpachtete, sondern dasselbe teils an Monopolisten und Pr30ivatgesellschaften verschenkte, teils zu Schleuderpreisen an Private wegwarf, teils der willkürlichen Besitzergreifung überliess. Eine Ausnahme hat man nur mit dem grossen Nationalpark im Staate Colorado gemacht, welcher beinahe so gross ist, wie das Königreich Sachsen — aber nicht zu nationalökonomischen, sondern zu Zwecken des Privatvergnügens für Reiche und Vermögende. Hätte man es mit dem gesamten Grund und Boden so gemacht, so müsste jetzt ein unermesslicher, nicht zu erschöpfender Nationalreichtum des amerikanischen Volkes die Folge sein, während dieser riesige Schatz jetzt nur dem Privatnutzen dient. Am auffallendsten und ungerechtesten erscheint ein solcher Privatnutzen dort, wo durch einfache Vermehrung der Bevölkerung der Wert des Grundeigentums oft bis in das Ungemessene steigt, wie namentlich in der Mitte und Nähe wachsender Grossstädte, wo oft Landstrecken, welche vorher beinahe keinen Wert hatten, binnen kurzer Zeit zu wahren Goldfeldern für ihre Besitzer werden, — und zwar ohne jedes eigne Zuthun oder Verdienst der letzteren, lediglich durch den Fleiss und die Thätigkeit der Gesamtheit, welche nichtsdestoweniger dieses Resultat ihres Fleisses ohne jeden Abzug dem einzelnen Privateigentümer in den Schoss wirft.Was nun die Art und Weise des Übergangs des Privatbesitzes an Grund und Bodens in denjenigen des Staates oder der Gesamtheit betrifft, so ist dieses eine sekundäre Frage, welche von den verschiedenen Verteidigern der Bodenbesitzreform in verschiedener Weise beantwortet wird. Es versteht sich dabei von selbst, dass von einer gewaltsamen Aneignung nicht die Rede sein kann, sondern nur von einer Ablösung der Rente oder des Bodens selbst gegen massige31und abschätzungsweise festzustellende Entschädigung, Denn, wenn sich auch, wie nachgewiesen, sehr viele und vielleicht gerade die bedeutendsten Besitztitel an Grund und Boden nicht aus rechtlichem Erwerb, sondern aus den Zeiten der Gewalt herschreiben, so darf doch, da nach Verlauf so langer Zeit Untersuchungen über die Rechtlichkeit der Erwerbstitel nicht mehr angestellt und die Nachkommen nicht für die Sünden der Voreltern verantwortlich gemacht werden können, niemand in seinen jetzt bestehenden Rechtsansprüchen gekränkt oder benachteiligt werden.Die weitgehendste Art und Weise wäre ein Rückkauf nach vorheriger Abschätzung — wobei kleinere Güter oder Grundstücke nach ihrem vollen Wert bezahlt, sehr grosse aber einer gewissen Reduktion des Preises unterworfen werden müssten, — entweder gegen bar oder gegen eine in Form von Pfandbriefen auszugebende Staatsrente. Allerdings würden hierzu für den Anfang grosse Geldmittel notwendig sein; aber sie würden kein ernstliches Hindernis bilden, wenn durch Annahme meines zweiten Vorschlags auf Einschränkung der Erbrechte der ganze Bodenbesitz oder wenigstens der grösste Teil desselben im Laufe eines oder weniger Menschenleben an den Staat zurückfallen würde. Dazu käme sodann der durch Zunahme der Bevölkerung und rationellere Bewirtschaftung des Bodens im Grossbetrieb fort und fort steigende Bodenwert, welche Steigerung unter allen Umständen, als durch die Gesamtheit erarbeitet, auch der Gesamtheit oder dem Staate zu Gute kommen müsste.Die erklärten Anhänger der Bodenbesitzreform, welche sich in Deutschland zu einem besonderen »Bund« mit einer Anzahl von Zweigvereinen zusammengetha32n haben und im Besitze eines besonderen, in Berlin erscheinenden Organs unter dem Titel »Freiland« sind, scheinen in ihrer Mehrzahl der Ansicht zu sein, dass »die Überführung des Grundbesitzes, bez. der Grundrente, aus den Händen einzelner in die Hände der Gesamtheit«, welche laut Statut den Zweck ihrer Bestrebungen bildet, hinreichend sei, um, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar eine vollständige Lösung der sozialen Frage herbeizuführen. Sie erwarten davon durch Beseitigung des Hypothekenwesens in letzter Linie die Beseitigung der Macht des Privatkapitals an Grund und Boden, sowie derjenigen des mobilen Kapitals überhaupt, indem sie den überwiegenden Privatbesitz an Grund und Boden für die Ursache aller sozial-wirtschaftlichen Drangsale und für die Grundlage aller wirtschaftlichen Unfreiheit erklären. Namentlich wird dadurch nachBackhaus(a. a. O.) dem »furchtbar wütenden Schrecknis« des DämonsZins, welcher noch weit fürchterlicher ist, als der Kriegsdämon, weil er keinen Frieden kennt und sich ununterbrochen vermehrt, ein gewisser Halt geboten werden. Der Zins hat die ganze Gesellschaft in ein einziges grosses Kriegslager verwandelt, in welchem ihm täglich Menschenopfer ohne Zahl dargebracht werden. Denn unter der Herrschaft des Privatbodenmonopols und seiner Wirkungen ist die überwältigende Mehrheit jedes Volkes den Grossgrundherren und Grosskapitalisten in ähnlicher Weise zinspflichtig geworden, wie seinerzeit die kleinen Bürger Roms und die unterjochten Völker den römischen Latifundienbesitzern und Grosskapitalisten zinspflichtig waren.Wenn nun Verfasser bloss im Sinne der bisherigen Schule der Badenbesitzreformer zu reden hätte, so könnte er hier abbrechen, da diese Schule, wi33e gesagt, Gründe zu haben glaubt, um von der Verwirklichung ihrer Bestrebungen eine endgültige Beseitigung des sozialen Elends zu erwarten. Da er aber diese Erwartung nicht zu teilen vermag, so ist er genötigt, im Sinne seines tiefer gehenden Ausgleichs in den Mitteln, mit denen der Einzelne seinen Kampf um das Dasein zu bestehen hat, zur Erörterung seines zweiten Vorschlags hinsichtlich der Beschränkung, bezw. Beseitigung der Erbrechte oder des Erbkapitalismus überzugehen.Verfasser ist sich wohl bewusst, dass er mit diesem Vorschlag gewissermassen in ein Wespennest sticht und sich auf kritische Anfeindungen jeder Art gefasst machen muss. Denn wo das persönliche Interesse des Einzelnen in das Spiel kommt, da hat jede ruhige und gerechte Überlegung ein Ende. Das Recht, seinen Kindern und Kindeskindern dasjenige zu hinterlassen, was er selbst erworben hat, will sich niemand nehmen lassen, Auch hat der Einzelne darin vollkommen recht, solange er sich auf dem Boden der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse weiss. Aber ein ganz anderes ist es, wenn der Sozialreformer Verhältnisse voraussieht, welche ganz anders geartet sind und geartet sein müssen. Denn so wie politische Revolutionen nicht mit Rosenwasser gemacht werden, so können auch soziale Reformen von erfolgreicher Wirkung nicht mit halben oder unzureichenden Massregeln gemacht werden. Übrigens darf ich mich zur Unterstützung meines Vorschlags vor allen Dingen darauf berufen, dass die Erbschaftssteuer längst als eine der gerechtesten und am wenigsten drückenden anerkannt und angewendet worden ist, und dass man derselben nur eine grössere Ausdehnung, namentlich in der indirekten Erbfolge, zu geben braucht, um meinem Vorschlage mehr und mehr nahe zu kommen. Auch mehren sich die Anhänger34einer solchen Idee der Besteuerung in der gelehrten wie ungelehrten Welt von Jahr zu Jahr, und es fehlt nicht an angesehenen, selbst konservativen Staatsrechtslehrern, welche sich im Prinzip dafür aussprechen, wieBrinz,Röscher,Marlo,Umpfenbach,Schäffle,Pfizer,Bluntschli,Baron,Hallieru. s. w. Dass die eigentlichen Sozialisten zustimmen, versteht sich beinahe von selbst. Schon der Basler Internationale Arbeiterkongress von 1869 hat Abschaffung des privaten Grundeigentums und des Erbrechts in sein Programm aufgenommen; und der französische kollektivistische Sozialisten-Kongress von 1880 setzte als letzten Punkt seines Programms »Abschaffung des Erbrechts für Seitenverwandte und jedes direkten Erbrechts von mehr als 20000 Franks« fest. Auch das Programm der englischen Radikalen acceptiert ganz und voll die beiden genannten Forderungen. Unter den neueren Schriftstellern radikaler Richtung hat sich namentlichMax Nordauin seinem berühmten Buch über die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit mit durchschlagenden Gründen auf den Boden dieser Anschauung gestellt Nach meiner Meinung ist eine solche Reform der Erbrechte oder eine Beschränkung, resp. Abschaffung des Erbkapitalismuseine einfache Forderung der sozialen Gerechtigkeit. Denn niemand wird es als dieser Forderung entsprechend ansehen können, dass unter den Menschen, welche, wenn auch mit verschiedenen Eigenschaften, doch mit demselben Anrecht an Existenz auf die Welt kommen, der eine gewissermassen mit dem Breilöffel, der andre mit dem Hungerlutscher im Munde geboren wird. Niemand wird es als Ausfluss natürlicher Gerechtigkeit betrachten können, wenn der eine schon in der35Wiege auf Millionen sich wälzt oder einen grossen Teil des Grundes und Bodens, welcher allen gehören sollte, sein eigen nennt, ohne dass er das geringste persönliche Verdienst dabei hat, während der andre, wie des Menschen Sohn, nicht weiss, wo er sein Haupt hinlegen soll, um von den Mühen und Lasten seines armseligen Daseins auszuruhen. Man vergegenwärtige sich die Caprice jenes reichen Engländers, welcher sein ganzes grosses Vermögen einer ihm persönlich ganz fremden Dame vermachte, bloss weil er Gefallen an ihrer schönen Nase gefunden hatte, und ähnliche Beispiele einer total unsinnigen Vererbung an unbedürftige Erben. Man denke an die Vermächtnisse an die tote Hand oder an die Kirche, welche nur zum Schaden der Allgemeinheit verwendet werden, an die hässliche Erbschleicherei, an die zahllosen Erbstreitigkeiten, welche oft die tiefste Entzweiung ganzer Familien herbeiführen und den hässlichsten Trieben der Menschennatur Nahrung geben, an die Nachteile der Fideikommisse, an die durch stete Vererbung aufrechterhaltenen ungeheuren Privatvermögen, welche einen Staat im Staate, eine Geldmacht innerhalb der Staatsmacht darstellen, an die Vererbung an ganz entfernte Seitenlinien, deren Angehörige den Erblasser nie gesehen oder gekannt haben u. s. w. Das sog.Testamentoder freie Verfügungsrecht über die Hinterlassenschaft ist auch durchaus kein Ausfluss des Naturrechts, sondern eine Erfindung späterer Zeiten, wahrscheinlich römischen Ursprungs; es war z. B. im alten Deutschland ganz unbekannt. Die älteste Stufe des Eigentums war vielmehr, wie die ausgezeichneten Untersuchungen vonLaboulayeundLaveleyeüber die Entstehung der Eigentumsbegriffe nachgewiesen haben, das36Gemein-Eigentum. Erst das römische Recht mit seiner übermässigen, bereits erwähnten Betonung des Individualismus und der persönlichen Besitz- und Eigentumsrechte machte dem ehemaligen Zustand der Dinge ein Ende und trieb die letzteren im Sinne des persönlichen Egoismus auf die Spitze — ein Verhältnis, an dem wir heute noch leider schwer zu kranken haben. Heute hat, wieLavelayesagt, das Eigentum seinen ehemaligen sozialen Charakter ganz verloren. Vollständig verschieden von dem, was es im Anfang war, hat es nichts Gemeinsames mehr an sich. Privilegiert, fessellos, ohne Rückhalt oder Verpflichtung scheint es, ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesamtheit, keinen andern Zweck als das Wohlsein des Individuums zu verfolgen u. s. w.
Der Zustand der menschlichen Gesellschaft in Vergangenheit und G1egenwart bietet für das Auge des Menschenfreundes in vielfacher Beziehung ein wenig erfreuliches Bild. Es zeigt uns riesige Gegensätze von höchstem Glück und von tiefstem Elend, Grenzenlose Armut neben grenzenlosem Reichtum, grenzenlose Gewalt neben grenzenloser Ohnmacht, grenzenloser Überfluss neben grenzenloser Entbehrung, Übermass von Arbeit neben Nichtsthuerei und Faulenzertum, politische Freiheit neben wirtschaftlichem Knechttum, fabelhaftes Wissen neben tiefster Unwissenheit, Schönes und Herrliches jeder Art neben Hässlichem und Abstossendem jeder Art, höchste Erhebung menschlichen Seins und Könnens neben dessen tiefster Versunkenheit, blöder dumpfer Aberglauben neben höchster Geistesfreiheit — das ist der Charakter einer Gesellschaft, welche in der Grösse und dem Widerstreit dieser Gegensätze die schlimmsten, hinter uns liegenden Zeiten politischer Unterdrückung und Sklaverei noch überbieten zu wollen scheint. Von jeher haben die Menschen untereinander und gegen ihr eignes Geschlecht in einer Weise gewütet, im Vergleich mit welcher die wildesten und grausamsten Bestien als fromme Lämmer erscheinen müssen. Aber wenn auch diese Zeiten wildester Barbarei und Zerfleischungswut in zivilisieren Ländern grösstenteils vorüber sind, so wiederholen sie sich doch in andrer2Form in jenen erschütternden gesellschaftlichen Tragödien von Mord, Selbstmord, Hungertod, unverschuldeter Krankheit, frühzeitigem Tod, Arbeitslosigkeit u. s. w., welche wir beinahe tagtäglich an uns vorüber müssen ziehen lassen, ohne im Stande zu sein, ihre schreckliche Wiederkehr zu verhüten oder ohne ihnen mehr als eine kurze Regung des Mitleids schenken zu können. Tagtäglich sehen wir Menschen aus Mangel der notwendigsten Lebensbedürfnisse schnell oder langsam zu Grunde gehen, während dicht neben ihnen der besser situierte Teil der Gesellschaft in Überfluss und Wohlleben erstickt, und während der National-Wohlstand einen nie gesehenen, aber in der Regel nur Einzelnen zu Gute kommenden Aufschwung nimmt. Wenn wir sehen, dass Hunderttausende in Üppigkeit verderben, während Millionen dasselbe Schicksal erleiden durch Darben und Entbehren, so wird man beinahe versucht, jenem englischen Schriftsteller Recht zu geben, welcher fragt: »Ist es in Ordnung, dass Millionen beinahe Hungers sterben, damit einige Tausende an Dyspepsie (Magenüberladung) zu Grunde gehen?«
Die Statistik hat die traurige Thatsache an das Liebt gebracht, dass die durchschnittliche Lebensdauer der Armen kaum etwas mehr, als die Hälfte der Lebensdauer der Reichen beträgt. Also wird der Arme durch die einfache Thatsache seiner Armut nicht bloss um den Genuss des Lebens, sondern auch um das Leben selbst gebracht. Am schwersten lastet dieser Fluch der Armut auf der armen, unschuldigen Kinderwelt, welche schon mit ihrem ersten Atemzuge den Keim eines frühen Todes oder späterer Krankheit in sich aufnimmt, und zwar hauptsächlich durch gesellschaftliches Verschulden. Die Statistik zeigt, dass im Durchschnitt schon die Hälft3e aller Kinder der Armen vor Erreichung des fünften Lebensjahres dieses irdische Jammerthal wieder verlässt infolge von Mangel, schlechter Pflege u. s. w. Der riesige nationalökonomische Schaden dieses fortwährenden zwecklosen Kommens und Gehens springt in die Augen. Alle die Millionen Ausgaben an Geld und Arbeit, welche auf diese Kleinen verwendet worden sind, gehen mit ihrem Tode für die Gesamtheit unwiderbringlich verloren und können nie wieder durch deren spätere Thätigkeit ersetzt werden.
Muss es nicht das Herz des Menschenfreundes auf das Tiefste betrüben, wenn er die Kinder der Armen in Pfützen und Kothaufen nach Speiseresten wühlen sieht, welche den Reichen für ihre Hunde und Katzen zu schlecht sind — oder wenn er hören muss, dass ganze Scharen von Kindern morgens ohne Frühstück in die Schulen getrieben werden — oder wenn er von verzweifelten Vätern oder Müttern lesen muss, welche sich und ihre Kinder einem freiwilligen Tode opfern, um dem Tode durch Hunger oder Entbehrung zu entgehen — oder wenn er sehen muss, wie eine politische oder geschäftliche Krisis ganze Scharen fleissiger Arbeiter ohne Nahrung für sich selbst und für die Ihrigen auf das Pflaster wirft — oder wenn er beobachten muss, wie die Zunahme der Verbrechen gegen Leben und Eigentum zumeist einem heimlich geführten Kriege der Besitzlosen gegen die Besitzenden entspringt — oder wenn er die Überzeugung gewinnen muss, dass Egoismus und Selbstsucht die Grundsäulen sind, auf denen die menschliche Gesellschaft aufgebaut ist, u. s. w.? Wenn wir unsre grossen Städte, unsre mächtigen Industriebezirke durchwandern, so haben wir fast bei jedem Schritte Gelegenheit, zu bemerken, wie unmit4telbar neben, über und unter den Stätten des Reichtums, und Glanzes die Höhlen des Lasters und Elends sich verbergen, wie neben brechenden Tischen und übersatten Magen der hohläugige Hunger still seine Qualen duldet, und wie neben Wohlleben und Übermut jeder Art die hoffnungslose Entbehrung entweder scheu und ängstlich in schmutzige Winkel sich verkriecht oder in düsterer Verzweiflung schreckliche Thaten gegen Staat und Gesellschaft ausbrütet. Ein sehr berechtigtes Sprüchwort sagt: »Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.« Aber wie viele essen, die nicht arbeiten oder nie gearbeitet haben, und wie viele arbeiten, die sich nicht satt essen können! Woraus der unabweisbare Schluss folgt, dass diejenigen, welche arbeiten, nicht bloss für sich, sondern auch für die Erhaltung eines ganzen Heeres von Müssiggängern thätig sein müssen. Man wende nicht ein, dass diese Müssiggänger von den Anstrengungen oder Verdiensten ihrer Vorfahren leben, da gerade die notwendigsten Lebensbedürfnisse nicht zum voraus geschaffen werden können und, wenn verzehrt, notwendig vorher durch die Anstrengungen der Mitlebenden erzeugt worden sein müssen.
Aber diese ungleiche Verteilung gilt nicht bloss für diematerielle, sondern auch für diegeistigeNahrung. Wie viele Talente oder Genies müssen den Pflug des Alltaglebens ziehen, weil ihnen nicht das Glück an der Wiege gelächelt hat, während oft die beschränktesten Köpfe auf den Sesseln der Macht oder Gelehrsamkeit sich breit machen. Gerade die idealste geistige Arbeit belohnt sich in der Regel am schlechtesten. Philosophen und Dichter sind in der Regel geborene Proletarier und ernten erst nach ihrem Tode die Ehren, welche ihnen im Leben hätten zukommen5müssen, während hastige und oberflächliche Fabrikarbeit nach dem Geschmack des grossen Haufens sich schon während des Lebens am besten lohnt, Man denke beispielsweise an die erbärmliche, an den Haaren herbeigezogene Situationskomik in unserm deutschen Lustspiel, die nur Hohlköpfe ergötzen kann und trotzdem auf unsern Bühnen, welche geistige Erziehungsanstalten für das Volk sein sollten, alle besseren Erzeugnisse mehr oder weniger in den Hintergrund drängt. Ebenso wie den Theatern, die sich ganz vom zahlenden Publikum abhängig machen, ergeht es unsern Zeitungen und Wochenschriften, deren höchstes Ideal die Abonnentenzahl bildet und bilden muss, und welche darum in der Regel weit mehr Gewicht auf den zeitweiligen Geschmack des Publikums neben den Interessen ihrer Leiter und Eigentümer legen, als auf Verbreitung von Wahrheit und Aufklärung. Ein ähnlicher Vorwurf kann, wenn auch in minderem Grade, der Buch-Litteratur nicht erspart werden, in welcher männlicher Gradsinn und philosophische Überzeugungstreue sicher sind, überall gegen einen Berg von Gemeinheit, Unwissenheit, Verleumdung oder Teilnahmlosigkeit ankämpfen zu müssen, während elende, auf Neugier oder Sensation berechnete oder den Vorurteilen der Masse schmeichelnde Machwerke ebenso sicher sind, tausende von begierigen Lesern zu finden. Welchen grenzenlos nachteiligen Einfluss diese notgedrungene Unterwürfigkeit unter den gerade herrschenden Geist oder Geschmack oder unter eingewurzelte Vorurteile des lesenden Publikums haben muss und bereits gehabt hat, ist zu bekannt, als dass es mehr als einer Hinweisung darauf bedürfte. Wie oft wird man, wenn man das Facit unsrer Zeitungs- und Buchlitteratur zu ziehen v6ersucht, an das bittere WortShakespeareserinnert: »Wahrheit ist ein Hund, der ins Loch muss und hinausgepeitscht wird, während Madame Schosshündin (d. h. die Lüge) am Feuer stehen und stinken darf.«
Wenn man sich nun die Frage nach den Ursachen dieser betrübenden Erscheinung vorlegt, so glauben wir die Antwort in einem Zustand zu finden, dessen genauere Kenntnis uns durch die jetzt alle andern Wissenschaften an Erfolg und Bedeutung weit überragendeNaturwissenschaftan die Hand gegeben wird. Es ist jener unerbittlicheKampfum dasDaseinoder jener Existenzkampf, welcher seitDarwineine so grosse Berühmtheit erlangt hat. Er ist zunächst hergenommen aus der Pflanzen- und Tierwelt, wo er zu einer wesentlichen Ursache der Umwandlung und des Fortschritts wird, indem in der Regel nur die Kräftigsten, Fähigsten, durch die eine oder andre Eigenheit Bevorzugten den Sieg in diesem Kampf oder Wettbewerb über ihre Genossen davontragen. Anlass zu Bemitleidung giebt uns dieser Kampf in der Regel nicht, weil der Tod schnell ist, weil er ohne volles Bewusstsein erlitten wird, und weil in der Regel nur die persönliche Tüchtigkeit oder Eigenart entscheidend ist. Es ist ein Kampf, welcher von den Einzelnen mit den im ganzen gleichen Mitteln des Krieges oder der Flucht oder des Wettbewerbs geführt wird, und wobei der Einzelne keine Bevorzugung vor andern durch den Schutz der Gesellschaft geniesst. Die Fülle und der Reichtum der Natur steht ihnen allen ziemlieh gleichmässig zu Gebot, und es giebt keine Privilegien, welche dem einen verbieten würden, etwas zu nehmen, was dem andern gestattet ist. Nur individuelle Kraft oder Fähigkeit ist entscheidend. Wenn das Tier seine Höhle oder sein7Nest allerdings auch sein Eigentum nennt, so muss es doch gewärtig sein, in diesem Besitz jederzeit durch andre Stärkere gestört oder daraus verdrängt zu werden.
Ganz anders aber gestaltet sich infolge seiner sozialen Einrichtungen dieser Kampf bei dem Menschen, welcher, wenn er zur Welt kommt, bereits alle oder alle guten Plätze an der Tafel des Lebens besetzt findet und, wenn ihm nicht Geburt, Reichtum, Rang u. s. w. zu Hilfe kommen, von vornherein dazu verurteilt ist, seine Kräfte und sein Leben im Dienste und zum Vorteil derjenigen, welche im Besitze sind und welchen dieser Besitz durch die Gesamtheit garantiert wird, aufzubrauchen. Daher siegt hier nicht immer der Beste, sondern der Reichste, nicht der Tüchtigste, sondern der Mächtigste, nicht der Fähigste oder Fleissigste, sondern der durch seine soziale Stellung Bevorzugte, nicht der Klügste, sondern der Verschmitzteste, nicht der Redlichste, sondern derjenige, welcher die mannigfachen Hilfsmittel politischer und gesellschaftlicher Ausbeutung in der Hand hat und dieselben am Schlauesten zu benutzen versteht. Daher es denn auch, da sich dieses Verhältnis von Generation zu Generation forterbt, nicht anders sein kann, als dass mit der Zeit jener Zustand extremer gesellschaftlicher Ungleichheit daraus erwächst, welcher den Charakter der gegenwärtigen Gesellschaft bildet und in immer steigendem Masse bilden wird, und welcher bereits geschildert worden ist. Übrigens bietet der Daseinskampf des Menschen zwei ganz verschiedene Seiten dar, welche man strenge auseinander halten muss. Die eine Seite besteht in demKampf des Menschen gegen die Naturund deren die freie Entfaltung seiner Kräfte beengende Schranken, — ein Kampf, den er bekanntlich8mit dem allergrössten Erfolge geführt hat und mit täglich grösserem Erfolge führt. An diesem Erfolge nehmen alle Menschen in grösserem oder geringerem Masse teil oder können daran teilnehmen.
Die zweite Seite stellt sich dar als derKampf des Menschen gegen seinesgleichen, welcher indessen ebensowohl ein direkter wie ein indirekter Kampf oder Wettbewerb um die Existenzbedingungen sein kann. Dieser Kampf ist in demselben Masse, wie der Kampf gegen die Natur leichter geworden ist, schwerer, grausamer und unerbittlicher geworden. Auch wird derselbe um so heftiger, je grösser der Fortschritt auf materiellem Gebiete wird, und je mehr die Zahl der Menschen und der Umfang ihrer Bedürfnisse zunimmt. Durch ihn sind Egoismus und Individualismus zu Weltherrschern geworden. Es ist ein allgemeiner Konkurrenz-Kampf oder ein Krieg aller gegen alle, wobei der Tod des einen das Brot des andern, das Unglück des einen das Glück des andern bedingt. Der mächtige Trieb der Selbsterhaltung und der Zwang des gesellschaftlichen Egoismus überwiegt alles; ein Widerstand gegen denselben ist nicht möglich, ausser bei schwerer Strafe der Widerstrebenden. Denn wo das Wohl oder Interesse des Einzelnen in Frage kommt, da kennt der gesellschaftliche Egoismus in der Regel ebensowenig Mitleid oder Schonung, wie der Tiger, wenn er sein Opfer zerreisst; und man kann oder darf dieses dem Einzelnen nicht einmal zum Vorwurf machen, da der Trieb oder das Interesse der Selbsterhaltung innerhalb eines gesellschaftlichen Organismus, wie er zur Zeit noch besteht, ihm sein Verhalten gebieterisch vorschreibt, wenn er nicht den eignen Untergang herbeiführen oder beschleunigen will. Se9lbst der aufopferndste Menschenfreund kann sich diesem Gebot des Egoismus nicht entziehen, ohne sich selbst den grössten Gefahren auszusetzen. Es ist gewissermassen eine grosse und allgemeine Flucht oder ein Wettrennen der Furcht vor der Not und Entbehrung des Lebens, ohne Mitleid oder Hilfe für die dabei zu Boden Sinkenden, ähnlich jenem berüchtigten Übergang der grossen Armee über die Beresina, wo jeder nur für die eigne Rettung besorgt war und besorgt sein musste. Wer nicht niedergetreten sein will, muss selbst niedertreten und dem allgemeinen Feldgeschrei folgen: »Rette sich wer kann! Unterliege wer muss!« Auch hat sich durch Gewohnheit das Gefühl des Einzelnen für die Schrecken eines solchen Zustandes nach und nach in ähnlicher Weise abgestumpft, wie es sich gegen die Schrecken einer Schlacht bei den Kämpfenden abzustumpfen pflegt.
Wer kennt nicht das berühmte Buch des AmerikanersBellamy, worin derselbe den Zustand der menschlichen Gesellschaft mit einer grossen, bequem eingerichteten Kutsche vergleicht, welche von einer kleineren Anzahl von Menschen besetzt ist, während die grössere davor gespannte Mehrzahl diese Kutsche mit Aufbietung aller Kräfte über Berge und Thäler, durch Sümpfe und Moräste schleppt, getrieben von der Peitsche des Hungers, der als Kutscher auf dem Bocke sitzt! Ich halte das Gleichnis, wie alle Gleichnisse, in vieler Beziehung für schief oder hinkend, aber im grossen und ganzen muss es doch das Richtige getroffen haben, wie der beispiellose Erfolg des Buches beweist. Derselbe wäre nicht denkbar, wenn nicht eine grosse Mehrzahl von Menschen tief von der Überzeugung eines unnatürlichen und ungerechten Zustandes der heutigen menschlichen Gesellschaft10durchdrungen wäre und in dem Buche mehr oder weniger eine Offenbarung der eignen, sie bewegenden Gefühle gefunden hätte.
Es wird wohl nicht viele geben, welche ernstlich zu leugnen wagen, dass ein solcher Zustand der Gesellschaft von den grössten ökonomischen und moralischen Nachteilen begleitet ist und begleitet sein muss. Einerseits erzeugen Armut, Besitzlosigkeit und Mangel an Erziehung und Bildung die meisten Verbrechen gegen Staat und Gesellschaft, während andrerseits übertriebener Reichtum Müssiggang und allerhand Laster im Gefolge hat; wodurch Staat und Gemeinde genötigt werden, eine kostspielige Justiz mit allen ihren hässlichen Anhängseln und eine ebenso kostspielige Armenpflege zu unterhalten. In moralischer Beziehung erzeugt der allgemeine Konkurrenzkampf hässliche Leidenschaften, wie Neid, Hass, Mitleidlosigkeit, Geldgier, Hartherzigkeit, gegenseitige Verfolgungssucht statt gegenseitiger Liebe und Unterstützung. Jeder denkt und handelt nur für sich und sein eignes Interesse, weil er weiss, dass im Notfall kein anderer für ihn eintreten oder dass er an der Gesamtheit keine Stütze finden würde. In einer richtig organisierten Gesellschaft müsste der Gewinn des Einzelnen zugleich der Gewinn der Gesamtheit sein und umgekehrt, und das Motto derselben müsste heissen: »Einer für alle und alle für einen«, während jetzt in der; Regel das Gegenteil stattfindet. Unsre grössten Gewinne erzielen wir durch eine der traurigsten Ursachen oder durch den Tod derjenigen, welche uns im Leben die liebsten waren, indem wir sie beerben. Der Baumeister und alle bei Bauten beschäftigten Arbeiter müssen sich freuen, wenn Häuser einstürzen oder abbrennen; die Grubenarbeiter desgle11ichen, wenn hunderte ihrer unglücklichen Kameraden im Dunste der Bergwerke ersticken; der Arzt muss sich freuen, wenn es viele Krankheiten giebt; der Advokat nährt sich von Prozessen, welche seinen Mitbürgern Ruhe und Vermögen rauben; der Richter muss Gefallen haben an grossen Kriminalprozessen; die Offiziere müssen sich freuen, wenn das grösste Übel, welches die Menschheit betreffen kann, der Krieg ausbricht, weil sie davon Beförderung erwarten; der Familienvater muss sich freuen, wenn seine Nachkommenschaft möglichst klein bleibt, obgleich der eigentliche Zweck der Familie dabei verloren geht; der Wirt oder der Verkäufer geistiger Getränke muss sich freuen, wenn die Trunksucht, und die verlorenen Töchter des Volkes müssen sich freuen, wenn die Unzucht zunimmt; alle Handwerker und Produzenten müssen sich freuen, wenn die von ihnen erzeugten Gegenstände übermässig rasch verbraucht werden; ein Gewitter oder Hagelschlag wird trotz des durch solche Naturereignisse angerichteten Schadens von dem Glaser oder Versicherungsagenten gern gesehen; wie denn überhaupt beinahe alles, was dem einen Schaden, dem ändern Verdienst bringt
Man könnte noch lange mit Aufzählung ähnlicher Beispiele fortfahren, aber diese Vermehrung würde am dem Resultat nichts ändern.
Dazu kommt der demoralisierende Charakter der Arbeit selbst, welche in der Regel nicht aus Interesse für das Gemeinwohl, sondern aus Zwang der Umstände geleistet wird. Der heutige Arbeiter ist ein Sklave wie ehedem, nur mit dem Unterschiede, dass ihn nicht die Peitsche des Herrn, sondern diejenige des Hungers in die Abhängigkei12t von seinem Arbeitgeber treibt. Aber dieser Arbeitgeber selbst ist wieder ein Sklave — ein Sklave des Kapitals, der Konkurrenz, der Geschäftskrisen, der Strikes, der Verluste und oft in weit schlimmerer Lage, als der von ihm bezahlte Arbeiter.
Ist so der Widersinn des Systems schon gross genug inmoralischerBeziehung, so ist er noch grösser inökonomischerHinsicht, Denn während die Erde so viele Nahrungsstoffe hervorbringt, dass die ganze lebende Menschheit reichlich damit versorgt werden könnte, und bei richtiger, von gemeinsamen Grundsätzen geleiteter Bewirtschaftung noch viel mehr hervorbringen könnte, und während der Nationalwohlstand und die Ansammlung kolossa. Reichtümer in einzelnen Händen eine nie gesehene Höhe erreichen, müssen wir fortwährend mitten im Überfluss jene Szenen von Hunger, Entbehrung, unverschuldetem Kranksein und frühzeitigem Sterben erleben, die bereits geschildert worden sind. Wie heuchlerisch ist die Fürsorge des Staates für seine Bürger, um dieselben vor der kleinsten Versündigung gegen Leben, Eigentum oder Gesundheit zu schätzen, während er ruhig zusieht oder duldet, dass fortwährend Tausende durch Not, Elend und Entbehrung schnell oder langsam in einen bald freiwilligen, bald unfreiwilligen Tod getrieben werden, oder dass durch mangelhafte Erziehung und Ernährung eine an Geist und Körper verkrüppelte Jugend emporwächst, die mit der Zeit die Strafgerichte beschäftigt, die Gefängnisse füllt oder der Armenpflege zur Last fällt. Man erlässt scharfe Gesetze gegen Tierquälerei, aber man hat kein Auge für jene entsetzliche Menschenquälerei, welche erlaubt, dass blasse, schwindsüchtige Mädchen oder Frauen, ja ganze Bevölkerungen, wie die13schlesischen und erzgebirgischen Handweber, Tag und Nacht für Löhne arbeiten, welche kaum hinreichen, sie vor dem Hungertode zu schützen; oder dass andre tausende, um desselben Zweckes willen, Leben und Gesundheit in absolut schädlichen Fabrikationszweigen zum Opfer bringen; oder dass barfüssige, kaum mit Lumpen bekleidete Kinder bei Winterskälte in den Strassen unsrer Städte umherirren; oder dass ein Dutzend Menschen in einem Wohnraume zusammengedrängt ist, der kaum für einen Einzigen hinreicht, während ein andrer zehn oder zwölf Zimmer und mehr für sich allein zur Verfügung hat; oder dass die Wohnungen der Armen oft schlechter sind, als die Hundehütten und Pferdeställe der Reichen; oder dass vielen nichts übrig bleibt, als ihre Nächte im Freien zuzubringen, auf die Gefahr hin, dafür verfolgt und bestraft zu werden, während beispielsweise in Berlin 40000 Wohnungen leer stehen; oder dass es Menschen giebt, welche aus Hunger und Nahrungssorgen schnell oder langsam zu Grunde gehen, während der blosse Abfall von dem Tische der Reichen oder ein geringer Prozent ihres Überflusses solches verhüten könnte, u. s. w. u. s. w.
Wenn man in Gebirgsgegenden sehen muss, wie sich fette Weiber von keuchenden und schwitzenden Menschen mit höchster Gefahr für deren Leben und Gesundheit auf hohe Aussichtspunkte hinaufschleppen lassen, bloss um eines armseligen Geldlohnes willen, so muss man mit Hass gegen eine Gesellschaftsordnung erfüllt werden, welche dem Gott Mammon erlaubt, seine elenden Geldsklaven ebenso zu den niedrigsten Sklavendiensten und zur blinden Unterwürfigkeit unter seine Gebote zu zwingen, wie es ehedem den Herrn über Sklaven oder Leibeigene zu thun erlaubt war.14Ich wiederhole, dass es im allgemeinen nur wenige geben wird, welche diese nackten Thatsacheu zu leugnen oder den damit verbundenen Zustand als solchen zu verteidigen wagen. Man erkennt die sozialen Schäden und Widersinnigkeiten als solche an, wie ja schon daraus hervorgeht, dass die dadurch hervorgerufene Litteratur mit zahllosen Besserungsvorschlägen fast unabsehbar geworden ist. Aber — so pflegt man diesen Vorschlägen gegenüber zu antworten — der Zustand ist leider nicht zu ändern. Es war von jeher so und wird immer so sein und bleiben. Ungleichheit ist ein notwendiges Attribut der menschlichen Gesellschaft. Zu allen Zeiten hat es Adel und Stände, Reiche und Arme gegeben, und die grosse Masse ist immer nur zum Arbeiten und Gehorchen dagewesen. Vernunft und Gerechtigkeit in sozialer Beziehung sind immer Ideale geblieben; und alle Gesellschafts-Idealisten, Plato mit seinem Vernunftstaat an der Spitze, haben in der Praxis stets schmählich Schiffbruch gelitten. Wollte man auch heute alle Besitztümer gleichmässig verteilen, so würde sehr bald wieder die alte Ungleichheit da sein. Auch würde, wie eine Berechnung leicht ergiebt, eine solche allgemeine Verteilung des Besitzes dem Einzelnen verhältnismässig nur sehr geringen Gewinn einbringen.
Man versäumt dabei nicht, an die grossen Wohlthaten der Konkurrenz zu erinnern, welche den eigentlichen Sporn der Arbeit und des Fortschritts bildet und welche es zu Wege gebracht hat, dass sich heutzutage durch die Billigkeit der Erzeugnisse die Konsumtion mehr oder weniger nach der Produktion richtet, während man früher allgemein der Meinung war, dass das umgekehrte Verhältnis das allein15richtige oder mögliche sei.
Aber wie soll diesen Einwänden begegnet, wie soll geholfen werden? Diese Frage ist um so schwieriger zu beantworten, als bis jetzt alle die zahllosen Versuche und Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage erfolglos geblieben sind. Dies darf jedoch den Menschenfreund nicht abschrecken, immer wieder von neuem an Mittel der Abhilfe zu denken. Es muss geholfen werden und — was die Hauptsache ist — eskanngeholfen werden.
Esmussgeholfen werden, wenn man nicht riskieren will, dass jede politische Umwälzung oder Erschütterung der Gegenwart (und an solchen fehlt es ja niemals) von schweren sozialen Erschütterungen begleitet sein wird. Ein allgemeines Gefühl sozialer Unbehaglichkeit oder Ungerechtigkeit, namentlich in den niederen Schichten der Bevölkerung, hat sich der Mehrzahl der Menschen bemächtigt, und eine künftige Revolution wird nicht, mehr, wie in der ersten und zweiten französischen Revolution, vor dem »Eigentum« stehen bleiben. An deutlichen Anzeichen dieser in den Tiefen der Volksseele tigerartig gärenden Leidenschaften und Gelüste fehlt es ja in keiner Weise; dieselben werden sich zu gelegener Zeit Luft machen, ohne dass man im Stande sein wird, durch Gewaltmassregeln etwas andres zu erreichen, als die Erziehung von Märtyrern und Fanatikern. Die Nihilisten in Russland, die Communards in Frankreich, die Sozialdemokraten in Deutschland, die Fenier, die Irredentisten, die Dynamiteriche, der sein Haupt immer mehr erhebende und förmlich Schule machende Anarchismus sind gewissermassen nur die Sturmvögel oder Warnungssignale einer kommenden Umwälzung; und der Staatsweise oder16Staatslenker, der sie unbeachtet lassen wollte, würde dem Schiffer gleichen, der die sein Schiff vor dem Sturm umflatternden Seemöven nicht beachtet oder dieselben mehr als Verfolgungs-Objekte, denn als Warner behandelt. Denn »wer seine Zeit damit verbringt, Jagd zu machen auf die Möven, wird vom Sturm überrascht und beschädigt werden an Leben und Gut.« (Radenhausen.)
Sollte es aber auch, was ja nicht unmöglich wäre, gelingen, durch Gewaltmassregeln jeden Versuch einer sozialen Umwälzung dauernd zu unterdrücken, so würde doch damit die geschilderte Unzufriedenheit und Unbehaglichkeit aus dem Schosse der Gesellschaft nicht nur nicht entfernt, sondern nur noch vermehrt oder gesteigert werden. Es würde mit der Zeit eine Art heimlichen Kriegszustandes zwischen den besitzenden und den nicht-besitzenden Klassen der Gesellschaft entstehen, welcher die Ruhe und das Glück des Gemeinwesens nicht weniger alterieren würde, als ein offener Krieg. Denn wenn man beispielsweise erfährt, dass im Jahre 1864 in England dreitausend Personen ein jährliches Einkommen von ungefähr 500 Millionen Mark, oder mehr als das jährliche Gesamteinkommen aller Ackerbauarbeiter von ganz England und Wales, unter sich teilten, so wird man einen dauernden sozialen Frieden auf dem Boden eines solchen Missverhältnisses wohl kaum für möglich halten dürfen.
Glücklicherweise fehlt es nicht an der Möglichkeit, diesem Zustand zu begegnen oder den drohenden Sturm nicht zum Ausbruch kommen zu lassen, ohne dass man nötig hätte, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen, und zwar mit Hilfe einer Anzahl friedlicher Reformen, welche, auf dem17Boden der jetzigen Gesellschaftsordnung stehend, von da langsam und allmählich zu einem besseren Zustand der Dinge hinüberleiten — vorausgesetzt, dass es gelingt, die Mehrzahl der Menschen von der Wohlthätigkeit und Notwendigkeit solcher Massregeln zu überzeugen. Wir sehen hierbei selbstverständlich ab von jener radikalen oder radikalsten Lösung der sozialen Frage, wie sie derKommunismusverlangt. Ein solcher Zustand, wobei der gesamte Besitz gemeinschaftlich und die Arbeit ganz frei oder freiwillig sein würde, und von dem noch einmal ausführlicher die Rede sein wird, wäre wohl denkbar, ist aber für jetzt in grösserem Massstabe unausführbar, teils wegen der allgemeinen Abneigung gegen denselben, teils wegen der Schwäche der menschlichen Natur, welche durch lange Jahre des Egoismus und Individualismus für Ertragung derartiger Idealzustände unfähig geworden ist. Ein solcher Zustand würde erst möglich sein am Ende einer langjährigen Erziehung des menschlichen Geistes im Sinne des Altruismus und Kollektivismus oder der allgemeinen Bruder- und Menschenliebe.
Es bleibt sonach nichts übrig, als Ausschau nach andern Mitteln oder Hilfen zu halten. Hier wird uns denn wieder der richtige Fingerzeig gegeben durch dieNaturwissenschaft, welche heutzutage bestimmt sein dürfte, nicht bloss diegeistige, sondern auch diesozialeBefreiung der Menschheit zu bewirken.
Ich komme dabei zurück auf den von dieser Wissenschaft in das rechte Licht gesetztenKampf um das Dasein, welcher leider unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen noch ganz den Charakter des rohen Daseinskampfes der Natur trägt, nur mit dem Unterschied, dass e18rhiermit mehr oder wenigergleichen, dort mit sehrungleichenMitteln gekämpft wird.
Da lautet denn das erlösende Losungswort:Ersetzung der Naturmacht durch die Vernunftmacht, d. h. möglichste Ausgleichung der Mittel und Umstände, unter denen und mit denen gekämpft wird. An die Stelle des Einzelkampfes um das Dasein muss ein gemeinsamer Kampf allerfürdas Dasein treten. Mit ändern Worten: die Stelle des rohen Naturkampfes muss ein gemeinschaftlicher, durch Vernunft und Gerechtigkeit geregelter sozialer Kampf um die Lebensbedingungen ersetzen.
Der Kampf, wie er unter den jetzigen sozialen Verhältnissen geführt wird, verdient den Namen eines eigentlichen Kampfes, eines Wettbewerbs mit gleichen Mitteln weit weniger, als denjenigen einer gesetzlich geregeltenUnterdrückung. Oder wie wäre anders der Kampf eines Menschen zu bezeichnen, den man, allenfalls mit einem hölzernen Säbel bewaffnet, gegen Flinten und Kanonen schicken wollte Oder der Wettlauf eines Menschen mit blossen Füssen mit einem andern, der Pferde oder Eisenbahnen zur Verfügung hätte! Oder wie wäre anders der Wettbewerb zwischen zwei Menschen zu bezeichnen, von denen der eine alle Vorteile von Rang, Reichtum, Erziehung, Bildung, sozialer Stellung u. s. w. für sich hätte, während der andre über nichts verfügte, als über die Kraft seiner nackten Arme und seines ungebildeten Verstandes!
Der Ausgang eines solchen Kampfes oder Wettbewerbs ist zum voraus entschieden. In der Regel ist das Schicksal des einzeln19en Menschen schon in seiner Geburt besiegelt und das gesellschaftliche Sklaventum desjenigen, dessen Wiege in der Hütte eines armen Mannes gestanden hat, mit seinem ersten Atemzuge entschieden. »Die Fesseln einer niederen Geburt«, sagt J. C.Fischer1»schleppen wir durch das ganze Leben, und an ihnen zerschellt oft die unerhörteste Anstrengung eines ganzen Lebens.«
Zwar wird man entgegnen, dass man sehr eklatante Ausnahmen von dieser Regel kennt. Man wird z. B. an den vor kurzem gestorbenen AmerikanerJay Goulderinnern, der als armer Hirtenjunge in Amerika einwanderte und als beispielloser Millionär starb. Diese Ausnahmen oder Glücksfälle können und sollen nicht geleugnet werden; aber sie sind eben nur überaus seltene Ausnahmen, welche die Regel nicht umstürzen. In der Regel erhalten sich Rang und Reichtum bei einzelnen Familien oder Ständen oder Gesellschaftsschichten für unbestimmt lange Zeiten.
Glücklicherweise fehlt den unterdrückten Klassen der Gesellschaft das volle Bewusstsein oder die volle Empfindung ihrer Lage. Die Macht der Gewohnheit stumpft ihr Gefühl dafür ab und lässt sie dasjenige, was doch nur Menschenwerk ist, als eine unvermeidliche Fügung des Schicksals betrachten. Wenn dies nicht so wäre, würden wir schon längst jene soziale Revolution haben, welche fortwährend angekündigt wird, aber dennoch nicht kommen will. Auch hat es die Natur weise so eingerichtet, dass das Glück mehr im Charakter und Temperament des Einzelnen, als in den äusseren Lebensumständen liegt. Wer ein glücklich angelegtes Temperament hat, wird sich in jeder Lebenslage mehr oder weniger wohl fühlen, während ein Melancholiker oder e20in zu Ängstlichkeit und Trübsinn geneigter Mensch durch keine Glücksumstände froh oder zufrieden gemacht werden kann.
Trotzdem zeigen die bereits angeführten Umstände und Erscheinungen deutlich, dass sich die Gesellschaft im grossen und ganzen in hohem Grade unwohl fühlt und einer kommenden Umwälzung entgegensteuert. Die erschreckende Ausbreitung der Sozialdemokratie wäre unbegreiflich, wenn nicht das Bewusstsein ihrer gedrückten Lage in den unteren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft in fortwährendem Zunehmen begriffen wäre. »Thatsache ist«, sagt F. A.Langein seiner vortrefflichen Schrift über die Arbeiterfrage2, »dass der Kampf um das Dasein gerade jetzt wieder in der mächtigsten und entscheidendsten Schicht der Nation in seiner ganzen ermattenden Schwere empfunden wird, und dass die Geister beginnen, der Einförmigkeit dieses Druckes überdrüssig zu werden.«
Eine Änderung dieses trüben Zustandes ist, wie gesagt, nur möglich durch eine grössere Ausgleichung in den Mitteln, womit jeder einzelne seinen Kampf um das Dasein kämpft — eine Ausgleichung, welche sich vor allen Dingen auf die Besitzes-Verhältnisse zu erstrecken hat. Ferner durch die Umwandlung des Einzelkampfes in eben gemeinschaftlichen, solidarisch verbundenen Kampf aller gegen die Übel des Lebens, welche da sind Hunger, Kälte, Elend, Entbehrung, Krankheit, Alter, Unfall, Invalidität und Tod, oder durch Herbeiführung eines Zustandes, in welchem das Wohl des Einzelnen mehr oder weniger identisch wird mit dem Wohl der Gesamtheit und umgekehrt — ein Zustand, in welchem21das schöne Wort zur Wahrheit wird: »Einer für alle und alle für einen.«
Ein solcher Zustand wäre, wie ich glaube, sehr leicht herbeizuführen, ohne das der Arbeits- und Erwerbstrieb des Einzelnen darunter Not leidet, so dass jeder die Früchte seines eigenen Fleisses, seiner eigenen Thätigkeit und Intelligenz geniesst und zwar durch Herbeiführung einer Versöhnung zwischen den Einzel- und den Gesamt-Interessen.
Allerdings muss zugegeben werden, dass einevollständigeAusgleichung in dieser Richtung — wenigstens für den Anfang — kaum als möglich gedacht werden kann. Aber auch schon eineteilweiseAusgleichung muss und wird von den wohlthätigsten Folgen begleitet sein und wird voraussichtlich allmählich zu einem Zustande hinüberleiten, der eine gänzliche Lösung der sozialen Frage in Aussicht stellt. Namentlich wird der an sich so wohlthätige Sporn der Konkurrenz durch diese Lösung nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil geschärft werden, indem jeder nur die Früchte seines eigenen Fleisses geniessen und nicht auf Kosten andrer wird leben können. Auch ist die Lösung möglich ohne Verwischung der natürlichen Ungleichheiten der Gesellschaft durch Geburt, Familie, Wohnort, Anlage, inneres Bedürfnis, geistige und körperliche Vorzüge, Verschiedenheit der Beschäftigung u. s. w. Diese natürlichen Ungleichheiten oder Verschiedenheiten können nicht beseitigt werden, weil in der Natur des Menschen und der Dinge selbst gelegen. In einer Versöhnung des Individualismus mit dem Kollektivismus, vulgo Sozialismus, oder in einer richtig organisierten Übereinstimmung der Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen mit den Interessen und Bedürfnissen der Gesamtheit scheint daher22das ganze soziale Problem der Zukunft zu liegen. »Es ist schlechthin undenkbar«, sagt W. E.Backhaus3, »dass in einem Staatsganzen, dessen Einrichtungen auf dem Vernunftgesetz beruhen, Sozialismus und Individualismus als feindliche Kräfte gegeneinander wirken sollten.« Die innige Verbindung des individualistischen Gedankens mit dem sozialistischen, des Individuums mit der Gesellschaft bedeutet in Wahrheit die Durchführung des grossen staatswirtschaftlichen Grundgesetzes, nach welchem der Vorteil des Einzelnen stets auch der Vorteil der Gesamtheit sein soll. Es ist hohe Zeit, dass der Konflikt zwischen Einzel- und Gesamtinteressen im wirtschaftlichen Leben der Völker seine Lösung finde — eine Lösung, welche nicht in der Hand dunkler Schicksalsmächte, sondern einzig und allein in der Hand des Menschen selbst liegt. »Sozialwirtschaft und Individualwirtschaft gehören in einem Staatsganzen zu einander; sie ergänzen und fördern sich gegenseitig; sie gehören zusammen wie Leib und Seele u. s. w.«
Was nun die Mittel dieser Versöhnung oder der sozialen Erlösung betrifft, so können dieselben dreierlei Art sein. Sie heissen
1) Abschaffung der sog. Bodenrente oder Zurückführung des von Natur- und Rechtswegen allen gehörigen Eigentums an Grund und Boden in den Besitz der Gesamtheit (mit selbstverständlichem Einschluss der Wasserkräfte und des Bergbaues).
2) Reform d. h. allmähliche, gradweise bis zur viell23eicht gänzlichen Abschaffung sich steigernde Reform der Erbrechte.
3) Umwandlung des Staates in eine allgemeine, solidarisch verbundene Versicherungsgesellschaft gegen Krankheit, Alter, Unfall, Invalidität und Tod.
Was den ersten Punkt betrifft, so kann es wohl kaum einen weniger anfechtbaren Grundsatz des Naturrechts geben, als denjenigen, dass die Mutter Erde, die uns alle erzeugt hat, die aber von niemand erzeugt worden ist, und ohne welche menschliches Dasein eine Unmöglichkeit sein würde, nicht einzelnen, sondern allen gehört. Gleichwie der Mensch ein Produkt der Erde ist, so muss auch sein Dasein in dem Anrecht an den Besitz derselben begründet sein. Der Mensch ist nichts und vermag nichts ohne den Beistand der Mutter Erde und ihrer nie versiegenden Kraft; er kann nichts erwerben, nichts hervorbringen, nichts besitzen ohne Benutzung ihrer Kräfte und ihrer Gaben. Daraus folgt, dass nach den einfachsten Grundsätzen der Billigkeit und Gerechtigkeit die Benutzung dieser Gaben und Kräfte jedem zur Welt Gekommenen in gleicher Weise zur Verfügung stehen muss, und dass das Recht an den Grund und Boden ein ebensolches Naturrecht ist, wie das Recht, die freie Luft zu atmen oder das der Erde entquellende Wasser zu trinken oder sich von der Sonne bescheinen zu lassen. Leider wird diesem Grundsatz in der Wirklichkeit in greulicher Weise Hohn gesprochen. Eine Reihe von Umständen, wie Gewalt, Eroberung, Krieg, Vererbung, Kauf, Schenkung, Feudal- und Lehnsgüterwesen u. s. w. haben es im Laufe der Zeit dahin gebracht, dass eine Minderheit durch den Besitz von Grund und Boden zur Beherrscherin der ganzen Menschheit geworden ist, bis schliesslich alles so verteilt war, dass kein Platz oder Raum für den zu spät Gekommenen übrig geblieben,24und dass dieser, wenn er nicht selbst zufällig als Besitzer geboren ist, in der Luft hängen bleiben müsste, wenn er nicht sofort das Recht der Niederlassung dadurch erkaufen würde, dass er seine von der Natur ihm verliehenen Arbeitskräfte denen, welche im Besitz des Bodens und der Arbeitsmittel sind, leibeigen giebt. Die ungeheure Macht der Gewohnheit hat es dahin gebracht, dass die grosse Mehrzahl der Menschen diesen rechtlosen Zustand als etwas Natürliches oder Selbstverständliches hinnimmt, während derjenige, der den Ursachen desselben nachgeht, alsbald findet, dass das private Eigentum an Grund und Boden nicht von der Natur, sondern von Gewalt und Usurpation herkommt Auch war dieses Naturrecht im frühesten Altertum fast Überall mehr oder weniger anerkannt, so in Palästina, Griechenland, Italien, Germanien, Gallien, Indien, China, Japan, Peru u. s. w. Schon in den ältesten geschichtlichen Urkunden unsres Geschlechts finden wir den Gedanken der Gemeinsamkeit des Bodens deutlich ausgesprochen, so namentlich in der Bibel, deren zahlreiche darauf bezügliche Aussprüche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Zwar war bei den alten Hebräern der Grund und Boden Familieneigentum; aber alle fünfzig Jahre fand eine Neuverteilung des Bodens statt. Ebenso erkannte der chinesische DenkerLaotsein dem Besitz der Erde ein allen Menschen vom Weltall-Gott anvertrautes heiliges Gut. Dementsprechend war das Bodeneigentumsrecht in China nur ein Nutzungsrecht und nur als solches Übertragbar, während das Eigentum selbst der durch den Staat repräsentierten Gesamtheit verblieb und in der Theorie noch bis auf den heutigen Tag verbleibt. Erst infolge einer langen Reihe von Gewaltmassregeln un25d Usurpationen konnte die individuelle Aneignung des Grundes und Bodens in China durchgesetzt werden. Ebenso war es in Japan, wo erst die mongolischen Eroberer mit Gewalt das Feudalsystem einführten. Die Indier kannten vor der englischen Eroberung weder das Recht der Veräusserung des Grundeigentums, noch das Testament.
NachBackhaus(a. a. O.) erscheint es als höchst wahrscheinlich, wenn nicht als gewiss, dass Grund und Boden im Anfang der Geschichte überall Gemeinbesitz der Völker gewesen sind. Auch haben sich die alten Philosophen dafür erklärt.Aristoteleserklärt, dass Grund und Boden notwendig Gemeingut sein müsse, undPlatoverlangt, dass jedem Bürger ein gleich grosses oder gleich ertragsfähiges Stück Land als unteilbar und unveräusserlich zur Benutzung übergeben werde. Auch hatten Rom und Griechenland anfangs dementsprechende Acker-Verfassungen. In Sparta hielt das Verbot des Bodenverkaufs und des Testaments lange Zeit die Gleichheit des Besitzes aufrecht; und in Athen unterwarfenSolonund seine Nachfolger das individuelle Eigentum überhaupt schweren Beschränkungen, wahrscheinlich als Reminiscenzen eines anfänglichen Kommunismus, Auch in Rom hat sich das individuelle Eigentum an Grund und Boden nur nach und nach aus dem gemeinsamen herausgebildet. Anfangs Gemeinde-Eigentum wurde es später zum Eigentum der einzelnen Familien und Geschlechter, welche letzteren in Bezug auf den Besitz gewissermassen nur eine einzige Person bildeten. Erst mit dem Gesetz der zwölf Tafeln und mit der Einführung der Rechte von Verkauf und Testament gewann das individuelle Eigentum das Übergewicht über das gemeinsame. Das grosse Grundeigentum26verschlang allmählich das kleine, und es entstanden Zustände, wie wir sie jetzt noch in England zu beobachten Gelegenheit haben. Sicher ist es auch, dass nach altemgermanischemRecht der grösste und unentbehrlichste Teil des bewirtschafteten Bodens oder die sog. Aussenmark Gemeinbesitz der Markgenossen war, während die sog. Binnenmark dem Einzelnen nur in der Eigenschaft als »Verwalter« gehörte. »Eine Ausnutzung und Ausbeutung des Grundbesitzes und der Bodenkraft durch Einzelne zum Zwecke des ausschliesslich eignen Vorteils war den alten Deutschen gänzlich unbekannt.« Und diesem Bodenrecht und dem dadurch bethätigten Gemeinsinn verdankten die alten Germanen ihre Freiheit und ihre unerschöpfliche Kraft. Erst dem dämonisch wirkenden Geist der römischen Gesetzgebung mit ihrer übermässigen Betonung der persönlichen Besitz- und Eigentumsrechte gelang es, auch im alten Germanien ein Privatrecht auf den Bodenbesitz zu schauen. Es war das Nessushemd, welches die sterbende Roma dem germanischen Riesen arglistig vermachte. Aber so urgesund waren die alten germanischen Rechtseinrichtungen, dass sich Reste des Gemeinde-Eigentums unter verschiedenen Bezeichnungen bis heute in einzelnen deutschen Landen und Ortschaften erhalten haben. Der Zeitschrift »Freiland«, dem Organ der Deutschen Gesellschaft für Bodenbesitzreform, ist es gelungen, nachzuweisen, dass in Deutschland noch mehr als hundert Ortschaften existieren, welche im glücklichen Besitze von Gemein-Eigentum an Grund und Boden geblieben sind. Noch weit mehr ist diese Einrichtung erhalten geblieben in einem grossen Teile von Russland, sowie in manchen Dörfern Serbiens und Kroatiens, auch bei vielen asiatischen Horde27n in der Form des russischen sog. »Mir«, wobei das Land gemeinschaftlich von allen Gemeindemitgliedern besessen und bebaut und die Ernte gleichmässig verteilt wird. In der Schweiz findet sich ein Überrest dieser alten Einrichtung in der Form des sog. »Allmend«. In ganz Afrika besteht nachLetourneau4die Individualisierung und Mobilisierung, des Grundeigentums nur ausnahmsweise. Ebenso ist es mit dem eingeborenen Amerikanertum, bei welchem die Jagd- und Fischgründe nicht dem Einzelnen, sondern dem Stamm oder der Tribus angehören. In Java besteht noch überall Gemeinsamkeit des Bodens und eine Verfassung, welche sich sehr derjenigen des bereits erwähnten russischen Dorfsystems »Mir« nähert. Bei den alten Peruanern bestand nachPrescott5ein systematisch durchgeführter und von oben geleiteter Kommunismus, welcher zur Folge hatte, dass es keine Armut und keinen Mangel gab, und dass für Alte, Schwache, Kranke oder vom Unglück Betroffene ausreichend gesorgt war u. s. w.
Wendet man diese Erfahrungen auf die Vorgeschichte des Menschen an, so ist man wohl genötigt, anzunehmen, dass, wie Verfasser in seiner Schrift über das goldene Zeitalter näher ausgeführt hat, die wilden Horden der Urzeit das persönliche Eigentumsrecht so wenig oder in so beschränkter Weise kannten oder achteten, wie die Wilden der Gegenwart; — und zwar nicht bloss bei Jägern und Fischern, bei denen ein festes Eigentum an Grund und Boden kaum möglich war, sondern auch bei Ackerbauern. Nur die Waffen und Werkzeuge,28welche sich der Einzelne selbst angefertigt hatte, galten als sein persönliches Eigentum, obgleich es nachPlutarchsogar noch den alten Lacedämoniern erlaubt war, sich der Pferde, Hunde und Werkzeuge ihrer Nachbarn zu bedienen, wenn diese keinen Gebrauch davon machten.
Die Rückkehr zu den alten Zuständen oder die Rückgabe des von Natur- und Rechtswegen allen gehörigen Besitzes von Grund und Boden an die Gesamtheit ist übrigens — auch abgesehen von allen sozialen oder naturrechtlichen Gründen — eine solche ökonomische oder staatswirtschaftliche Notwendigkeit, dass sie auf die Dauer trotz allen Widerstrebens gar nicht umgangen werden kann. Denn bei dem riesigen Anwachsen der Bevölkerung in den europäischen Ländern giebt es kein andres Mittel, um den Boden auf seine äusserste Ertragsfähigkeit auszubeuten. Es kann und darf daher dem einzelnen Besitzer eines Grundstücks nicht überlassen bleiben, ob und bis zu welchem Grade er dasselbe ertragsfähig machen will oder nicht, sondern es muss dem Boden im Interesse der Gesamtheit alles abgerungen werden, was ihm irgend abgerungen werden kann. Dieses kann aber nur geschehen durch den auf die Grundsätze der wissenschaftlichen Landwirtschaft gestützten Grossbetrieb, sowie dadurch, dass kein Fleckchen Erde nach Massgabe seiner Lage und Beschaffenheit unbenutzt bleibt, während der Privatbetrieb hierin ganz willkürlich und sehr oft unrationell verfährt oder verfahren kann. Nirgendwo tritt dieses deutlicher zu Tage, als in England, wo bekanntlich der gesamte, für Ackerbau bestimmte Grund und Boden bei einer Bevölkerung von ca. 35 Millionen in den Händen von nur 14-15000 Eigentümern sich befindet, welche daraus — in der Regel arbeitslos und ohne jede eigene Bemühung29— eine jährliche Rente von nicht weniger als 4000 Millionen Mark ziehen, Von dem riesigen Güter-Komplex des Herzogs von Sutherland z. B. (11 Mill. Acker) befinden sich nur ca. 23000 Acker unter Cultur; und das Gesamterträgnis berechnet sich im Durchschnitt aufeineMark pro Acker, während dasselbe in einzelnen Teilen auf das Vierzigfache gesteigert werden könnte. Aber die unermesslich reichen englischen Landlords ziehen es vor, aus kulturfähigern Boden, auf welchem sich tausende fleissiger Menschen ernähren könnten, Schaftriften oder Wildparks oder Rennbahnen oder herrschaftliche Gärten u. s. w. zu machen, und nehmen keinen Anstand, die Ansiedler oder Einwohner zu diesem Zweck unbarmherzig auszutreiben; und Ähnliches geschieht, wenn auch nicht in gleich hohem Grade, wie in England, überall. So besitzen in Deutschland die zehn grössten Grundbesitzer ein Neuntel der gesamten angebauten Bodenfläche Deutschlands, während Frankreich hinsichtlich der Verteilung von Grund und Boden weit besser daran ist. Sogar in Amerika, wo doch Überfluss an Grund und Boden vorhanden ist, machen sich die traurigen Folgen des privaten Bodenbesitzes bereits in solcher Weise geltend, dass die bekannte Schrift des Amerikaners H.Georgeüber Fortschritt und Armut, worin jener Besitz als Hauptquelle des sozialen Übels dargestellt wird, Millionen von Lesern finden konnte. Es war eine der thörichtesten und zugleich ungerechtesten Handlungen oder Versäumnisse der amerikanischen Staatsverwaltung, dass sie nicht, was ihr ein Leichtes gewesen wäre, das unermessliche Landgebiet, das ihr zu Gebote stand, von vornherein für National-Eigentum erklärte und parzellenweise an Private verpachtete, sondern dasselbe teils an Monopolisten und Pr30ivatgesellschaften verschenkte, teils zu Schleuderpreisen an Private wegwarf, teils der willkürlichen Besitzergreifung überliess. Eine Ausnahme hat man nur mit dem grossen Nationalpark im Staate Colorado gemacht, welcher beinahe so gross ist, wie das Königreich Sachsen — aber nicht zu nationalökonomischen, sondern zu Zwecken des Privatvergnügens für Reiche und Vermögende. Hätte man es mit dem gesamten Grund und Boden so gemacht, so müsste jetzt ein unermesslicher, nicht zu erschöpfender Nationalreichtum des amerikanischen Volkes die Folge sein, während dieser riesige Schatz jetzt nur dem Privatnutzen dient. Am auffallendsten und ungerechtesten erscheint ein solcher Privatnutzen dort, wo durch einfache Vermehrung der Bevölkerung der Wert des Grundeigentums oft bis in das Ungemessene steigt, wie namentlich in der Mitte und Nähe wachsender Grossstädte, wo oft Landstrecken, welche vorher beinahe keinen Wert hatten, binnen kurzer Zeit zu wahren Goldfeldern für ihre Besitzer werden, — und zwar ohne jedes eigne Zuthun oder Verdienst der letzteren, lediglich durch den Fleiss und die Thätigkeit der Gesamtheit, welche nichtsdestoweniger dieses Resultat ihres Fleisses ohne jeden Abzug dem einzelnen Privateigentümer in den Schoss wirft.
Was nun die Art und Weise des Übergangs des Privatbesitzes an Grund und Bodens in denjenigen des Staates oder der Gesamtheit betrifft, so ist dieses eine sekundäre Frage, welche von den verschiedenen Verteidigern der Bodenbesitzreform in verschiedener Weise beantwortet wird. Es versteht sich dabei von selbst, dass von einer gewaltsamen Aneignung nicht die Rede sein kann, sondern nur von einer Ablösung der Rente oder des Bodens selbst gegen massige31und abschätzungsweise festzustellende Entschädigung, Denn, wenn sich auch, wie nachgewiesen, sehr viele und vielleicht gerade die bedeutendsten Besitztitel an Grund und Boden nicht aus rechtlichem Erwerb, sondern aus den Zeiten der Gewalt herschreiben, so darf doch, da nach Verlauf so langer Zeit Untersuchungen über die Rechtlichkeit der Erwerbstitel nicht mehr angestellt und die Nachkommen nicht für die Sünden der Voreltern verantwortlich gemacht werden können, niemand in seinen jetzt bestehenden Rechtsansprüchen gekränkt oder benachteiligt werden.
Die weitgehendste Art und Weise wäre ein Rückkauf nach vorheriger Abschätzung — wobei kleinere Güter oder Grundstücke nach ihrem vollen Wert bezahlt, sehr grosse aber einer gewissen Reduktion des Preises unterworfen werden müssten, — entweder gegen bar oder gegen eine in Form von Pfandbriefen auszugebende Staatsrente. Allerdings würden hierzu für den Anfang grosse Geldmittel notwendig sein; aber sie würden kein ernstliches Hindernis bilden, wenn durch Annahme meines zweiten Vorschlags auf Einschränkung der Erbrechte der ganze Bodenbesitz oder wenigstens der grösste Teil desselben im Laufe eines oder weniger Menschenleben an den Staat zurückfallen würde. Dazu käme sodann der durch Zunahme der Bevölkerung und rationellere Bewirtschaftung des Bodens im Grossbetrieb fort und fort steigende Bodenwert, welche Steigerung unter allen Umständen, als durch die Gesamtheit erarbeitet, auch der Gesamtheit oder dem Staate zu Gute kommen müsste.
Die erklärten Anhänger der Bodenbesitzreform, welche sich in Deutschland zu einem besonderen »Bund« mit einer Anzahl von Zweigvereinen zusammengetha32n haben und im Besitze eines besonderen, in Berlin erscheinenden Organs unter dem Titel »Freiland« sind, scheinen in ihrer Mehrzahl der Ansicht zu sein, dass »die Überführung des Grundbesitzes, bez. der Grundrente, aus den Händen einzelner in die Hände der Gesamtheit«, welche laut Statut den Zweck ihrer Bestrebungen bildet, hinreichend sei, um, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar eine vollständige Lösung der sozialen Frage herbeizuführen. Sie erwarten davon durch Beseitigung des Hypothekenwesens in letzter Linie die Beseitigung der Macht des Privatkapitals an Grund und Boden, sowie derjenigen des mobilen Kapitals überhaupt, indem sie den überwiegenden Privatbesitz an Grund und Boden für die Ursache aller sozial-wirtschaftlichen Drangsale und für die Grundlage aller wirtschaftlichen Unfreiheit erklären. Namentlich wird dadurch nachBackhaus(a. a. O.) dem »furchtbar wütenden Schrecknis« des DämonsZins, welcher noch weit fürchterlicher ist, als der Kriegsdämon, weil er keinen Frieden kennt und sich ununterbrochen vermehrt, ein gewisser Halt geboten werden. Der Zins hat die ganze Gesellschaft in ein einziges grosses Kriegslager verwandelt, in welchem ihm täglich Menschenopfer ohne Zahl dargebracht werden. Denn unter der Herrschaft des Privatbodenmonopols und seiner Wirkungen ist die überwältigende Mehrheit jedes Volkes den Grossgrundherren und Grosskapitalisten in ähnlicher Weise zinspflichtig geworden, wie seinerzeit die kleinen Bürger Roms und die unterjochten Völker den römischen Latifundienbesitzern und Grosskapitalisten zinspflichtig waren.
Wenn nun Verfasser bloss im Sinne der bisherigen Schule der Badenbesitzreformer zu reden hätte, so könnte er hier abbrechen, da diese Schule, wi33e gesagt, Gründe zu haben glaubt, um von der Verwirklichung ihrer Bestrebungen eine endgültige Beseitigung des sozialen Elends zu erwarten. Da er aber diese Erwartung nicht zu teilen vermag, so ist er genötigt, im Sinne seines tiefer gehenden Ausgleichs in den Mitteln, mit denen der Einzelne seinen Kampf um das Dasein zu bestehen hat, zur Erörterung seines zweiten Vorschlags hinsichtlich der Beschränkung, bezw. Beseitigung der Erbrechte oder des Erbkapitalismus überzugehen.
Verfasser ist sich wohl bewusst, dass er mit diesem Vorschlag gewissermassen in ein Wespennest sticht und sich auf kritische Anfeindungen jeder Art gefasst machen muss. Denn wo das persönliche Interesse des Einzelnen in das Spiel kommt, da hat jede ruhige und gerechte Überlegung ein Ende. Das Recht, seinen Kindern und Kindeskindern dasjenige zu hinterlassen, was er selbst erworben hat, will sich niemand nehmen lassen, Auch hat der Einzelne darin vollkommen recht, solange er sich auf dem Boden der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse weiss. Aber ein ganz anderes ist es, wenn der Sozialreformer Verhältnisse voraussieht, welche ganz anders geartet sind und geartet sein müssen. Denn so wie politische Revolutionen nicht mit Rosenwasser gemacht werden, so können auch soziale Reformen von erfolgreicher Wirkung nicht mit halben oder unzureichenden Massregeln gemacht werden. Übrigens darf ich mich zur Unterstützung meines Vorschlags vor allen Dingen darauf berufen, dass die Erbschaftssteuer längst als eine der gerechtesten und am wenigsten drückenden anerkannt und angewendet worden ist, und dass man derselben nur eine grössere Ausdehnung, namentlich in der indirekten Erbfolge, zu geben braucht, um meinem Vorschlage mehr und mehr nahe zu kommen. Auch mehren sich die Anhänger34einer solchen Idee der Besteuerung in der gelehrten wie ungelehrten Welt von Jahr zu Jahr, und es fehlt nicht an angesehenen, selbst konservativen Staatsrechtslehrern, welche sich im Prinzip dafür aussprechen, wieBrinz,Röscher,Marlo,Umpfenbach,Schäffle,Pfizer,Bluntschli,Baron,Hallieru. s. w. Dass die eigentlichen Sozialisten zustimmen, versteht sich beinahe von selbst. Schon der Basler Internationale Arbeiterkongress von 1869 hat Abschaffung des privaten Grundeigentums und des Erbrechts in sein Programm aufgenommen; und der französische kollektivistische Sozialisten-Kongress von 1880 setzte als letzten Punkt seines Programms »Abschaffung des Erbrechts für Seitenverwandte und jedes direkten Erbrechts von mehr als 20000 Franks« fest. Auch das Programm der englischen Radikalen acceptiert ganz und voll die beiden genannten Forderungen. Unter den neueren Schriftstellern radikaler Richtung hat sich namentlichMax Nordauin seinem berühmten Buch über die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit mit durchschlagenden Gründen auf den Boden dieser Anschauung gestellt Nach meiner Meinung ist eine solche Reform der Erbrechte oder eine Beschränkung, resp. Abschaffung des Erbkapitalismuseine einfache Forderung der sozialen Gerechtigkeit. Denn niemand wird es als dieser Forderung entsprechend ansehen können, dass unter den Menschen, welche, wenn auch mit verschiedenen Eigenschaften, doch mit demselben Anrecht an Existenz auf die Welt kommen, der eine gewissermassen mit dem Breilöffel, der andre mit dem Hungerlutscher im Munde geboren wird. Niemand wird es als Ausfluss natürlicher Gerechtigkeit betrachten können, wenn der eine schon in der35Wiege auf Millionen sich wälzt oder einen grossen Teil des Grundes und Bodens, welcher allen gehören sollte, sein eigen nennt, ohne dass er das geringste persönliche Verdienst dabei hat, während der andre, wie des Menschen Sohn, nicht weiss, wo er sein Haupt hinlegen soll, um von den Mühen und Lasten seines armseligen Daseins auszuruhen. Man vergegenwärtige sich die Caprice jenes reichen Engländers, welcher sein ganzes grosses Vermögen einer ihm persönlich ganz fremden Dame vermachte, bloss weil er Gefallen an ihrer schönen Nase gefunden hatte, und ähnliche Beispiele einer total unsinnigen Vererbung an unbedürftige Erben. Man denke an die Vermächtnisse an die tote Hand oder an die Kirche, welche nur zum Schaden der Allgemeinheit verwendet werden, an die hässliche Erbschleicherei, an die zahllosen Erbstreitigkeiten, welche oft die tiefste Entzweiung ganzer Familien herbeiführen und den hässlichsten Trieben der Menschennatur Nahrung geben, an die Nachteile der Fideikommisse, an die durch stete Vererbung aufrechterhaltenen ungeheuren Privatvermögen, welche einen Staat im Staate, eine Geldmacht innerhalb der Staatsmacht darstellen, an die Vererbung an ganz entfernte Seitenlinien, deren Angehörige den Erblasser nie gesehen oder gekannt haben u. s. w. Das sog.Testamentoder freie Verfügungsrecht über die Hinterlassenschaft ist auch durchaus kein Ausfluss des Naturrechts, sondern eine Erfindung späterer Zeiten, wahrscheinlich römischen Ursprungs; es war z. B. im alten Deutschland ganz unbekannt. Die älteste Stufe des Eigentums war vielmehr, wie die ausgezeichneten Untersuchungen vonLaboulayeundLaveleyeüber die Entstehung der Eigentumsbegriffe nachgewiesen haben, das36Gemein-Eigentum. Erst das römische Recht mit seiner übermässigen, bereits erwähnten Betonung des Individualismus und der persönlichen Besitz- und Eigentumsrechte machte dem ehemaligen Zustand der Dinge ein Ende und trieb die letzteren im Sinne des persönlichen Egoismus auf die Spitze — ein Verhältnis, an dem wir heute noch leider schwer zu kranken haben. Heute hat, wieLavelayesagt, das Eigentum seinen ehemaligen sozialen Charakter ganz verloren. Vollständig verschieden von dem, was es im Anfang war, hat es nichts Gemeinsames mehr an sich. Privilegiert, fessellos, ohne Rückhalt oder Verpflichtung scheint es, ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesamtheit, keinen andern Zweck als das Wohlsein des Individuums zu verfolgen u. s. w.