Chapter 5

»Das Eigentumsrecht,« sagtLaboulayein seiner preisgekrönten Schrift über die Geschichte dieses Rechts, »ist eine Schöpfung der Gesellschaft ... Jedesmal wenn die Gesellschaft etwas darin ändert, ist sie in ihrem Recht, und niemand kann sich dagegen im Namen eines ältern Rechtes auflehnen; denn vor ihr und nach ihr gibt es nichts. In ihr ruht die einzige Quelle und der Ursprung des Rechts.«Der Einzelne darf sein Erworbenes oder Ererbtes schon um deswillen nicht beliebig verschenken, weil sein Erwerb kein rein persönlicher, sondern nur möglich ist in der Gesellschaft und durch deren Mitwirkung. Eines der eklatantesten Beispiele dieser Art ist die bereits erwähnte enorme Wertsteigerung des Grundes und Bodens im Innern und in der Umgebung grosser, in der Entwicklung begriffener Städte, welche dem einzelnen Besitzer ohne jedes eigne Verdienst Millionen in den Schoss wirft und der Gesamtheit durch die enorme Steigerung der Wohnungsmieten keinen Nutzen,37sondern nur Schaden bringt. Es ist ein Zustand förmlicher Lohnsklaverei der Nicht-Besitzenden gegenüber den Besitzenden, welchem durch die Gesetzgebung längst ein Damm hätte entgegengesetzt werden sollen.Selbstverständlich könnte eine so durchgreifende soziale Massregel, wie die Beschränkung der Erbrechte, nicht plötzlich oder auf einmal, sondern nur allmählich und ohne allzu grosse oder allzu plötzliche Beleidigung privater Interessen in das Leben gerufen werden. Aber gerade in dieser Möglichkeit einer allmählich sich steigernden Einführung liegt ein Hauptvorteil des Vorschlags, wobei Praxis und tägliche Erfahrung der Theorie jederzeit zur Hülfe kommen oder unter die Arme greifen können. Auf diesem Wege wird es auch nicht schwer werden, zu einer Entscheidung darüber zu kommen, ob man bis zu einer gänzlichen Aufhebung der Erbrechte oder nur bis zu einer gewissen Grenze der Einschränkung gehen soll.Der Hauptnutzen oder Hauptvorteil des ganzen Vorschlags besteht in dessen ausgleichender Gerechtigkeit oder darin, dass jeder nur die Früchte seines eignen Fleisses, seiner eignen Tätigkeit und nicht diejenigen der Thätigkeit oder des Glücks seiner Vorfahren ohne jede eigne Bemühung gemessen würde. Söhne reicher Eltern haben in der Regel das Privileg, roh, unwissend, faul oder lüderlich zu sein, so dass grosser, namentlich unverdienter Reichtum oft mehr zum Fluch als zum Segen wird. Von Geburt Reiche oder Vornehme werden von den meisten Menschen als Wesen höherer Art angesehen, denen man sich nur mit einer gewissen scheuen Ehrfurcht nähern dürfe, obgleich diese Drohnen der Gesellschaft weit unter denen stehen, we38lche ihr Leben selbst gemacht haben. Dem berühmten und berüchtigten AusspruchProudhons»Eigentum ist Diebstahl« liegt insofern ein sehr berechtigter Gedanke zu Grunde, als nur der durch eigne Arbeit erworbene Besitz rechtmässiges Eigentum genannt werden kann, während der ohne eigne Bemühung ererbte Besitz sehr wohl als eine Art von Diebstahl an dem Vermögen oder an der Arbeitskraft der Gesamtheit betrachtet werden kann. Denn wenn der durch Erbschaft reich gewordene Teil der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade in einem Zustand von Wohlsein und verhältnismässigem Nichtsthun lebt, so ist dieses nur dadurch möglich, dass er sein Geld für sich arbeiten lässt, d. h., da das Geld nicht selbst arbeitet, durch die Leiden, die Arbeit und die Entbehrung ärmerer Mitmenschen, welche den Zins aufzubringen haben. Nicht dasjenige Eigentum soll angetastet werden, welches durch eignen Fleiss und eigne Sparsamkeit erworben worden ist, sondern nur dasjenige in gewissen Schranken gehalten werden, welches seine Entstehung dem Fleisse oder den Glücksumständen anderer verdankt. Wer darin eine Ungerechtigkeit erblicken wollte, müsste seine eignen Begriffe von Gerechtigkeit haben.Ein weiterer nicht hoch genug zu veranschlagender Nutzen oder Vorteil meines Vorschlags besteht darin, dass durch dessen Ausführung der übermässigen Anhäufung grosser Privatvermögen in einzelnen Händen, welche, wie bereits bemerkt, einen Staat im Staate, eine Geldmacht gegenüber der Staatsmacht darstellen, eine unübersteigliche Schranke gesetzt wird. Die enormen Nachteile einer solchen Anhäufung in politischer Beziehung sind namentlich dort bemerkbar, wo, wie z. B. in Amerika, die unglückliche Manchesterdo39ktrin herrschend ist, und wo mitunter grosse oder reiche Eisenbahngesellschaften einen ganzen Staat politisch völlig in der Gewalt haben. Die amerikanischen Eisenbahn-Direktoren spielen bei der enormen Ausdehnung und Wichtigkeit des dortigen Eisenbahnwesens in der Gegenwart eine ähnliche Rolle, wie sie die Feudalherren des Mittelalters gespielt haben, und brechen in Folge schlechter Verwaltung oder mangelhaften Bahnbaues jedes Jahr einigen hundert oder tausend Personen beinahe ungestraft die Hälse oder mindestens Arme und Beine. Ja, man verhehlt sich in Amerika nicht die Gefahr, dass sich mit der Zeit das Eisenbahn-Monopol sogar den Congress und die Bundesregierung dienstbar machen werde. Aber auch in Europa liegt die Gefahr oder Möglichkeit vor, dass der Einfluss grosser Geldmächte unter Umständen im Stande ist, über Krieg und Frieden zu entscheiden oder parlamentarische Körperschaften unter ihren Willen zu beugen. Ist ja doch das Geld heutzutage eine alles bestimmende Macht und Gott Mammon der einzige Gott, zu dem noch mit wahrer Inbrunst gebetet zu werden pflegt!Der letzte und hauptsächlichste Vorteil meines Vorschlags beruht aber darin, dass der Staat, ohne die verhasste Steuerschraube in Anwendung bringen zu müssen, auf die leichteste Weise in den Besitz hinreichender Geldmittel kommt, um alle im Interesse der Allgemeinheit notwendigen Massregeln durchführen zu können, wie Erziehung und Erhaltung der Kinder, wo die Einzelfamilie dazu nicht ausreicht, Unentgeltlichkeit des gesamten Unterrichts, Versorgung von Witwen und Waisen, Abschaffung des Pauperismus und unverschuldeter Arbeitslosigkeit, Beschaffung der Arbeits- oder Produktionsmittel, Besorgung des Verkehrswesens40u. s. w. Wenn man bedenkt, dass nach den Veröffentlichungen des preussischen Finanzministeriums allein in Preussen jährlichzwölfhundert Millionen Markvererbt werden — eine Schätzung, welche übrigens nach ändern viel zu gering ist und auf mehr als das Doppelte veranschlagt werden kann — so erhellt daraus, wie gross das Erträgnis einer solchen Massregel, obendrein im Verein mit dem staatlichen Bezug der Bodenrente, sein müsste.Natürlich hat man gegen dieselbe und ihre Ausführbarkeit eine Menge von Einwänden bereit, unter denen die zu befürchtende Beeinträchtigung des Erwerbstriebs, die Gefahr der Verschwendung und die Umgebung des Gesetzes durch Schenkung unter Lebenden neben befürchteter Schädigung der Familie die Hauptrolle spielen. Ein näheres Eingehen auf diese Einwände würde die Grenzen dieser kleinen Schrift überschreiten. Ich muss mich daher begnügen, auf mein Buch über die »Stellung des Menschen in Natur und Gesellschaft« zu verweisen, in dessen dritter Abteilung ich jene Einwände genügend entkräftet zu haben glaube, und wo auch im Anschluss daran die wichtige Kapitalfrage eingehend erörtert ist.Nur das mag hier nicht unerwähnt bleiben, dass der Einfluss des Erbrechts im Vergleich mit dem Eigentumsrechtals Antrieb zur Arbeitals ein ziemlich untergeordneter betrachtet werden darf. Allerdings können wir alle Tage von solchen, welche einer übertriebenen Sparsamkeit huldigen und unnötigerweise Schätze aufhäufen, die Versicherung hören,dass sie nur für ihre Kinder sparten. Aber derjenige müsste ein schlechter Kenner der menschlichen Natur sein, der dieser Versicherung einen mehr als sehr bedi41ngungsweisen Glauben beimessen wollte, Man spart zumeist für sich selbst und aus Freude am Besitz, und betrügt nur sich oder andere mit dem Vorwand, dass man es der Nachkommen halber thue, — was ja schon daraus erhellt, dass gerade unter denjenigen, welche keine Leibeserben haben, die grössten Geizhälse und Sparsimpel angetroffen werden. Im Gegenteil würde es ein viel natürlicherer Gesichtspunkt sein, wenn solche, die ihre Reichtümer oder ihren Wohlstand durch eigne Anstrengung erworben haben, von ihren Kindern oder Erben dieselben Anstrengungen, dieselbe Arbeit verlangten oder erwarteten, statt dass sie sich mit Anstrengung aller Kräfte bemühen, denselben ein Lotterbette zu bereiten, auf dem sie sich von Kindesbeinen an nur behaglich auszustrecken haben. Wir könnten in dieser Beziehung von den Tieren lernen, welche ja auch mit rührendster Sorgfalt für die Ernährung und Erziehung ihrer Kleinen sorgen, aber dieselben von dem Augenblick an, wo sie im stande sind, sich durch eigne Anstrengung zu erhalten, sich selbst überlassen. So sollte esmutatis mutandisauch bei den Menschen sein. In der That hat sich Verfasser während seines Aufenthaltes in Amerika erzählen lassen, dass dort, namentlich in der Stadt Newyork, sehr reiche Familien die Gewohnheit haben, einen grossen oder grössten Teil ihres Vermögens wissenschaftlichen, künstlerischen oder humanitären Anstalten zuzuwenden oder zur Gründung sog. Philantropien herzugeben und ihre Angehörigen auf diese Weise zur Arbeit zu zwingen, geleitet von dar Erfahrung, dass Söhne sehr reicher Familien in dem Bewusstsein dieses Reichtums sehr häufig in Faulheit und Liederlichkeit verderben. Aber im ganzen mögen dieses wohl nur42rühmliche Ausnahmen sein. Denn Reichtum und Geld bergen leider eine dämonische Gewalt der Anziehung in sich, welche diejenigen, die einmal auf diesem Wege sind, nicht ruhen und die Begierde nach mehr in demselben Grade wachsen lässt, in welchem dieselbe befriedigt wird. Der Durst nach Geld und Besitz hat daher das Eigentümliche, dass er durch Befriedigung nicht gestillt, sondern nur stärker angeregt wird. Gleichzeitig übt diese Befriedigung bei der Mehrzahl der Menschen einen nachteiligen Einfluss auf den Charakter aus, macht geizig, hartherzig und egoistisch und gibt nur ausnahmsweise einzelnen Anlass, mit ihrem Reichtum aus eignem innerem Antrieb den schönen und edlen Seiten der menschlichen Natur Genüge zu thun.Alledem wird ein klug angelegtes Erbschaftssteuergesetz, welches das Erbschaftsamt ermächtigt, die Erbschaften im Namen des Staates mit Beschlag zu belegen und die Erbschaft, soweit es notwendig und zweckmässig ist, für die Kinder, im übrigen aber für den Staat zu verwalten, auf die wohltätigste Weise entgegenwirken. Es wird der übertriebenen Sparsamkeit, dem Geiz, der Habgier, dem nutzlosen Aufspeichern und der allzu grossen Anhäufung des Reichtums in den Händen einzelner einen gewissen Damm entgegensetzen, ohne dabei den Einzelnen desjenigen Antriebs zum Erwerb zu berauben, welcher in der ersten Sorge für die Nachkommenschaft und in der Liebe zur Arbeit ruht. Denn, wie Prof.Hallier6treffend bemerkt, »es kann kaum etwas Ehrloseres geben, als die Arbeit als eine Last zu betrachten und sie nicht um ihrer selbst willen hochzuschätzen. Wer gesund ist und bei guten körperlichen oder geistig43en Kräften, für den ist die Arbeit der höchste Lebensgenuss. Und der Reiche sollte so ehrlos sein, sich auf die Faulbank zu legen, weil er weiss, dass der Mehrerwerb nicht zum Verderben seiner Kinder, sondern zum Wohl des Staates, zum Wohl seiner Mitbürger verwendet wird? Ist jemand mit Glücksgütern gesegnet, so hat er doppelt und dreifach die Pflicht, sich durch Arbeit dieser Güter wert zu zeigen. Der Müssiggänger ist ehrlos.«Im Anschluss an diese schönen Worte darf man die gegründete Hoffnung aussprechen, das Bewusstsein, dass er mit seiner Arbeit nicht bloss für sich und die Seinigen, sondern auch bis zu einem gewissen Grade für die Gesamtheit wirkt, werde erhebend und veredelnd auf den Einzelnen wirken und damit jenen Zustand vorbereiten helfen, wo das Glück des Einzelnen mit dem Glück der Gesamtheit zusammenfällt, und wo somit der Einzelne das, was er auf der einen Seite zu verlieren glaubt, auf der andern wieder mit Zinsen zurückerhält.Was meinen dritten und letzten Vorschlag betrifft, so geht derselbe, wie bereits gesagt, auf Umwandlung des Staates in eine grosse, allgemeine, solidarisch verbundeneVersicherungsgesellschaftgegen Alter, Krankheit, Unfall, Invalidität, unverschuldete Not und Tod. Schon mit dieser einen Massregel würde der grösste Teil des sozialen Elends mit einem Schlage aus der Welt geschafft und die kostspielige, oft mehr Schaden als Nutzen bringende Armenpflege entbehrlich gemacht werden, Es würde keine Elenden und Verlassenen ohne eigne Schuld mehr geben, und das grosse Prinzip gesellschaftlicher Gegenseitigkeit würde zur Richtschnur n44icht bloss für einzelne Kreise, sondern für die ganze menschliche Gesellschaft werden. Die Gesellschaft selbst mit ihren verschiedenen Gliederungen würde dabei keine Änderung erleiden, sondern gerade so fortbestehen, wie bisher, und jedem Einzelnen würde gegeben oder geholfen werden je nach seinen Verhältnissen oder Bedürfnissen, seiner Lebenslage, seiner sozialen Stellung und nach den Opfern, welche er durch seine Arbeit oder sein Vermögen zur Erhaltung des Staates bringt oder gebracht hat. Allerdings wird man entgegnen, dass diese Opfer dadurch nicht vermindert, sondern wesentlich erhöht werden müssten. Aber eine solche Rücksicht kann nicht in das Gewicht fallen gegenüber den enormen Vorteilen einer derartigen Einrichtung, auch würde die Last dadurch, dass sie auf den Schultern aller Staatsbürger ohne Ausnahme ruht, für den Einzelnen nicht allzuschwer werden. Man vergesse nicht, welche enormen Opfer jetzt schon von privater Seite für alle die verschiedenen Versicherungs- und Ersparniszwecke gebracht, und welche kaum mehr erschwingliche Lasten den Gemeinden durch die fortwährend steigenden Ausgaben für Armenpflege auferlegt werden. Auch übersehe man nicht den enormen moralischen Vorteil, welcher darin liegt, dass jeder in dem Bewusstsein lebt und arbeitet, dass er nicht jeden Augenblick unverschuldet ein Ausgestossener oder Verlassener der Gesellschaft werden, oder dass seine Hinterbliebenen nicht die Beute des Hungers und Elends werden können; man vergesse endlich nicht, dass die materiellen Opfer, welche der Staat fortwährend zur Abwehr der Verbrechen gegen Person und Eigentum aufzuwenden genötigt ist, um ein sehr Bedeutendes reduziert werden müssten. Wenn der Staat, wie dieses z. B, im Grossherzogtum Hessen geschieht, jeden45einzelnen Gebäudebesitzer zwingt, an einer staatlichen Versicherung seines Besitzes gegen Feuersgefahr teilzunehmen, und auf diese Weise eine Solidarität aller hausbesitzenden Staatsbürger gegen Schädigung ihres Eigentums durch Feuer herstellt, warum soll er nicht das Recht haben, die gleiche Solidarität der Staatsbürger gegen die weit bedenklichere Schädigung durch Krankheit, Alter, Invalidität und Tod herzustellen? Und wie leicht und einfach würde eine solche Maschinerie zu lenken oder zu leiten sein im Vergleich mit den komplizierten und persönlich belästigenden Gesetzesbestimmungen desBismarckschen Staatssozialismus, in dem sich kaum ein Rechtsgelehrter zurechtzufinden vermag.Immerhin ist es mit Freuden zu begrüssen, dass die Einführung dieses Staatssozialismus den schlagenden Beweis dafür geliefert hat, dass die Notwendigkeit einer meinem Vorschlag ähnlichen Massregel in offiziellen wie parlamentarischen Kreisen genügend anerkannt ist. Nur wird man dabei leider allzusehr an das bekannte Sprichwort erinnert: »Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass.« An sich recht verdienstlich, ist dieser Staatssozialismus doch nur ein schwacher Versuch auf dem Wege sozialer Reformen und ganz unfähig das soziale Elend als solches zu heben. Ja er kann insofern gefährlich werden, als er, weil er nicht halten kann, was er verspricht, zu schädlichen Täuschungen führt und damit radikaleren Reformen entgegenwirkt. Dasselbe gilt von den vielen Privatwohlthätigkeitsanstalten gegen Bettel, Trunksucht, Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot u. s. w., sowie von den Bestrebungen zur religiösen, sittlichen oder intellektuellen Hebung der unteren Volksklassen oder zur Hebung der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe oder zur gemeinsamen Beschaffung von Produkti46ons- und Konsumtionsmitteln auf dem Weg der Selbsthilfe, oder von den Versuchen, das alte Innungswesen wieder neu zu beleben oder durch Feststellung eines Normallohnes und einer Normalarbeitszeit die Lage der arbeitenden Klassen zu verbessern, und dergl. Alle diese Dinge sind, wieBackhaus(a. a. O.) richtig bemerkt, Scheinmittel, Schönheitspflästerchen, welche wohl hier und dort den Anblick der sozialen Not verbergen oder eine vorübergehende Linderung herbeiführen, aber in der Tiefe das Übel weiter wuchern lassen.Ebenso unzureichend wie der Staatssozialismus ist das private Versicherungswesen und dabei mit so vielen und grossen Nachteilen behaftet, dass darausBismarcksPlan zur Verstaatlichung des Lebensversicherungswesens hervorwuchs, ein Plan, welcher bekanntlich an dem Widerspruch der Parlamentarier und Manchester-Männer gescheitert ist. Übrigens ist mein Vorschlag wesentlich verschieden von jenem Plan, da nach demselben die Versicherung nicht freiwillig, sondern obligatorisch für jeden Staatsbürger sein soll, je nach dessen Stand, Vermögenslage oder Arbeitsverdienst. Sollten die Staatseinkünfte für den beabsichtigten Zweck nicht ausreichen (was bei Annahme meiner beiden ersten Vorschläge kaum denkbar wäre), so müsste der Versicherungsbeitrag als Steuer erhoben werden, so lange der Versicherte arbeitsfähig ist.Die Ausführung weiterer Einzelheiten würde auch hier wieder zu weit führen. Ich erlaube mir daher auf einen im zweiten Band meiner Schrift »Aus Natur und Wissenschaft« enthaltenen Aufsatz über die Übernahme des Lebensversicherungswesens durch den Staat zu verweisen.Dieses sind die Grundzüge de47r von mir in Vorschlag gebrachtenSozialreformim Gegensatz zu derjenigen derSozialdemokratie, einer Reform, welche selbstverständlich nur auffriedlichemWege durchgeführt werden soll und kann, und zwar nur durch Gewinnung einer grösseren Zahl einflussreicher Männer auf dem Wege allmähliger Überzeugung.Zwar versichert uns die Sozialdemokratie ebenfalls, dass sie nur auf friedlichem Wege ihr Ziel zu erreichen wünsche; aber dieses dürfte doch nur eine Klugheits-Versicherung sein. Schon das Wort »Demokratie« deutet auf Volksherrschaft und damit auf eine Umwälzung der politischen Verhältnisse, Ehe ich indessen auf nähere Darlegung des wichtigen Unterschiedes vonSozialreformundSozialdemokratieeingehe, bedarf es vorher der Bemerkung, dass meine Vorschlage gar nichts mit Kommunismus zu thun haben. Ich beabsichtige weder eine Aufhebung des Privateigentums, noch eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, sondern ganz im Gegenteil eine grössere Entfaltung oder Entwicklung der letzteren durch Entfernung der den Einzelnen hemmenden Schranken im Kampfe um das Dasein, sowie dadurch, dass im Notfall die Ergreifung der hilfreichen Hand des Staates jedem offen steht, letzteres nicht als ein Almosen, sondern als ein durch geleistete Arbeit erworbenes Recht. Wer unter solchen Umständen und bei freier Bahn für Entfaltung seiner Kräfte nichts leistet, der verdient sein Schicksal. Er geht nicht an den Umständen oder an der Ungerechtigkeit der Gesellschaft, sondern an sich selbst zu Grunde.Zwar ist der Kommunismus an sich durchaus nicht etwas so Schreckliches und Monströses, wie sich die meisten Menschen vorzustellen pflegen. Man kann sich, wie bereits bemerkt, sehr wohl einen Staat auf kommunistischer Grundlage vorstellen, in welchem alles Besitztum gemeinsam und48die Arbeit ganz freiwillig sein würde — vorausgesetzt, dass die durch lange Jahre und entsprechende Gesellschaftszustände grossgezogenen egoistischen Triebe und Neigungen der menschlichen Natur sich in altruistische umgewandelt hätten, was natürlich nur sehr langsam und allmählich geschehen könnte. Auch sind durchaus nicht alle bis jetzt bekannten kommunistischen Versuche misslungen, und da, wo sie misslungen sind, ist dieses oft weniger Folge innerer Unmöglichkeit, als vielmehr des Drucks äusserer ungünstiger Umstände inmitten einer auf ganz anderen Grundlagen aufgebauten Gesellschaftsordnung gewesen.7Besteht doch schon im jetzigen Staats- und Gemeindeleben eine nicht geringe Menge kommunistischer Einrichtungen, die sämtlich, wenn die einseitige und engherzige Manchester-Doktrin richtig wäre, mehr oder weniger ausgemerzt werden und der fast immer unzureichenden Privatthätigkeit überlassen bleiben müssten. Man denke nur an die Steuern und deren mannigfache Verwendung zu Zwecken des Gemeinwohls, an die Staatsschulden, an denen jeder Einzelne partizipiert, an die Militärpflicht, welche jeden Einzelnen nötigt, selbst Leben und Gesundheit im Interesse der Gemeinschaft aufzuopfern, an die sog. Expropriationsgesetze, an das vom Staat auf öffentliche Kosten, geleitete Unterrichtswesen und an den Schulzwang, an Eisenbahnen, Strassen und öffentliche Bauten, an Staatsposten und Staatstelegraphen, an das öffentliche Gesundheitswesen, an Gemeinde-Versorgung und Armenpflege, an staatliche Massregeln zur Hebung der Landwirtschaft, an49die staatliche Beaufsichtigung von Fabriken, Bergwerken, Banken, Häuserbau u. s. w., an öffentliche Brunnen, Museen, Bibliotheken, Promenaden, Versorgungshäuser, Hospitäler u. s. w. Alle diese Dinge, jede Besteuerung der Bürger von Staats- und Gemeindewegen zu andern Zwecken, als Polizei, Rechtspflege und Militär, also für den Schutz des Individuums nach innen und aussen, sind mehr oder weniger sozialistische oder kommunistische Einrichtungen, welche der Manchester-Doktrin, die in dem Staat nur eine Polizei-Anstalt zur Sicherung von Person, Eigentum und öffentlicher Sicherheit erblickt, also denselben gewissermassen die Rolle eines bezahlten Schutzmannes spielen lässt, direkt zuwiderlaufen.Aber alles dieses hindert nicht, dass zur Zeit eine noch so starke und allgemeine Abneigung der Menschen gegen jede Art kommunistischer Staatsgestaltung besteht, dass jedes weitere Wort darüber als überflüssig erscheint. Es müssten erst, wie gesagt, lange Jahre des Altruismus und Kollektivismus vorausgegangen sein, um dieser Abneigung einigermassen Herr werden zu können.Einstweilen muss es genügen, wenn man im Stande sein wird, an der Hand der von mir gemachten Vorschläge eine grössere Ausgleichung zwischen Staats- und Privatbesitz oder zwischen den Interessen des Einzelnen und denen der Gesamtheit herbeizuführen. Es ist dasselbe Programm, welches der berühmte National-ÖkonomSchäfflein seiner »Quintessenz des Sozialismus« aufgestellt hat, indem er diese Quintessenz in derErsetzung des Privatkapitals durch das Kollektiv-Kapitalfindet. Auch stimmt es im wesentlichen mit dem erweiterten Programm, welchesBebelin seiner Schrift über »die Frau« für den Sozialsta50at der Zukunft voraussetzt, wenn er verlangt, dass die Begriffe von Staat und Gesellschaft sich künftighin decken, und dass der heutige Gegensatz zwischen sozialer und politischer Organisation verschwinden solle.Die Wohlthätigkeit einer solchen Einrichtung oder einer Versöhnung zwischen Einzel- und Gesamt-Interessen kann nicht besser deutlich gemacht werden, als durch eine Vergleichung des staatlichen Organismus mit den Einrichtungen des tierischen oder menschlichen Organismus. Hier findet eine fortwährende Strömung der Lebenssäfte von der Peripherie nach dem Zentrum und umgekehrt von dem Zentrum nach der Peripherie statt. Je lebhafter und ungehinderter diese Strömung vor sich geht, um so besser ist der Stand der Gesundheit und des Wohlseins, während Stockungen dieses Säfteaustausches an einzelnen Stellen des Körpers Krankheit und Verderben herbeiführen.Ebenso verhält es sich im Staat und in der menschlichen Gesellschaft, welche sich um so wohler befindet, je lebhafter der Austausch und Ausgleich zwischen Privat- und Gesamtleistung ist. Die grossen Privatvermögen gleichen den Eiterbeulen oder Blutstockungen, welche, indem sie sich an einzelnen Stellen festsetzen, den beschriebenen Austausch stören und verderblich auf den Gesamt-Organismus zurückwirken. Durch die Wirkung meiner Vorschläge wird eine solche Störung ferner nicht mehr möglich sein. Denn sie bewirken ein fortwährendes Zurückströmen des Privatbesitzes in den Besitz der Gesamtheit und von da wieder eine Verteilung nach der Peripherie oder unter die Einzelnen. Die grosse Staatskasse muss gewissermassen das Herz des staatlichen Organismus bilden, welches einerseits seinen befruchtende51n und ernährenden Inhalt durch zahllose Kanäle in die Organe und Gewebe des staatlichen Körpers treibt und denselben andrerseits aus ebensovielen Kanälen und Adern wieder an sich saugt. Ohne das verhasste kommunistische »Teilen« wird gewissermassen in jedem einzelnen Augenblick »geteilt« und ein Zustand hergestellt, in welchem das schöne, bereits öfter zitierte Wort »einer für alle und alle für einen« zur Wahrheit wird.»Der Heimfall aller Güter an den Staat nach dem Tode ihrer Erwerber«, sagt M.Nordau(a. a. O.) »schafft ein nahezu unerschöpfliches gemeinsames Vermögen,ohne den individuellen Besitz aufzuheben. Jedes Individuum hat dann ein Eigen- und ein Gesamt-Vermögen, wie es einen Tauf- und einen Familien-Namen hat.... Indem das Individuum für sich arbeitet, arbeitet es zugleich für die Gesamtheit, welcher eines Tages der ganze Überschuss seines Erwerbs über den Verbrauch zu gute kommen wird. Das Gesamtvermögen bildet das ungeheure Sammelbecken, welches aus dem Überfluss der einen dem Mangel der andern abhilft und nach jedem Menschenalter die immer wieder entstehenden Ungleichheiten in der Güterverteilung ausgleicht, welche Ungleichheiten die Vererbung im Gegenteil fixiert und mit jeder Generation schroffer macht.«Ganz verschieden von diesem, auf friedlichem Wege durchzuführenden Programm derSozialreformist dasjenige derSozialdemokratie, welche, wenigstens in Deutschland, zur Zeit an der Spitze der ganzen sozialistischen Bewegung steht und die offen ausgesprochene Hoffnung nährt, Staat und Gesellschaft mit der Zeit in ihrem Sinne umwandeln zu können, Diese Hoffnung ist eine trüge52rische und wird es auch wohl bleiben. Der Hauptvorwurf, den man der Sozialdemokratie machen kann und machen muss, ist der, dass sie den Begriff der Sozialreform und der sozialen Frage überhaupt viel zu enge fasst. Denn sie macht aus der grossen Gesellschaftsfrage, welche die ganze Menschheit zu umfassen hat, eine eng begrenzteArbeiterfrage, welche obendrein, wenn man die Sache bei Licht betrachtet, nur eine bestimmte Klasse von Arbeitern umfasst. Die allgemeinen Menschheitsrechte und Menschheitsinteressen schliessen selbstverständlich auch die Rechte und Interessen der Arbeiter ein, während nicht das Umgekehrte der Fall ist und die Rechte und Interessen der Arbeiter (im engeren Sinne) nicht die allgemeinen Menschheitsrechte einschliessen. Auch die Hoffnung der Sozialdemokraten, dass sie, zunächst und aus praktischen Gründen von den Interessen und Rechten der handarbeitenden Klassen ausgehend und auf dieselben gestutzt, mit der Zeit dahin kommen werden, auch die allgemeinen Menschheits-Interessen in Angriff zu nehmen oder die grosse soziale Frage zu lösen, dürfte, wie noch näher gezeigt werden wird, eine sehr illusorische sein.Der eigentliche Vater der heutigen Sozialdemokratie istFerdinand Lassalle, welcher durch sein Auftreten im Beginn der sechziger Jahre die damals fast überall sich bildenden Arbeiterbildungsvereine und die nachSchulze-Delitzsch'schem Muster errichteten Konsum-, Rohstoff- und Vorschuss-Vereine mit einem Schlage zu Fall und durch seine Versprechungen künftiger Seligkeiten die Masse der Arbeiter auf seine Seite brachte. Auch wird er nebenKarl Marx, welcher als der geistige Vater der ganzen Bewegung anzusehen ist, immer noch von der Masse der Sozialdem53okraten als eine Art Apostel oder Heiliger verehrt, obgleich seine Theorien längst als falsch erkannt und selbst von der heutigen Schule der Sozialdemokratie mehr oder weniger verlassen sind. Insbesondere hat sich seine grosse Hoffnung auf das allgemeine Stimmrecht, vermittelst dessen, wenn einmal eingeführt, er alle seine Pläne zu erreichen hoffte, als durchaus illusorisch erwiesen. Wir sind in Deutschland bereits seit über zwanzig Jahren im Besitze des allgemeinen Stimmrechts oder des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Wahlen zur obersten Vertretung des deutschen Volkes oder des Reichstags. Und was ist während dieser langen Zeit mit Hilfe einer bis dahin unerhörten Agitation von den sozialdemokratischen Führern erreicht worden? Dass ein verhältnismässig kleines Häuflein ihrer Anhänger, welches allerdings durch Rührigkeit und Talent die schwache Zahl einigermassen wett macht, Sitz und Stimme im deutschen Reichstag erlangt hat, während sich z. B. der Einfluss derkatholischenWahlleitung mehr als dreimal so stark erwiesen hat. Allerdings hat sich die sozialdemokratische Partei neuerdings mit aller Macht auf den Versuch geworfen, ihre Agitation auf das Land zu Übertragen und die grosse Masse der ländlichen Bevölkerung, welche ja bei allgemeinen Wahlen in der Regel den Ausschlag giebt, für sich zu gewinnen. Aber man kann fast mit Bestimmtheit voraussagen, dass dieser Versuch bei dem überwiegend konservativen Sinn der Landbevölkerung und deren politischer Apathie scheitern wird. Sollte dieses aber nicht der Fall sein und sollte der von den Sozialdemokraten gehoffte Erfolg wirklich früher oder später eintreten oder auch nur in Aussicht stehen, so würden die besitzende54n und im Besitze der Gewalt befindlichen Klassen der Gesellschaft langst dafür gesorgt haben, dass eine solche Umänderung oder Einschränkung des allgemeinen Wahlrechts, die ein derartiges Resultat unmöglich machen würde, eingetreten wäre. Es ist ein sehr naiver Glaube der Sozialdemokraten, dass sich die herrschenden Klassen der Gesellschaft an der Hand des allgemeinen Stimmrechts einfach den Hals würden zudrehen lassen; denn niemand lässt sich gutwillig abschlachten. Daher die Durchführung des sozialdemokratischen Programms schliesslich nur durchGewaltmöglich sein würde. Aber selbst in diesem Falle würde eine solche Herrschaft unmöglich von langer Dauer sein, da eine Beherrschung der Bildung durch die Unbildung ein Unding und nur zeitweise möglich ist. Schon der griechische PhilosophXenophaneshat den beherzigenswerten Ausspruch gethan: »Besser als die Stärke von Männern und Rossen ist die Einsicht.«Dazu kommt, dass eine Organisation der gesamten Arbeit von Staatswegen, wie sie die Sozialdemokratie anstrebt, eine reine Utopie ist und immer eine solche bleiben wird. Die menschliche Arbeit in ihrer Gesamtheit ist ein viel zu kompliziertes und mannigfaltiges, durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage beherrschtes Räderwerk, als dass sich dasselbe auf büreaukratische Weise beherrschen oder regeln liesse. Wollte man eine solche Beherrschung dennoch durchführen, so würde und müsste daraus eine unerträgliche Büreaukratie und Tyrannei und eine Beschränkung der persönlichen Freiheit resultieren, welche zehnmal schlimmer wäre, als die gegenwärtige Beschränkung durch den monarchisch-büreaukratischen Staat, Der grosse amerik55anische Bodenbesitz-ReformatorHenry George, dem gewiss niemand eine tiefe Einsicht in nationalökonomische Verhältnisse abstreiten wird, nimmt keinen Anstand, eine solche Organisation der Arbeit von oben herab geradezu als »egyptische Despotie« zu bezeichnen.In gleicher Weise nennt der entschiedene SozialistTh. Hertzka8die »Tyrannei einer solchen Arbeitsordnung unerträglich« und Freiheit und Gerechtigkeit unvereinbar mit dem »unerhörtesten Zwange, der jemals geübt worden ist.« Dazu wäre die in solcher Weise geübte soziale Gerechtigkeit der »Tod alles Fortschritts und aller Zivilisation, In einer Gesellschaft, in der alles arbeiten muss, um nur auskömmlich satt zu werden, könnte es keine Wissenschaften, keine Künste, keine Freiheit und kein Glück geben.«Wer kennt nichtEugen Richterssozialdemokratische Zukunftsbilder? Es mag darin manches verzeichnet oder falsch aufgefasst oder übertrieben sein; aber im grossen und ganzen ist doch der unerträgliche Zustand, der die Folge einer solchen büreaukratischen Beherrschung der Arbeit sein müsste, richtig und wirkungsvoll gekennzeichnet. Die Sozialdemokraten werden zwar das alles nicht Wort haben wollen; aber solange sie sich nicht deutlicher als bisher über die Art und Weise erklären, wie sie sich ihren Zukunftsstaat vorstellen, müssen sie sich derartige Imputationen schon gefallen lassen.Eine ebensolche Unmöglichkeit, wie die Organisation56der gesamten Arbeit, ist die Erzielung des vollen Arbeitsertrages für den einzelnen Lohn-Arbeiter, wie sie die Sozialdemokratie verlangt. Es ist dies eine geradezu unbegreifliche Forderung. Wo bliebe unter solchen Umständen die Belohnung der (geistigen oder körperlichen) Arbeit des Unternehmers, des Fabrikherrn, des Geschäftsgründers? Wo das Risiko? Wo die Geschäftskrisen? Wo die Verzinsung des Kapitals? Wo die Belohnung jenes erfinderischen oder organisatorischen Genies, welches unter Umständen die alleinige Seele des ganzen Geschäfts ist? Soll z. B. der Ausläufer oder »Druckerteufel« einer Zeitung oder eines litterarischen Unternehmens, welches der Thätigkeit eines talentierten Schriftstellers und eines unternehmenden Verlegers seine Entstehung und seine Prosperität verdankt, gleichen Anteil an dem Ertrag des Geschäftes haben, wie der Gründer und Leiter desselben? Soll der taglöhnende Maurer, welcher bei dem Bau eines Hauses keine andre Aufgabe hat, als einen Stein auf den ändern zu setzen, denselben Anteil an dem Ertrag des fertigen Hauses haben, wie der Baumeister und Kapitalist, welcher die dazu nötigen Mittel geliefert bat? Wer würde im Angesicht einer solchen Nötigung überhaupt noch Geschäfte machen oder Fabriken gründen wollen, bei denen er der Hilfe von Lohnarbeitern bedarf? Und welcher Kapitalist würde so einfältig sein, sein Geld für solche Unternehmungen herzuleihen, bei denen er nicht mehr verdient, als der einzelne Lohnarbeiter? Alle von Seiten der Sozialdemokratie auf die kapitalistische Produktionsweise und auf das sog. Lohnsystem gehäuften Vorwürfe passen in der Regel nur auf ganz grosse industrielle Unternehmungen und auf solche Geschäfte, bei denen es sichnurum arbeitende Hände und um Kapital handelt, während überall dort, wo ein Geschäft oder eine57Fabrik durch die schöpferische Thätigkeit eines Einzelnen bestellt, der Mehrgewinn oder die fälschlicherweise sog. »Kapitalprämie« des Unternehmers oder Organisators sehr wohl verdient ist.»Der schier unbegreifliche Irrtum aller bisherigen sozialen Schulen«, sagtHertzka(a. a. O.), »liegt darin, dass sie, um das Anrecht des Arbeitenden auf den vollen Ertrag zu verteidigen, den Nachweis liefern zu müssen glaubten, dass Arbeit allein produktiv sei, Unternehmerschaft, Boden und Kapital aber nicht. Dies könnte nur dadurch geändert werden, dass der Arbeitende sein eigener Unternehmer, Grundbesitzer und Kapitalist wird u. s. w.«Allerdings wollen die Sozialdemokraten für den einzelnen Unternehmer den Staat, welcher alle Produktionsmittel liefern soll, substituieren. Aber sie vergessen, dass der Staat dabei ganz denselben Nachteilen unterliegt oder dieselben Gefahren läuft, wie der Privat-Unternehmer. Der Staat ist ja kein Zauberer, welcher nur die Wünschelrute zu bewegen braucht, um Schätze aus den Tiefen der Erde hervorzuzaubern, oder der das christliche Wunder mit den Broten und Fischen wiederholen könnte, sondern er ist nur die Gemeinschaft aller Bürger; und was er dem einen giebt, muss er aus der Tasche des andern nehmen. Nur ein Staat, welcher durch Bodenrente und Erbschaftsbeschränkung ungewöhnlich grosse Geldmittel in die Hand bekäme, könnte möglicherweise so weitgehenden Anforderungen gerecht werden. Dazu kommt, dass der volle Arbeitsertrag, wie ihn die Sozialdemokraten verlangen, nicht einmal als ein besonders grosses Glück für den einzelnen Lohnarbeiter angesehen werden könnte. Wenn eine Fabrik, welche einige hundert Menschen beschäftig58t, ihrem Besitzer oder Gründer einen noch so grossen Reingewinn abwirft, so würde dieser Reingewinn, welcher allerdings in der Hand des Einzelnen sehr gross erscheint, wenn er gleichmässig unter alle Arbeiter verteilt würde, die Glücksumstände des einzelnen Arbeiters nur sehr wenig zu verbessern im Stande sein.Die Sozialdemokraten wissen so vieles und manches von den nachteiligen Wirkungen des Klassenstaates und der Klassenherrschaft zu berichten; aber sie selbst streben eine Klassenherrschaft weitgehendster Art an, indem sie den industriellen und Fabrikarbeiter zu einer bevorzugten Gesellschaftsklasse erheben, der alle Kräfte des Staates mehr oder weniger dienstbar gemacht werden sollen — wobei sie überdies ganz vergessen, dass ihre Vorschläge immer nur einem verhältnismässig kleineren Teil der arbeitenden Bevölkerung zugute kommen, und dass ein sehr grosser Teil übrig bleibt, welchem durch Beschaffung der sog. Produktionsmittel von Staatswegen überhaupt nicht zu helfen ist, da sie solcher Produktionsmittel gar nicht bedürfen. Man denke z. B. nur an die sehr grosse Klasse derDienstbotenund an so viele andre Zweige menschlicher Thätigkeit, welche sich in jene Schablone nicht einfügen lassen! Überdies passt jene Schablone, wie bereits gesagt, nur für solche Fabrikationszweige, welche bereits fix und fertig dastehen und nichts weiter als Kapital und arbeitender Hände bedürfen, während ihre Anwendung bei neuen oder in der Entwicklung begriffenen Fabrikationszweigen mindestens ihre grossen Gefahren oder Unzuträglichkeiten haben müsste.Wie mit dem Wort »Arbeiter«, so wird auch mit dem.59Wort »Proletarier« von der Sozialdemokratie schreiender Missbrauch getrieben. »Ist es nicht wahrhaft tragikomisch«, fragtBackhaus(a. a. O.) »das Proletariat zur herrschenden Klasse machen zu wollen? Zu einerKlasse, obgleich das Klassenwesen die Sozialisten und Kommunisten mit grimmigem Hass erfüllt? Und nun gar zurherrschendenKlasse, obgleich sie die Herrschaft keiner Klasse dulden wollen? Ist es nicht ein unlösbarer Widerspruch, die höchste politische Macht im Proletariat konzentrieren und alle Produktionsinstrumente in seinen Händen vereinigen zu wollen? Als ob die vielen andern Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, welche nicht zum Proletariat, auch nicht zum Proletariat als herrschender Klasse gehören, einfach nicht da wären oder, wenn als daseiend betrachtet, als willenlos, gefühllos, kopflos, als lebendig tot angesehen werden könnten.... Jedenfalls könnte das Proletariat als solches diese ihm zugedachte Rolle nicht durchführen, ohne seiner Eigenschaft als Proletariat verlustig zu gehen. Denn es könnte doch nur der Ausdruck des Lächerlichen in seiner höchsten Potenz sein, die Beherrscher der Gesellschaft als »Proletariat« zu bezeichnen, d. h. als die arme, kümmerlich von der Hand in den Mund lebende Arbeiterbevölkerung, welche dem Staate nicht mit Geld, sondern nur mit ihren Kindern dienen kann u. s. w.«Nein — derwahreSozialismus will im Gegensatz zu diesem falschen Sozialismus keine Herrschaft einzelner Gesellschaftsklassen oder keine Bevorzugung einzelner Berufskreise, sondern eine Befreiung derganzenGesellschaft (mit Einschlug auch dergeistigenArbeiter, welche oft noch weit schlimmer daran sind, wie die körperlichen Arbeiter) durch eine grössere Ausgleichung des Besitzes und der Mittel, mit denen jeder Einzelne seinen Kampf um das Dasein60kämpfen muss. Im Grunde sind wir ja alle Arbeiter oder sollten es wenigstens sein, mit Ausnahme der verhältnismässig wenigen, welche von dem aufgespeicherten, Fett ihrer Vorfahren leben. Wer nicht arbeitet, soll oder sollte auch nicht essen. Aber dabei soll der einzelne keine Arbeitsmaschine sein, wie im sozialdemokratischen Staat, sondern seine volle persönliche Freiheit und Selbständigkeit geniessen. Denn nur dadurch, dass an die Seite derpolitischenFreiheit auch diewirtschaftlicheBefreiung gesetzt wird, kann die Lösung des sozialen Problems gefunden werden. »Sozialdemokratiedagegen bedeutet, wie schon der Name besagt, bloss eine Änderung der Person des auf sozialem Gebiete Herrschenden; statt der vielen kleinen Herren soll es einen einzigen geben, das ganze Volk. Gewiss, dieser alleinige Herrscher würde den kleinen Tyrannen gegenüber den gewaltigen Vorzug haben, dass er sich das Wohl aller zum Zwecke setzte, während diese nur auf ihr eigenes Wohl bedacht sind. Aber die Freiheit ist selbst dem wohlwollendsten Herrscher vorzuziehen u. s. w.« (Hertzka.)Wenn man alles das bedenkt, so muss man unwillkürlich auf die Vermutung kommen, dass die ganze sozialdemokratische Bewegung von den Führern mehr als Mittel zum Zweck, denn als wirkliche Zukunftspolitik betrachtet wird. Dieselben sind viel zu gescheit oder einsichtig, um nicht den riesigen Unterschied zwischen friedlicher Sozialreform und gewaltsamer Sozialdemokratie zu begreifen. Aber sie sind einmal auf dem vonMarx-Lassalleangebahnten Wege zu weit vorwärts gegangen, um zurück zu können, und betrachten die von ihnen beherrschten oder geleiteten Arbeitermassen gewissermassen als Handhabe für eine spätere Verwir61klichung ihrer Zukunftspläne. In Bezug auf diese im Dunkel der Verborgenheit schwebenden Zukunftspläne hapert es denn freilich sehr, gewaltig. Man hat schon sehr häufig an die Führer der deutschen Sozialdemokratie das Verlangen gestellt, dass sie sich des Näheren über die Art und Weise auslassen möchten, in welcher sie sich die Gestaltung ihres sozialdemokratischen Zukunftsstaates vorstellten. Gewiss ist ein solches Verlangen sehr berechtigt, denn niemand wird so thöricht sein, sich ohne den dringendsten Anlass in eine Ungewisse Zukunft zu stürzen, wenn er nicht weiss, dass ihm diese Zukunft Besseres bringen wird als die Gegenwart. Wer die heutige Gesellschaftsordnung von Grund aus umgestalten will, hat doch vor allem andern die Verpflichtung, sich ein genaueres Bild von derjenigen Ordnung zu machen, welche an die Stelle jener gesetzt werden soll. Mit allgemeinen Versprechungen ist da nicht geholfen, Wenn die Arbeitermassen dennoch diesen allgemeinen Versprechungen vertrauen und denen folgen, welche sie ihnen machen, so erklärt sich dieses mit Leichtigkeit daraus, dass sie von dem an sich sehr berechtigten Gefühl der Unzulänglichkeit ihrer Lebenslage durchdrungen und bereit sind, jedem zu folgen, der ihnen Besserung dieser Lage verspricht, ohne sich viel Kopfzerbrechens über die Art und Weise dieser Besserung und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit ihrer Ausführung zu machen. Da sie nicht viel zu verlieren haben, so ist ihnen jede Änderung willkommen, bei welcher möglicherweise ein Gewinn in Aussicht steht. Anders ist es dort, wo die Aufgabe einer ernsten Prüfung solcher Zukunftspläne gebieterisch an den Denker und Menschenfreund herantritt.Aber welche Antwort erhält derselbe auf seine62Frage nach der sozialdemokratischen Zukunft?Dass man diese Zukunft nicht voraussehen und heute noch nicht sagen könne, wie sich die Dinge später gestalten würden. Zunächst käme es nur darauf an, den alten Klassenstaat einzureissen, das übrige werde sich dann schon von selbst machen. Man könne die Entwicklung der gesellschaftlichen Dinge in der Zukunft ebensowenig voraussagen, wie man die Entwicklung der Geschichte voraussagen könne; noch weniger könne man ihr jetzt schon Gesetze vorschreiben; eines werde sich schon ganz von selbst aus dem andern entwickeln.Eine solche Antwort ist freilich sehr bequem, aber in keiner Weise genügend, und kein verständiger oder aufrichtiger Sozialist kann sich damit zufrieden geben. Man schüttet ein trübes Glas Wasser nicht aus, bevor man ein reines vor sich stehen hat, und jedenfalls ist der jetzige Zustand mit allen seinen Mängeln besser, als die Aussicht auf ein dunkles, sozialdemokratisches Chaos, von dem niemand sagen kann, ob sich daraus Gutes oder Schlechtes für die Menschheit entwickeln wird.Unter solchen Umständen bleibt behufs Beurteilung des sozialdemokratischen Programms nichts übrig, als sich an dasjenige zu halten, was darüber offiziell bekannt geworden ist. Eine solche Veröffentlichung liegt vor in dem auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Erfurt (14.-21. Oktober 1891) beratenen und beschlossenen Programm der Partei. Wenn man nun dieses Programm unbefangen prüft, so findet man sehr bald Grund zu erstaunen teils über die verhältnismässige Bescheidenheit der darin aufgestellten Forderungen, teils über das Nichtssagende, Überflüssige oder sich selbst Widersprechende einzelner derselben. Auch63ist das Programm im Grunde noch ganz nach Marx-Lassalleschen Grundsätzen gemodelt, obgleich man diese Grundsätze längst als nicht mehr haltbar oder bestimmend erklärt hat.Was dabei zunächst die in der Einleitung verlangte »Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel) in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion« betrifft, so kann eine solche allgemein hingestellte Forderung ohne näheres Eingehen in die Einzelheiten einer so durchgreifenden Massregel kaum mehr als den Wert einer Phrase beanspruchen, — abgesehen davon, dass die darin liegende Organisation der gesamten Arbeit von Staatswegen, wie bereits nachgewiesen wurde, als eine Utopie oder Unmöglichkeit betrachtet werden muss.Gehen wir zu den einzelnen Programmpunkten über, so sind dieselben eigentlich weit mehr politischer, als sozialistischer Natur und übereinstimmend mit den Forderungen der politischen Demokratie. An erster Stelle figuriert die schon vonLassalleso scharf betonte Forderung desallgemeinen Stimm- oder Wahlrechts— eine Forderung, welche ja an solcher Stelle deswegen als überflüssig erscheint, weil sie einmal zum Teil bereits erreicht ist, und weil sie zweitens mit einer der bekanntesten und am wenigsten bestrittenen Forderungen der politischen Demokratie zusammenfällt. Auch muss hier nochmals an die bereits hervorgehobene Unzuverlässigkeit dieses Rechtes, sowie daran erinnert werden, dass dasselbe ein zweischneidiges Schwert ist, welches bei seiner unbehinderten Anwendung ebe64nsowohlgegenalsfürdie Sozialdemokratie entscheiden könnte. So lange die jetzige politische, soziale und religiöse Abhängigkeit der Wählermassen besteht, kann das allgemeine Stimmrecht nicht einmal als der wirkliche Ausdruck des Volkswillens betrachtet werden, ganz abgesehen davon, dass dieser allgemeine Volkswille durchaus nicht immer das Richtige trifft, sondern sich mitunter in den grössten Gegensätzen bewegt. Braucht man doch zum schlagenden Beweise dessen nur an das bekannte Plebiszit des dritten Napoleon zu erinnern, welcher nichtsdestoweniger wenige Jahre später, nachdem er den allgemeinen Hass der Nation auf sich geladen hatte, mit Schimpf und Schande davon gejagt wurde. Oder an die Proklamierung der Volkssouveränität in Frankreich im Jahre 1789, welche während eines ganzen Jahrhunderts nur fortwährend auf- und abwogende politische Kämpfe zwischen den verschiedensten Meinungen und Regierungsformen ohne positives Resultat zur Folge gehabt hat! Wenn der Arbeiter nach der Weisung seines Arbeitgebers, der Beamte nach derjenigen seiner Regierung, der katholische Wähler blindlings nach dem Kommando seiner Priester oder Kapläne stimmt, oder wenn der Bauer demjenigen zujubelt, der ihn durch Anwendung oratorischer oder materieller Mittel für sich zu gewinnen versteht, wenn endlich das Interesse des Volkes oder der Wähler selbst an der Wahl ein so geringes ist, dass es nur durch künstliche Aufstachelung erregt werden kann, so wird man zugestehen müssen, dass das Resultat einer solchen Wahl oft sehr wenig nach Vernunft und Gerechtigkeit schmecken wird. Die grosse Masse mit ihrer Unbildung oder Unwissenheit, ihrer Denkfaulheit, ihrer Unselbständigkeit und materiellen Abhängigkeit, ihrer Unterwürfigkeit unter65Herkommen und Gewohnheit oder mit ihrer ganzen grobmaterialistischen Weise, zu denken und zu fühlen, ist das grosse Hemmnis an der Uhr der Menschheitsentwicklung, welche diese Entwicklung zurückhält und oft die riesigsten Anstrengungen einer aufgeklärten und für das Wohl der Menschheit begeisterten Minderheit mehr oder weniger vereitelt.Das unbegrenzte Vertrauen der Sozialdemokratie in das allgemeine Stimmrecht für Verwirklichung ihrer Zukunftspläne dürfte daher zum mindesten als sehr zweifelhaft bezeichnet werden. Wäre dieses aber auch nicht der Fall, und sollte es gelingen, die Arbeitermassen so unter den Ruf ihrer Führer zu zwingen, dass diese auf dem Wege des allgemeinen Stimmrechts die politische Macht in ihre Hände zu bekommen Aussicht hätten, so würde man, wie bereits bemerkt, seitens der herrschenden Klassen längst einer solchen Eventualität durch geeignete Massregeln vorgebeugt oder aber sich auf einen ernsten Konflikt vorbereitet haben. Also bliebe auch hier wieder nur der Weg gewaltsamer Einwirkung oder der Revolution, deren Ausgang mindestens sehr zweifelhaft sein und welche vielleicht oder wahrscheinlich das Gegenteil des von der Sozialdemokratie Gewollten zur Folge haben würde.Die zweite der aufgestellten Forderungen verlangtdirekte Gesetzgebung durch das Volk, wobei es aber gänzlich unklar gelassen wird, wie man sich eine solche Einrichtung des näheren vorstellt Vielleicht hat man an die Schweiz gedacht, wo die Annahme oder Verwerfung wichtiger Gesetzesentwürfe durch direkte Volksabstimmung entschieden wird. Was aber in der kleinen Schweiz möglich ist, ist es nicht in grossen Staaten, wo eine solche Vo66lksabstimmung die grössten Unzuträglichkeiten haben müsste. Auch darf man nicht vergessen, dass diese Abstimmungen infolge der Dummheit und Unbildung der grossen Massen oft in sehr reaktionärem Sinne ausfallen und die wohlthätigsten Reformen vereiteln. In streng katholischen Ländern oder Gegenden wären davon die schwersten Gefahren für Geistes- und Gewissensfreiheit, welche hohen Güter doch auf der Fahne der Sozialdemokratie stehen, sicher zu erwarten.Der dritte Punkt verlangtVolkswehr an Stelle der stehenden Heere. So berechtigt eine solche Forderung an und für sich ist, so thöricht ist sie doch unter der Konstellation der augenblicklichen politischen, Verhältnisse. Für das zwischen zwei grossen, zum Angriff bereiten Militärmächten eingekeilte Deutschland würde die Erfüllung einer solchen Forderung der reine politische Selbstmord sein, abgesehen davon, dass die Vornahme einer so tiefgreifenden Umänderung uns für kürzere oder längere Zeit in einen Zustand militärischer Schwäche oder Unfähigkeit versetzen müsste, der uns zur willkommenen Beute unsrer raubgierigen Nachbarn machen würde.Was die diesem Programmpunkt angehängte Forderung der Schlichtungaller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege betrifft, so ist diese Forderung diejenige aller aufrichtigen Friedensfreunde, aber für die Gegenwart leider wie so viele andre sozialdemokratische Wünsche »verlorene Liebesmüh.«Der vierte Punkt verlangt mit Recht die Beseitigung aller polizeilichen Einschränkungen derfreien Meinungsäusserungund des67Versammlungsrechtes. In einem freien oder Volksstaat dürfte sich das so sehr von selbst verstehen, dass dessen Erwähnung in dem Programm als ganz überflüssig erscheint.Der fünfte Punkt verlangtpolitische und soziale Gleichstellung der Frau mit dem Manne, — eine Forderung, mit welcher auch nicht-sozialdemokratische Gelehrte und Schriftsteller vielfach übereinstimmen, welche also nicht als charakteristisch für das sozialdemokratische Programm angesehen werden kann.Dasselbe gilt von dem sechsten Punkt, welcher die so oft von allen vorgeschrittenen politischen Parteien verlangte und in Amerika längst durchgeführteTrennung des Staates von der Kircheverlangt.Nicht minder aber auch von dem siebenten Punkt, welcher Weltlichkeit der Schule und den bereits vielfach eingeführten obligatorischen, unentgeltlichenVolksunterrichtfordert.Der achte Punkt verlangt abermals Dinge, die längst als Forderungen liberaler Gesetzgebung anerkannt sind, wie Unentgeltlichkeit derRechtspflege, Berufungsrecht, Entschädigung unschuldig Verurteilter, Abschaffung der Todesstrafe, Dabei findet sich aber auch die Forderung derRechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Das Beispiel Amerikas, wo diese Einrichtung Korruption und Bestechlichkeit grossgezogen hat, hätte die Verfasser des Programms von der Einfügung dieses Punktes abhalten sollen.Die Unentgeltlichkeit des ärztlichen Beistandes(mit Einschluss der Totenbestattung), welche der neunte Punkt verlangt, mag ihre Vorteile haben, hat aber andrerseits auch ihre grossen Nachteile. Übrigens ist durch Einrichtung des Krankenkassenwesens dieser Forderung wenigstens bis zu einem gewissen Grade bereits Genüge gethan.Der zehnte Punkt bezieht sich auf die wichtige Frage derBesteuerung, über deren Einzelheiten bekanntlich die auseinandergehendsten Meinungen bestehen. Im allgemeinen decken sich die sozialdemokratischen Forderungen in diesem Punkt so ziemlich mit denjenigen aller Fortschrittsfreunde.An diese zehn Punkte schliesst sich eine Reihe von Forderungen an, welche speziell »zum Schutze der Arbeiterklasse« aufgestellt sind. Dabei muss denn vor allem wieder der Ausdruck »Arbeiterklasse« Wunder nehmen, da doch, wie bereits bemerkt, der erbittertste Kampf der Sozialdemokratie gegen alle Klassengegensätze und gegen den sogenannten »Klassenstaat« gerichtet ist. Wie lässt sich damit die Aufstellung einer besondern, von der übrigen Gesellschaft abgesonderten »Arbeiterklasse« vereinigen, unter welcher, wenn man der Sache auf den Grund geht, doch nur die besitzlosen Handarbeiter verstanden sein können? Warum sollen diese Handarbeiter eine besondre Klasse bilden? In einem richtig organisierten Staate sindalleArbeiter oder sollen es sein, einerlei ob sie mit Hand oder Fuss oder Kopf oder sonst irgendwie arbeiten; daher ein Gegensatz oder Unterschied zwischen »Arbeitern« im sozialdemokratischen Sinne und den Übrigen Staatsangehörigen gar nicht mehr gemacht werden kann. Dennoch verlangt das sozialdemokratische Programm für seine »Arbeiter« einen besonderen »Schutz des Staates« und zwar in folgenden Punkten:

»Das Eigentumsrecht,« sagtLaboulayein seiner preisgekrönten Schrift über die Geschichte dieses Rechts, »ist eine Schöpfung der Gesellschaft ... Jedesmal wenn die Gesellschaft etwas darin ändert, ist sie in ihrem Recht, und niemand kann sich dagegen im Namen eines ältern Rechtes auflehnen; denn vor ihr und nach ihr gibt es nichts. In ihr ruht die einzige Quelle und der Ursprung des Rechts.«Der Einzelne darf sein Erworbenes oder Ererbtes schon um deswillen nicht beliebig verschenken, weil sein Erwerb kein rein persönlicher, sondern nur möglich ist in der Gesellschaft und durch deren Mitwirkung. Eines der eklatantesten Beispiele dieser Art ist die bereits erwähnte enorme Wertsteigerung des Grundes und Bodens im Innern und in der Umgebung grosser, in der Entwicklung begriffener Städte, welche dem einzelnen Besitzer ohne jedes eigne Verdienst Millionen in den Schoss wirft und der Gesamtheit durch die enorme Steigerung der Wohnungsmieten keinen Nutzen,37sondern nur Schaden bringt. Es ist ein Zustand förmlicher Lohnsklaverei der Nicht-Besitzenden gegenüber den Besitzenden, welchem durch die Gesetzgebung längst ein Damm hätte entgegengesetzt werden sollen.Selbstverständlich könnte eine so durchgreifende soziale Massregel, wie die Beschränkung der Erbrechte, nicht plötzlich oder auf einmal, sondern nur allmählich und ohne allzu grosse oder allzu plötzliche Beleidigung privater Interessen in das Leben gerufen werden. Aber gerade in dieser Möglichkeit einer allmählich sich steigernden Einführung liegt ein Hauptvorteil des Vorschlags, wobei Praxis und tägliche Erfahrung der Theorie jederzeit zur Hülfe kommen oder unter die Arme greifen können. Auf diesem Wege wird es auch nicht schwer werden, zu einer Entscheidung darüber zu kommen, ob man bis zu einer gänzlichen Aufhebung der Erbrechte oder nur bis zu einer gewissen Grenze der Einschränkung gehen soll.Der Hauptnutzen oder Hauptvorteil des ganzen Vorschlags besteht in dessen ausgleichender Gerechtigkeit oder darin, dass jeder nur die Früchte seines eignen Fleisses, seiner eignen Tätigkeit und nicht diejenigen der Thätigkeit oder des Glücks seiner Vorfahren ohne jede eigne Bemühung gemessen würde. Söhne reicher Eltern haben in der Regel das Privileg, roh, unwissend, faul oder lüderlich zu sein, so dass grosser, namentlich unverdienter Reichtum oft mehr zum Fluch als zum Segen wird. Von Geburt Reiche oder Vornehme werden von den meisten Menschen als Wesen höherer Art angesehen, denen man sich nur mit einer gewissen scheuen Ehrfurcht nähern dürfe, obgleich diese Drohnen der Gesellschaft weit unter denen stehen, we38lche ihr Leben selbst gemacht haben. Dem berühmten und berüchtigten AusspruchProudhons»Eigentum ist Diebstahl« liegt insofern ein sehr berechtigter Gedanke zu Grunde, als nur der durch eigne Arbeit erworbene Besitz rechtmässiges Eigentum genannt werden kann, während der ohne eigne Bemühung ererbte Besitz sehr wohl als eine Art von Diebstahl an dem Vermögen oder an der Arbeitskraft der Gesamtheit betrachtet werden kann. Denn wenn der durch Erbschaft reich gewordene Teil der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade in einem Zustand von Wohlsein und verhältnismässigem Nichtsthun lebt, so ist dieses nur dadurch möglich, dass er sein Geld für sich arbeiten lässt, d. h., da das Geld nicht selbst arbeitet, durch die Leiden, die Arbeit und die Entbehrung ärmerer Mitmenschen, welche den Zins aufzubringen haben. Nicht dasjenige Eigentum soll angetastet werden, welches durch eignen Fleiss und eigne Sparsamkeit erworben worden ist, sondern nur dasjenige in gewissen Schranken gehalten werden, welches seine Entstehung dem Fleisse oder den Glücksumständen anderer verdankt. Wer darin eine Ungerechtigkeit erblicken wollte, müsste seine eignen Begriffe von Gerechtigkeit haben.Ein weiterer nicht hoch genug zu veranschlagender Nutzen oder Vorteil meines Vorschlags besteht darin, dass durch dessen Ausführung der übermässigen Anhäufung grosser Privatvermögen in einzelnen Händen, welche, wie bereits bemerkt, einen Staat im Staate, eine Geldmacht gegenüber der Staatsmacht darstellen, eine unübersteigliche Schranke gesetzt wird. Die enormen Nachteile einer solchen Anhäufung in politischer Beziehung sind namentlich dort bemerkbar, wo, wie z. B. in Amerika, die unglückliche Manchesterdo39ktrin herrschend ist, und wo mitunter grosse oder reiche Eisenbahngesellschaften einen ganzen Staat politisch völlig in der Gewalt haben. Die amerikanischen Eisenbahn-Direktoren spielen bei der enormen Ausdehnung und Wichtigkeit des dortigen Eisenbahnwesens in der Gegenwart eine ähnliche Rolle, wie sie die Feudalherren des Mittelalters gespielt haben, und brechen in Folge schlechter Verwaltung oder mangelhaften Bahnbaues jedes Jahr einigen hundert oder tausend Personen beinahe ungestraft die Hälse oder mindestens Arme und Beine. Ja, man verhehlt sich in Amerika nicht die Gefahr, dass sich mit der Zeit das Eisenbahn-Monopol sogar den Congress und die Bundesregierung dienstbar machen werde. Aber auch in Europa liegt die Gefahr oder Möglichkeit vor, dass der Einfluss grosser Geldmächte unter Umständen im Stande ist, über Krieg und Frieden zu entscheiden oder parlamentarische Körperschaften unter ihren Willen zu beugen. Ist ja doch das Geld heutzutage eine alles bestimmende Macht und Gott Mammon der einzige Gott, zu dem noch mit wahrer Inbrunst gebetet zu werden pflegt!Der letzte und hauptsächlichste Vorteil meines Vorschlags beruht aber darin, dass der Staat, ohne die verhasste Steuerschraube in Anwendung bringen zu müssen, auf die leichteste Weise in den Besitz hinreichender Geldmittel kommt, um alle im Interesse der Allgemeinheit notwendigen Massregeln durchführen zu können, wie Erziehung und Erhaltung der Kinder, wo die Einzelfamilie dazu nicht ausreicht, Unentgeltlichkeit des gesamten Unterrichts, Versorgung von Witwen und Waisen, Abschaffung des Pauperismus und unverschuldeter Arbeitslosigkeit, Beschaffung der Arbeits- oder Produktionsmittel, Besorgung des Verkehrswesens40u. s. w. Wenn man bedenkt, dass nach den Veröffentlichungen des preussischen Finanzministeriums allein in Preussen jährlichzwölfhundert Millionen Markvererbt werden — eine Schätzung, welche übrigens nach ändern viel zu gering ist und auf mehr als das Doppelte veranschlagt werden kann — so erhellt daraus, wie gross das Erträgnis einer solchen Massregel, obendrein im Verein mit dem staatlichen Bezug der Bodenrente, sein müsste.Natürlich hat man gegen dieselbe und ihre Ausführbarkeit eine Menge von Einwänden bereit, unter denen die zu befürchtende Beeinträchtigung des Erwerbstriebs, die Gefahr der Verschwendung und die Umgebung des Gesetzes durch Schenkung unter Lebenden neben befürchteter Schädigung der Familie die Hauptrolle spielen. Ein näheres Eingehen auf diese Einwände würde die Grenzen dieser kleinen Schrift überschreiten. Ich muss mich daher begnügen, auf mein Buch über die »Stellung des Menschen in Natur und Gesellschaft« zu verweisen, in dessen dritter Abteilung ich jene Einwände genügend entkräftet zu haben glaube, und wo auch im Anschluss daran die wichtige Kapitalfrage eingehend erörtert ist.Nur das mag hier nicht unerwähnt bleiben, dass der Einfluss des Erbrechts im Vergleich mit dem Eigentumsrechtals Antrieb zur Arbeitals ein ziemlich untergeordneter betrachtet werden darf. Allerdings können wir alle Tage von solchen, welche einer übertriebenen Sparsamkeit huldigen und unnötigerweise Schätze aufhäufen, die Versicherung hören,dass sie nur für ihre Kinder sparten. Aber derjenige müsste ein schlechter Kenner der menschlichen Natur sein, der dieser Versicherung einen mehr als sehr bedi41ngungsweisen Glauben beimessen wollte, Man spart zumeist für sich selbst und aus Freude am Besitz, und betrügt nur sich oder andere mit dem Vorwand, dass man es der Nachkommen halber thue, — was ja schon daraus erhellt, dass gerade unter denjenigen, welche keine Leibeserben haben, die grössten Geizhälse und Sparsimpel angetroffen werden. Im Gegenteil würde es ein viel natürlicherer Gesichtspunkt sein, wenn solche, die ihre Reichtümer oder ihren Wohlstand durch eigne Anstrengung erworben haben, von ihren Kindern oder Erben dieselben Anstrengungen, dieselbe Arbeit verlangten oder erwarteten, statt dass sie sich mit Anstrengung aller Kräfte bemühen, denselben ein Lotterbette zu bereiten, auf dem sie sich von Kindesbeinen an nur behaglich auszustrecken haben. Wir könnten in dieser Beziehung von den Tieren lernen, welche ja auch mit rührendster Sorgfalt für die Ernährung und Erziehung ihrer Kleinen sorgen, aber dieselben von dem Augenblick an, wo sie im stande sind, sich durch eigne Anstrengung zu erhalten, sich selbst überlassen. So sollte esmutatis mutandisauch bei den Menschen sein. In der That hat sich Verfasser während seines Aufenthaltes in Amerika erzählen lassen, dass dort, namentlich in der Stadt Newyork, sehr reiche Familien die Gewohnheit haben, einen grossen oder grössten Teil ihres Vermögens wissenschaftlichen, künstlerischen oder humanitären Anstalten zuzuwenden oder zur Gründung sog. Philantropien herzugeben und ihre Angehörigen auf diese Weise zur Arbeit zu zwingen, geleitet von dar Erfahrung, dass Söhne sehr reicher Familien in dem Bewusstsein dieses Reichtums sehr häufig in Faulheit und Liederlichkeit verderben. Aber im ganzen mögen dieses wohl nur42rühmliche Ausnahmen sein. Denn Reichtum und Geld bergen leider eine dämonische Gewalt der Anziehung in sich, welche diejenigen, die einmal auf diesem Wege sind, nicht ruhen und die Begierde nach mehr in demselben Grade wachsen lässt, in welchem dieselbe befriedigt wird. Der Durst nach Geld und Besitz hat daher das Eigentümliche, dass er durch Befriedigung nicht gestillt, sondern nur stärker angeregt wird. Gleichzeitig übt diese Befriedigung bei der Mehrzahl der Menschen einen nachteiligen Einfluss auf den Charakter aus, macht geizig, hartherzig und egoistisch und gibt nur ausnahmsweise einzelnen Anlass, mit ihrem Reichtum aus eignem innerem Antrieb den schönen und edlen Seiten der menschlichen Natur Genüge zu thun.Alledem wird ein klug angelegtes Erbschaftssteuergesetz, welches das Erbschaftsamt ermächtigt, die Erbschaften im Namen des Staates mit Beschlag zu belegen und die Erbschaft, soweit es notwendig und zweckmässig ist, für die Kinder, im übrigen aber für den Staat zu verwalten, auf die wohltätigste Weise entgegenwirken. Es wird der übertriebenen Sparsamkeit, dem Geiz, der Habgier, dem nutzlosen Aufspeichern und der allzu grossen Anhäufung des Reichtums in den Händen einzelner einen gewissen Damm entgegensetzen, ohne dabei den Einzelnen desjenigen Antriebs zum Erwerb zu berauben, welcher in der ersten Sorge für die Nachkommenschaft und in der Liebe zur Arbeit ruht. Denn, wie Prof.Hallier6treffend bemerkt, »es kann kaum etwas Ehrloseres geben, als die Arbeit als eine Last zu betrachten und sie nicht um ihrer selbst willen hochzuschätzen. Wer gesund ist und bei guten körperlichen oder geistig43en Kräften, für den ist die Arbeit der höchste Lebensgenuss. Und der Reiche sollte so ehrlos sein, sich auf die Faulbank zu legen, weil er weiss, dass der Mehrerwerb nicht zum Verderben seiner Kinder, sondern zum Wohl des Staates, zum Wohl seiner Mitbürger verwendet wird? Ist jemand mit Glücksgütern gesegnet, so hat er doppelt und dreifach die Pflicht, sich durch Arbeit dieser Güter wert zu zeigen. Der Müssiggänger ist ehrlos.«Im Anschluss an diese schönen Worte darf man die gegründete Hoffnung aussprechen, das Bewusstsein, dass er mit seiner Arbeit nicht bloss für sich und die Seinigen, sondern auch bis zu einem gewissen Grade für die Gesamtheit wirkt, werde erhebend und veredelnd auf den Einzelnen wirken und damit jenen Zustand vorbereiten helfen, wo das Glück des Einzelnen mit dem Glück der Gesamtheit zusammenfällt, und wo somit der Einzelne das, was er auf der einen Seite zu verlieren glaubt, auf der andern wieder mit Zinsen zurückerhält.Was meinen dritten und letzten Vorschlag betrifft, so geht derselbe, wie bereits gesagt, auf Umwandlung des Staates in eine grosse, allgemeine, solidarisch verbundeneVersicherungsgesellschaftgegen Alter, Krankheit, Unfall, Invalidität, unverschuldete Not und Tod. Schon mit dieser einen Massregel würde der grösste Teil des sozialen Elends mit einem Schlage aus der Welt geschafft und die kostspielige, oft mehr Schaden als Nutzen bringende Armenpflege entbehrlich gemacht werden, Es würde keine Elenden und Verlassenen ohne eigne Schuld mehr geben, und das grosse Prinzip gesellschaftlicher Gegenseitigkeit würde zur Richtschnur n44icht bloss für einzelne Kreise, sondern für die ganze menschliche Gesellschaft werden. Die Gesellschaft selbst mit ihren verschiedenen Gliederungen würde dabei keine Änderung erleiden, sondern gerade so fortbestehen, wie bisher, und jedem Einzelnen würde gegeben oder geholfen werden je nach seinen Verhältnissen oder Bedürfnissen, seiner Lebenslage, seiner sozialen Stellung und nach den Opfern, welche er durch seine Arbeit oder sein Vermögen zur Erhaltung des Staates bringt oder gebracht hat. Allerdings wird man entgegnen, dass diese Opfer dadurch nicht vermindert, sondern wesentlich erhöht werden müssten. Aber eine solche Rücksicht kann nicht in das Gewicht fallen gegenüber den enormen Vorteilen einer derartigen Einrichtung, auch würde die Last dadurch, dass sie auf den Schultern aller Staatsbürger ohne Ausnahme ruht, für den Einzelnen nicht allzuschwer werden. Man vergesse nicht, welche enormen Opfer jetzt schon von privater Seite für alle die verschiedenen Versicherungs- und Ersparniszwecke gebracht, und welche kaum mehr erschwingliche Lasten den Gemeinden durch die fortwährend steigenden Ausgaben für Armenpflege auferlegt werden. Auch übersehe man nicht den enormen moralischen Vorteil, welcher darin liegt, dass jeder in dem Bewusstsein lebt und arbeitet, dass er nicht jeden Augenblick unverschuldet ein Ausgestossener oder Verlassener der Gesellschaft werden, oder dass seine Hinterbliebenen nicht die Beute des Hungers und Elends werden können; man vergesse endlich nicht, dass die materiellen Opfer, welche der Staat fortwährend zur Abwehr der Verbrechen gegen Person und Eigentum aufzuwenden genötigt ist, um ein sehr Bedeutendes reduziert werden müssten. Wenn der Staat, wie dieses z. B, im Grossherzogtum Hessen geschieht, jeden45einzelnen Gebäudebesitzer zwingt, an einer staatlichen Versicherung seines Besitzes gegen Feuersgefahr teilzunehmen, und auf diese Weise eine Solidarität aller hausbesitzenden Staatsbürger gegen Schädigung ihres Eigentums durch Feuer herstellt, warum soll er nicht das Recht haben, die gleiche Solidarität der Staatsbürger gegen die weit bedenklichere Schädigung durch Krankheit, Alter, Invalidität und Tod herzustellen? Und wie leicht und einfach würde eine solche Maschinerie zu lenken oder zu leiten sein im Vergleich mit den komplizierten und persönlich belästigenden Gesetzesbestimmungen desBismarckschen Staatssozialismus, in dem sich kaum ein Rechtsgelehrter zurechtzufinden vermag.Immerhin ist es mit Freuden zu begrüssen, dass die Einführung dieses Staatssozialismus den schlagenden Beweis dafür geliefert hat, dass die Notwendigkeit einer meinem Vorschlag ähnlichen Massregel in offiziellen wie parlamentarischen Kreisen genügend anerkannt ist. Nur wird man dabei leider allzusehr an das bekannte Sprichwort erinnert: »Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass.« An sich recht verdienstlich, ist dieser Staatssozialismus doch nur ein schwacher Versuch auf dem Wege sozialer Reformen und ganz unfähig das soziale Elend als solches zu heben. Ja er kann insofern gefährlich werden, als er, weil er nicht halten kann, was er verspricht, zu schädlichen Täuschungen führt und damit radikaleren Reformen entgegenwirkt. Dasselbe gilt von den vielen Privatwohlthätigkeitsanstalten gegen Bettel, Trunksucht, Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot u. s. w., sowie von den Bestrebungen zur religiösen, sittlichen oder intellektuellen Hebung der unteren Volksklassen oder zur Hebung der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe oder zur gemeinsamen Beschaffung von Produkti46ons- und Konsumtionsmitteln auf dem Weg der Selbsthilfe, oder von den Versuchen, das alte Innungswesen wieder neu zu beleben oder durch Feststellung eines Normallohnes und einer Normalarbeitszeit die Lage der arbeitenden Klassen zu verbessern, und dergl. Alle diese Dinge sind, wieBackhaus(a. a. O.) richtig bemerkt, Scheinmittel, Schönheitspflästerchen, welche wohl hier und dort den Anblick der sozialen Not verbergen oder eine vorübergehende Linderung herbeiführen, aber in der Tiefe das Übel weiter wuchern lassen.Ebenso unzureichend wie der Staatssozialismus ist das private Versicherungswesen und dabei mit so vielen und grossen Nachteilen behaftet, dass darausBismarcksPlan zur Verstaatlichung des Lebensversicherungswesens hervorwuchs, ein Plan, welcher bekanntlich an dem Widerspruch der Parlamentarier und Manchester-Männer gescheitert ist. Übrigens ist mein Vorschlag wesentlich verschieden von jenem Plan, da nach demselben die Versicherung nicht freiwillig, sondern obligatorisch für jeden Staatsbürger sein soll, je nach dessen Stand, Vermögenslage oder Arbeitsverdienst. Sollten die Staatseinkünfte für den beabsichtigten Zweck nicht ausreichen (was bei Annahme meiner beiden ersten Vorschläge kaum denkbar wäre), so müsste der Versicherungsbeitrag als Steuer erhoben werden, so lange der Versicherte arbeitsfähig ist.Die Ausführung weiterer Einzelheiten würde auch hier wieder zu weit führen. Ich erlaube mir daher auf einen im zweiten Band meiner Schrift »Aus Natur und Wissenschaft« enthaltenen Aufsatz über die Übernahme des Lebensversicherungswesens durch den Staat zu verweisen.Dieses sind die Grundzüge de47r von mir in Vorschlag gebrachtenSozialreformim Gegensatz zu derjenigen derSozialdemokratie, einer Reform, welche selbstverständlich nur auffriedlichemWege durchgeführt werden soll und kann, und zwar nur durch Gewinnung einer grösseren Zahl einflussreicher Männer auf dem Wege allmähliger Überzeugung.Zwar versichert uns die Sozialdemokratie ebenfalls, dass sie nur auf friedlichem Wege ihr Ziel zu erreichen wünsche; aber dieses dürfte doch nur eine Klugheits-Versicherung sein. Schon das Wort »Demokratie« deutet auf Volksherrschaft und damit auf eine Umwälzung der politischen Verhältnisse, Ehe ich indessen auf nähere Darlegung des wichtigen Unterschiedes vonSozialreformundSozialdemokratieeingehe, bedarf es vorher der Bemerkung, dass meine Vorschlage gar nichts mit Kommunismus zu thun haben. Ich beabsichtige weder eine Aufhebung des Privateigentums, noch eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, sondern ganz im Gegenteil eine grössere Entfaltung oder Entwicklung der letzteren durch Entfernung der den Einzelnen hemmenden Schranken im Kampfe um das Dasein, sowie dadurch, dass im Notfall die Ergreifung der hilfreichen Hand des Staates jedem offen steht, letzteres nicht als ein Almosen, sondern als ein durch geleistete Arbeit erworbenes Recht. Wer unter solchen Umständen und bei freier Bahn für Entfaltung seiner Kräfte nichts leistet, der verdient sein Schicksal. Er geht nicht an den Umständen oder an der Ungerechtigkeit der Gesellschaft, sondern an sich selbst zu Grunde.Zwar ist der Kommunismus an sich durchaus nicht etwas so Schreckliches und Monströses, wie sich die meisten Menschen vorzustellen pflegen. Man kann sich, wie bereits bemerkt, sehr wohl einen Staat auf kommunistischer Grundlage vorstellen, in welchem alles Besitztum gemeinsam und48die Arbeit ganz freiwillig sein würde — vorausgesetzt, dass die durch lange Jahre und entsprechende Gesellschaftszustände grossgezogenen egoistischen Triebe und Neigungen der menschlichen Natur sich in altruistische umgewandelt hätten, was natürlich nur sehr langsam und allmählich geschehen könnte. Auch sind durchaus nicht alle bis jetzt bekannten kommunistischen Versuche misslungen, und da, wo sie misslungen sind, ist dieses oft weniger Folge innerer Unmöglichkeit, als vielmehr des Drucks äusserer ungünstiger Umstände inmitten einer auf ganz anderen Grundlagen aufgebauten Gesellschaftsordnung gewesen.7Besteht doch schon im jetzigen Staats- und Gemeindeleben eine nicht geringe Menge kommunistischer Einrichtungen, die sämtlich, wenn die einseitige und engherzige Manchester-Doktrin richtig wäre, mehr oder weniger ausgemerzt werden und der fast immer unzureichenden Privatthätigkeit überlassen bleiben müssten. Man denke nur an die Steuern und deren mannigfache Verwendung zu Zwecken des Gemeinwohls, an die Staatsschulden, an denen jeder Einzelne partizipiert, an die Militärpflicht, welche jeden Einzelnen nötigt, selbst Leben und Gesundheit im Interesse der Gemeinschaft aufzuopfern, an die sog. Expropriationsgesetze, an das vom Staat auf öffentliche Kosten, geleitete Unterrichtswesen und an den Schulzwang, an Eisenbahnen, Strassen und öffentliche Bauten, an Staatsposten und Staatstelegraphen, an das öffentliche Gesundheitswesen, an Gemeinde-Versorgung und Armenpflege, an staatliche Massregeln zur Hebung der Landwirtschaft, an49die staatliche Beaufsichtigung von Fabriken, Bergwerken, Banken, Häuserbau u. s. w., an öffentliche Brunnen, Museen, Bibliotheken, Promenaden, Versorgungshäuser, Hospitäler u. s. w. Alle diese Dinge, jede Besteuerung der Bürger von Staats- und Gemeindewegen zu andern Zwecken, als Polizei, Rechtspflege und Militär, also für den Schutz des Individuums nach innen und aussen, sind mehr oder weniger sozialistische oder kommunistische Einrichtungen, welche der Manchester-Doktrin, die in dem Staat nur eine Polizei-Anstalt zur Sicherung von Person, Eigentum und öffentlicher Sicherheit erblickt, also denselben gewissermassen die Rolle eines bezahlten Schutzmannes spielen lässt, direkt zuwiderlaufen.Aber alles dieses hindert nicht, dass zur Zeit eine noch so starke und allgemeine Abneigung der Menschen gegen jede Art kommunistischer Staatsgestaltung besteht, dass jedes weitere Wort darüber als überflüssig erscheint. Es müssten erst, wie gesagt, lange Jahre des Altruismus und Kollektivismus vorausgegangen sein, um dieser Abneigung einigermassen Herr werden zu können.Einstweilen muss es genügen, wenn man im Stande sein wird, an der Hand der von mir gemachten Vorschläge eine grössere Ausgleichung zwischen Staats- und Privatbesitz oder zwischen den Interessen des Einzelnen und denen der Gesamtheit herbeizuführen. Es ist dasselbe Programm, welches der berühmte National-ÖkonomSchäfflein seiner »Quintessenz des Sozialismus« aufgestellt hat, indem er diese Quintessenz in derErsetzung des Privatkapitals durch das Kollektiv-Kapitalfindet. Auch stimmt es im wesentlichen mit dem erweiterten Programm, welchesBebelin seiner Schrift über »die Frau« für den Sozialsta50at der Zukunft voraussetzt, wenn er verlangt, dass die Begriffe von Staat und Gesellschaft sich künftighin decken, und dass der heutige Gegensatz zwischen sozialer und politischer Organisation verschwinden solle.Die Wohlthätigkeit einer solchen Einrichtung oder einer Versöhnung zwischen Einzel- und Gesamt-Interessen kann nicht besser deutlich gemacht werden, als durch eine Vergleichung des staatlichen Organismus mit den Einrichtungen des tierischen oder menschlichen Organismus. Hier findet eine fortwährende Strömung der Lebenssäfte von der Peripherie nach dem Zentrum und umgekehrt von dem Zentrum nach der Peripherie statt. Je lebhafter und ungehinderter diese Strömung vor sich geht, um so besser ist der Stand der Gesundheit und des Wohlseins, während Stockungen dieses Säfteaustausches an einzelnen Stellen des Körpers Krankheit und Verderben herbeiführen.Ebenso verhält es sich im Staat und in der menschlichen Gesellschaft, welche sich um so wohler befindet, je lebhafter der Austausch und Ausgleich zwischen Privat- und Gesamtleistung ist. Die grossen Privatvermögen gleichen den Eiterbeulen oder Blutstockungen, welche, indem sie sich an einzelnen Stellen festsetzen, den beschriebenen Austausch stören und verderblich auf den Gesamt-Organismus zurückwirken. Durch die Wirkung meiner Vorschläge wird eine solche Störung ferner nicht mehr möglich sein. Denn sie bewirken ein fortwährendes Zurückströmen des Privatbesitzes in den Besitz der Gesamtheit und von da wieder eine Verteilung nach der Peripherie oder unter die Einzelnen. Die grosse Staatskasse muss gewissermassen das Herz des staatlichen Organismus bilden, welches einerseits seinen befruchtende51n und ernährenden Inhalt durch zahllose Kanäle in die Organe und Gewebe des staatlichen Körpers treibt und denselben andrerseits aus ebensovielen Kanälen und Adern wieder an sich saugt. Ohne das verhasste kommunistische »Teilen« wird gewissermassen in jedem einzelnen Augenblick »geteilt« und ein Zustand hergestellt, in welchem das schöne, bereits öfter zitierte Wort »einer für alle und alle für einen« zur Wahrheit wird.»Der Heimfall aller Güter an den Staat nach dem Tode ihrer Erwerber«, sagt M.Nordau(a. a. O.) »schafft ein nahezu unerschöpfliches gemeinsames Vermögen,ohne den individuellen Besitz aufzuheben. Jedes Individuum hat dann ein Eigen- und ein Gesamt-Vermögen, wie es einen Tauf- und einen Familien-Namen hat.... Indem das Individuum für sich arbeitet, arbeitet es zugleich für die Gesamtheit, welcher eines Tages der ganze Überschuss seines Erwerbs über den Verbrauch zu gute kommen wird. Das Gesamtvermögen bildet das ungeheure Sammelbecken, welches aus dem Überfluss der einen dem Mangel der andern abhilft und nach jedem Menschenalter die immer wieder entstehenden Ungleichheiten in der Güterverteilung ausgleicht, welche Ungleichheiten die Vererbung im Gegenteil fixiert und mit jeder Generation schroffer macht.«Ganz verschieden von diesem, auf friedlichem Wege durchzuführenden Programm derSozialreformist dasjenige derSozialdemokratie, welche, wenigstens in Deutschland, zur Zeit an der Spitze der ganzen sozialistischen Bewegung steht und die offen ausgesprochene Hoffnung nährt, Staat und Gesellschaft mit der Zeit in ihrem Sinne umwandeln zu können, Diese Hoffnung ist eine trüge52rische und wird es auch wohl bleiben. Der Hauptvorwurf, den man der Sozialdemokratie machen kann und machen muss, ist der, dass sie den Begriff der Sozialreform und der sozialen Frage überhaupt viel zu enge fasst. Denn sie macht aus der grossen Gesellschaftsfrage, welche die ganze Menschheit zu umfassen hat, eine eng begrenzteArbeiterfrage, welche obendrein, wenn man die Sache bei Licht betrachtet, nur eine bestimmte Klasse von Arbeitern umfasst. Die allgemeinen Menschheitsrechte und Menschheitsinteressen schliessen selbstverständlich auch die Rechte und Interessen der Arbeiter ein, während nicht das Umgekehrte der Fall ist und die Rechte und Interessen der Arbeiter (im engeren Sinne) nicht die allgemeinen Menschheitsrechte einschliessen. Auch die Hoffnung der Sozialdemokraten, dass sie, zunächst und aus praktischen Gründen von den Interessen und Rechten der handarbeitenden Klassen ausgehend und auf dieselben gestutzt, mit der Zeit dahin kommen werden, auch die allgemeinen Menschheits-Interessen in Angriff zu nehmen oder die grosse soziale Frage zu lösen, dürfte, wie noch näher gezeigt werden wird, eine sehr illusorische sein.Der eigentliche Vater der heutigen Sozialdemokratie istFerdinand Lassalle, welcher durch sein Auftreten im Beginn der sechziger Jahre die damals fast überall sich bildenden Arbeiterbildungsvereine und die nachSchulze-Delitzsch'schem Muster errichteten Konsum-, Rohstoff- und Vorschuss-Vereine mit einem Schlage zu Fall und durch seine Versprechungen künftiger Seligkeiten die Masse der Arbeiter auf seine Seite brachte. Auch wird er nebenKarl Marx, welcher als der geistige Vater der ganzen Bewegung anzusehen ist, immer noch von der Masse der Sozialdem53okraten als eine Art Apostel oder Heiliger verehrt, obgleich seine Theorien längst als falsch erkannt und selbst von der heutigen Schule der Sozialdemokratie mehr oder weniger verlassen sind. Insbesondere hat sich seine grosse Hoffnung auf das allgemeine Stimmrecht, vermittelst dessen, wenn einmal eingeführt, er alle seine Pläne zu erreichen hoffte, als durchaus illusorisch erwiesen. Wir sind in Deutschland bereits seit über zwanzig Jahren im Besitze des allgemeinen Stimmrechts oder des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Wahlen zur obersten Vertretung des deutschen Volkes oder des Reichstags. Und was ist während dieser langen Zeit mit Hilfe einer bis dahin unerhörten Agitation von den sozialdemokratischen Führern erreicht worden? Dass ein verhältnismässig kleines Häuflein ihrer Anhänger, welches allerdings durch Rührigkeit und Talent die schwache Zahl einigermassen wett macht, Sitz und Stimme im deutschen Reichstag erlangt hat, während sich z. B. der Einfluss derkatholischenWahlleitung mehr als dreimal so stark erwiesen hat. Allerdings hat sich die sozialdemokratische Partei neuerdings mit aller Macht auf den Versuch geworfen, ihre Agitation auf das Land zu Übertragen und die grosse Masse der ländlichen Bevölkerung, welche ja bei allgemeinen Wahlen in der Regel den Ausschlag giebt, für sich zu gewinnen. Aber man kann fast mit Bestimmtheit voraussagen, dass dieser Versuch bei dem überwiegend konservativen Sinn der Landbevölkerung und deren politischer Apathie scheitern wird. Sollte dieses aber nicht der Fall sein und sollte der von den Sozialdemokraten gehoffte Erfolg wirklich früher oder später eintreten oder auch nur in Aussicht stehen, so würden die besitzende54n und im Besitze der Gewalt befindlichen Klassen der Gesellschaft langst dafür gesorgt haben, dass eine solche Umänderung oder Einschränkung des allgemeinen Wahlrechts, die ein derartiges Resultat unmöglich machen würde, eingetreten wäre. Es ist ein sehr naiver Glaube der Sozialdemokraten, dass sich die herrschenden Klassen der Gesellschaft an der Hand des allgemeinen Stimmrechts einfach den Hals würden zudrehen lassen; denn niemand lässt sich gutwillig abschlachten. Daher die Durchführung des sozialdemokratischen Programms schliesslich nur durchGewaltmöglich sein würde. Aber selbst in diesem Falle würde eine solche Herrschaft unmöglich von langer Dauer sein, da eine Beherrschung der Bildung durch die Unbildung ein Unding und nur zeitweise möglich ist. Schon der griechische PhilosophXenophaneshat den beherzigenswerten Ausspruch gethan: »Besser als die Stärke von Männern und Rossen ist die Einsicht.«Dazu kommt, dass eine Organisation der gesamten Arbeit von Staatswegen, wie sie die Sozialdemokratie anstrebt, eine reine Utopie ist und immer eine solche bleiben wird. Die menschliche Arbeit in ihrer Gesamtheit ist ein viel zu kompliziertes und mannigfaltiges, durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage beherrschtes Räderwerk, als dass sich dasselbe auf büreaukratische Weise beherrschen oder regeln liesse. Wollte man eine solche Beherrschung dennoch durchführen, so würde und müsste daraus eine unerträgliche Büreaukratie und Tyrannei und eine Beschränkung der persönlichen Freiheit resultieren, welche zehnmal schlimmer wäre, als die gegenwärtige Beschränkung durch den monarchisch-büreaukratischen Staat, Der grosse amerik55anische Bodenbesitz-ReformatorHenry George, dem gewiss niemand eine tiefe Einsicht in nationalökonomische Verhältnisse abstreiten wird, nimmt keinen Anstand, eine solche Organisation der Arbeit von oben herab geradezu als »egyptische Despotie« zu bezeichnen.In gleicher Weise nennt der entschiedene SozialistTh. Hertzka8die »Tyrannei einer solchen Arbeitsordnung unerträglich« und Freiheit und Gerechtigkeit unvereinbar mit dem »unerhörtesten Zwange, der jemals geübt worden ist.« Dazu wäre die in solcher Weise geübte soziale Gerechtigkeit der »Tod alles Fortschritts und aller Zivilisation, In einer Gesellschaft, in der alles arbeiten muss, um nur auskömmlich satt zu werden, könnte es keine Wissenschaften, keine Künste, keine Freiheit und kein Glück geben.«Wer kennt nichtEugen Richterssozialdemokratische Zukunftsbilder? Es mag darin manches verzeichnet oder falsch aufgefasst oder übertrieben sein; aber im grossen und ganzen ist doch der unerträgliche Zustand, der die Folge einer solchen büreaukratischen Beherrschung der Arbeit sein müsste, richtig und wirkungsvoll gekennzeichnet. Die Sozialdemokraten werden zwar das alles nicht Wort haben wollen; aber solange sie sich nicht deutlicher als bisher über die Art und Weise erklären, wie sie sich ihren Zukunftsstaat vorstellen, müssen sie sich derartige Imputationen schon gefallen lassen.Eine ebensolche Unmöglichkeit, wie die Organisation56der gesamten Arbeit, ist die Erzielung des vollen Arbeitsertrages für den einzelnen Lohn-Arbeiter, wie sie die Sozialdemokratie verlangt. Es ist dies eine geradezu unbegreifliche Forderung. Wo bliebe unter solchen Umständen die Belohnung der (geistigen oder körperlichen) Arbeit des Unternehmers, des Fabrikherrn, des Geschäftsgründers? Wo das Risiko? Wo die Geschäftskrisen? Wo die Verzinsung des Kapitals? Wo die Belohnung jenes erfinderischen oder organisatorischen Genies, welches unter Umständen die alleinige Seele des ganzen Geschäfts ist? Soll z. B. der Ausläufer oder »Druckerteufel« einer Zeitung oder eines litterarischen Unternehmens, welches der Thätigkeit eines talentierten Schriftstellers und eines unternehmenden Verlegers seine Entstehung und seine Prosperität verdankt, gleichen Anteil an dem Ertrag des Geschäftes haben, wie der Gründer und Leiter desselben? Soll der taglöhnende Maurer, welcher bei dem Bau eines Hauses keine andre Aufgabe hat, als einen Stein auf den ändern zu setzen, denselben Anteil an dem Ertrag des fertigen Hauses haben, wie der Baumeister und Kapitalist, welcher die dazu nötigen Mittel geliefert bat? Wer würde im Angesicht einer solchen Nötigung überhaupt noch Geschäfte machen oder Fabriken gründen wollen, bei denen er der Hilfe von Lohnarbeitern bedarf? Und welcher Kapitalist würde so einfältig sein, sein Geld für solche Unternehmungen herzuleihen, bei denen er nicht mehr verdient, als der einzelne Lohnarbeiter? Alle von Seiten der Sozialdemokratie auf die kapitalistische Produktionsweise und auf das sog. Lohnsystem gehäuften Vorwürfe passen in der Regel nur auf ganz grosse industrielle Unternehmungen und auf solche Geschäfte, bei denen es sichnurum arbeitende Hände und um Kapital handelt, während überall dort, wo ein Geschäft oder eine57Fabrik durch die schöpferische Thätigkeit eines Einzelnen bestellt, der Mehrgewinn oder die fälschlicherweise sog. »Kapitalprämie« des Unternehmers oder Organisators sehr wohl verdient ist.»Der schier unbegreifliche Irrtum aller bisherigen sozialen Schulen«, sagtHertzka(a. a. O.), »liegt darin, dass sie, um das Anrecht des Arbeitenden auf den vollen Ertrag zu verteidigen, den Nachweis liefern zu müssen glaubten, dass Arbeit allein produktiv sei, Unternehmerschaft, Boden und Kapital aber nicht. Dies könnte nur dadurch geändert werden, dass der Arbeitende sein eigener Unternehmer, Grundbesitzer und Kapitalist wird u. s. w.«Allerdings wollen die Sozialdemokraten für den einzelnen Unternehmer den Staat, welcher alle Produktionsmittel liefern soll, substituieren. Aber sie vergessen, dass der Staat dabei ganz denselben Nachteilen unterliegt oder dieselben Gefahren läuft, wie der Privat-Unternehmer. Der Staat ist ja kein Zauberer, welcher nur die Wünschelrute zu bewegen braucht, um Schätze aus den Tiefen der Erde hervorzuzaubern, oder der das christliche Wunder mit den Broten und Fischen wiederholen könnte, sondern er ist nur die Gemeinschaft aller Bürger; und was er dem einen giebt, muss er aus der Tasche des andern nehmen. Nur ein Staat, welcher durch Bodenrente und Erbschaftsbeschränkung ungewöhnlich grosse Geldmittel in die Hand bekäme, könnte möglicherweise so weitgehenden Anforderungen gerecht werden. Dazu kommt, dass der volle Arbeitsertrag, wie ihn die Sozialdemokraten verlangen, nicht einmal als ein besonders grosses Glück für den einzelnen Lohnarbeiter angesehen werden könnte. Wenn eine Fabrik, welche einige hundert Menschen beschäftig58t, ihrem Besitzer oder Gründer einen noch so grossen Reingewinn abwirft, so würde dieser Reingewinn, welcher allerdings in der Hand des Einzelnen sehr gross erscheint, wenn er gleichmässig unter alle Arbeiter verteilt würde, die Glücksumstände des einzelnen Arbeiters nur sehr wenig zu verbessern im Stande sein.Die Sozialdemokraten wissen so vieles und manches von den nachteiligen Wirkungen des Klassenstaates und der Klassenherrschaft zu berichten; aber sie selbst streben eine Klassenherrschaft weitgehendster Art an, indem sie den industriellen und Fabrikarbeiter zu einer bevorzugten Gesellschaftsklasse erheben, der alle Kräfte des Staates mehr oder weniger dienstbar gemacht werden sollen — wobei sie überdies ganz vergessen, dass ihre Vorschläge immer nur einem verhältnismässig kleineren Teil der arbeitenden Bevölkerung zugute kommen, und dass ein sehr grosser Teil übrig bleibt, welchem durch Beschaffung der sog. Produktionsmittel von Staatswegen überhaupt nicht zu helfen ist, da sie solcher Produktionsmittel gar nicht bedürfen. Man denke z. B. nur an die sehr grosse Klasse derDienstbotenund an so viele andre Zweige menschlicher Thätigkeit, welche sich in jene Schablone nicht einfügen lassen! Überdies passt jene Schablone, wie bereits gesagt, nur für solche Fabrikationszweige, welche bereits fix und fertig dastehen und nichts weiter als Kapital und arbeitender Hände bedürfen, während ihre Anwendung bei neuen oder in der Entwicklung begriffenen Fabrikationszweigen mindestens ihre grossen Gefahren oder Unzuträglichkeiten haben müsste.Wie mit dem Wort »Arbeiter«, so wird auch mit dem.59Wort »Proletarier« von der Sozialdemokratie schreiender Missbrauch getrieben. »Ist es nicht wahrhaft tragikomisch«, fragtBackhaus(a. a. O.) »das Proletariat zur herrschenden Klasse machen zu wollen? Zu einerKlasse, obgleich das Klassenwesen die Sozialisten und Kommunisten mit grimmigem Hass erfüllt? Und nun gar zurherrschendenKlasse, obgleich sie die Herrschaft keiner Klasse dulden wollen? Ist es nicht ein unlösbarer Widerspruch, die höchste politische Macht im Proletariat konzentrieren und alle Produktionsinstrumente in seinen Händen vereinigen zu wollen? Als ob die vielen andern Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, welche nicht zum Proletariat, auch nicht zum Proletariat als herrschender Klasse gehören, einfach nicht da wären oder, wenn als daseiend betrachtet, als willenlos, gefühllos, kopflos, als lebendig tot angesehen werden könnten.... Jedenfalls könnte das Proletariat als solches diese ihm zugedachte Rolle nicht durchführen, ohne seiner Eigenschaft als Proletariat verlustig zu gehen. Denn es könnte doch nur der Ausdruck des Lächerlichen in seiner höchsten Potenz sein, die Beherrscher der Gesellschaft als »Proletariat« zu bezeichnen, d. h. als die arme, kümmerlich von der Hand in den Mund lebende Arbeiterbevölkerung, welche dem Staate nicht mit Geld, sondern nur mit ihren Kindern dienen kann u. s. w.«Nein — derwahreSozialismus will im Gegensatz zu diesem falschen Sozialismus keine Herrschaft einzelner Gesellschaftsklassen oder keine Bevorzugung einzelner Berufskreise, sondern eine Befreiung derganzenGesellschaft (mit Einschlug auch dergeistigenArbeiter, welche oft noch weit schlimmer daran sind, wie die körperlichen Arbeiter) durch eine grössere Ausgleichung des Besitzes und der Mittel, mit denen jeder Einzelne seinen Kampf um das Dasein60kämpfen muss. Im Grunde sind wir ja alle Arbeiter oder sollten es wenigstens sein, mit Ausnahme der verhältnismässig wenigen, welche von dem aufgespeicherten, Fett ihrer Vorfahren leben. Wer nicht arbeitet, soll oder sollte auch nicht essen. Aber dabei soll der einzelne keine Arbeitsmaschine sein, wie im sozialdemokratischen Staat, sondern seine volle persönliche Freiheit und Selbständigkeit geniessen. Denn nur dadurch, dass an die Seite derpolitischenFreiheit auch diewirtschaftlicheBefreiung gesetzt wird, kann die Lösung des sozialen Problems gefunden werden. »Sozialdemokratiedagegen bedeutet, wie schon der Name besagt, bloss eine Änderung der Person des auf sozialem Gebiete Herrschenden; statt der vielen kleinen Herren soll es einen einzigen geben, das ganze Volk. Gewiss, dieser alleinige Herrscher würde den kleinen Tyrannen gegenüber den gewaltigen Vorzug haben, dass er sich das Wohl aller zum Zwecke setzte, während diese nur auf ihr eigenes Wohl bedacht sind. Aber die Freiheit ist selbst dem wohlwollendsten Herrscher vorzuziehen u. s. w.« (Hertzka.)Wenn man alles das bedenkt, so muss man unwillkürlich auf die Vermutung kommen, dass die ganze sozialdemokratische Bewegung von den Führern mehr als Mittel zum Zweck, denn als wirkliche Zukunftspolitik betrachtet wird. Dieselben sind viel zu gescheit oder einsichtig, um nicht den riesigen Unterschied zwischen friedlicher Sozialreform und gewaltsamer Sozialdemokratie zu begreifen. Aber sie sind einmal auf dem vonMarx-Lassalleangebahnten Wege zu weit vorwärts gegangen, um zurück zu können, und betrachten die von ihnen beherrschten oder geleiteten Arbeitermassen gewissermassen als Handhabe für eine spätere Verwir61klichung ihrer Zukunftspläne. In Bezug auf diese im Dunkel der Verborgenheit schwebenden Zukunftspläne hapert es denn freilich sehr, gewaltig. Man hat schon sehr häufig an die Führer der deutschen Sozialdemokratie das Verlangen gestellt, dass sie sich des Näheren über die Art und Weise auslassen möchten, in welcher sie sich die Gestaltung ihres sozialdemokratischen Zukunftsstaates vorstellten. Gewiss ist ein solches Verlangen sehr berechtigt, denn niemand wird so thöricht sein, sich ohne den dringendsten Anlass in eine Ungewisse Zukunft zu stürzen, wenn er nicht weiss, dass ihm diese Zukunft Besseres bringen wird als die Gegenwart. Wer die heutige Gesellschaftsordnung von Grund aus umgestalten will, hat doch vor allem andern die Verpflichtung, sich ein genaueres Bild von derjenigen Ordnung zu machen, welche an die Stelle jener gesetzt werden soll. Mit allgemeinen Versprechungen ist da nicht geholfen, Wenn die Arbeitermassen dennoch diesen allgemeinen Versprechungen vertrauen und denen folgen, welche sie ihnen machen, so erklärt sich dieses mit Leichtigkeit daraus, dass sie von dem an sich sehr berechtigten Gefühl der Unzulänglichkeit ihrer Lebenslage durchdrungen und bereit sind, jedem zu folgen, der ihnen Besserung dieser Lage verspricht, ohne sich viel Kopfzerbrechens über die Art und Weise dieser Besserung und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit ihrer Ausführung zu machen. Da sie nicht viel zu verlieren haben, so ist ihnen jede Änderung willkommen, bei welcher möglicherweise ein Gewinn in Aussicht steht. Anders ist es dort, wo die Aufgabe einer ernsten Prüfung solcher Zukunftspläne gebieterisch an den Denker und Menschenfreund herantritt.Aber welche Antwort erhält derselbe auf seine62Frage nach der sozialdemokratischen Zukunft?Dass man diese Zukunft nicht voraussehen und heute noch nicht sagen könne, wie sich die Dinge später gestalten würden. Zunächst käme es nur darauf an, den alten Klassenstaat einzureissen, das übrige werde sich dann schon von selbst machen. Man könne die Entwicklung der gesellschaftlichen Dinge in der Zukunft ebensowenig voraussagen, wie man die Entwicklung der Geschichte voraussagen könne; noch weniger könne man ihr jetzt schon Gesetze vorschreiben; eines werde sich schon ganz von selbst aus dem andern entwickeln.Eine solche Antwort ist freilich sehr bequem, aber in keiner Weise genügend, und kein verständiger oder aufrichtiger Sozialist kann sich damit zufrieden geben. Man schüttet ein trübes Glas Wasser nicht aus, bevor man ein reines vor sich stehen hat, und jedenfalls ist der jetzige Zustand mit allen seinen Mängeln besser, als die Aussicht auf ein dunkles, sozialdemokratisches Chaos, von dem niemand sagen kann, ob sich daraus Gutes oder Schlechtes für die Menschheit entwickeln wird.Unter solchen Umständen bleibt behufs Beurteilung des sozialdemokratischen Programms nichts übrig, als sich an dasjenige zu halten, was darüber offiziell bekannt geworden ist. Eine solche Veröffentlichung liegt vor in dem auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Erfurt (14.-21. Oktober 1891) beratenen und beschlossenen Programm der Partei. Wenn man nun dieses Programm unbefangen prüft, so findet man sehr bald Grund zu erstaunen teils über die verhältnismässige Bescheidenheit der darin aufgestellten Forderungen, teils über das Nichtssagende, Überflüssige oder sich selbst Widersprechende einzelner derselben. Auch63ist das Programm im Grunde noch ganz nach Marx-Lassalleschen Grundsätzen gemodelt, obgleich man diese Grundsätze längst als nicht mehr haltbar oder bestimmend erklärt hat.Was dabei zunächst die in der Einleitung verlangte »Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel) in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion« betrifft, so kann eine solche allgemein hingestellte Forderung ohne näheres Eingehen in die Einzelheiten einer so durchgreifenden Massregel kaum mehr als den Wert einer Phrase beanspruchen, — abgesehen davon, dass die darin liegende Organisation der gesamten Arbeit von Staatswegen, wie bereits nachgewiesen wurde, als eine Utopie oder Unmöglichkeit betrachtet werden muss.Gehen wir zu den einzelnen Programmpunkten über, so sind dieselben eigentlich weit mehr politischer, als sozialistischer Natur und übereinstimmend mit den Forderungen der politischen Demokratie. An erster Stelle figuriert die schon vonLassalleso scharf betonte Forderung desallgemeinen Stimm- oder Wahlrechts— eine Forderung, welche ja an solcher Stelle deswegen als überflüssig erscheint, weil sie einmal zum Teil bereits erreicht ist, und weil sie zweitens mit einer der bekanntesten und am wenigsten bestrittenen Forderungen der politischen Demokratie zusammenfällt. Auch muss hier nochmals an die bereits hervorgehobene Unzuverlässigkeit dieses Rechtes, sowie daran erinnert werden, dass dasselbe ein zweischneidiges Schwert ist, welches bei seiner unbehinderten Anwendung ebe64nsowohlgegenalsfürdie Sozialdemokratie entscheiden könnte. So lange die jetzige politische, soziale und religiöse Abhängigkeit der Wählermassen besteht, kann das allgemeine Stimmrecht nicht einmal als der wirkliche Ausdruck des Volkswillens betrachtet werden, ganz abgesehen davon, dass dieser allgemeine Volkswille durchaus nicht immer das Richtige trifft, sondern sich mitunter in den grössten Gegensätzen bewegt. Braucht man doch zum schlagenden Beweise dessen nur an das bekannte Plebiszit des dritten Napoleon zu erinnern, welcher nichtsdestoweniger wenige Jahre später, nachdem er den allgemeinen Hass der Nation auf sich geladen hatte, mit Schimpf und Schande davon gejagt wurde. Oder an die Proklamierung der Volkssouveränität in Frankreich im Jahre 1789, welche während eines ganzen Jahrhunderts nur fortwährend auf- und abwogende politische Kämpfe zwischen den verschiedensten Meinungen und Regierungsformen ohne positives Resultat zur Folge gehabt hat! Wenn der Arbeiter nach der Weisung seines Arbeitgebers, der Beamte nach derjenigen seiner Regierung, der katholische Wähler blindlings nach dem Kommando seiner Priester oder Kapläne stimmt, oder wenn der Bauer demjenigen zujubelt, der ihn durch Anwendung oratorischer oder materieller Mittel für sich zu gewinnen versteht, wenn endlich das Interesse des Volkes oder der Wähler selbst an der Wahl ein so geringes ist, dass es nur durch künstliche Aufstachelung erregt werden kann, so wird man zugestehen müssen, dass das Resultat einer solchen Wahl oft sehr wenig nach Vernunft und Gerechtigkeit schmecken wird. Die grosse Masse mit ihrer Unbildung oder Unwissenheit, ihrer Denkfaulheit, ihrer Unselbständigkeit und materiellen Abhängigkeit, ihrer Unterwürfigkeit unter65Herkommen und Gewohnheit oder mit ihrer ganzen grobmaterialistischen Weise, zu denken und zu fühlen, ist das grosse Hemmnis an der Uhr der Menschheitsentwicklung, welche diese Entwicklung zurückhält und oft die riesigsten Anstrengungen einer aufgeklärten und für das Wohl der Menschheit begeisterten Minderheit mehr oder weniger vereitelt.Das unbegrenzte Vertrauen der Sozialdemokratie in das allgemeine Stimmrecht für Verwirklichung ihrer Zukunftspläne dürfte daher zum mindesten als sehr zweifelhaft bezeichnet werden. Wäre dieses aber auch nicht der Fall, und sollte es gelingen, die Arbeitermassen so unter den Ruf ihrer Führer zu zwingen, dass diese auf dem Wege des allgemeinen Stimmrechts die politische Macht in ihre Hände zu bekommen Aussicht hätten, so würde man, wie bereits bemerkt, seitens der herrschenden Klassen längst einer solchen Eventualität durch geeignete Massregeln vorgebeugt oder aber sich auf einen ernsten Konflikt vorbereitet haben. Also bliebe auch hier wieder nur der Weg gewaltsamer Einwirkung oder der Revolution, deren Ausgang mindestens sehr zweifelhaft sein und welche vielleicht oder wahrscheinlich das Gegenteil des von der Sozialdemokratie Gewollten zur Folge haben würde.Die zweite der aufgestellten Forderungen verlangtdirekte Gesetzgebung durch das Volk, wobei es aber gänzlich unklar gelassen wird, wie man sich eine solche Einrichtung des näheren vorstellt Vielleicht hat man an die Schweiz gedacht, wo die Annahme oder Verwerfung wichtiger Gesetzesentwürfe durch direkte Volksabstimmung entschieden wird. Was aber in der kleinen Schweiz möglich ist, ist es nicht in grossen Staaten, wo eine solche Vo66lksabstimmung die grössten Unzuträglichkeiten haben müsste. Auch darf man nicht vergessen, dass diese Abstimmungen infolge der Dummheit und Unbildung der grossen Massen oft in sehr reaktionärem Sinne ausfallen und die wohlthätigsten Reformen vereiteln. In streng katholischen Ländern oder Gegenden wären davon die schwersten Gefahren für Geistes- und Gewissensfreiheit, welche hohen Güter doch auf der Fahne der Sozialdemokratie stehen, sicher zu erwarten.Der dritte Punkt verlangtVolkswehr an Stelle der stehenden Heere. So berechtigt eine solche Forderung an und für sich ist, so thöricht ist sie doch unter der Konstellation der augenblicklichen politischen, Verhältnisse. Für das zwischen zwei grossen, zum Angriff bereiten Militärmächten eingekeilte Deutschland würde die Erfüllung einer solchen Forderung der reine politische Selbstmord sein, abgesehen davon, dass die Vornahme einer so tiefgreifenden Umänderung uns für kürzere oder längere Zeit in einen Zustand militärischer Schwäche oder Unfähigkeit versetzen müsste, der uns zur willkommenen Beute unsrer raubgierigen Nachbarn machen würde.Was die diesem Programmpunkt angehängte Forderung der Schlichtungaller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege betrifft, so ist diese Forderung diejenige aller aufrichtigen Friedensfreunde, aber für die Gegenwart leider wie so viele andre sozialdemokratische Wünsche »verlorene Liebesmüh.«Der vierte Punkt verlangt mit Recht die Beseitigung aller polizeilichen Einschränkungen derfreien Meinungsäusserungund des67Versammlungsrechtes. In einem freien oder Volksstaat dürfte sich das so sehr von selbst verstehen, dass dessen Erwähnung in dem Programm als ganz überflüssig erscheint.Der fünfte Punkt verlangtpolitische und soziale Gleichstellung der Frau mit dem Manne, — eine Forderung, mit welcher auch nicht-sozialdemokratische Gelehrte und Schriftsteller vielfach übereinstimmen, welche also nicht als charakteristisch für das sozialdemokratische Programm angesehen werden kann.Dasselbe gilt von dem sechsten Punkt, welcher die so oft von allen vorgeschrittenen politischen Parteien verlangte und in Amerika längst durchgeführteTrennung des Staates von der Kircheverlangt.Nicht minder aber auch von dem siebenten Punkt, welcher Weltlichkeit der Schule und den bereits vielfach eingeführten obligatorischen, unentgeltlichenVolksunterrichtfordert.Der achte Punkt verlangt abermals Dinge, die längst als Forderungen liberaler Gesetzgebung anerkannt sind, wie Unentgeltlichkeit derRechtspflege, Berufungsrecht, Entschädigung unschuldig Verurteilter, Abschaffung der Todesstrafe, Dabei findet sich aber auch die Forderung derRechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Das Beispiel Amerikas, wo diese Einrichtung Korruption und Bestechlichkeit grossgezogen hat, hätte die Verfasser des Programms von der Einfügung dieses Punktes abhalten sollen.Die Unentgeltlichkeit des ärztlichen Beistandes(mit Einschluss der Totenbestattung), welche der neunte Punkt verlangt, mag ihre Vorteile haben, hat aber andrerseits auch ihre grossen Nachteile. Übrigens ist durch Einrichtung des Krankenkassenwesens dieser Forderung wenigstens bis zu einem gewissen Grade bereits Genüge gethan.Der zehnte Punkt bezieht sich auf die wichtige Frage derBesteuerung, über deren Einzelheiten bekanntlich die auseinandergehendsten Meinungen bestehen. Im allgemeinen decken sich die sozialdemokratischen Forderungen in diesem Punkt so ziemlich mit denjenigen aller Fortschrittsfreunde.An diese zehn Punkte schliesst sich eine Reihe von Forderungen an, welche speziell »zum Schutze der Arbeiterklasse« aufgestellt sind. Dabei muss denn vor allem wieder der Ausdruck »Arbeiterklasse« Wunder nehmen, da doch, wie bereits bemerkt, der erbittertste Kampf der Sozialdemokratie gegen alle Klassengegensätze und gegen den sogenannten »Klassenstaat« gerichtet ist. Wie lässt sich damit die Aufstellung einer besondern, von der übrigen Gesellschaft abgesonderten »Arbeiterklasse« vereinigen, unter welcher, wenn man der Sache auf den Grund geht, doch nur die besitzlosen Handarbeiter verstanden sein können? Warum sollen diese Handarbeiter eine besondre Klasse bilden? In einem richtig organisierten Staate sindalleArbeiter oder sollen es sein, einerlei ob sie mit Hand oder Fuss oder Kopf oder sonst irgendwie arbeiten; daher ein Gegensatz oder Unterschied zwischen »Arbeitern« im sozialdemokratischen Sinne und den Übrigen Staatsangehörigen gar nicht mehr gemacht werden kann. Dennoch verlangt das sozialdemokratische Programm für seine »Arbeiter« einen besonderen »Schutz des Staates« und zwar in folgenden Punkten:

»Das Eigentumsrecht,« sagtLaboulayein seiner preisgekrönten Schrift über die Geschichte dieses Rechts, »ist eine Schöpfung der Gesellschaft ... Jedesmal wenn die Gesellschaft etwas darin ändert, ist sie in ihrem Recht, und niemand kann sich dagegen im Namen eines ältern Rechtes auflehnen; denn vor ihr und nach ihr gibt es nichts. In ihr ruht die einzige Quelle und der Ursprung des Rechts.«Der Einzelne darf sein Erworbenes oder Ererbtes schon um deswillen nicht beliebig verschenken, weil sein Erwerb kein rein persönlicher, sondern nur möglich ist in der Gesellschaft und durch deren Mitwirkung. Eines der eklatantesten Beispiele dieser Art ist die bereits erwähnte enorme Wertsteigerung des Grundes und Bodens im Innern und in der Umgebung grosser, in der Entwicklung begriffener Städte, welche dem einzelnen Besitzer ohne jedes eigne Verdienst Millionen in den Schoss wirft und der Gesamtheit durch die enorme Steigerung der Wohnungsmieten keinen Nutzen,37sondern nur Schaden bringt. Es ist ein Zustand förmlicher Lohnsklaverei der Nicht-Besitzenden gegenüber den Besitzenden, welchem durch die Gesetzgebung längst ein Damm hätte entgegengesetzt werden sollen.Selbstverständlich könnte eine so durchgreifende soziale Massregel, wie die Beschränkung der Erbrechte, nicht plötzlich oder auf einmal, sondern nur allmählich und ohne allzu grosse oder allzu plötzliche Beleidigung privater Interessen in das Leben gerufen werden. Aber gerade in dieser Möglichkeit einer allmählich sich steigernden Einführung liegt ein Hauptvorteil des Vorschlags, wobei Praxis und tägliche Erfahrung der Theorie jederzeit zur Hülfe kommen oder unter die Arme greifen können. Auf diesem Wege wird es auch nicht schwer werden, zu einer Entscheidung darüber zu kommen, ob man bis zu einer gänzlichen Aufhebung der Erbrechte oder nur bis zu einer gewissen Grenze der Einschränkung gehen soll.Der Hauptnutzen oder Hauptvorteil des ganzen Vorschlags besteht in dessen ausgleichender Gerechtigkeit oder darin, dass jeder nur die Früchte seines eignen Fleisses, seiner eignen Tätigkeit und nicht diejenigen der Thätigkeit oder des Glücks seiner Vorfahren ohne jede eigne Bemühung gemessen würde. Söhne reicher Eltern haben in der Regel das Privileg, roh, unwissend, faul oder lüderlich zu sein, so dass grosser, namentlich unverdienter Reichtum oft mehr zum Fluch als zum Segen wird. Von Geburt Reiche oder Vornehme werden von den meisten Menschen als Wesen höherer Art angesehen, denen man sich nur mit einer gewissen scheuen Ehrfurcht nähern dürfe, obgleich diese Drohnen der Gesellschaft weit unter denen stehen, we38lche ihr Leben selbst gemacht haben. Dem berühmten und berüchtigten AusspruchProudhons»Eigentum ist Diebstahl« liegt insofern ein sehr berechtigter Gedanke zu Grunde, als nur der durch eigne Arbeit erworbene Besitz rechtmässiges Eigentum genannt werden kann, während der ohne eigne Bemühung ererbte Besitz sehr wohl als eine Art von Diebstahl an dem Vermögen oder an der Arbeitskraft der Gesamtheit betrachtet werden kann. Denn wenn der durch Erbschaft reich gewordene Teil der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade in einem Zustand von Wohlsein und verhältnismässigem Nichtsthun lebt, so ist dieses nur dadurch möglich, dass er sein Geld für sich arbeiten lässt, d. h., da das Geld nicht selbst arbeitet, durch die Leiden, die Arbeit und die Entbehrung ärmerer Mitmenschen, welche den Zins aufzubringen haben. Nicht dasjenige Eigentum soll angetastet werden, welches durch eignen Fleiss und eigne Sparsamkeit erworben worden ist, sondern nur dasjenige in gewissen Schranken gehalten werden, welches seine Entstehung dem Fleisse oder den Glücksumständen anderer verdankt. Wer darin eine Ungerechtigkeit erblicken wollte, müsste seine eignen Begriffe von Gerechtigkeit haben.Ein weiterer nicht hoch genug zu veranschlagender Nutzen oder Vorteil meines Vorschlags besteht darin, dass durch dessen Ausführung der übermässigen Anhäufung grosser Privatvermögen in einzelnen Händen, welche, wie bereits bemerkt, einen Staat im Staate, eine Geldmacht gegenüber der Staatsmacht darstellen, eine unübersteigliche Schranke gesetzt wird. Die enormen Nachteile einer solchen Anhäufung in politischer Beziehung sind namentlich dort bemerkbar, wo, wie z. B. in Amerika, die unglückliche Manchesterdo39ktrin herrschend ist, und wo mitunter grosse oder reiche Eisenbahngesellschaften einen ganzen Staat politisch völlig in der Gewalt haben. Die amerikanischen Eisenbahn-Direktoren spielen bei der enormen Ausdehnung und Wichtigkeit des dortigen Eisenbahnwesens in der Gegenwart eine ähnliche Rolle, wie sie die Feudalherren des Mittelalters gespielt haben, und brechen in Folge schlechter Verwaltung oder mangelhaften Bahnbaues jedes Jahr einigen hundert oder tausend Personen beinahe ungestraft die Hälse oder mindestens Arme und Beine. Ja, man verhehlt sich in Amerika nicht die Gefahr, dass sich mit der Zeit das Eisenbahn-Monopol sogar den Congress und die Bundesregierung dienstbar machen werde. Aber auch in Europa liegt die Gefahr oder Möglichkeit vor, dass der Einfluss grosser Geldmächte unter Umständen im Stande ist, über Krieg und Frieden zu entscheiden oder parlamentarische Körperschaften unter ihren Willen zu beugen. Ist ja doch das Geld heutzutage eine alles bestimmende Macht und Gott Mammon der einzige Gott, zu dem noch mit wahrer Inbrunst gebetet zu werden pflegt!Der letzte und hauptsächlichste Vorteil meines Vorschlags beruht aber darin, dass der Staat, ohne die verhasste Steuerschraube in Anwendung bringen zu müssen, auf die leichteste Weise in den Besitz hinreichender Geldmittel kommt, um alle im Interesse der Allgemeinheit notwendigen Massregeln durchführen zu können, wie Erziehung und Erhaltung der Kinder, wo die Einzelfamilie dazu nicht ausreicht, Unentgeltlichkeit des gesamten Unterrichts, Versorgung von Witwen und Waisen, Abschaffung des Pauperismus und unverschuldeter Arbeitslosigkeit, Beschaffung der Arbeits- oder Produktionsmittel, Besorgung des Verkehrswesens40u. s. w. Wenn man bedenkt, dass nach den Veröffentlichungen des preussischen Finanzministeriums allein in Preussen jährlichzwölfhundert Millionen Markvererbt werden — eine Schätzung, welche übrigens nach ändern viel zu gering ist und auf mehr als das Doppelte veranschlagt werden kann — so erhellt daraus, wie gross das Erträgnis einer solchen Massregel, obendrein im Verein mit dem staatlichen Bezug der Bodenrente, sein müsste.Natürlich hat man gegen dieselbe und ihre Ausführbarkeit eine Menge von Einwänden bereit, unter denen die zu befürchtende Beeinträchtigung des Erwerbstriebs, die Gefahr der Verschwendung und die Umgebung des Gesetzes durch Schenkung unter Lebenden neben befürchteter Schädigung der Familie die Hauptrolle spielen. Ein näheres Eingehen auf diese Einwände würde die Grenzen dieser kleinen Schrift überschreiten. Ich muss mich daher begnügen, auf mein Buch über die »Stellung des Menschen in Natur und Gesellschaft« zu verweisen, in dessen dritter Abteilung ich jene Einwände genügend entkräftet zu haben glaube, und wo auch im Anschluss daran die wichtige Kapitalfrage eingehend erörtert ist.Nur das mag hier nicht unerwähnt bleiben, dass der Einfluss des Erbrechts im Vergleich mit dem Eigentumsrechtals Antrieb zur Arbeitals ein ziemlich untergeordneter betrachtet werden darf. Allerdings können wir alle Tage von solchen, welche einer übertriebenen Sparsamkeit huldigen und unnötigerweise Schätze aufhäufen, die Versicherung hören,dass sie nur für ihre Kinder sparten. Aber derjenige müsste ein schlechter Kenner der menschlichen Natur sein, der dieser Versicherung einen mehr als sehr bedi41ngungsweisen Glauben beimessen wollte, Man spart zumeist für sich selbst und aus Freude am Besitz, und betrügt nur sich oder andere mit dem Vorwand, dass man es der Nachkommen halber thue, — was ja schon daraus erhellt, dass gerade unter denjenigen, welche keine Leibeserben haben, die grössten Geizhälse und Sparsimpel angetroffen werden. Im Gegenteil würde es ein viel natürlicherer Gesichtspunkt sein, wenn solche, die ihre Reichtümer oder ihren Wohlstand durch eigne Anstrengung erworben haben, von ihren Kindern oder Erben dieselben Anstrengungen, dieselbe Arbeit verlangten oder erwarteten, statt dass sie sich mit Anstrengung aller Kräfte bemühen, denselben ein Lotterbette zu bereiten, auf dem sie sich von Kindesbeinen an nur behaglich auszustrecken haben. Wir könnten in dieser Beziehung von den Tieren lernen, welche ja auch mit rührendster Sorgfalt für die Ernährung und Erziehung ihrer Kleinen sorgen, aber dieselben von dem Augenblick an, wo sie im stande sind, sich durch eigne Anstrengung zu erhalten, sich selbst überlassen. So sollte esmutatis mutandisauch bei den Menschen sein. In der That hat sich Verfasser während seines Aufenthaltes in Amerika erzählen lassen, dass dort, namentlich in der Stadt Newyork, sehr reiche Familien die Gewohnheit haben, einen grossen oder grössten Teil ihres Vermögens wissenschaftlichen, künstlerischen oder humanitären Anstalten zuzuwenden oder zur Gründung sog. Philantropien herzugeben und ihre Angehörigen auf diese Weise zur Arbeit zu zwingen, geleitet von dar Erfahrung, dass Söhne sehr reicher Familien in dem Bewusstsein dieses Reichtums sehr häufig in Faulheit und Liederlichkeit verderben. Aber im ganzen mögen dieses wohl nur42rühmliche Ausnahmen sein. Denn Reichtum und Geld bergen leider eine dämonische Gewalt der Anziehung in sich, welche diejenigen, die einmal auf diesem Wege sind, nicht ruhen und die Begierde nach mehr in demselben Grade wachsen lässt, in welchem dieselbe befriedigt wird. Der Durst nach Geld und Besitz hat daher das Eigentümliche, dass er durch Befriedigung nicht gestillt, sondern nur stärker angeregt wird. Gleichzeitig übt diese Befriedigung bei der Mehrzahl der Menschen einen nachteiligen Einfluss auf den Charakter aus, macht geizig, hartherzig und egoistisch und gibt nur ausnahmsweise einzelnen Anlass, mit ihrem Reichtum aus eignem innerem Antrieb den schönen und edlen Seiten der menschlichen Natur Genüge zu thun.Alledem wird ein klug angelegtes Erbschaftssteuergesetz, welches das Erbschaftsamt ermächtigt, die Erbschaften im Namen des Staates mit Beschlag zu belegen und die Erbschaft, soweit es notwendig und zweckmässig ist, für die Kinder, im übrigen aber für den Staat zu verwalten, auf die wohltätigste Weise entgegenwirken. Es wird der übertriebenen Sparsamkeit, dem Geiz, der Habgier, dem nutzlosen Aufspeichern und der allzu grossen Anhäufung des Reichtums in den Händen einzelner einen gewissen Damm entgegensetzen, ohne dabei den Einzelnen desjenigen Antriebs zum Erwerb zu berauben, welcher in der ersten Sorge für die Nachkommenschaft und in der Liebe zur Arbeit ruht. Denn, wie Prof.Hallier6treffend bemerkt, »es kann kaum etwas Ehrloseres geben, als die Arbeit als eine Last zu betrachten und sie nicht um ihrer selbst willen hochzuschätzen. Wer gesund ist und bei guten körperlichen oder geistig43en Kräften, für den ist die Arbeit der höchste Lebensgenuss. Und der Reiche sollte so ehrlos sein, sich auf die Faulbank zu legen, weil er weiss, dass der Mehrerwerb nicht zum Verderben seiner Kinder, sondern zum Wohl des Staates, zum Wohl seiner Mitbürger verwendet wird? Ist jemand mit Glücksgütern gesegnet, so hat er doppelt und dreifach die Pflicht, sich durch Arbeit dieser Güter wert zu zeigen. Der Müssiggänger ist ehrlos.«Im Anschluss an diese schönen Worte darf man die gegründete Hoffnung aussprechen, das Bewusstsein, dass er mit seiner Arbeit nicht bloss für sich und die Seinigen, sondern auch bis zu einem gewissen Grade für die Gesamtheit wirkt, werde erhebend und veredelnd auf den Einzelnen wirken und damit jenen Zustand vorbereiten helfen, wo das Glück des Einzelnen mit dem Glück der Gesamtheit zusammenfällt, und wo somit der Einzelne das, was er auf der einen Seite zu verlieren glaubt, auf der andern wieder mit Zinsen zurückerhält.Was meinen dritten und letzten Vorschlag betrifft, so geht derselbe, wie bereits gesagt, auf Umwandlung des Staates in eine grosse, allgemeine, solidarisch verbundeneVersicherungsgesellschaftgegen Alter, Krankheit, Unfall, Invalidität, unverschuldete Not und Tod. Schon mit dieser einen Massregel würde der grösste Teil des sozialen Elends mit einem Schlage aus der Welt geschafft und die kostspielige, oft mehr Schaden als Nutzen bringende Armenpflege entbehrlich gemacht werden, Es würde keine Elenden und Verlassenen ohne eigne Schuld mehr geben, und das grosse Prinzip gesellschaftlicher Gegenseitigkeit würde zur Richtschnur n44icht bloss für einzelne Kreise, sondern für die ganze menschliche Gesellschaft werden. Die Gesellschaft selbst mit ihren verschiedenen Gliederungen würde dabei keine Änderung erleiden, sondern gerade so fortbestehen, wie bisher, und jedem Einzelnen würde gegeben oder geholfen werden je nach seinen Verhältnissen oder Bedürfnissen, seiner Lebenslage, seiner sozialen Stellung und nach den Opfern, welche er durch seine Arbeit oder sein Vermögen zur Erhaltung des Staates bringt oder gebracht hat. Allerdings wird man entgegnen, dass diese Opfer dadurch nicht vermindert, sondern wesentlich erhöht werden müssten. Aber eine solche Rücksicht kann nicht in das Gewicht fallen gegenüber den enormen Vorteilen einer derartigen Einrichtung, auch würde die Last dadurch, dass sie auf den Schultern aller Staatsbürger ohne Ausnahme ruht, für den Einzelnen nicht allzuschwer werden. Man vergesse nicht, welche enormen Opfer jetzt schon von privater Seite für alle die verschiedenen Versicherungs- und Ersparniszwecke gebracht, und welche kaum mehr erschwingliche Lasten den Gemeinden durch die fortwährend steigenden Ausgaben für Armenpflege auferlegt werden. Auch übersehe man nicht den enormen moralischen Vorteil, welcher darin liegt, dass jeder in dem Bewusstsein lebt und arbeitet, dass er nicht jeden Augenblick unverschuldet ein Ausgestossener oder Verlassener der Gesellschaft werden, oder dass seine Hinterbliebenen nicht die Beute des Hungers und Elends werden können; man vergesse endlich nicht, dass die materiellen Opfer, welche der Staat fortwährend zur Abwehr der Verbrechen gegen Person und Eigentum aufzuwenden genötigt ist, um ein sehr Bedeutendes reduziert werden müssten. Wenn der Staat, wie dieses z. B, im Grossherzogtum Hessen geschieht, jeden45einzelnen Gebäudebesitzer zwingt, an einer staatlichen Versicherung seines Besitzes gegen Feuersgefahr teilzunehmen, und auf diese Weise eine Solidarität aller hausbesitzenden Staatsbürger gegen Schädigung ihres Eigentums durch Feuer herstellt, warum soll er nicht das Recht haben, die gleiche Solidarität der Staatsbürger gegen die weit bedenklichere Schädigung durch Krankheit, Alter, Invalidität und Tod herzustellen? Und wie leicht und einfach würde eine solche Maschinerie zu lenken oder zu leiten sein im Vergleich mit den komplizierten und persönlich belästigenden Gesetzesbestimmungen desBismarckschen Staatssozialismus, in dem sich kaum ein Rechtsgelehrter zurechtzufinden vermag.Immerhin ist es mit Freuden zu begrüssen, dass die Einführung dieses Staatssozialismus den schlagenden Beweis dafür geliefert hat, dass die Notwendigkeit einer meinem Vorschlag ähnlichen Massregel in offiziellen wie parlamentarischen Kreisen genügend anerkannt ist. Nur wird man dabei leider allzusehr an das bekannte Sprichwort erinnert: »Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass.« An sich recht verdienstlich, ist dieser Staatssozialismus doch nur ein schwacher Versuch auf dem Wege sozialer Reformen und ganz unfähig das soziale Elend als solches zu heben. Ja er kann insofern gefährlich werden, als er, weil er nicht halten kann, was er verspricht, zu schädlichen Täuschungen führt und damit radikaleren Reformen entgegenwirkt. Dasselbe gilt von den vielen Privatwohlthätigkeitsanstalten gegen Bettel, Trunksucht, Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot u. s. w., sowie von den Bestrebungen zur religiösen, sittlichen oder intellektuellen Hebung der unteren Volksklassen oder zur Hebung der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe oder zur gemeinsamen Beschaffung von Produkti46ons- und Konsumtionsmitteln auf dem Weg der Selbsthilfe, oder von den Versuchen, das alte Innungswesen wieder neu zu beleben oder durch Feststellung eines Normallohnes und einer Normalarbeitszeit die Lage der arbeitenden Klassen zu verbessern, und dergl. Alle diese Dinge sind, wieBackhaus(a. a. O.) richtig bemerkt, Scheinmittel, Schönheitspflästerchen, welche wohl hier und dort den Anblick der sozialen Not verbergen oder eine vorübergehende Linderung herbeiführen, aber in der Tiefe das Übel weiter wuchern lassen.Ebenso unzureichend wie der Staatssozialismus ist das private Versicherungswesen und dabei mit so vielen und grossen Nachteilen behaftet, dass darausBismarcksPlan zur Verstaatlichung des Lebensversicherungswesens hervorwuchs, ein Plan, welcher bekanntlich an dem Widerspruch der Parlamentarier und Manchester-Männer gescheitert ist. Übrigens ist mein Vorschlag wesentlich verschieden von jenem Plan, da nach demselben die Versicherung nicht freiwillig, sondern obligatorisch für jeden Staatsbürger sein soll, je nach dessen Stand, Vermögenslage oder Arbeitsverdienst. Sollten die Staatseinkünfte für den beabsichtigten Zweck nicht ausreichen (was bei Annahme meiner beiden ersten Vorschläge kaum denkbar wäre), so müsste der Versicherungsbeitrag als Steuer erhoben werden, so lange der Versicherte arbeitsfähig ist.Die Ausführung weiterer Einzelheiten würde auch hier wieder zu weit führen. Ich erlaube mir daher auf einen im zweiten Band meiner Schrift »Aus Natur und Wissenschaft« enthaltenen Aufsatz über die Übernahme des Lebensversicherungswesens durch den Staat zu verweisen.Dieses sind die Grundzüge de47r von mir in Vorschlag gebrachtenSozialreformim Gegensatz zu derjenigen derSozialdemokratie, einer Reform, welche selbstverständlich nur auffriedlichemWege durchgeführt werden soll und kann, und zwar nur durch Gewinnung einer grösseren Zahl einflussreicher Männer auf dem Wege allmähliger Überzeugung.Zwar versichert uns die Sozialdemokratie ebenfalls, dass sie nur auf friedlichem Wege ihr Ziel zu erreichen wünsche; aber dieses dürfte doch nur eine Klugheits-Versicherung sein. Schon das Wort »Demokratie« deutet auf Volksherrschaft und damit auf eine Umwälzung der politischen Verhältnisse, Ehe ich indessen auf nähere Darlegung des wichtigen Unterschiedes vonSozialreformundSozialdemokratieeingehe, bedarf es vorher der Bemerkung, dass meine Vorschlage gar nichts mit Kommunismus zu thun haben. Ich beabsichtige weder eine Aufhebung des Privateigentums, noch eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, sondern ganz im Gegenteil eine grössere Entfaltung oder Entwicklung der letzteren durch Entfernung der den Einzelnen hemmenden Schranken im Kampfe um das Dasein, sowie dadurch, dass im Notfall die Ergreifung der hilfreichen Hand des Staates jedem offen steht, letzteres nicht als ein Almosen, sondern als ein durch geleistete Arbeit erworbenes Recht. Wer unter solchen Umständen und bei freier Bahn für Entfaltung seiner Kräfte nichts leistet, der verdient sein Schicksal. Er geht nicht an den Umständen oder an der Ungerechtigkeit der Gesellschaft, sondern an sich selbst zu Grunde.Zwar ist der Kommunismus an sich durchaus nicht etwas so Schreckliches und Monströses, wie sich die meisten Menschen vorzustellen pflegen. Man kann sich, wie bereits bemerkt, sehr wohl einen Staat auf kommunistischer Grundlage vorstellen, in welchem alles Besitztum gemeinsam und48die Arbeit ganz freiwillig sein würde — vorausgesetzt, dass die durch lange Jahre und entsprechende Gesellschaftszustände grossgezogenen egoistischen Triebe und Neigungen der menschlichen Natur sich in altruistische umgewandelt hätten, was natürlich nur sehr langsam und allmählich geschehen könnte. Auch sind durchaus nicht alle bis jetzt bekannten kommunistischen Versuche misslungen, und da, wo sie misslungen sind, ist dieses oft weniger Folge innerer Unmöglichkeit, als vielmehr des Drucks äusserer ungünstiger Umstände inmitten einer auf ganz anderen Grundlagen aufgebauten Gesellschaftsordnung gewesen.7Besteht doch schon im jetzigen Staats- und Gemeindeleben eine nicht geringe Menge kommunistischer Einrichtungen, die sämtlich, wenn die einseitige und engherzige Manchester-Doktrin richtig wäre, mehr oder weniger ausgemerzt werden und der fast immer unzureichenden Privatthätigkeit überlassen bleiben müssten. Man denke nur an die Steuern und deren mannigfache Verwendung zu Zwecken des Gemeinwohls, an die Staatsschulden, an denen jeder Einzelne partizipiert, an die Militärpflicht, welche jeden Einzelnen nötigt, selbst Leben und Gesundheit im Interesse der Gemeinschaft aufzuopfern, an die sog. Expropriationsgesetze, an das vom Staat auf öffentliche Kosten, geleitete Unterrichtswesen und an den Schulzwang, an Eisenbahnen, Strassen und öffentliche Bauten, an Staatsposten und Staatstelegraphen, an das öffentliche Gesundheitswesen, an Gemeinde-Versorgung und Armenpflege, an staatliche Massregeln zur Hebung der Landwirtschaft, an49die staatliche Beaufsichtigung von Fabriken, Bergwerken, Banken, Häuserbau u. s. w., an öffentliche Brunnen, Museen, Bibliotheken, Promenaden, Versorgungshäuser, Hospitäler u. s. w. Alle diese Dinge, jede Besteuerung der Bürger von Staats- und Gemeindewegen zu andern Zwecken, als Polizei, Rechtspflege und Militär, also für den Schutz des Individuums nach innen und aussen, sind mehr oder weniger sozialistische oder kommunistische Einrichtungen, welche der Manchester-Doktrin, die in dem Staat nur eine Polizei-Anstalt zur Sicherung von Person, Eigentum und öffentlicher Sicherheit erblickt, also denselben gewissermassen die Rolle eines bezahlten Schutzmannes spielen lässt, direkt zuwiderlaufen.Aber alles dieses hindert nicht, dass zur Zeit eine noch so starke und allgemeine Abneigung der Menschen gegen jede Art kommunistischer Staatsgestaltung besteht, dass jedes weitere Wort darüber als überflüssig erscheint. Es müssten erst, wie gesagt, lange Jahre des Altruismus und Kollektivismus vorausgegangen sein, um dieser Abneigung einigermassen Herr werden zu können.Einstweilen muss es genügen, wenn man im Stande sein wird, an der Hand der von mir gemachten Vorschläge eine grössere Ausgleichung zwischen Staats- und Privatbesitz oder zwischen den Interessen des Einzelnen und denen der Gesamtheit herbeizuführen. Es ist dasselbe Programm, welches der berühmte National-ÖkonomSchäfflein seiner »Quintessenz des Sozialismus« aufgestellt hat, indem er diese Quintessenz in derErsetzung des Privatkapitals durch das Kollektiv-Kapitalfindet. Auch stimmt es im wesentlichen mit dem erweiterten Programm, welchesBebelin seiner Schrift über »die Frau« für den Sozialsta50at der Zukunft voraussetzt, wenn er verlangt, dass die Begriffe von Staat und Gesellschaft sich künftighin decken, und dass der heutige Gegensatz zwischen sozialer und politischer Organisation verschwinden solle.Die Wohlthätigkeit einer solchen Einrichtung oder einer Versöhnung zwischen Einzel- und Gesamt-Interessen kann nicht besser deutlich gemacht werden, als durch eine Vergleichung des staatlichen Organismus mit den Einrichtungen des tierischen oder menschlichen Organismus. Hier findet eine fortwährende Strömung der Lebenssäfte von der Peripherie nach dem Zentrum und umgekehrt von dem Zentrum nach der Peripherie statt. Je lebhafter und ungehinderter diese Strömung vor sich geht, um so besser ist der Stand der Gesundheit und des Wohlseins, während Stockungen dieses Säfteaustausches an einzelnen Stellen des Körpers Krankheit und Verderben herbeiführen.Ebenso verhält es sich im Staat und in der menschlichen Gesellschaft, welche sich um so wohler befindet, je lebhafter der Austausch und Ausgleich zwischen Privat- und Gesamtleistung ist. Die grossen Privatvermögen gleichen den Eiterbeulen oder Blutstockungen, welche, indem sie sich an einzelnen Stellen festsetzen, den beschriebenen Austausch stören und verderblich auf den Gesamt-Organismus zurückwirken. Durch die Wirkung meiner Vorschläge wird eine solche Störung ferner nicht mehr möglich sein. Denn sie bewirken ein fortwährendes Zurückströmen des Privatbesitzes in den Besitz der Gesamtheit und von da wieder eine Verteilung nach der Peripherie oder unter die Einzelnen. Die grosse Staatskasse muss gewissermassen das Herz des staatlichen Organismus bilden, welches einerseits seinen befruchtende51n und ernährenden Inhalt durch zahllose Kanäle in die Organe und Gewebe des staatlichen Körpers treibt und denselben andrerseits aus ebensovielen Kanälen und Adern wieder an sich saugt. Ohne das verhasste kommunistische »Teilen« wird gewissermassen in jedem einzelnen Augenblick »geteilt« und ein Zustand hergestellt, in welchem das schöne, bereits öfter zitierte Wort »einer für alle und alle für einen« zur Wahrheit wird.»Der Heimfall aller Güter an den Staat nach dem Tode ihrer Erwerber«, sagt M.Nordau(a. a. O.) »schafft ein nahezu unerschöpfliches gemeinsames Vermögen,ohne den individuellen Besitz aufzuheben. Jedes Individuum hat dann ein Eigen- und ein Gesamt-Vermögen, wie es einen Tauf- und einen Familien-Namen hat.... Indem das Individuum für sich arbeitet, arbeitet es zugleich für die Gesamtheit, welcher eines Tages der ganze Überschuss seines Erwerbs über den Verbrauch zu gute kommen wird. Das Gesamtvermögen bildet das ungeheure Sammelbecken, welches aus dem Überfluss der einen dem Mangel der andern abhilft und nach jedem Menschenalter die immer wieder entstehenden Ungleichheiten in der Güterverteilung ausgleicht, welche Ungleichheiten die Vererbung im Gegenteil fixiert und mit jeder Generation schroffer macht.«Ganz verschieden von diesem, auf friedlichem Wege durchzuführenden Programm derSozialreformist dasjenige derSozialdemokratie, welche, wenigstens in Deutschland, zur Zeit an der Spitze der ganzen sozialistischen Bewegung steht und die offen ausgesprochene Hoffnung nährt, Staat und Gesellschaft mit der Zeit in ihrem Sinne umwandeln zu können, Diese Hoffnung ist eine trüge52rische und wird es auch wohl bleiben. Der Hauptvorwurf, den man der Sozialdemokratie machen kann und machen muss, ist der, dass sie den Begriff der Sozialreform und der sozialen Frage überhaupt viel zu enge fasst. Denn sie macht aus der grossen Gesellschaftsfrage, welche die ganze Menschheit zu umfassen hat, eine eng begrenzteArbeiterfrage, welche obendrein, wenn man die Sache bei Licht betrachtet, nur eine bestimmte Klasse von Arbeitern umfasst. Die allgemeinen Menschheitsrechte und Menschheitsinteressen schliessen selbstverständlich auch die Rechte und Interessen der Arbeiter ein, während nicht das Umgekehrte der Fall ist und die Rechte und Interessen der Arbeiter (im engeren Sinne) nicht die allgemeinen Menschheitsrechte einschliessen. Auch die Hoffnung der Sozialdemokraten, dass sie, zunächst und aus praktischen Gründen von den Interessen und Rechten der handarbeitenden Klassen ausgehend und auf dieselben gestutzt, mit der Zeit dahin kommen werden, auch die allgemeinen Menschheits-Interessen in Angriff zu nehmen oder die grosse soziale Frage zu lösen, dürfte, wie noch näher gezeigt werden wird, eine sehr illusorische sein.Der eigentliche Vater der heutigen Sozialdemokratie istFerdinand Lassalle, welcher durch sein Auftreten im Beginn der sechziger Jahre die damals fast überall sich bildenden Arbeiterbildungsvereine und die nachSchulze-Delitzsch'schem Muster errichteten Konsum-, Rohstoff- und Vorschuss-Vereine mit einem Schlage zu Fall und durch seine Versprechungen künftiger Seligkeiten die Masse der Arbeiter auf seine Seite brachte. Auch wird er nebenKarl Marx, welcher als der geistige Vater der ganzen Bewegung anzusehen ist, immer noch von der Masse der Sozialdem53okraten als eine Art Apostel oder Heiliger verehrt, obgleich seine Theorien längst als falsch erkannt und selbst von der heutigen Schule der Sozialdemokratie mehr oder weniger verlassen sind. Insbesondere hat sich seine grosse Hoffnung auf das allgemeine Stimmrecht, vermittelst dessen, wenn einmal eingeführt, er alle seine Pläne zu erreichen hoffte, als durchaus illusorisch erwiesen. Wir sind in Deutschland bereits seit über zwanzig Jahren im Besitze des allgemeinen Stimmrechts oder des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Wahlen zur obersten Vertretung des deutschen Volkes oder des Reichstags. Und was ist während dieser langen Zeit mit Hilfe einer bis dahin unerhörten Agitation von den sozialdemokratischen Führern erreicht worden? Dass ein verhältnismässig kleines Häuflein ihrer Anhänger, welches allerdings durch Rührigkeit und Talent die schwache Zahl einigermassen wett macht, Sitz und Stimme im deutschen Reichstag erlangt hat, während sich z. B. der Einfluss derkatholischenWahlleitung mehr als dreimal so stark erwiesen hat. Allerdings hat sich die sozialdemokratische Partei neuerdings mit aller Macht auf den Versuch geworfen, ihre Agitation auf das Land zu Übertragen und die grosse Masse der ländlichen Bevölkerung, welche ja bei allgemeinen Wahlen in der Regel den Ausschlag giebt, für sich zu gewinnen. Aber man kann fast mit Bestimmtheit voraussagen, dass dieser Versuch bei dem überwiegend konservativen Sinn der Landbevölkerung und deren politischer Apathie scheitern wird. Sollte dieses aber nicht der Fall sein und sollte der von den Sozialdemokraten gehoffte Erfolg wirklich früher oder später eintreten oder auch nur in Aussicht stehen, so würden die besitzende54n und im Besitze der Gewalt befindlichen Klassen der Gesellschaft langst dafür gesorgt haben, dass eine solche Umänderung oder Einschränkung des allgemeinen Wahlrechts, die ein derartiges Resultat unmöglich machen würde, eingetreten wäre. Es ist ein sehr naiver Glaube der Sozialdemokraten, dass sich die herrschenden Klassen der Gesellschaft an der Hand des allgemeinen Stimmrechts einfach den Hals würden zudrehen lassen; denn niemand lässt sich gutwillig abschlachten. Daher die Durchführung des sozialdemokratischen Programms schliesslich nur durchGewaltmöglich sein würde. Aber selbst in diesem Falle würde eine solche Herrschaft unmöglich von langer Dauer sein, da eine Beherrschung der Bildung durch die Unbildung ein Unding und nur zeitweise möglich ist. Schon der griechische PhilosophXenophaneshat den beherzigenswerten Ausspruch gethan: »Besser als die Stärke von Männern und Rossen ist die Einsicht.«Dazu kommt, dass eine Organisation der gesamten Arbeit von Staatswegen, wie sie die Sozialdemokratie anstrebt, eine reine Utopie ist und immer eine solche bleiben wird. Die menschliche Arbeit in ihrer Gesamtheit ist ein viel zu kompliziertes und mannigfaltiges, durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage beherrschtes Räderwerk, als dass sich dasselbe auf büreaukratische Weise beherrschen oder regeln liesse. Wollte man eine solche Beherrschung dennoch durchführen, so würde und müsste daraus eine unerträgliche Büreaukratie und Tyrannei und eine Beschränkung der persönlichen Freiheit resultieren, welche zehnmal schlimmer wäre, als die gegenwärtige Beschränkung durch den monarchisch-büreaukratischen Staat, Der grosse amerik55anische Bodenbesitz-ReformatorHenry George, dem gewiss niemand eine tiefe Einsicht in nationalökonomische Verhältnisse abstreiten wird, nimmt keinen Anstand, eine solche Organisation der Arbeit von oben herab geradezu als »egyptische Despotie« zu bezeichnen.In gleicher Weise nennt der entschiedene SozialistTh. Hertzka8die »Tyrannei einer solchen Arbeitsordnung unerträglich« und Freiheit und Gerechtigkeit unvereinbar mit dem »unerhörtesten Zwange, der jemals geübt worden ist.« Dazu wäre die in solcher Weise geübte soziale Gerechtigkeit der »Tod alles Fortschritts und aller Zivilisation, In einer Gesellschaft, in der alles arbeiten muss, um nur auskömmlich satt zu werden, könnte es keine Wissenschaften, keine Künste, keine Freiheit und kein Glück geben.«Wer kennt nichtEugen Richterssozialdemokratische Zukunftsbilder? Es mag darin manches verzeichnet oder falsch aufgefasst oder übertrieben sein; aber im grossen und ganzen ist doch der unerträgliche Zustand, der die Folge einer solchen büreaukratischen Beherrschung der Arbeit sein müsste, richtig und wirkungsvoll gekennzeichnet. Die Sozialdemokraten werden zwar das alles nicht Wort haben wollen; aber solange sie sich nicht deutlicher als bisher über die Art und Weise erklären, wie sie sich ihren Zukunftsstaat vorstellen, müssen sie sich derartige Imputationen schon gefallen lassen.Eine ebensolche Unmöglichkeit, wie die Organisation56der gesamten Arbeit, ist die Erzielung des vollen Arbeitsertrages für den einzelnen Lohn-Arbeiter, wie sie die Sozialdemokratie verlangt. Es ist dies eine geradezu unbegreifliche Forderung. Wo bliebe unter solchen Umständen die Belohnung der (geistigen oder körperlichen) Arbeit des Unternehmers, des Fabrikherrn, des Geschäftsgründers? Wo das Risiko? Wo die Geschäftskrisen? Wo die Verzinsung des Kapitals? Wo die Belohnung jenes erfinderischen oder organisatorischen Genies, welches unter Umständen die alleinige Seele des ganzen Geschäfts ist? Soll z. B. der Ausläufer oder »Druckerteufel« einer Zeitung oder eines litterarischen Unternehmens, welches der Thätigkeit eines talentierten Schriftstellers und eines unternehmenden Verlegers seine Entstehung und seine Prosperität verdankt, gleichen Anteil an dem Ertrag des Geschäftes haben, wie der Gründer und Leiter desselben? Soll der taglöhnende Maurer, welcher bei dem Bau eines Hauses keine andre Aufgabe hat, als einen Stein auf den ändern zu setzen, denselben Anteil an dem Ertrag des fertigen Hauses haben, wie der Baumeister und Kapitalist, welcher die dazu nötigen Mittel geliefert bat? Wer würde im Angesicht einer solchen Nötigung überhaupt noch Geschäfte machen oder Fabriken gründen wollen, bei denen er der Hilfe von Lohnarbeitern bedarf? Und welcher Kapitalist würde so einfältig sein, sein Geld für solche Unternehmungen herzuleihen, bei denen er nicht mehr verdient, als der einzelne Lohnarbeiter? Alle von Seiten der Sozialdemokratie auf die kapitalistische Produktionsweise und auf das sog. Lohnsystem gehäuften Vorwürfe passen in der Regel nur auf ganz grosse industrielle Unternehmungen und auf solche Geschäfte, bei denen es sichnurum arbeitende Hände und um Kapital handelt, während überall dort, wo ein Geschäft oder eine57Fabrik durch die schöpferische Thätigkeit eines Einzelnen bestellt, der Mehrgewinn oder die fälschlicherweise sog. »Kapitalprämie« des Unternehmers oder Organisators sehr wohl verdient ist.»Der schier unbegreifliche Irrtum aller bisherigen sozialen Schulen«, sagtHertzka(a. a. O.), »liegt darin, dass sie, um das Anrecht des Arbeitenden auf den vollen Ertrag zu verteidigen, den Nachweis liefern zu müssen glaubten, dass Arbeit allein produktiv sei, Unternehmerschaft, Boden und Kapital aber nicht. Dies könnte nur dadurch geändert werden, dass der Arbeitende sein eigener Unternehmer, Grundbesitzer und Kapitalist wird u. s. w.«Allerdings wollen die Sozialdemokraten für den einzelnen Unternehmer den Staat, welcher alle Produktionsmittel liefern soll, substituieren. Aber sie vergessen, dass der Staat dabei ganz denselben Nachteilen unterliegt oder dieselben Gefahren läuft, wie der Privat-Unternehmer. Der Staat ist ja kein Zauberer, welcher nur die Wünschelrute zu bewegen braucht, um Schätze aus den Tiefen der Erde hervorzuzaubern, oder der das christliche Wunder mit den Broten und Fischen wiederholen könnte, sondern er ist nur die Gemeinschaft aller Bürger; und was er dem einen giebt, muss er aus der Tasche des andern nehmen. Nur ein Staat, welcher durch Bodenrente und Erbschaftsbeschränkung ungewöhnlich grosse Geldmittel in die Hand bekäme, könnte möglicherweise so weitgehenden Anforderungen gerecht werden. Dazu kommt, dass der volle Arbeitsertrag, wie ihn die Sozialdemokraten verlangen, nicht einmal als ein besonders grosses Glück für den einzelnen Lohnarbeiter angesehen werden könnte. Wenn eine Fabrik, welche einige hundert Menschen beschäftig58t, ihrem Besitzer oder Gründer einen noch so grossen Reingewinn abwirft, so würde dieser Reingewinn, welcher allerdings in der Hand des Einzelnen sehr gross erscheint, wenn er gleichmässig unter alle Arbeiter verteilt würde, die Glücksumstände des einzelnen Arbeiters nur sehr wenig zu verbessern im Stande sein.Die Sozialdemokraten wissen so vieles und manches von den nachteiligen Wirkungen des Klassenstaates und der Klassenherrschaft zu berichten; aber sie selbst streben eine Klassenherrschaft weitgehendster Art an, indem sie den industriellen und Fabrikarbeiter zu einer bevorzugten Gesellschaftsklasse erheben, der alle Kräfte des Staates mehr oder weniger dienstbar gemacht werden sollen — wobei sie überdies ganz vergessen, dass ihre Vorschläge immer nur einem verhältnismässig kleineren Teil der arbeitenden Bevölkerung zugute kommen, und dass ein sehr grosser Teil übrig bleibt, welchem durch Beschaffung der sog. Produktionsmittel von Staatswegen überhaupt nicht zu helfen ist, da sie solcher Produktionsmittel gar nicht bedürfen. Man denke z. B. nur an die sehr grosse Klasse derDienstbotenund an so viele andre Zweige menschlicher Thätigkeit, welche sich in jene Schablone nicht einfügen lassen! Überdies passt jene Schablone, wie bereits gesagt, nur für solche Fabrikationszweige, welche bereits fix und fertig dastehen und nichts weiter als Kapital und arbeitender Hände bedürfen, während ihre Anwendung bei neuen oder in der Entwicklung begriffenen Fabrikationszweigen mindestens ihre grossen Gefahren oder Unzuträglichkeiten haben müsste.Wie mit dem Wort »Arbeiter«, so wird auch mit dem.59Wort »Proletarier« von der Sozialdemokratie schreiender Missbrauch getrieben. »Ist es nicht wahrhaft tragikomisch«, fragtBackhaus(a. a. O.) »das Proletariat zur herrschenden Klasse machen zu wollen? Zu einerKlasse, obgleich das Klassenwesen die Sozialisten und Kommunisten mit grimmigem Hass erfüllt? Und nun gar zurherrschendenKlasse, obgleich sie die Herrschaft keiner Klasse dulden wollen? Ist es nicht ein unlösbarer Widerspruch, die höchste politische Macht im Proletariat konzentrieren und alle Produktionsinstrumente in seinen Händen vereinigen zu wollen? Als ob die vielen andern Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, welche nicht zum Proletariat, auch nicht zum Proletariat als herrschender Klasse gehören, einfach nicht da wären oder, wenn als daseiend betrachtet, als willenlos, gefühllos, kopflos, als lebendig tot angesehen werden könnten.... Jedenfalls könnte das Proletariat als solches diese ihm zugedachte Rolle nicht durchführen, ohne seiner Eigenschaft als Proletariat verlustig zu gehen. Denn es könnte doch nur der Ausdruck des Lächerlichen in seiner höchsten Potenz sein, die Beherrscher der Gesellschaft als »Proletariat« zu bezeichnen, d. h. als die arme, kümmerlich von der Hand in den Mund lebende Arbeiterbevölkerung, welche dem Staate nicht mit Geld, sondern nur mit ihren Kindern dienen kann u. s. w.«Nein — derwahreSozialismus will im Gegensatz zu diesem falschen Sozialismus keine Herrschaft einzelner Gesellschaftsklassen oder keine Bevorzugung einzelner Berufskreise, sondern eine Befreiung derganzenGesellschaft (mit Einschlug auch dergeistigenArbeiter, welche oft noch weit schlimmer daran sind, wie die körperlichen Arbeiter) durch eine grössere Ausgleichung des Besitzes und der Mittel, mit denen jeder Einzelne seinen Kampf um das Dasein60kämpfen muss. Im Grunde sind wir ja alle Arbeiter oder sollten es wenigstens sein, mit Ausnahme der verhältnismässig wenigen, welche von dem aufgespeicherten, Fett ihrer Vorfahren leben. Wer nicht arbeitet, soll oder sollte auch nicht essen. Aber dabei soll der einzelne keine Arbeitsmaschine sein, wie im sozialdemokratischen Staat, sondern seine volle persönliche Freiheit und Selbständigkeit geniessen. Denn nur dadurch, dass an die Seite derpolitischenFreiheit auch diewirtschaftlicheBefreiung gesetzt wird, kann die Lösung des sozialen Problems gefunden werden. »Sozialdemokratiedagegen bedeutet, wie schon der Name besagt, bloss eine Änderung der Person des auf sozialem Gebiete Herrschenden; statt der vielen kleinen Herren soll es einen einzigen geben, das ganze Volk. Gewiss, dieser alleinige Herrscher würde den kleinen Tyrannen gegenüber den gewaltigen Vorzug haben, dass er sich das Wohl aller zum Zwecke setzte, während diese nur auf ihr eigenes Wohl bedacht sind. Aber die Freiheit ist selbst dem wohlwollendsten Herrscher vorzuziehen u. s. w.« (Hertzka.)Wenn man alles das bedenkt, so muss man unwillkürlich auf die Vermutung kommen, dass die ganze sozialdemokratische Bewegung von den Führern mehr als Mittel zum Zweck, denn als wirkliche Zukunftspolitik betrachtet wird. Dieselben sind viel zu gescheit oder einsichtig, um nicht den riesigen Unterschied zwischen friedlicher Sozialreform und gewaltsamer Sozialdemokratie zu begreifen. Aber sie sind einmal auf dem vonMarx-Lassalleangebahnten Wege zu weit vorwärts gegangen, um zurück zu können, und betrachten die von ihnen beherrschten oder geleiteten Arbeitermassen gewissermassen als Handhabe für eine spätere Verwir61klichung ihrer Zukunftspläne. In Bezug auf diese im Dunkel der Verborgenheit schwebenden Zukunftspläne hapert es denn freilich sehr, gewaltig. Man hat schon sehr häufig an die Führer der deutschen Sozialdemokratie das Verlangen gestellt, dass sie sich des Näheren über die Art und Weise auslassen möchten, in welcher sie sich die Gestaltung ihres sozialdemokratischen Zukunftsstaates vorstellten. Gewiss ist ein solches Verlangen sehr berechtigt, denn niemand wird so thöricht sein, sich ohne den dringendsten Anlass in eine Ungewisse Zukunft zu stürzen, wenn er nicht weiss, dass ihm diese Zukunft Besseres bringen wird als die Gegenwart. Wer die heutige Gesellschaftsordnung von Grund aus umgestalten will, hat doch vor allem andern die Verpflichtung, sich ein genaueres Bild von derjenigen Ordnung zu machen, welche an die Stelle jener gesetzt werden soll. Mit allgemeinen Versprechungen ist da nicht geholfen, Wenn die Arbeitermassen dennoch diesen allgemeinen Versprechungen vertrauen und denen folgen, welche sie ihnen machen, so erklärt sich dieses mit Leichtigkeit daraus, dass sie von dem an sich sehr berechtigten Gefühl der Unzulänglichkeit ihrer Lebenslage durchdrungen und bereit sind, jedem zu folgen, der ihnen Besserung dieser Lage verspricht, ohne sich viel Kopfzerbrechens über die Art und Weise dieser Besserung und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit ihrer Ausführung zu machen. Da sie nicht viel zu verlieren haben, so ist ihnen jede Änderung willkommen, bei welcher möglicherweise ein Gewinn in Aussicht steht. Anders ist es dort, wo die Aufgabe einer ernsten Prüfung solcher Zukunftspläne gebieterisch an den Denker und Menschenfreund herantritt.Aber welche Antwort erhält derselbe auf seine62Frage nach der sozialdemokratischen Zukunft?Dass man diese Zukunft nicht voraussehen und heute noch nicht sagen könne, wie sich die Dinge später gestalten würden. Zunächst käme es nur darauf an, den alten Klassenstaat einzureissen, das übrige werde sich dann schon von selbst machen. Man könne die Entwicklung der gesellschaftlichen Dinge in der Zukunft ebensowenig voraussagen, wie man die Entwicklung der Geschichte voraussagen könne; noch weniger könne man ihr jetzt schon Gesetze vorschreiben; eines werde sich schon ganz von selbst aus dem andern entwickeln.Eine solche Antwort ist freilich sehr bequem, aber in keiner Weise genügend, und kein verständiger oder aufrichtiger Sozialist kann sich damit zufrieden geben. Man schüttet ein trübes Glas Wasser nicht aus, bevor man ein reines vor sich stehen hat, und jedenfalls ist der jetzige Zustand mit allen seinen Mängeln besser, als die Aussicht auf ein dunkles, sozialdemokratisches Chaos, von dem niemand sagen kann, ob sich daraus Gutes oder Schlechtes für die Menschheit entwickeln wird.Unter solchen Umständen bleibt behufs Beurteilung des sozialdemokratischen Programms nichts übrig, als sich an dasjenige zu halten, was darüber offiziell bekannt geworden ist. Eine solche Veröffentlichung liegt vor in dem auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Erfurt (14.-21. Oktober 1891) beratenen und beschlossenen Programm der Partei. Wenn man nun dieses Programm unbefangen prüft, so findet man sehr bald Grund zu erstaunen teils über die verhältnismässige Bescheidenheit der darin aufgestellten Forderungen, teils über das Nichtssagende, Überflüssige oder sich selbst Widersprechende einzelner derselben. Auch63ist das Programm im Grunde noch ganz nach Marx-Lassalleschen Grundsätzen gemodelt, obgleich man diese Grundsätze längst als nicht mehr haltbar oder bestimmend erklärt hat.Was dabei zunächst die in der Einleitung verlangte »Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel) in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion« betrifft, so kann eine solche allgemein hingestellte Forderung ohne näheres Eingehen in die Einzelheiten einer so durchgreifenden Massregel kaum mehr als den Wert einer Phrase beanspruchen, — abgesehen davon, dass die darin liegende Organisation der gesamten Arbeit von Staatswegen, wie bereits nachgewiesen wurde, als eine Utopie oder Unmöglichkeit betrachtet werden muss.Gehen wir zu den einzelnen Programmpunkten über, so sind dieselben eigentlich weit mehr politischer, als sozialistischer Natur und übereinstimmend mit den Forderungen der politischen Demokratie. An erster Stelle figuriert die schon vonLassalleso scharf betonte Forderung desallgemeinen Stimm- oder Wahlrechts— eine Forderung, welche ja an solcher Stelle deswegen als überflüssig erscheint, weil sie einmal zum Teil bereits erreicht ist, und weil sie zweitens mit einer der bekanntesten und am wenigsten bestrittenen Forderungen der politischen Demokratie zusammenfällt. Auch muss hier nochmals an die bereits hervorgehobene Unzuverlässigkeit dieses Rechtes, sowie daran erinnert werden, dass dasselbe ein zweischneidiges Schwert ist, welches bei seiner unbehinderten Anwendung ebe64nsowohlgegenalsfürdie Sozialdemokratie entscheiden könnte. So lange die jetzige politische, soziale und religiöse Abhängigkeit der Wählermassen besteht, kann das allgemeine Stimmrecht nicht einmal als der wirkliche Ausdruck des Volkswillens betrachtet werden, ganz abgesehen davon, dass dieser allgemeine Volkswille durchaus nicht immer das Richtige trifft, sondern sich mitunter in den grössten Gegensätzen bewegt. Braucht man doch zum schlagenden Beweise dessen nur an das bekannte Plebiszit des dritten Napoleon zu erinnern, welcher nichtsdestoweniger wenige Jahre später, nachdem er den allgemeinen Hass der Nation auf sich geladen hatte, mit Schimpf und Schande davon gejagt wurde. Oder an die Proklamierung der Volkssouveränität in Frankreich im Jahre 1789, welche während eines ganzen Jahrhunderts nur fortwährend auf- und abwogende politische Kämpfe zwischen den verschiedensten Meinungen und Regierungsformen ohne positives Resultat zur Folge gehabt hat! Wenn der Arbeiter nach der Weisung seines Arbeitgebers, der Beamte nach derjenigen seiner Regierung, der katholische Wähler blindlings nach dem Kommando seiner Priester oder Kapläne stimmt, oder wenn der Bauer demjenigen zujubelt, der ihn durch Anwendung oratorischer oder materieller Mittel für sich zu gewinnen versteht, wenn endlich das Interesse des Volkes oder der Wähler selbst an der Wahl ein so geringes ist, dass es nur durch künstliche Aufstachelung erregt werden kann, so wird man zugestehen müssen, dass das Resultat einer solchen Wahl oft sehr wenig nach Vernunft und Gerechtigkeit schmecken wird. Die grosse Masse mit ihrer Unbildung oder Unwissenheit, ihrer Denkfaulheit, ihrer Unselbständigkeit und materiellen Abhängigkeit, ihrer Unterwürfigkeit unter65Herkommen und Gewohnheit oder mit ihrer ganzen grobmaterialistischen Weise, zu denken und zu fühlen, ist das grosse Hemmnis an der Uhr der Menschheitsentwicklung, welche diese Entwicklung zurückhält und oft die riesigsten Anstrengungen einer aufgeklärten und für das Wohl der Menschheit begeisterten Minderheit mehr oder weniger vereitelt.Das unbegrenzte Vertrauen der Sozialdemokratie in das allgemeine Stimmrecht für Verwirklichung ihrer Zukunftspläne dürfte daher zum mindesten als sehr zweifelhaft bezeichnet werden. Wäre dieses aber auch nicht der Fall, und sollte es gelingen, die Arbeitermassen so unter den Ruf ihrer Führer zu zwingen, dass diese auf dem Wege des allgemeinen Stimmrechts die politische Macht in ihre Hände zu bekommen Aussicht hätten, so würde man, wie bereits bemerkt, seitens der herrschenden Klassen längst einer solchen Eventualität durch geeignete Massregeln vorgebeugt oder aber sich auf einen ernsten Konflikt vorbereitet haben. Also bliebe auch hier wieder nur der Weg gewaltsamer Einwirkung oder der Revolution, deren Ausgang mindestens sehr zweifelhaft sein und welche vielleicht oder wahrscheinlich das Gegenteil des von der Sozialdemokratie Gewollten zur Folge haben würde.Die zweite der aufgestellten Forderungen verlangtdirekte Gesetzgebung durch das Volk, wobei es aber gänzlich unklar gelassen wird, wie man sich eine solche Einrichtung des näheren vorstellt Vielleicht hat man an die Schweiz gedacht, wo die Annahme oder Verwerfung wichtiger Gesetzesentwürfe durch direkte Volksabstimmung entschieden wird. Was aber in der kleinen Schweiz möglich ist, ist es nicht in grossen Staaten, wo eine solche Vo66lksabstimmung die grössten Unzuträglichkeiten haben müsste. Auch darf man nicht vergessen, dass diese Abstimmungen infolge der Dummheit und Unbildung der grossen Massen oft in sehr reaktionärem Sinne ausfallen und die wohlthätigsten Reformen vereiteln. In streng katholischen Ländern oder Gegenden wären davon die schwersten Gefahren für Geistes- und Gewissensfreiheit, welche hohen Güter doch auf der Fahne der Sozialdemokratie stehen, sicher zu erwarten.Der dritte Punkt verlangtVolkswehr an Stelle der stehenden Heere. So berechtigt eine solche Forderung an und für sich ist, so thöricht ist sie doch unter der Konstellation der augenblicklichen politischen, Verhältnisse. Für das zwischen zwei grossen, zum Angriff bereiten Militärmächten eingekeilte Deutschland würde die Erfüllung einer solchen Forderung der reine politische Selbstmord sein, abgesehen davon, dass die Vornahme einer so tiefgreifenden Umänderung uns für kürzere oder längere Zeit in einen Zustand militärischer Schwäche oder Unfähigkeit versetzen müsste, der uns zur willkommenen Beute unsrer raubgierigen Nachbarn machen würde.Was die diesem Programmpunkt angehängte Forderung der Schlichtungaller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege betrifft, so ist diese Forderung diejenige aller aufrichtigen Friedensfreunde, aber für die Gegenwart leider wie so viele andre sozialdemokratische Wünsche »verlorene Liebesmüh.«Der vierte Punkt verlangt mit Recht die Beseitigung aller polizeilichen Einschränkungen derfreien Meinungsäusserungund des67Versammlungsrechtes. In einem freien oder Volksstaat dürfte sich das so sehr von selbst verstehen, dass dessen Erwähnung in dem Programm als ganz überflüssig erscheint.Der fünfte Punkt verlangtpolitische und soziale Gleichstellung der Frau mit dem Manne, — eine Forderung, mit welcher auch nicht-sozialdemokratische Gelehrte und Schriftsteller vielfach übereinstimmen, welche also nicht als charakteristisch für das sozialdemokratische Programm angesehen werden kann.Dasselbe gilt von dem sechsten Punkt, welcher die so oft von allen vorgeschrittenen politischen Parteien verlangte und in Amerika längst durchgeführteTrennung des Staates von der Kircheverlangt.Nicht minder aber auch von dem siebenten Punkt, welcher Weltlichkeit der Schule und den bereits vielfach eingeführten obligatorischen, unentgeltlichenVolksunterrichtfordert.Der achte Punkt verlangt abermals Dinge, die längst als Forderungen liberaler Gesetzgebung anerkannt sind, wie Unentgeltlichkeit derRechtspflege, Berufungsrecht, Entschädigung unschuldig Verurteilter, Abschaffung der Todesstrafe, Dabei findet sich aber auch die Forderung derRechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Das Beispiel Amerikas, wo diese Einrichtung Korruption und Bestechlichkeit grossgezogen hat, hätte die Verfasser des Programms von der Einfügung dieses Punktes abhalten sollen.Die Unentgeltlichkeit des ärztlichen Beistandes(mit Einschluss der Totenbestattung), welche der neunte Punkt verlangt, mag ihre Vorteile haben, hat aber andrerseits auch ihre grossen Nachteile. Übrigens ist durch Einrichtung des Krankenkassenwesens dieser Forderung wenigstens bis zu einem gewissen Grade bereits Genüge gethan.Der zehnte Punkt bezieht sich auf die wichtige Frage derBesteuerung, über deren Einzelheiten bekanntlich die auseinandergehendsten Meinungen bestehen. Im allgemeinen decken sich die sozialdemokratischen Forderungen in diesem Punkt so ziemlich mit denjenigen aller Fortschrittsfreunde.An diese zehn Punkte schliesst sich eine Reihe von Forderungen an, welche speziell »zum Schutze der Arbeiterklasse« aufgestellt sind. Dabei muss denn vor allem wieder der Ausdruck »Arbeiterklasse« Wunder nehmen, da doch, wie bereits bemerkt, der erbittertste Kampf der Sozialdemokratie gegen alle Klassengegensätze und gegen den sogenannten »Klassenstaat« gerichtet ist. Wie lässt sich damit die Aufstellung einer besondern, von der übrigen Gesellschaft abgesonderten »Arbeiterklasse« vereinigen, unter welcher, wenn man der Sache auf den Grund geht, doch nur die besitzlosen Handarbeiter verstanden sein können? Warum sollen diese Handarbeiter eine besondre Klasse bilden? In einem richtig organisierten Staate sindalleArbeiter oder sollen es sein, einerlei ob sie mit Hand oder Fuss oder Kopf oder sonst irgendwie arbeiten; daher ein Gegensatz oder Unterschied zwischen »Arbeitern« im sozialdemokratischen Sinne und den Übrigen Staatsangehörigen gar nicht mehr gemacht werden kann. Dennoch verlangt das sozialdemokratische Programm für seine »Arbeiter« einen besonderen »Schutz des Staates« und zwar in folgenden Punkten:

»Das Eigentumsrecht,« sagtLaboulayein seiner preisgekrönten Schrift über die Geschichte dieses Rechts, »ist eine Schöpfung der Gesellschaft ... Jedesmal wenn die Gesellschaft etwas darin ändert, ist sie in ihrem Recht, und niemand kann sich dagegen im Namen eines ältern Rechtes auflehnen; denn vor ihr und nach ihr gibt es nichts. In ihr ruht die einzige Quelle und der Ursprung des Rechts.«

Der Einzelne darf sein Erworbenes oder Ererbtes schon um deswillen nicht beliebig verschenken, weil sein Erwerb kein rein persönlicher, sondern nur möglich ist in der Gesellschaft und durch deren Mitwirkung. Eines der eklatantesten Beispiele dieser Art ist die bereits erwähnte enorme Wertsteigerung des Grundes und Bodens im Innern und in der Umgebung grosser, in der Entwicklung begriffener Städte, welche dem einzelnen Besitzer ohne jedes eigne Verdienst Millionen in den Schoss wirft und der Gesamtheit durch die enorme Steigerung der Wohnungsmieten keinen Nutzen,37sondern nur Schaden bringt. Es ist ein Zustand förmlicher Lohnsklaverei der Nicht-Besitzenden gegenüber den Besitzenden, welchem durch die Gesetzgebung längst ein Damm hätte entgegengesetzt werden sollen.

Selbstverständlich könnte eine so durchgreifende soziale Massregel, wie die Beschränkung der Erbrechte, nicht plötzlich oder auf einmal, sondern nur allmählich und ohne allzu grosse oder allzu plötzliche Beleidigung privater Interessen in das Leben gerufen werden. Aber gerade in dieser Möglichkeit einer allmählich sich steigernden Einführung liegt ein Hauptvorteil des Vorschlags, wobei Praxis und tägliche Erfahrung der Theorie jederzeit zur Hülfe kommen oder unter die Arme greifen können. Auf diesem Wege wird es auch nicht schwer werden, zu einer Entscheidung darüber zu kommen, ob man bis zu einer gänzlichen Aufhebung der Erbrechte oder nur bis zu einer gewissen Grenze der Einschränkung gehen soll.

Der Hauptnutzen oder Hauptvorteil des ganzen Vorschlags besteht in dessen ausgleichender Gerechtigkeit oder darin, dass jeder nur die Früchte seines eignen Fleisses, seiner eignen Tätigkeit und nicht diejenigen der Thätigkeit oder des Glücks seiner Vorfahren ohne jede eigne Bemühung gemessen würde. Söhne reicher Eltern haben in der Regel das Privileg, roh, unwissend, faul oder lüderlich zu sein, so dass grosser, namentlich unverdienter Reichtum oft mehr zum Fluch als zum Segen wird. Von Geburt Reiche oder Vornehme werden von den meisten Menschen als Wesen höherer Art angesehen, denen man sich nur mit einer gewissen scheuen Ehrfurcht nähern dürfe, obgleich diese Drohnen der Gesellschaft weit unter denen stehen, we38lche ihr Leben selbst gemacht haben. Dem berühmten und berüchtigten AusspruchProudhons»Eigentum ist Diebstahl« liegt insofern ein sehr berechtigter Gedanke zu Grunde, als nur der durch eigne Arbeit erworbene Besitz rechtmässiges Eigentum genannt werden kann, während der ohne eigne Bemühung ererbte Besitz sehr wohl als eine Art von Diebstahl an dem Vermögen oder an der Arbeitskraft der Gesamtheit betrachtet werden kann. Denn wenn der durch Erbschaft reich gewordene Teil der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade in einem Zustand von Wohlsein und verhältnismässigem Nichtsthun lebt, so ist dieses nur dadurch möglich, dass er sein Geld für sich arbeiten lässt, d. h., da das Geld nicht selbst arbeitet, durch die Leiden, die Arbeit und die Entbehrung ärmerer Mitmenschen, welche den Zins aufzubringen haben. Nicht dasjenige Eigentum soll angetastet werden, welches durch eignen Fleiss und eigne Sparsamkeit erworben worden ist, sondern nur dasjenige in gewissen Schranken gehalten werden, welches seine Entstehung dem Fleisse oder den Glücksumständen anderer verdankt. Wer darin eine Ungerechtigkeit erblicken wollte, müsste seine eignen Begriffe von Gerechtigkeit haben.

Ein weiterer nicht hoch genug zu veranschlagender Nutzen oder Vorteil meines Vorschlags besteht darin, dass durch dessen Ausführung der übermässigen Anhäufung grosser Privatvermögen in einzelnen Händen, welche, wie bereits bemerkt, einen Staat im Staate, eine Geldmacht gegenüber der Staatsmacht darstellen, eine unübersteigliche Schranke gesetzt wird. Die enormen Nachteile einer solchen Anhäufung in politischer Beziehung sind namentlich dort bemerkbar, wo, wie z. B. in Amerika, die unglückliche Manchesterdo39ktrin herrschend ist, und wo mitunter grosse oder reiche Eisenbahngesellschaften einen ganzen Staat politisch völlig in der Gewalt haben. Die amerikanischen Eisenbahn-Direktoren spielen bei der enormen Ausdehnung und Wichtigkeit des dortigen Eisenbahnwesens in der Gegenwart eine ähnliche Rolle, wie sie die Feudalherren des Mittelalters gespielt haben, und brechen in Folge schlechter Verwaltung oder mangelhaften Bahnbaues jedes Jahr einigen hundert oder tausend Personen beinahe ungestraft die Hälse oder mindestens Arme und Beine. Ja, man verhehlt sich in Amerika nicht die Gefahr, dass sich mit der Zeit das Eisenbahn-Monopol sogar den Congress und die Bundesregierung dienstbar machen werde. Aber auch in Europa liegt die Gefahr oder Möglichkeit vor, dass der Einfluss grosser Geldmächte unter Umständen im Stande ist, über Krieg und Frieden zu entscheiden oder parlamentarische Körperschaften unter ihren Willen zu beugen. Ist ja doch das Geld heutzutage eine alles bestimmende Macht und Gott Mammon der einzige Gott, zu dem noch mit wahrer Inbrunst gebetet zu werden pflegt!

Der letzte und hauptsächlichste Vorteil meines Vorschlags beruht aber darin, dass der Staat, ohne die verhasste Steuerschraube in Anwendung bringen zu müssen, auf die leichteste Weise in den Besitz hinreichender Geldmittel kommt, um alle im Interesse der Allgemeinheit notwendigen Massregeln durchführen zu können, wie Erziehung und Erhaltung der Kinder, wo die Einzelfamilie dazu nicht ausreicht, Unentgeltlichkeit des gesamten Unterrichts, Versorgung von Witwen und Waisen, Abschaffung des Pauperismus und unverschuldeter Arbeitslosigkeit, Beschaffung der Arbeits- oder Produktionsmittel, Besorgung des Verkehrswesens40u. s. w. Wenn man bedenkt, dass nach den Veröffentlichungen des preussischen Finanzministeriums allein in Preussen jährlichzwölfhundert Millionen Markvererbt werden — eine Schätzung, welche übrigens nach ändern viel zu gering ist und auf mehr als das Doppelte veranschlagt werden kann — so erhellt daraus, wie gross das Erträgnis einer solchen Massregel, obendrein im Verein mit dem staatlichen Bezug der Bodenrente, sein müsste.

Natürlich hat man gegen dieselbe und ihre Ausführbarkeit eine Menge von Einwänden bereit, unter denen die zu befürchtende Beeinträchtigung des Erwerbstriebs, die Gefahr der Verschwendung und die Umgebung des Gesetzes durch Schenkung unter Lebenden neben befürchteter Schädigung der Familie die Hauptrolle spielen. Ein näheres Eingehen auf diese Einwände würde die Grenzen dieser kleinen Schrift überschreiten. Ich muss mich daher begnügen, auf mein Buch über die »Stellung des Menschen in Natur und Gesellschaft« zu verweisen, in dessen dritter Abteilung ich jene Einwände genügend entkräftet zu haben glaube, und wo auch im Anschluss daran die wichtige Kapitalfrage eingehend erörtert ist.

Nur das mag hier nicht unerwähnt bleiben, dass der Einfluss des Erbrechts im Vergleich mit dem Eigentumsrechtals Antrieb zur Arbeitals ein ziemlich untergeordneter betrachtet werden darf. Allerdings können wir alle Tage von solchen, welche einer übertriebenen Sparsamkeit huldigen und unnötigerweise Schätze aufhäufen, die Versicherung hören,dass sie nur für ihre Kinder sparten. Aber derjenige müsste ein schlechter Kenner der menschlichen Natur sein, der dieser Versicherung einen mehr als sehr bedi41ngungsweisen Glauben beimessen wollte, Man spart zumeist für sich selbst und aus Freude am Besitz, und betrügt nur sich oder andere mit dem Vorwand, dass man es der Nachkommen halber thue, — was ja schon daraus erhellt, dass gerade unter denjenigen, welche keine Leibeserben haben, die grössten Geizhälse und Sparsimpel angetroffen werden. Im Gegenteil würde es ein viel natürlicherer Gesichtspunkt sein, wenn solche, die ihre Reichtümer oder ihren Wohlstand durch eigne Anstrengung erworben haben, von ihren Kindern oder Erben dieselben Anstrengungen, dieselbe Arbeit verlangten oder erwarteten, statt dass sie sich mit Anstrengung aller Kräfte bemühen, denselben ein Lotterbette zu bereiten, auf dem sie sich von Kindesbeinen an nur behaglich auszustrecken haben. Wir könnten in dieser Beziehung von den Tieren lernen, welche ja auch mit rührendster Sorgfalt für die Ernährung und Erziehung ihrer Kleinen sorgen, aber dieselben von dem Augenblick an, wo sie im stande sind, sich durch eigne Anstrengung zu erhalten, sich selbst überlassen. So sollte esmutatis mutandisauch bei den Menschen sein. In der That hat sich Verfasser während seines Aufenthaltes in Amerika erzählen lassen, dass dort, namentlich in der Stadt Newyork, sehr reiche Familien die Gewohnheit haben, einen grossen oder grössten Teil ihres Vermögens wissenschaftlichen, künstlerischen oder humanitären Anstalten zuzuwenden oder zur Gründung sog. Philantropien herzugeben und ihre Angehörigen auf diese Weise zur Arbeit zu zwingen, geleitet von dar Erfahrung, dass Söhne sehr reicher Familien in dem Bewusstsein dieses Reichtums sehr häufig in Faulheit und Liederlichkeit verderben. Aber im ganzen mögen dieses wohl nur42rühmliche Ausnahmen sein. Denn Reichtum und Geld bergen leider eine dämonische Gewalt der Anziehung in sich, welche diejenigen, die einmal auf diesem Wege sind, nicht ruhen und die Begierde nach mehr in demselben Grade wachsen lässt, in welchem dieselbe befriedigt wird. Der Durst nach Geld und Besitz hat daher das Eigentümliche, dass er durch Befriedigung nicht gestillt, sondern nur stärker angeregt wird. Gleichzeitig übt diese Befriedigung bei der Mehrzahl der Menschen einen nachteiligen Einfluss auf den Charakter aus, macht geizig, hartherzig und egoistisch und gibt nur ausnahmsweise einzelnen Anlass, mit ihrem Reichtum aus eignem innerem Antrieb den schönen und edlen Seiten der menschlichen Natur Genüge zu thun.

Alledem wird ein klug angelegtes Erbschaftssteuergesetz, welches das Erbschaftsamt ermächtigt, die Erbschaften im Namen des Staates mit Beschlag zu belegen und die Erbschaft, soweit es notwendig und zweckmässig ist, für die Kinder, im übrigen aber für den Staat zu verwalten, auf die wohltätigste Weise entgegenwirken. Es wird der übertriebenen Sparsamkeit, dem Geiz, der Habgier, dem nutzlosen Aufspeichern und der allzu grossen Anhäufung des Reichtums in den Händen einzelner einen gewissen Damm entgegensetzen, ohne dabei den Einzelnen desjenigen Antriebs zum Erwerb zu berauben, welcher in der ersten Sorge für die Nachkommenschaft und in der Liebe zur Arbeit ruht. Denn, wie Prof.Hallier6treffend bemerkt, »es kann kaum etwas Ehrloseres geben, als die Arbeit als eine Last zu betrachten und sie nicht um ihrer selbst willen hochzuschätzen. Wer gesund ist und bei guten körperlichen oder geistig43en Kräften, für den ist die Arbeit der höchste Lebensgenuss. Und der Reiche sollte so ehrlos sein, sich auf die Faulbank zu legen, weil er weiss, dass der Mehrerwerb nicht zum Verderben seiner Kinder, sondern zum Wohl des Staates, zum Wohl seiner Mitbürger verwendet wird? Ist jemand mit Glücksgütern gesegnet, so hat er doppelt und dreifach die Pflicht, sich durch Arbeit dieser Güter wert zu zeigen. Der Müssiggänger ist ehrlos.«

Im Anschluss an diese schönen Worte darf man die gegründete Hoffnung aussprechen, das Bewusstsein, dass er mit seiner Arbeit nicht bloss für sich und die Seinigen, sondern auch bis zu einem gewissen Grade für die Gesamtheit wirkt, werde erhebend und veredelnd auf den Einzelnen wirken und damit jenen Zustand vorbereiten helfen, wo das Glück des Einzelnen mit dem Glück der Gesamtheit zusammenfällt, und wo somit der Einzelne das, was er auf der einen Seite zu verlieren glaubt, auf der andern wieder mit Zinsen zurückerhält.

Was meinen dritten und letzten Vorschlag betrifft, so geht derselbe, wie bereits gesagt, auf Umwandlung des Staates in eine grosse, allgemeine, solidarisch verbundeneVersicherungsgesellschaftgegen Alter, Krankheit, Unfall, Invalidität, unverschuldete Not und Tod. Schon mit dieser einen Massregel würde der grösste Teil des sozialen Elends mit einem Schlage aus der Welt geschafft und die kostspielige, oft mehr Schaden als Nutzen bringende Armenpflege entbehrlich gemacht werden, Es würde keine Elenden und Verlassenen ohne eigne Schuld mehr geben, und das grosse Prinzip gesellschaftlicher Gegenseitigkeit würde zur Richtschnur n44icht bloss für einzelne Kreise, sondern für die ganze menschliche Gesellschaft werden. Die Gesellschaft selbst mit ihren verschiedenen Gliederungen würde dabei keine Änderung erleiden, sondern gerade so fortbestehen, wie bisher, und jedem Einzelnen würde gegeben oder geholfen werden je nach seinen Verhältnissen oder Bedürfnissen, seiner Lebenslage, seiner sozialen Stellung und nach den Opfern, welche er durch seine Arbeit oder sein Vermögen zur Erhaltung des Staates bringt oder gebracht hat. Allerdings wird man entgegnen, dass diese Opfer dadurch nicht vermindert, sondern wesentlich erhöht werden müssten. Aber eine solche Rücksicht kann nicht in das Gewicht fallen gegenüber den enormen Vorteilen einer derartigen Einrichtung, auch würde die Last dadurch, dass sie auf den Schultern aller Staatsbürger ohne Ausnahme ruht, für den Einzelnen nicht allzuschwer werden. Man vergesse nicht, welche enormen Opfer jetzt schon von privater Seite für alle die verschiedenen Versicherungs- und Ersparniszwecke gebracht, und welche kaum mehr erschwingliche Lasten den Gemeinden durch die fortwährend steigenden Ausgaben für Armenpflege auferlegt werden. Auch übersehe man nicht den enormen moralischen Vorteil, welcher darin liegt, dass jeder in dem Bewusstsein lebt und arbeitet, dass er nicht jeden Augenblick unverschuldet ein Ausgestossener oder Verlassener der Gesellschaft werden, oder dass seine Hinterbliebenen nicht die Beute des Hungers und Elends werden können; man vergesse endlich nicht, dass die materiellen Opfer, welche der Staat fortwährend zur Abwehr der Verbrechen gegen Person und Eigentum aufzuwenden genötigt ist, um ein sehr Bedeutendes reduziert werden müssten. Wenn der Staat, wie dieses z. B, im Grossherzogtum Hessen geschieht, jeden45einzelnen Gebäudebesitzer zwingt, an einer staatlichen Versicherung seines Besitzes gegen Feuersgefahr teilzunehmen, und auf diese Weise eine Solidarität aller hausbesitzenden Staatsbürger gegen Schädigung ihres Eigentums durch Feuer herstellt, warum soll er nicht das Recht haben, die gleiche Solidarität der Staatsbürger gegen die weit bedenklichere Schädigung durch Krankheit, Alter, Invalidität und Tod herzustellen? Und wie leicht und einfach würde eine solche Maschinerie zu lenken oder zu leiten sein im Vergleich mit den komplizierten und persönlich belästigenden Gesetzesbestimmungen desBismarckschen Staatssozialismus, in dem sich kaum ein Rechtsgelehrter zurechtzufinden vermag.

Immerhin ist es mit Freuden zu begrüssen, dass die Einführung dieses Staatssozialismus den schlagenden Beweis dafür geliefert hat, dass die Notwendigkeit einer meinem Vorschlag ähnlichen Massregel in offiziellen wie parlamentarischen Kreisen genügend anerkannt ist. Nur wird man dabei leider allzusehr an das bekannte Sprichwort erinnert: »Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass.« An sich recht verdienstlich, ist dieser Staatssozialismus doch nur ein schwacher Versuch auf dem Wege sozialer Reformen und ganz unfähig das soziale Elend als solches zu heben. Ja er kann insofern gefährlich werden, als er, weil er nicht halten kann, was er verspricht, zu schädlichen Täuschungen führt und damit radikaleren Reformen entgegenwirkt. Dasselbe gilt von den vielen Privatwohlthätigkeitsanstalten gegen Bettel, Trunksucht, Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot u. s. w., sowie von den Bestrebungen zur religiösen, sittlichen oder intellektuellen Hebung der unteren Volksklassen oder zur Hebung der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe oder zur gemeinsamen Beschaffung von Produkti46ons- und Konsumtionsmitteln auf dem Weg der Selbsthilfe, oder von den Versuchen, das alte Innungswesen wieder neu zu beleben oder durch Feststellung eines Normallohnes und einer Normalarbeitszeit die Lage der arbeitenden Klassen zu verbessern, und dergl. Alle diese Dinge sind, wieBackhaus(a. a. O.) richtig bemerkt, Scheinmittel, Schönheitspflästerchen, welche wohl hier und dort den Anblick der sozialen Not verbergen oder eine vorübergehende Linderung herbeiführen, aber in der Tiefe das Übel weiter wuchern lassen.

Ebenso unzureichend wie der Staatssozialismus ist das private Versicherungswesen und dabei mit so vielen und grossen Nachteilen behaftet, dass darausBismarcksPlan zur Verstaatlichung des Lebensversicherungswesens hervorwuchs, ein Plan, welcher bekanntlich an dem Widerspruch der Parlamentarier und Manchester-Männer gescheitert ist. Übrigens ist mein Vorschlag wesentlich verschieden von jenem Plan, da nach demselben die Versicherung nicht freiwillig, sondern obligatorisch für jeden Staatsbürger sein soll, je nach dessen Stand, Vermögenslage oder Arbeitsverdienst. Sollten die Staatseinkünfte für den beabsichtigten Zweck nicht ausreichen (was bei Annahme meiner beiden ersten Vorschläge kaum denkbar wäre), so müsste der Versicherungsbeitrag als Steuer erhoben werden, so lange der Versicherte arbeitsfähig ist.

Die Ausführung weiterer Einzelheiten würde auch hier wieder zu weit führen. Ich erlaube mir daher auf einen im zweiten Band meiner Schrift »Aus Natur und Wissenschaft« enthaltenen Aufsatz über die Übernahme des Lebensversicherungswesens durch den Staat zu verweisen.

Dieses sind die Grundzüge de47r von mir in Vorschlag gebrachtenSozialreformim Gegensatz zu derjenigen derSozialdemokratie, einer Reform, welche selbstverständlich nur auffriedlichemWege durchgeführt werden soll und kann, und zwar nur durch Gewinnung einer grösseren Zahl einflussreicher Männer auf dem Wege allmähliger Überzeugung.

Zwar versichert uns die Sozialdemokratie ebenfalls, dass sie nur auf friedlichem Wege ihr Ziel zu erreichen wünsche; aber dieses dürfte doch nur eine Klugheits-Versicherung sein. Schon das Wort »Demokratie« deutet auf Volksherrschaft und damit auf eine Umwälzung der politischen Verhältnisse, Ehe ich indessen auf nähere Darlegung des wichtigen Unterschiedes vonSozialreformundSozialdemokratieeingehe, bedarf es vorher der Bemerkung, dass meine Vorschlage gar nichts mit Kommunismus zu thun haben. Ich beabsichtige weder eine Aufhebung des Privateigentums, noch eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, sondern ganz im Gegenteil eine grössere Entfaltung oder Entwicklung der letzteren durch Entfernung der den Einzelnen hemmenden Schranken im Kampfe um das Dasein, sowie dadurch, dass im Notfall die Ergreifung der hilfreichen Hand des Staates jedem offen steht, letzteres nicht als ein Almosen, sondern als ein durch geleistete Arbeit erworbenes Recht. Wer unter solchen Umständen und bei freier Bahn für Entfaltung seiner Kräfte nichts leistet, der verdient sein Schicksal. Er geht nicht an den Umständen oder an der Ungerechtigkeit der Gesellschaft, sondern an sich selbst zu Grunde.

Zwar ist der Kommunismus an sich durchaus nicht etwas so Schreckliches und Monströses, wie sich die meisten Menschen vorzustellen pflegen. Man kann sich, wie bereits bemerkt, sehr wohl einen Staat auf kommunistischer Grundlage vorstellen, in welchem alles Besitztum gemeinsam und48die Arbeit ganz freiwillig sein würde — vorausgesetzt, dass die durch lange Jahre und entsprechende Gesellschaftszustände grossgezogenen egoistischen Triebe und Neigungen der menschlichen Natur sich in altruistische umgewandelt hätten, was natürlich nur sehr langsam und allmählich geschehen könnte. Auch sind durchaus nicht alle bis jetzt bekannten kommunistischen Versuche misslungen, und da, wo sie misslungen sind, ist dieses oft weniger Folge innerer Unmöglichkeit, als vielmehr des Drucks äusserer ungünstiger Umstände inmitten einer auf ganz anderen Grundlagen aufgebauten Gesellschaftsordnung gewesen.7Besteht doch schon im jetzigen Staats- und Gemeindeleben eine nicht geringe Menge kommunistischer Einrichtungen, die sämtlich, wenn die einseitige und engherzige Manchester-Doktrin richtig wäre, mehr oder weniger ausgemerzt werden und der fast immer unzureichenden Privatthätigkeit überlassen bleiben müssten. Man denke nur an die Steuern und deren mannigfache Verwendung zu Zwecken des Gemeinwohls, an die Staatsschulden, an denen jeder Einzelne partizipiert, an die Militärpflicht, welche jeden Einzelnen nötigt, selbst Leben und Gesundheit im Interesse der Gemeinschaft aufzuopfern, an die sog. Expropriationsgesetze, an das vom Staat auf öffentliche Kosten, geleitete Unterrichtswesen und an den Schulzwang, an Eisenbahnen, Strassen und öffentliche Bauten, an Staatsposten und Staatstelegraphen, an das öffentliche Gesundheitswesen, an Gemeinde-Versorgung und Armenpflege, an staatliche Massregeln zur Hebung der Landwirtschaft, an49die staatliche Beaufsichtigung von Fabriken, Bergwerken, Banken, Häuserbau u. s. w., an öffentliche Brunnen, Museen, Bibliotheken, Promenaden, Versorgungshäuser, Hospitäler u. s. w. Alle diese Dinge, jede Besteuerung der Bürger von Staats- und Gemeindewegen zu andern Zwecken, als Polizei, Rechtspflege und Militär, also für den Schutz des Individuums nach innen und aussen, sind mehr oder weniger sozialistische oder kommunistische Einrichtungen, welche der Manchester-Doktrin, die in dem Staat nur eine Polizei-Anstalt zur Sicherung von Person, Eigentum und öffentlicher Sicherheit erblickt, also denselben gewissermassen die Rolle eines bezahlten Schutzmannes spielen lässt, direkt zuwiderlaufen.

Aber alles dieses hindert nicht, dass zur Zeit eine noch so starke und allgemeine Abneigung der Menschen gegen jede Art kommunistischer Staatsgestaltung besteht, dass jedes weitere Wort darüber als überflüssig erscheint. Es müssten erst, wie gesagt, lange Jahre des Altruismus und Kollektivismus vorausgegangen sein, um dieser Abneigung einigermassen Herr werden zu können.

Einstweilen muss es genügen, wenn man im Stande sein wird, an der Hand der von mir gemachten Vorschläge eine grössere Ausgleichung zwischen Staats- und Privatbesitz oder zwischen den Interessen des Einzelnen und denen der Gesamtheit herbeizuführen. Es ist dasselbe Programm, welches der berühmte National-ÖkonomSchäfflein seiner »Quintessenz des Sozialismus« aufgestellt hat, indem er diese Quintessenz in derErsetzung des Privatkapitals durch das Kollektiv-Kapitalfindet. Auch stimmt es im wesentlichen mit dem erweiterten Programm, welchesBebelin seiner Schrift über »die Frau« für den Sozialsta50at der Zukunft voraussetzt, wenn er verlangt, dass die Begriffe von Staat und Gesellschaft sich künftighin decken, und dass der heutige Gegensatz zwischen sozialer und politischer Organisation verschwinden solle.

Die Wohlthätigkeit einer solchen Einrichtung oder einer Versöhnung zwischen Einzel- und Gesamt-Interessen kann nicht besser deutlich gemacht werden, als durch eine Vergleichung des staatlichen Organismus mit den Einrichtungen des tierischen oder menschlichen Organismus. Hier findet eine fortwährende Strömung der Lebenssäfte von der Peripherie nach dem Zentrum und umgekehrt von dem Zentrum nach der Peripherie statt. Je lebhafter und ungehinderter diese Strömung vor sich geht, um so besser ist der Stand der Gesundheit und des Wohlseins, während Stockungen dieses Säfteaustausches an einzelnen Stellen des Körpers Krankheit und Verderben herbeiführen.

Ebenso verhält es sich im Staat und in der menschlichen Gesellschaft, welche sich um so wohler befindet, je lebhafter der Austausch und Ausgleich zwischen Privat- und Gesamtleistung ist. Die grossen Privatvermögen gleichen den Eiterbeulen oder Blutstockungen, welche, indem sie sich an einzelnen Stellen festsetzen, den beschriebenen Austausch stören und verderblich auf den Gesamt-Organismus zurückwirken. Durch die Wirkung meiner Vorschläge wird eine solche Störung ferner nicht mehr möglich sein. Denn sie bewirken ein fortwährendes Zurückströmen des Privatbesitzes in den Besitz der Gesamtheit und von da wieder eine Verteilung nach der Peripherie oder unter die Einzelnen. Die grosse Staatskasse muss gewissermassen das Herz des staatlichen Organismus bilden, welches einerseits seinen befruchtende51n und ernährenden Inhalt durch zahllose Kanäle in die Organe und Gewebe des staatlichen Körpers treibt und denselben andrerseits aus ebensovielen Kanälen und Adern wieder an sich saugt. Ohne das verhasste kommunistische »Teilen« wird gewissermassen in jedem einzelnen Augenblick »geteilt« und ein Zustand hergestellt, in welchem das schöne, bereits öfter zitierte Wort »einer für alle und alle für einen« zur Wahrheit wird.

»Der Heimfall aller Güter an den Staat nach dem Tode ihrer Erwerber«, sagt M.Nordau(a. a. O.) »schafft ein nahezu unerschöpfliches gemeinsames Vermögen,ohne den individuellen Besitz aufzuheben. Jedes Individuum hat dann ein Eigen- und ein Gesamt-Vermögen, wie es einen Tauf- und einen Familien-Namen hat.... Indem das Individuum für sich arbeitet, arbeitet es zugleich für die Gesamtheit, welcher eines Tages der ganze Überschuss seines Erwerbs über den Verbrauch zu gute kommen wird. Das Gesamtvermögen bildet das ungeheure Sammelbecken, welches aus dem Überfluss der einen dem Mangel der andern abhilft und nach jedem Menschenalter die immer wieder entstehenden Ungleichheiten in der Güterverteilung ausgleicht, welche Ungleichheiten die Vererbung im Gegenteil fixiert und mit jeder Generation schroffer macht.«

Ganz verschieden von diesem, auf friedlichem Wege durchzuführenden Programm derSozialreformist dasjenige derSozialdemokratie, welche, wenigstens in Deutschland, zur Zeit an der Spitze der ganzen sozialistischen Bewegung steht und die offen ausgesprochene Hoffnung nährt, Staat und Gesellschaft mit der Zeit in ihrem Sinne umwandeln zu können, Diese Hoffnung ist eine trüge52rische und wird es auch wohl bleiben. Der Hauptvorwurf, den man der Sozialdemokratie machen kann und machen muss, ist der, dass sie den Begriff der Sozialreform und der sozialen Frage überhaupt viel zu enge fasst. Denn sie macht aus der grossen Gesellschaftsfrage, welche die ganze Menschheit zu umfassen hat, eine eng begrenzteArbeiterfrage, welche obendrein, wenn man die Sache bei Licht betrachtet, nur eine bestimmte Klasse von Arbeitern umfasst. Die allgemeinen Menschheitsrechte und Menschheitsinteressen schliessen selbstverständlich auch die Rechte und Interessen der Arbeiter ein, während nicht das Umgekehrte der Fall ist und die Rechte und Interessen der Arbeiter (im engeren Sinne) nicht die allgemeinen Menschheitsrechte einschliessen. Auch die Hoffnung der Sozialdemokraten, dass sie, zunächst und aus praktischen Gründen von den Interessen und Rechten der handarbeitenden Klassen ausgehend und auf dieselben gestutzt, mit der Zeit dahin kommen werden, auch die allgemeinen Menschheits-Interessen in Angriff zu nehmen oder die grosse soziale Frage zu lösen, dürfte, wie noch näher gezeigt werden wird, eine sehr illusorische sein.

Der eigentliche Vater der heutigen Sozialdemokratie istFerdinand Lassalle, welcher durch sein Auftreten im Beginn der sechziger Jahre die damals fast überall sich bildenden Arbeiterbildungsvereine und die nachSchulze-Delitzsch'schem Muster errichteten Konsum-, Rohstoff- und Vorschuss-Vereine mit einem Schlage zu Fall und durch seine Versprechungen künftiger Seligkeiten die Masse der Arbeiter auf seine Seite brachte. Auch wird er nebenKarl Marx, welcher als der geistige Vater der ganzen Bewegung anzusehen ist, immer noch von der Masse der Sozialdem53okraten als eine Art Apostel oder Heiliger verehrt, obgleich seine Theorien längst als falsch erkannt und selbst von der heutigen Schule der Sozialdemokratie mehr oder weniger verlassen sind. Insbesondere hat sich seine grosse Hoffnung auf das allgemeine Stimmrecht, vermittelst dessen, wenn einmal eingeführt, er alle seine Pläne zu erreichen hoffte, als durchaus illusorisch erwiesen. Wir sind in Deutschland bereits seit über zwanzig Jahren im Besitze des allgemeinen Stimmrechts oder des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Wahlen zur obersten Vertretung des deutschen Volkes oder des Reichstags. Und was ist während dieser langen Zeit mit Hilfe einer bis dahin unerhörten Agitation von den sozialdemokratischen Führern erreicht worden? Dass ein verhältnismässig kleines Häuflein ihrer Anhänger, welches allerdings durch Rührigkeit und Talent die schwache Zahl einigermassen wett macht, Sitz und Stimme im deutschen Reichstag erlangt hat, während sich z. B. der Einfluss derkatholischenWahlleitung mehr als dreimal so stark erwiesen hat. Allerdings hat sich die sozialdemokratische Partei neuerdings mit aller Macht auf den Versuch geworfen, ihre Agitation auf das Land zu Übertragen und die grosse Masse der ländlichen Bevölkerung, welche ja bei allgemeinen Wahlen in der Regel den Ausschlag giebt, für sich zu gewinnen. Aber man kann fast mit Bestimmtheit voraussagen, dass dieser Versuch bei dem überwiegend konservativen Sinn der Landbevölkerung und deren politischer Apathie scheitern wird. Sollte dieses aber nicht der Fall sein und sollte der von den Sozialdemokraten gehoffte Erfolg wirklich früher oder später eintreten oder auch nur in Aussicht stehen, so würden die besitzende54n und im Besitze der Gewalt befindlichen Klassen der Gesellschaft langst dafür gesorgt haben, dass eine solche Umänderung oder Einschränkung des allgemeinen Wahlrechts, die ein derartiges Resultat unmöglich machen würde, eingetreten wäre. Es ist ein sehr naiver Glaube der Sozialdemokraten, dass sich die herrschenden Klassen der Gesellschaft an der Hand des allgemeinen Stimmrechts einfach den Hals würden zudrehen lassen; denn niemand lässt sich gutwillig abschlachten. Daher die Durchführung des sozialdemokratischen Programms schliesslich nur durchGewaltmöglich sein würde. Aber selbst in diesem Falle würde eine solche Herrschaft unmöglich von langer Dauer sein, da eine Beherrschung der Bildung durch die Unbildung ein Unding und nur zeitweise möglich ist. Schon der griechische PhilosophXenophaneshat den beherzigenswerten Ausspruch gethan: »Besser als die Stärke von Männern und Rossen ist die Einsicht.«

Dazu kommt, dass eine Organisation der gesamten Arbeit von Staatswegen, wie sie die Sozialdemokratie anstrebt, eine reine Utopie ist und immer eine solche bleiben wird. Die menschliche Arbeit in ihrer Gesamtheit ist ein viel zu kompliziertes und mannigfaltiges, durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage beherrschtes Räderwerk, als dass sich dasselbe auf büreaukratische Weise beherrschen oder regeln liesse. Wollte man eine solche Beherrschung dennoch durchführen, so würde und müsste daraus eine unerträgliche Büreaukratie und Tyrannei und eine Beschränkung der persönlichen Freiheit resultieren, welche zehnmal schlimmer wäre, als die gegenwärtige Beschränkung durch den monarchisch-büreaukratischen Staat, Der grosse amerik55anische Bodenbesitz-ReformatorHenry George, dem gewiss niemand eine tiefe Einsicht in nationalökonomische Verhältnisse abstreiten wird, nimmt keinen Anstand, eine solche Organisation der Arbeit von oben herab geradezu als »egyptische Despotie« zu bezeichnen.

In gleicher Weise nennt der entschiedene SozialistTh. Hertzka8die »Tyrannei einer solchen Arbeitsordnung unerträglich« und Freiheit und Gerechtigkeit unvereinbar mit dem »unerhörtesten Zwange, der jemals geübt worden ist.« Dazu wäre die in solcher Weise geübte soziale Gerechtigkeit der »Tod alles Fortschritts und aller Zivilisation, In einer Gesellschaft, in der alles arbeiten muss, um nur auskömmlich satt zu werden, könnte es keine Wissenschaften, keine Künste, keine Freiheit und kein Glück geben.«

Wer kennt nichtEugen Richterssozialdemokratische Zukunftsbilder? Es mag darin manches verzeichnet oder falsch aufgefasst oder übertrieben sein; aber im grossen und ganzen ist doch der unerträgliche Zustand, der die Folge einer solchen büreaukratischen Beherrschung der Arbeit sein müsste, richtig und wirkungsvoll gekennzeichnet. Die Sozialdemokraten werden zwar das alles nicht Wort haben wollen; aber solange sie sich nicht deutlicher als bisher über die Art und Weise erklären, wie sie sich ihren Zukunftsstaat vorstellen, müssen sie sich derartige Imputationen schon gefallen lassen.

Eine ebensolche Unmöglichkeit, wie die Organisation56der gesamten Arbeit, ist die Erzielung des vollen Arbeitsertrages für den einzelnen Lohn-Arbeiter, wie sie die Sozialdemokratie verlangt. Es ist dies eine geradezu unbegreifliche Forderung. Wo bliebe unter solchen Umständen die Belohnung der (geistigen oder körperlichen) Arbeit des Unternehmers, des Fabrikherrn, des Geschäftsgründers? Wo das Risiko? Wo die Geschäftskrisen? Wo die Verzinsung des Kapitals? Wo die Belohnung jenes erfinderischen oder organisatorischen Genies, welches unter Umständen die alleinige Seele des ganzen Geschäfts ist? Soll z. B. der Ausläufer oder »Druckerteufel« einer Zeitung oder eines litterarischen Unternehmens, welches der Thätigkeit eines talentierten Schriftstellers und eines unternehmenden Verlegers seine Entstehung und seine Prosperität verdankt, gleichen Anteil an dem Ertrag des Geschäftes haben, wie der Gründer und Leiter desselben? Soll der taglöhnende Maurer, welcher bei dem Bau eines Hauses keine andre Aufgabe hat, als einen Stein auf den ändern zu setzen, denselben Anteil an dem Ertrag des fertigen Hauses haben, wie der Baumeister und Kapitalist, welcher die dazu nötigen Mittel geliefert bat? Wer würde im Angesicht einer solchen Nötigung überhaupt noch Geschäfte machen oder Fabriken gründen wollen, bei denen er der Hilfe von Lohnarbeitern bedarf? Und welcher Kapitalist würde so einfältig sein, sein Geld für solche Unternehmungen herzuleihen, bei denen er nicht mehr verdient, als der einzelne Lohnarbeiter? Alle von Seiten der Sozialdemokratie auf die kapitalistische Produktionsweise und auf das sog. Lohnsystem gehäuften Vorwürfe passen in der Regel nur auf ganz grosse industrielle Unternehmungen und auf solche Geschäfte, bei denen es sichnurum arbeitende Hände und um Kapital handelt, während überall dort, wo ein Geschäft oder eine57Fabrik durch die schöpferische Thätigkeit eines Einzelnen bestellt, der Mehrgewinn oder die fälschlicherweise sog. »Kapitalprämie« des Unternehmers oder Organisators sehr wohl verdient ist.

»Der schier unbegreifliche Irrtum aller bisherigen sozialen Schulen«, sagtHertzka(a. a. O.), »liegt darin, dass sie, um das Anrecht des Arbeitenden auf den vollen Ertrag zu verteidigen, den Nachweis liefern zu müssen glaubten, dass Arbeit allein produktiv sei, Unternehmerschaft, Boden und Kapital aber nicht. Dies könnte nur dadurch geändert werden, dass der Arbeitende sein eigener Unternehmer, Grundbesitzer und Kapitalist wird u. s. w.«

Allerdings wollen die Sozialdemokraten für den einzelnen Unternehmer den Staat, welcher alle Produktionsmittel liefern soll, substituieren. Aber sie vergessen, dass der Staat dabei ganz denselben Nachteilen unterliegt oder dieselben Gefahren läuft, wie der Privat-Unternehmer. Der Staat ist ja kein Zauberer, welcher nur die Wünschelrute zu bewegen braucht, um Schätze aus den Tiefen der Erde hervorzuzaubern, oder der das christliche Wunder mit den Broten und Fischen wiederholen könnte, sondern er ist nur die Gemeinschaft aller Bürger; und was er dem einen giebt, muss er aus der Tasche des andern nehmen. Nur ein Staat, welcher durch Bodenrente und Erbschaftsbeschränkung ungewöhnlich grosse Geldmittel in die Hand bekäme, könnte möglicherweise so weitgehenden Anforderungen gerecht werden. Dazu kommt, dass der volle Arbeitsertrag, wie ihn die Sozialdemokraten verlangen, nicht einmal als ein besonders grosses Glück für den einzelnen Lohnarbeiter angesehen werden könnte. Wenn eine Fabrik, welche einige hundert Menschen beschäftig58t, ihrem Besitzer oder Gründer einen noch so grossen Reingewinn abwirft, so würde dieser Reingewinn, welcher allerdings in der Hand des Einzelnen sehr gross erscheint, wenn er gleichmässig unter alle Arbeiter verteilt würde, die Glücksumstände des einzelnen Arbeiters nur sehr wenig zu verbessern im Stande sein.

Die Sozialdemokraten wissen so vieles und manches von den nachteiligen Wirkungen des Klassenstaates und der Klassenherrschaft zu berichten; aber sie selbst streben eine Klassenherrschaft weitgehendster Art an, indem sie den industriellen und Fabrikarbeiter zu einer bevorzugten Gesellschaftsklasse erheben, der alle Kräfte des Staates mehr oder weniger dienstbar gemacht werden sollen — wobei sie überdies ganz vergessen, dass ihre Vorschläge immer nur einem verhältnismässig kleineren Teil der arbeitenden Bevölkerung zugute kommen, und dass ein sehr grosser Teil übrig bleibt, welchem durch Beschaffung der sog. Produktionsmittel von Staatswegen überhaupt nicht zu helfen ist, da sie solcher Produktionsmittel gar nicht bedürfen. Man denke z. B. nur an die sehr grosse Klasse derDienstbotenund an so viele andre Zweige menschlicher Thätigkeit, welche sich in jene Schablone nicht einfügen lassen! Überdies passt jene Schablone, wie bereits gesagt, nur für solche Fabrikationszweige, welche bereits fix und fertig dastehen und nichts weiter als Kapital und arbeitender Hände bedürfen, während ihre Anwendung bei neuen oder in der Entwicklung begriffenen Fabrikationszweigen mindestens ihre grossen Gefahren oder Unzuträglichkeiten haben müsste.

Wie mit dem Wort »Arbeiter«, so wird auch mit dem.59Wort »Proletarier« von der Sozialdemokratie schreiender Missbrauch getrieben. »Ist es nicht wahrhaft tragikomisch«, fragtBackhaus(a. a. O.) »das Proletariat zur herrschenden Klasse machen zu wollen? Zu einerKlasse, obgleich das Klassenwesen die Sozialisten und Kommunisten mit grimmigem Hass erfüllt? Und nun gar zurherrschendenKlasse, obgleich sie die Herrschaft keiner Klasse dulden wollen? Ist es nicht ein unlösbarer Widerspruch, die höchste politische Macht im Proletariat konzentrieren und alle Produktionsinstrumente in seinen Händen vereinigen zu wollen? Als ob die vielen andern Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, welche nicht zum Proletariat, auch nicht zum Proletariat als herrschender Klasse gehören, einfach nicht da wären oder, wenn als daseiend betrachtet, als willenlos, gefühllos, kopflos, als lebendig tot angesehen werden könnten.... Jedenfalls könnte das Proletariat als solches diese ihm zugedachte Rolle nicht durchführen, ohne seiner Eigenschaft als Proletariat verlustig zu gehen. Denn es könnte doch nur der Ausdruck des Lächerlichen in seiner höchsten Potenz sein, die Beherrscher der Gesellschaft als »Proletariat« zu bezeichnen, d. h. als die arme, kümmerlich von der Hand in den Mund lebende Arbeiterbevölkerung, welche dem Staate nicht mit Geld, sondern nur mit ihren Kindern dienen kann u. s. w.«

Nein — derwahreSozialismus will im Gegensatz zu diesem falschen Sozialismus keine Herrschaft einzelner Gesellschaftsklassen oder keine Bevorzugung einzelner Berufskreise, sondern eine Befreiung derganzenGesellschaft (mit Einschlug auch dergeistigenArbeiter, welche oft noch weit schlimmer daran sind, wie die körperlichen Arbeiter) durch eine grössere Ausgleichung des Besitzes und der Mittel, mit denen jeder Einzelne seinen Kampf um das Dasein60kämpfen muss. Im Grunde sind wir ja alle Arbeiter oder sollten es wenigstens sein, mit Ausnahme der verhältnismässig wenigen, welche von dem aufgespeicherten, Fett ihrer Vorfahren leben. Wer nicht arbeitet, soll oder sollte auch nicht essen. Aber dabei soll der einzelne keine Arbeitsmaschine sein, wie im sozialdemokratischen Staat, sondern seine volle persönliche Freiheit und Selbständigkeit geniessen. Denn nur dadurch, dass an die Seite derpolitischenFreiheit auch diewirtschaftlicheBefreiung gesetzt wird, kann die Lösung des sozialen Problems gefunden werden. »Sozialdemokratiedagegen bedeutet, wie schon der Name besagt, bloss eine Änderung der Person des auf sozialem Gebiete Herrschenden; statt der vielen kleinen Herren soll es einen einzigen geben, das ganze Volk. Gewiss, dieser alleinige Herrscher würde den kleinen Tyrannen gegenüber den gewaltigen Vorzug haben, dass er sich das Wohl aller zum Zwecke setzte, während diese nur auf ihr eigenes Wohl bedacht sind. Aber die Freiheit ist selbst dem wohlwollendsten Herrscher vorzuziehen u. s. w.« (Hertzka.)

Wenn man alles das bedenkt, so muss man unwillkürlich auf die Vermutung kommen, dass die ganze sozialdemokratische Bewegung von den Führern mehr als Mittel zum Zweck, denn als wirkliche Zukunftspolitik betrachtet wird. Dieselben sind viel zu gescheit oder einsichtig, um nicht den riesigen Unterschied zwischen friedlicher Sozialreform und gewaltsamer Sozialdemokratie zu begreifen. Aber sie sind einmal auf dem vonMarx-Lassalleangebahnten Wege zu weit vorwärts gegangen, um zurück zu können, und betrachten die von ihnen beherrschten oder geleiteten Arbeitermassen gewissermassen als Handhabe für eine spätere Verwir61klichung ihrer Zukunftspläne. In Bezug auf diese im Dunkel der Verborgenheit schwebenden Zukunftspläne hapert es denn freilich sehr, gewaltig. Man hat schon sehr häufig an die Führer der deutschen Sozialdemokratie das Verlangen gestellt, dass sie sich des Näheren über die Art und Weise auslassen möchten, in welcher sie sich die Gestaltung ihres sozialdemokratischen Zukunftsstaates vorstellten. Gewiss ist ein solches Verlangen sehr berechtigt, denn niemand wird so thöricht sein, sich ohne den dringendsten Anlass in eine Ungewisse Zukunft zu stürzen, wenn er nicht weiss, dass ihm diese Zukunft Besseres bringen wird als die Gegenwart. Wer die heutige Gesellschaftsordnung von Grund aus umgestalten will, hat doch vor allem andern die Verpflichtung, sich ein genaueres Bild von derjenigen Ordnung zu machen, welche an die Stelle jener gesetzt werden soll. Mit allgemeinen Versprechungen ist da nicht geholfen, Wenn die Arbeitermassen dennoch diesen allgemeinen Versprechungen vertrauen und denen folgen, welche sie ihnen machen, so erklärt sich dieses mit Leichtigkeit daraus, dass sie von dem an sich sehr berechtigten Gefühl der Unzulänglichkeit ihrer Lebenslage durchdrungen und bereit sind, jedem zu folgen, der ihnen Besserung dieser Lage verspricht, ohne sich viel Kopfzerbrechens über die Art und Weise dieser Besserung und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit ihrer Ausführung zu machen. Da sie nicht viel zu verlieren haben, so ist ihnen jede Änderung willkommen, bei welcher möglicherweise ein Gewinn in Aussicht steht. Anders ist es dort, wo die Aufgabe einer ernsten Prüfung solcher Zukunftspläne gebieterisch an den Denker und Menschenfreund herantritt.Aber welche Antwort erhält derselbe auf seine62Frage nach der sozialdemokratischen Zukunft?Dass man diese Zukunft nicht voraussehen und heute noch nicht sagen könne, wie sich die Dinge später gestalten würden. Zunächst käme es nur darauf an, den alten Klassenstaat einzureissen, das übrige werde sich dann schon von selbst machen. Man könne die Entwicklung der gesellschaftlichen Dinge in der Zukunft ebensowenig voraussagen, wie man die Entwicklung der Geschichte voraussagen könne; noch weniger könne man ihr jetzt schon Gesetze vorschreiben; eines werde sich schon ganz von selbst aus dem andern entwickeln.

Eine solche Antwort ist freilich sehr bequem, aber in keiner Weise genügend, und kein verständiger oder aufrichtiger Sozialist kann sich damit zufrieden geben. Man schüttet ein trübes Glas Wasser nicht aus, bevor man ein reines vor sich stehen hat, und jedenfalls ist der jetzige Zustand mit allen seinen Mängeln besser, als die Aussicht auf ein dunkles, sozialdemokratisches Chaos, von dem niemand sagen kann, ob sich daraus Gutes oder Schlechtes für die Menschheit entwickeln wird.

Unter solchen Umständen bleibt behufs Beurteilung des sozialdemokratischen Programms nichts übrig, als sich an dasjenige zu halten, was darüber offiziell bekannt geworden ist. Eine solche Veröffentlichung liegt vor in dem auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Erfurt (14.-21. Oktober 1891) beratenen und beschlossenen Programm der Partei. Wenn man nun dieses Programm unbefangen prüft, so findet man sehr bald Grund zu erstaunen teils über die verhältnismässige Bescheidenheit der darin aufgestellten Forderungen, teils über das Nichtssagende, Überflüssige oder sich selbst Widersprechende einzelner derselben. Auch63ist das Programm im Grunde noch ganz nach Marx-Lassalleschen Grundsätzen gemodelt, obgleich man diese Grundsätze längst als nicht mehr haltbar oder bestimmend erklärt hat.

Was dabei zunächst die in der Einleitung verlangte »Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel) in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion« betrifft, so kann eine solche allgemein hingestellte Forderung ohne näheres Eingehen in die Einzelheiten einer so durchgreifenden Massregel kaum mehr als den Wert einer Phrase beanspruchen, — abgesehen davon, dass die darin liegende Organisation der gesamten Arbeit von Staatswegen, wie bereits nachgewiesen wurde, als eine Utopie oder Unmöglichkeit betrachtet werden muss.

Gehen wir zu den einzelnen Programmpunkten über, so sind dieselben eigentlich weit mehr politischer, als sozialistischer Natur und übereinstimmend mit den Forderungen der politischen Demokratie. An erster Stelle figuriert die schon vonLassalleso scharf betonte Forderung desallgemeinen Stimm- oder Wahlrechts— eine Forderung, welche ja an solcher Stelle deswegen als überflüssig erscheint, weil sie einmal zum Teil bereits erreicht ist, und weil sie zweitens mit einer der bekanntesten und am wenigsten bestrittenen Forderungen der politischen Demokratie zusammenfällt. Auch muss hier nochmals an die bereits hervorgehobene Unzuverlässigkeit dieses Rechtes, sowie daran erinnert werden, dass dasselbe ein zweischneidiges Schwert ist, welches bei seiner unbehinderten Anwendung ebe64nsowohlgegenalsfürdie Sozialdemokratie entscheiden könnte. So lange die jetzige politische, soziale und religiöse Abhängigkeit der Wählermassen besteht, kann das allgemeine Stimmrecht nicht einmal als der wirkliche Ausdruck des Volkswillens betrachtet werden, ganz abgesehen davon, dass dieser allgemeine Volkswille durchaus nicht immer das Richtige trifft, sondern sich mitunter in den grössten Gegensätzen bewegt. Braucht man doch zum schlagenden Beweise dessen nur an das bekannte Plebiszit des dritten Napoleon zu erinnern, welcher nichtsdestoweniger wenige Jahre später, nachdem er den allgemeinen Hass der Nation auf sich geladen hatte, mit Schimpf und Schande davon gejagt wurde. Oder an die Proklamierung der Volkssouveränität in Frankreich im Jahre 1789, welche während eines ganzen Jahrhunderts nur fortwährend auf- und abwogende politische Kämpfe zwischen den verschiedensten Meinungen und Regierungsformen ohne positives Resultat zur Folge gehabt hat! Wenn der Arbeiter nach der Weisung seines Arbeitgebers, der Beamte nach derjenigen seiner Regierung, der katholische Wähler blindlings nach dem Kommando seiner Priester oder Kapläne stimmt, oder wenn der Bauer demjenigen zujubelt, der ihn durch Anwendung oratorischer oder materieller Mittel für sich zu gewinnen versteht, wenn endlich das Interesse des Volkes oder der Wähler selbst an der Wahl ein so geringes ist, dass es nur durch künstliche Aufstachelung erregt werden kann, so wird man zugestehen müssen, dass das Resultat einer solchen Wahl oft sehr wenig nach Vernunft und Gerechtigkeit schmecken wird. Die grosse Masse mit ihrer Unbildung oder Unwissenheit, ihrer Denkfaulheit, ihrer Unselbständigkeit und materiellen Abhängigkeit, ihrer Unterwürfigkeit unter65Herkommen und Gewohnheit oder mit ihrer ganzen grobmaterialistischen Weise, zu denken und zu fühlen, ist das grosse Hemmnis an der Uhr der Menschheitsentwicklung, welche diese Entwicklung zurückhält und oft die riesigsten Anstrengungen einer aufgeklärten und für das Wohl der Menschheit begeisterten Minderheit mehr oder weniger vereitelt.

Das unbegrenzte Vertrauen der Sozialdemokratie in das allgemeine Stimmrecht für Verwirklichung ihrer Zukunftspläne dürfte daher zum mindesten als sehr zweifelhaft bezeichnet werden. Wäre dieses aber auch nicht der Fall, und sollte es gelingen, die Arbeitermassen so unter den Ruf ihrer Führer zu zwingen, dass diese auf dem Wege des allgemeinen Stimmrechts die politische Macht in ihre Hände zu bekommen Aussicht hätten, so würde man, wie bereits bemerkt, seitens der herrschenden Klassen längst einer solchen Eventualität durch geeignete Massregeln vorgebeugt oder aber sich auf einen ernsten Konflikt vorbereitet haben. Also bliebe auch hier wieder nur der Weg gewaltsamer Einwirkung oder der Revolution, deren Ausgang mindestens sehr zweifelhaft sein und welche vielleicht oder wahrscheinlich das Gegenteil des von der Sozialdemokratie Gewollten zur Folge haben würde.

Die zweite der aufgestellten Forderungen verlangtdirekte Gesetzgebung durch das Volk, wobei es aber gänzlich unklar gelassen wird, wie man sich eine solche Einrichtung des näheren vorstellt Vielleicht hat man an die Schweiz gedacht, wo die Annahme oder Verwerfung wichtiger Gesetzesentwürfe durch direkte Volksabstimmung entschieden wird. Was aber in der kleinen Schweiz möglich ist, ist es nicht in grossen Staaten, wo eine solche Vo66lksabstimmung die grössten Unzuträglichkeiten haben müsste. Auch darf man nicht vergessen, dass diese Abstimmungen infolge der Dummheit und Unbildung der grossen Massen oft in sehr reaktionärem Sinne ausfallen und die wohlthätigsten Reformen vereiteln. In streng katholischen Ländern oder Gegenden wären davon die schwersten Gefahren für Geistes- und Gewissensfreiheit, welche hohen Güter doch auf der Fahne der Sozialdemokratie stehen, sicher zu erwarten.

Der dritte Punkt verlangtVolkswehr an Stelle der stehenden Heere. So berechtigt eine solche Forderung an und für sich ist, so thöricht ist sie doch unter der Konstellation der augenblicklichen politischen, Verhältnisse. Für das zwischen zwei grossen, zum Angriff bereiten Militärmächten eingekeilte Deutschland würde die Erfüllung einer solchen Forderung der reine politische Selbstmord sein, abgesehen davon, dass die Vornahme einer so tiefgreifenden Umänderung uns für kürzere oder längere Zeit in einen Zustand militärischer Schwäche oder Unfähigkeit versetzen müsste, der uns zur willkommenen Beute unsrer raubgierigen Nachbarn machen würde.

Was die diesem Programmpunkt angehängte Forderung der Schlichtungaller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege betrifft, so ist diese Forderung diejenige aller aufrichtigen Friedensfreunde, aber für die Gegenwart leider wie so viele andre sozialdemokratische Wünsche »verlorene Liebesmüh.«

Der vierte Punkt verlangt mit Recht die Beseitigung aller polizeilichen Einschränkungen derfreien Meinungsäusserungund des67Versammlungsrechtes. In einem freien oder Volksstaat dürfte sich das so sehr von selbst verstehen, dass dessen Erwähnung in dem Programm als ganz überflüssig erscheint.

Der fünfte Punkt verlangtpolitische und soziale Gleichstellung der Frau mit dem Manne, — eine Forderung, mit welcher auch nicht-sozialdemokratische Gelehrte und Schriftsteller vielfach übereinstimmen, welche also nicht als charakteristisch für das sozialdemokratische Programm angesehen werden kann.

Dasselbe gilt von dem sechsten Punkt, welcher die so oft von allen vorgeschrittenen politischen Parteien verlangte und in Amerika längst durchgeführteTrennung des Staates von der Kircheverlangt.

Nicht minder aber auch von dem siebenten Punkt, welcher Weltlichkeit der Schule und den bereits vielfach eingeführten obligatorischen, unentgeltlichenVolksunterrichtfordert.

Der achte Punkt verlangt abermals Dinge, die längst als Forderungen liberaler Gesetzgebung anerkannt sind, wie Unentgeltlichkeit derRechtspflege, Berufungsrecht, Entschädigung unschuldig Verurteilter, Abschaffung der Todesstrafe, Dabei findet sich aber auch die Forderung derRechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Das Beispiel Amerikas, wo diese Einrichtung Korruption und Bestechlichkeit grossgezogen hat, hätte die Verfasser des Programms von der Einfügung dieses Punktes abhalten sollen.

Die Unentgeltlichkeit des ärztlichen Beistandes(mit Einschluss der Totenbestattung), welche der neunte Punkt verlangt, mag ihre Vorteile haben, hat aber andrerseits auch ihre grossen Nachteile. Übrigens ist durch Einrichtung des Krankenkassenwesens dieser Forderung wenigstens bis zu einem gewissen Grade bereits Genüge gethan.

Der zehnte Punkt bezieht sich auf die wichtige Frage derBesteuerung, über deren Einzelheiten bekanntlich die auseinandergehendsten Meinungen bestehen. Im allgemeinen decken sich die sozialdemokratischen Forderungen in diesem Punkt so ziemlich mit denjenigen aller Fortschrittsfreunde.

An diese zehn Punkte schliesst sich eine Reihe von Forderungen an, welche speziell »zum Schutze der Arbeiterklasse« aufgestellt sind. Dabei muss denn vor allem wieder der Ausdruck »Arbeiterklasse« Wunder nehmen, da doch, wie bereits bemerkt, der erbittertste Kampf der Sozialdemokratie gegen alle Klassengegensätze und gegen den sogenannten »Klassenstaat« gerichtet ist. Wie lässt sich damit die Aufstellung einer besondern, von der übrigen Gesellschaft abgesonderten »Arbeiterklasse« vereinigen, unter welcher, wenn man der Sache auf den Grund geht, doch nur die besitzlosen Handarbeiter verstanden sein können? Warum sollen diese Handarbeiter eine besondre Klasse bilden? In einem richtig organisierten Staate sindalleArbeiter oder sollen es sein, einerlei ob sie mit Hand oder Fuss oder Kopf oder sonst irgendwie arbeiten; daher ein Gegensatz oder Unterschied zwischen »Arbeitern« im sozialdemokratischen Sinne und den Übrigen Staatsangehörigen gar nicht mehr gemacht werden kann. Dennoch verlangt das sozialdemokratische Programm für seine »Arbeiter« einen besonderen »Schutz des Staates« und zwar in folgenden Punkten:


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