»Schau, heiliger Apostel, o Willibrord,Herab auf die Scharen der Beter,O sei uns des Landes mächtiger Hort,Beschirme den Glauben der Väter.O heil’ger Patron, komm, hilf uns in Not,In Ängsten, Gefahren und Leiden,Und stehe uns schützend bei in dem Tod,Daß siegreich von hinnen wir scheiden!«
»Schau, heiliger Apostel, o Willibrord,Herab auf die Scharen der Beter,O sei uns des Landes mächtiger Hort,Beschirme den Glauben der Väter.O heil’ger Patron, komm, hilf uns in Not,In Ängsten, Gefahren und Leiden,Und stehe uns schützend bei in dem Tod,Daß siegreich von hinnen wir scheiden!«
»Schau, heiliger Apostel, o Willibrord,Herab auf die Scharen der Beter,O sei uns des Landes mächtiger Hort,Beschirme den Glauben der Väter.O heil’ger Patron, komm, hilf uns in Not,In Ängsten, Gefahren und Leiden,Und stehe uns schützend bei in dem Tod,Daß siegreich von hinnen wir scheiden!«
»Schau, heiliger Apostel, o Willibrord,
Herab auf die Scharen der Beter,
O sei uns des Landes mächtiger Hort,
Beschirme den Glauben der Väter.
O heil’ger Patron, komm, hilf uns in Not,
In Ängsten, Gefahren und Leiden,
Und stehe uns schützend bei in dem Tod,
Daß siegreich von hinnen wir scheiden!«
Die abgespannten Gesichter wurden erwartungsvoll rot: hah, da ragte vom höchsten Punkt der Stadt die Pfarrkirche, darinnen unterm Hauptaltar der wundertätige Heilige begraben liegt! Glocken läuteten. Aus allen Giebeln wehende Fahnen, um alle Mauern grüne Girlanden; in allen Fenstern der heilige Willibrord, als Bild, als Statue, als Photographie, und sei’s nur auf Postkarten. Die Echternacher empfangen die Waller, die ihnen Ruhm und Gewinn und Verdienst und Getriebe ins sonst so weltabgelegene Städtchen bringen.
»Heiliger Willibrord, bitt für uns!«»»Bitte für uns, heiliger Willibrord!««
»Heiliger Willibrord, bitt für uns!«»»Bitte für uns, heiliger Willibrord!««
»Heiliger Willibrord, bitt für uns!«»»Bitte für uns, heiliger Willibrord!««
»Heiliger Willibrord, bitt für uns!«
»»Bitte für uns, heiliger Willibrord!««
Das ist der Gruß, mit dem Städter und Waller sich begrüßen. Von Gasse zu Gasse pflanzt sich das Gemurmel fort. Nun ist man am Marktplatz: Schaubude, Würfelbude, Schießbude, Schaukel, Karussell, Glücksrad, Pfefferkuchenstand, Menagerie, Wahrsagerin. Ei, was gibt’s da alles zu sehen, zu kaufen, zu naschen, zu belachen! Und dazwischen Kinder, Knaben und Mädchen, und auch viele erwachsene Leute, die sich an den Fremden heranmachen, ihn förmlich bedrängen:
»Wellt’ er mech dangen,Fir met ze sprangen?«
»Wellt’ er mech dangen,Fir met ze sprangen?«
»Wellt’ er mech dangen,Fir met ze sprangen?«
»Wellt’ er mech dangen,
Fir met ze sprangen?«
Unsanft fühlte sich Bäreb vom Bruder an der Nase gerissen, sonst hätte sie noch lange gestanden und mit verwirrten Augen in das Marktgewimmel gestarrt. So etwas hatte sie noch nie gesehen, so etwas gab’s nicht in Heckenbroich, nichteinmal in der Kreisstadt. Eine neue Welt war das. Noch konnte sie sich nicht hineinfinden.
Die Herrlichkeiten des Marktes waren es weniger, die ihren Sinn verwirrten, als das Läuten der Glocken, die geschmückten Straßen, die Fahnen, die Kränze, die brennenden Lichter um Heiligenbilder. Und dann die Melodie, diese unruhig hüpfende Melodie, die, von Querpfeifen gepfiffen, von Trompeten geblasen, von Leierkasten gedudelt, überall zu vernehmen war.
Ein Trupp spielender Kinder kam jetzt gezogen; ein Kleiner voran, den Mund beschmiert mit Kirmeskuchen, schlug den Takt, und die Kameraden pfiffen und parpten, schlugen mit Deckeln und sangen dazu:
»Adam hatte sieben Söhn’,Sieben Söhn’ hatt’ Adam,Sieben Töchter muß er han,Eh er sie bestaden kann!«
»Adam hatte sieben Söhn’,Sieben Söhn’ hatt’ Adam,Sieben Töchter muß er han,Eh er sie bestaden kann!«
»Adam hatte sieben Söhn’,Sieben Söhn’ hatt’ Adam,Sieben Töchter muß er han,Eh er sie bestaden kann!«
»Adam hatte sieben Söhn’,
Sieben Söhn’ hatt’ Adam,
Sieben Töchter muß er han,
Eh er sie bestaden kann!«
Aus einem geöffneten Fenster drang in rauschender Reihenfolge von Tönen, auf die Tasten getrommelt, die gleiche Weise an Bärebs Ohr. Und wenn das Stück zu Ende war, fing es wieder von vorne an; immer von neuem, immer von neuem, und immer dasselbe.
Bäreb hätte sich die Ohren zuhalten mögen. Nun fiedelte irgendwo noch eine Violine. Ein Quinkelieren ohne Ende, ein Hämmern, ein Tuten, ein Dudeln, ein Kratzen; man wurde taub davon. Was war das?! Man konnte nicht sagen, woher es kam – Bäreb drehte sich wie ein Kreisel, bald hierhin, bald dorthin – ganz Echternach war voll der Melodie. Von den schwarzgrauen Dächern kam sie nieder, aus dem zerstampften Pflaster stieg sie auf, um alle Ecken zog sie, aus allen Fenstern flog sie, die Luft war dick von ihr.
»Pä, pä!« Dores hob lauschend das Fingerchen; ermochte Musik gern leiden, er fing an zu hüpfen auf der Schwester Arm.
Was war das, was war das?! Bäreb riß die erschrockenen Augen noch größer auf; in ihren Schläfen stach es, in ihren Ohren surrte es, ihr Kopf dröhnte, als schlüge darin einer mit Hämmern auf Eisen, und in ihren Füßen zuckte es. Jesus Maria, was war das denn? Das quälte ja so!
Sie wollte entfliehen und war doch froh, daß sie gegen den dicken Mann anrannte, den sie kannte. »Wat es dat? Hört doch!« sagte sie und drängte sich an ihn.
Er lachte froh: »Dat is der Springprozessionsmarsch, Mädche, da springen mir all morjen nach! Adam hatte sieben Söhn,« fing er an zu trällern und probierte mit seinen dicken Beinen einen flotten Hüpfschritt.
War der nicht recht bei Trost oder hatte er sich betrunken? Ganz scheu guckte Bäreb ihn an.
Er aber strich ihr freundlich die Wange: »No, Mädche, du kuckst ja ganz verdattert? Wo giehste eweil hin mit ’m Brüderche? Komm noren, eich will dech traktieren!«
Gutmütig führte er die Willenlose mit sich fort. Ja, essen wollte sie gern etwas, und sie war auch sehr müde. Er führte sie in ein Bierhaus am Markt. Da gab’s den ganzen Tag warme Würste, und dem Dores, der schon alles mit den Augen verschlang, ließ er eine Suppe bringen und ein großes Stück Kirmeskuchen. Bäreb aß und trank, trank mehr als sie aß; Hunger hatte sie eigentlich doch nicht, sie hatte Brot genug gehabt, aber Durst quälte sie, ein furchtbarer Durst, der ihre Kehle ganz austrocknete. All der Staub, den sie hatte schlucken müssen, saß ihr noch darin. Auch der Dicke hatte einen gewaltigen Durst, und so alle, die um sie her saßen.
Wie durch einen Schleier sah Bäreb die roten Gesichter. Und dann sah sie an den Wänden Gestalten sich drehen, Frauenmit Hauben, Ritter mit Schwertern, langzopfige Mädchen von jungen Burschen umschlungen –
Adam hatte sieben Söhn’,Sieben Söhn’ hatt’ Adam –
Adam hatte sieben Söhn’,Sieben Söhn’ hatt’ Adam –
Adam hatte sieben Söhn’,Sieben Söhn’ hatt’ Adam –
Adam hatte sieben Söhn’,
Sieben Söhn’ hatt’ Adam –
die tanzten alle im Marsch der Springprozession, und St. Willibrordus, die Fahne im Arm, die Bischofsmütze auf dem Kopfe, hob zwei Finger seiner Rechten und segnete sie. So war es an die Wände gemalt, aber Bäreb sah es, als wäre es wirklich.
Mechanisch führte sie die Hand ans Glas, mechanisch hob sie das Glas an den Mund, mechanisch dankte sie dem Dicken, mechanisch nickte sie, als er ihr anempfahl, sich nach einer Herberge umzusehen. Die Stadt war voll, an Dreißig- bis Vierzigtausend kamen hier zusammen, wo wollte sie nächtigen, wenn sie nicht Verwandte am Ort hatte, oder gute Bekannte?
Stumpf trottete sie von dannen. Sie irrte durch die Straßen; der Dores schlief schon, schwer lastete er auf ihrer Schulter. Unwillkürlich suchte sie einsame Wege. Sie war das nicht gewohnt hinter ihren Hecken; das Lärmen, die Musik waren zuviel für sie. Ganz betäubt wankte sie einem grünen Dickicht zu, das sie sah am Ufer der Sauer.
Sie trat durch ein Gatter, verschlossen war es nicht; ein alter Park mit Bäumen, die höher waren als die Tannen im Venn, umrauschte sie. Ah, hier war’s gut sein! Sie fragte nicht: ist’s erlaubt? Sie sah sich nicht weiter um – gepriesen sei der Schutzengel, der sie hierher geführt! Das Lärmen war verstummt, sie legte den Bruder ins Gras und sich dicht daneben; bald schlief sie fest.
In dem einsamen Park, der abends verschlossen wird, weil die Liebespaare sich sonst drein verkriechen und die Landstreicher, alle, die das heimliche Dunkel lieben, schliefen die müden Geschwister. Um sie flatterten Schmetterlinge, gaukeltenim Liebesspiel und setzten sich ermattet auf die wilden Blumen im Schatten. Jasminbüsche dufteten berauschend, wie weiße gewölbte Glocken standen sie mit der Blütenlast ihrer hängenden Zweige im dunkelnden Laubgewirr. Hier war eine Wildnis. Faune mit abgeschlagenen Nasen grinsten aus dichtverwachsenen Bosketts, Nymphen mit ausgestreckten Armen fingen mit dem Marmorweiß ihrer nackten Leiber verstohlene Sonnenstrahlen auf. Verschlafen rauschte die Sauer vorüber am verfallenen Pavillon; dessen Stuck war abgefallen, seine Malereien entblättert, aber noch schützte das Dach, und noch sah man innen im Kuppelgewölbe die Amoretten sich tummeln um die schaumgeborene Göttin der Liebe.
Fern war das Treiben des Marktes, fern waren die vielen Füße. In der Stille der schützenden Bäume schlief Bäreb tief, aber nicht sanft. Es verfolgte sie etwas in ihrem Traum, das saß ihr im Ohr; das quälte sie selbst im Schlafen. Sie warf sich unruhig, atmete laut und zog die Stirn kraus. War es der Jasminduft, der sie belästigte, oder eine Erinnerung? Mit einem Schrei wachte sie auf. Grau-dämmerig war’s im Blättergewirr – wo war sie? Mit beiden Händen faßte sie sich an den Kopf. Ein Läuten hub an, das sie erschreckte. Sie riß den noch schlafenden Dores auf: zur Vesper, zur Vesper! Es läutete schon!
Die Maximiliansglocke läutete mit feierlichem Dröhnen das Fest des heiligen Willibrord ein; sie lud die Pilger zur Abendandacht an seinem Grabe. Von allen Seiten kam das gelaufen, was schon in der Stadt versammelt war; Scharen, Scharen, Scharen. Bäreb sah viele, die sie schon gestern und am Morgen gesehen hatte, aber noch hundert und aberhundert neue Gesichter dazu.
»Heiliger Willibrord, bitt für uns, –Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
»Heiliger Willibrord, bitt für uns, –Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
»Heiliger Willibrord, bitt für uns, –Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
»Heiliger Willibrord, bitt für uns, –
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
Da war es wieder, das gewohnte Gemurmel. Mit ausgeruhter Stimme fiel Bäreb ein. Dabei glitten ihre Augen rastlos umher: es gab so viel, zu viel zu sehen beim heiligen Willibrord.
Da waren Buden am Fuß der großen Treppe, Buden über Buden mit Rosenkränzen – solche aus weißen Perlen, solche aus blauen Perlen und duftende braune aus Rosenholz – und Weihwasserkesselchen gab es da, und Betbücher, und Heiligenlegenden mit bunten Bildern, und Willibrord-Statuen aus Porzellan und Stuck; und noch viel mehr der heiligen Andenken an Echternach.
Sie raffte sich gewaltsam aus ihrer Zerstreuung auf. In die Pfarrkirche sich drängend zwischen allem Volk, kniete sie nieder, wo es gerade war, schlug ihr Büchlein auf und begrüßte den Heiligen demütig:
»Sei mir gegrüßt, großer Freund Gottes, heiliger Willibrord, der du von den Gläubigen in dieser Kirche besonders verehrt und angerufen wirst. Dir zu Ehren bin ich hierher gewallt und hoffe zuversichtlich, ich werde durch deine Fürsprache von Gott Gnade und Erlösung erlangen.«
Rote und blaue zuckende Lichter fielen durch die bunten Kirchenfenster auf das St. Willibrordus Büchlein. Geblendet stierte Bäreb hinein, sie konnte nicht weiterlesen. Ach, das war keine Andacht, die war ja hier nicht möglich! Mit Scharren und Trappeln, mit Murmeln und Seufzern zogen tausend bei ihr vorüber. In endloser Prozession zu zweien und dreien; Väter und Mütter mit ihren Kindern, Greise und Greisinnen wankend am Stabe, Arme und Kranke, Junge und Alte, Aufrechte und Verkrüppelte, alle zogen sie hintereinander durchs Kirchenschiff zum Grab des heiligen Willibrord.
Bäreb stellte den Dores auf die Beine: hin, hin! Erstolperte eilig auf seinen wackligen Füßchen, er kam sich selber nicht rasch genug voran. »Pä, pä!« Er riß sie vorwärts mit ungeduldigem Straucheln.
Da lag St. Willibrordus auf seinem vergoldeten Sarg, aus Holz geschnitzt, wie ein Bischof angetan, ein wenig aufgerichtet, gerade so, als wäre er lebend. Im Schauer der Ehrfurcht neigte sich jedermann.
»Heiliger Willibrord, bitt für uns,Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
»Heiliger Willibrord, bitt für uns,Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
»Heiliger Willibrord, bitt für uns,Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
»Heiliger Willibrord, bitt für uns,
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
Das Schiff der Kirche war erfüllt vom steigenden Murmeln, hundertfach, tausendfach; die Wölbung, gegen die es anstieß, hallte es noch dreifach zurück. Um das Grab herum, hinter dem Altar her, immer:
»Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!«
Bäreb hätte noch gern länger am Grabe verweilt. Ach, wenn der Dores nur das äußerste Eckchen des Sarges anrühren könnte! Aber die Menge stieß sie weiter, um das Grab herum, hinter dem Altar her, und hinein in die Sakristei.
Da saßen am Tische die Priester, feierlich ernst, ohne Wort und ganz vertieft in ihr Geschäft. Hunderte, tausende von Händen streckten sich – eine Hand nach der anderen legte die Opferspende dem heiligen Willibrord fromm auf den Tisch.
»Wir bitten dich, heiliger Willibrord, erhöre uns!«
Zur einen Tür herein, zur anderen Tür heraus; es entstand kein Gedränge. Alles ging still vor sich, nur das Geld klapperte und klingelte auf dem Tisch.
Auch Bäreb nahte dem Tische. Nah vor ihr war die Frau mit dem Kropf, sie konnte gut sehen, was die opferte: einen harten Taler! Und andere gaben nicht weniger. Da, die Frau mit dem blonden Mädchen legte ein blinkendes Goldstückhin, und dort ein Herr gab gar ein paar solcher goldenen Dinger! Bäreb erschrak bis ins innerste Herz: soviel hatte sie nicht. Was sollte sie tun?! Aber am Ende besann sie sich: wer nicht viel hat, kann nicht viel geben, auch geringere Scherflein nahm der heilige Willibrord.
»Heiliger Willibrord, bitte für uns!«
Mit Mut und Entschlossenheit fuhr sie in die Tasche – da hatte sie die Mark, ihre einzige Mark, die ihr noch übrig geblieben war, erfaßt. Mit der Linken ihr Brüderchen an sich ziehend, trat sie vor und legte mit der zitternden Rechten ihre Mark auf den Opfertisch. Die klimperte nicht hell wie ein größeres Silberstück. Bäreb wurde rot und dann blaß; ihr war es, als habe der geistliche Herr sie einen Augenblick streng angesehen. Hatte sie denn nichts, gar nichts mehr, hatte sie denn auch alles, alles geopfert? Heiliger Willibrord! Noch einmal fuhr sie mit Hast in die Tasche – da, noch ein Fünfzigpfennigstück! Sie gab auch dieses.
Zur einen Tür herein, zur anderen Tür heraus; alles ging wohl geordnet, ohne Gedränge. Bäreb stand draußen, sie wußte selber nicht, wie rasch. Innen verhallten die Klänge; die Vesper zu Ehren des heiligen Willibrord war zu Ende. Sie faltete die Hände beim Bimmeln des Betglöckleins, das von unten aus dem Kloster ›Zum guten Kinde Jesu‹ zur mächtigeren Schwesterglocke heraufrief. Und noch andere Glöckchen fielen ein; es waren soviel geistliche Stifte zu Echternach.
Bäreb fühlte jetzt auf einmal ihre ganze Verlassenheit. Der Bruder weinte vor Müdigkeit, auch ihr kamen beinahe die Tränen. Wo sollte sie hin?! Der Abend brach herein, um das alte Gemäuer der Pfarrkirche wischten die Fledermäuse. Und Menschen, Menschen, Menschen eilten in Scharen mit lautem Geschwatz, in hastiger Eilfertigkeit diesteile Treppe zur Stadt hinab. Das waren Tausende, und alle wollten sie unterkommen.
Jetzt beschleunigte auch Bäreb ihre Schritte; wie aus einer Erstarrung erwacht, eilte sie flüchtigen Fußes die Treppe hinab. Sie hatte das Kind wieder auf den Arm genommen, sie durchirrte mit ihm die Gassen. War es denn so schwül, so unerträglich schwül in der Enge zwischen den grauen Häusern, oder trieb nur der rasche Lauf ihr den Schweiß auf die Stirn – oder die Angst? Überall Herbergen; fast jedes Haus hatte seine Tür geöffnet, die Fenster waren erleuchtet, Stimmengewirr schallte heraus, alles war voll, voll bis unters Dach. Auf dem Markte Gedudel, da ging es laut her. Das Karussel drehte sich mit seinen Flittern und glitzernden Glasbehängen bei Drehorgelmusik, am Schießstand zerkrachten die Tonpfeifen, und der große Löwe, das Hauptziel der Schützen, sperrte brüllend den Rachen auf. Auf der Rampe der Schaubude schwang ein wilder Mann mit Geheul seine Keule – er fraß Feuer – und eine dicke Frau, die Arme und Beine ganz nackend hatte, die nichts, gar nichts an hatte als ein rotes Atlasmieder und ein kurzes Sammetröckchen, zeigte sich der Menge.
Junge Burschen hatten sich untergefaßt und versperrten in breiter Reihe die Straße; ängstlich wich Bäreb den Halbtrunkenen aus und quetschte sich dicht an den Häusern vorbei. Wo es ihr nicht so überfüllt erschien, fragte sie schüchtern um Nachtquartier an. Sie hatte kein Glück; die einen achteten ihrer gar nicht, hörten kaum ihre Frage, die anderen zuckten die Achseln: längst alles besetzt. Endlich, todmüde und ganz verzagt, fand sie eine Alte in einem winzigen Kramlädchen, die ihr wohl Unterkunft geben wollte für die Nacht: sie könnte auf dem Stuhl vorn im Laden sitzen, wenn zugemacht war,und das Kind unter den Ladentisch legen, aber eine Mark kostete das, und im voraus.
Schon fuhr Bäreb in die Tasche: ja, ja, nur unterkommen, nur ein Dach über sich haben, was es auch kostete! Da fiel ihr plötzlich ein: sie hatte ja kein Geld mehr! Entsetzt starrte sie drein, das Herz stand ihr still. O weh, wenn sie nicht schon die Eisenbahnkarte zur Rückfahrt gehabt hätte, sie wäre nicht einmal mehr nach Haus gekommen! Plötzlich hörte sie die Maiblum brüllen, die Mutter sprechen, die Geschwister spektakeln, und eine heiße Sehnsucht fiel sie an nach der Stille der Heimat, nach dem Geborgensein hinter der Hecke.
Sie stolperte fort übers Pflaster, blind vor rinnenden Tränen. Ach, wenn ihr doch nur ein Mensch begegnen würde, den sie kannte! Wo war der gutmütige dicke Mann, der sie heute mittag so freundlich gespeist hatte?! Er war nicht zu finden. Aber ein Tuten kam jetzt vom Marktplatz her, das sie entsetzte. Die dunkle Gasse ward plötzlich hell. Brannte es wo? Das war ja Feuerschein! Um dieEckebog’s ihr entgegen – johlende Jungen vorauf, johlende Jungen hinterdrein – der wilde Mann, jetzt ohne Keule, aber lodernde Fackeln hochschwingend, daß die Funken flogen, fletschte grinsend die Zähne, und das dicke Weibsbild im kurzen Sammetröckchen verzog das traurige Gesicht zu einem Lächeln, winkte mit den Augen und warf Kußhände. Auf dem Markt war die Bude geschlossen, sie luden ein verehrliches Publikum zur Vorstellung im Freien am Platz vor der Brücke ein: gleich würden sie dort beginnen.
Auch Bäreb folgte, willenlos, getrieben von der Menge. Aber sie sah nichts von dem, was der Mann verschlang – nicht bloß Feuer, nein, auch Glas und Eisen hatte er versprochen zu fressen, rostige Nägel und zerbrochene Fensterscheiben– sie sah kaum das Seil, das weit über mannshoch von der Erde zwischen zwei Pfählen gespannt war, auf dem die berühmteste Seiltänzerin der Welt, die dicke Frau, ihre Kunst jetzt zeigen wollte. Ein Trupp junger Burschen hatte Bäreb aufgespürt und umkreiste sie beständig. Sie ließen ihr keine Ruhe, sie neckten sie unablässig. Und sie, so zag heute abend in ihrer Obdachlosigkeit, floh.
Jesus Maria, nur ein Mensch, ein Mensch, bei dem sie sich sicher fühlte! Es brauchte ja gar nicht einmal ein Bekannter zu sein.
An den Ufern der Sauer hinab und hinauf nächtigten viele. Wie Schatten bewegten sich Gestalten um lodernde Feuerchen; ganze Familien kampierten da. Sie kochten Kaffee; in Hotten und Kärrchen und Bündeln hatte man das Nötigste mitgebracht. Weit, weit kamen sie her zu Fuß, sie hatten nicht Geld gehabt, um zu fahren. Ein Geruch der Armut durchwehte die Sommernacht, ein Geruch, der stärker war, als der weiche Duft des Jasmins und der Lindenblüte, ein Geruch des Elends, ein Geruch der bittersten Leibes- und Seelennot.
Heiliger Willibrord, bitt für uns, bitte für uns, heiliger Willibrord!
Da waren manche, die kein Dach über sich hatten diese Nacht. Bäreb fühlte schon etwas wie Trost: ei, so konnten sie ja auch draußen schlafen. Vertrauend näherte sie sich einem Feuerchen. Doch sie wurde aufs neue gescheucht; ein verwildert aussehender Mann schrie sie grob an, und ein Weib kreischte in höchsten Tönen: »Hei, dat is unsen Plaatz! Wat will dat Frechmensch hei?!« Auch hier war ihres Bleibens nicht.
Verwirrt, verstört, von überall verjagt, rannte Bäreb sinnlos weiter. Wohin, wohin?! Schon glaubte sie wiederdie Quälgeister von vorher hinter sich zu vernehmen – ›Hetz, hetz, hussa, fangt sie, die Katz, kß kß‹ – sie rannte davon, atemlos, rannte, daß sie keuchte, rannte vom Ufer hinauf, wieder den Straßen zu. Menschenleer lagen sie jetzt, still, wie ausgestorben, alle Läden geschlossen. Blindlings rannte sie gegen die Ecke einer Mauer an, prallte zurück und rannte dann – einem Mann in die Arme.