XX

Da saß Yann mit Tränen in den Augen, während ich mich totlachte. Da mir nicht sofort eine Riesenlüge einfiel, mit der ich ihn niederwerfen hätte können, so fügte Yann eine Erzählung hinzu von chinesischen Seeräubern, die sie in den Molukken geköpft hatten. Zopf hoch, wupp! ins Meer, Zopf hoch, wupp! — Yann saß und köpfte, hahaha! Yann, wie tief bist du gesunken, neulich köpfte dein Onkel, der Korvettenkapitän, und heute köpfst du schon eigenhändig! Selbstder Dampfer lachte, er hüpfte auf und ab vor Vergnügen und auch der Wind schrie vor Lachen — haha!

„Ha,“ sagte ich, „da du gerade von Chinesen erzählst, ich fuhr einmal auf dem Japanischen Meer, und wir hatten zwei chinesische Boys, Hannes und Lehmann, das waren Burschen! Wir kamen in einen Taifun und die Boys gingen buchstäblich an der Decke, als sie die Speisen servierten. Ohne einen Tropfen zu verschütten. An der Decke!“

„Lügner!“ schrie Yann.

Ich lachte. Gerade das war wahr!

„Hehehe!“ lachte Yann wütend. Er war geschlagen, ich hatte ihm etwasUnglaublicheserzählt.

„Hahaha!“ lachte ich, außer mir vor Vergnügen.

Plötzlich schwang sich Yann eine Sprosse höher und auf dieser Sprosse pflegten ihn seine traurigen Erlebnisse einzuholen. Er erzählte mir abermals jene Geschichte von der „Charlotte“, die ihm vier Monate Gefängnis eintrug. „Alle Ungerechtigkeit der Welt hatte sich gegen ihn vereinigt um ihn zu vernichten!“

Die „Charlotte“ war ein Dampfer, der draußen vor Creach auf Grund geriet. Yann fuhr mit dem „Arbeiter“ hinaus um sich die „Charlotte“ anzusehen, die von ihrer Mannschaft verlassen worden war. Als seine Matrosen dieses hübsche Schiff sahen, wurdensie toll. Sie schlugen alles in Stücke und plünderten den Dampfer von oben bis unten aus. Selbst die Messingbeschläge schraubten sie ab. Yann protestierte, fluchte, umsonst. Yann hatte ein gutes Herz, ein zu gutes. Er erstattete keine Anzeige. Aber als er sechs Monate später einen renitenten Matrosen an Land schickte, denunzierte ihn dieser Schuft und gab an, Yann habe sämtliche Schiffsinstrumente gestohlen und eine silberne Teekanne mit Goldeinlage. Die Hunde von Matrosen schworen so viele Meineide als nötig waren Yann das Genick zu brechen. Entlassung und vier Monate Gefängnis!

Ha! Yann lachte höhnische Triller. „Ich! Ein Dieb? Ich??“ Er raufte sich die Haare und brach in Tränen aus. „Ein Dieb! Ich ein Dieb? Meine arme Mutter —!“ (Seine Mutter wurde plötzlich wieder lebendig.)

Hier streckte ich den Kopf aus meiner Muschel — es war mir nämlich seit einiger Zeit, als sause ich in einer spitzigen Zaubermuschel dahin — und sagte: „Du bist ja gänzlich betrunken, Yann!“

Yann mit den treuesten blauen Augen, Yann mit dem Kinderherzen — ein Dieb! O, wie lächerlich, wie absurd! Volldampf! Ich sauste nieder.

Yanns Gemüt aber war bis in die Tiefen aufgewühlt. „Diese Behauptung ist eine infame Verleumdung,unwürdig eines Gentleman!“ sagte er mit feuchtschimmernden Augen im reinsten Französisch, wie man es nur an der Sorbonne zu hören bekommt.

Yann fraß wohl lebendige Crevetten und Spinnen, aber vier Monate Gefängnis kitzelten ihn nicht wenig. Er lief von Pontius zu Pilatus und sogar der Minister geruhte ihm Audienz zu gewähren. Er sah in Yanns strahlende Kinderaugen — und Yann wurde zu einer Geldstrafe begnadigt. Nein, Yann war kein Dieb!

Er genoß die Rechtfertigung, pries die Gerechtigkeit des Ministers und schwor Rache. O, du meine Güte, wie er sich rächen wollte! Ich hörte kaum, was er sagte, denn ich flog in meiner Zaubermuschel über Kontinente und Meere dahin — ah, das war Kioto unter mir, wo sie gerade das Flußfest feierten, ein Gewimmel von Papierlampen, das Miauen der Tänzerinnen — weiter —

Plötzlich hörte ich, daß Yann von Rosseherre sprach. Da saß er und schwärmte. Ah, wie hübsch sie doch war, wenn die Bänder ihrer weißen Haube flatterten! Wenn sie lachte und ihre weißen Zähne blitzten! Eine kleine wilde Katze war sie! „Ich habe gearbeitet und geschuftet, meine Hände sind hart wie Holz, meine Finger haben sich verbogen. Nun will ich Ruhe haben, ein Heim, Kinderchen — o! Ein hübschesHäuschen. Wehe dem, der mir Rosseherre anrührt, hörst du?“

Ja, ich hörte, C’est la guerre, dachte ich, Yann. Heute raube ich dir deine Geliebte, morgen wirst du mir die meine rauben. Frauen wollen noch immer geraubt werden, es gelten keine Verträge, hörst du, Yann?

„Du hast Rosseherre Ringe geschenkt und ein Tuch. Warum hast du das getan? He, sage mir die Wahrheit, war sie bei dir?“

„Hahaha. Yann, Yann! Wie langweilig du bist!“ sagte ich und ich grüßte hinunter, denn ich passierte soeben im Stillen Ozean einen Dampfer — einen der schmalen weißen Siebentausendtonnendampfer der Toyo Kisen Kaisha mit einem Fächer in der Flagge — die Chinesen servierten Tee an Deck und die Damen winkten mir mit den Taschentüchern.

Yann stand auf. „Du bist mein Freund,“ sagte er, „ich gebe mein Leben für dich hin — aber wenn ich es herausbringe — hörst du mich?“ Er knirschte mit den Zähnen.

„Hahaha, Yann, schäme dich, so betrunken zu sein. Ho, wie du aussiehst — du hast einen Kopf wie ein Ballon — so groß — o, Yann, hahaha!“

In diesem Augenblick bäumte sich der „Arbeiter“ auf und die Ankerketten krachten. Der Dampfer schütteltesich wie ein Fisch an der Angel, dann pendelte er in weitem Bogen.

Yann hatte sich am Tisch festgeklammert. „Da streiten wir uns über ein Frauenzimmer, und unterdessen —!“ flüsterte er erschrocken. Er lauschte. „Die Ketten sind gerissen! Der Dampfer treibt!!“ schrie er und stürzte die Treppe hinauf.

Ich aber sauste gerade über Honolulu dahin, dicht über den Krater des Halewauwau, Haus des ewigen Feuers — die Schwarzen ließen sich auf Brettern in der Brandung treiben und schrien: jiiii!

Nein, der Dampfer trieb nicht, er pendelte, es war nur eine Kette gerissen.

Ich zog mich in meine Muschel zurück und schlief.

Wir trennten uns nicht im besten Einverständnis, Yann und ich. Jean Louis hatte ihm die Sache von dem Segel verraten, und Yann konnte in seiner Betrunkenheit nicht umhin diesen Trumpf gegen mich auszuspielen.

„Jean Louis ist ein alter Idiot,“ sagte ich, „weiß Gott, was in seinem morschen Schädel vor sich geht.“

Aber trotzdem schieden wir nicht als Freunde. Yann sprach sogar davon mich über Bord werfen zu lassen. Yann, mon cher ami, das Kindergemüt. Er war toll von all dem Trinken und seine Augen warenblutunterlaufen und schielten etwas. Nun, ich zog es vor mich freiwillig zu verabschieden.

Yann stand oben auf dem Verdeck und schnellte ganze Stockwerke in die Höhe und dabei wiederholte er mit spöttischem Lächeln ohne Aufhören: „Au revoir et merci, merci!“

Ich lachte noch nach Wochen, wenn ich daran dachte, wie er auf- und abflog und spöttisch sagte: Au revoir et merci, merci!

Als ich an Land kam, sah ich die Luft voll kleiner weißer Teufel mit gespreizten Fledermausflügeln und auch die Erde war bedeckt damit, hier waren sie grau. In ganzen Schwärmen zogen sie hin und her vor meinen Augen.

„Hoho!“ sagte ich. „Poupoul, da haben wir es glücklich, weißt du, was das ist? Das Delirium tremens, mein Sohn.“

Gott sei Dank, Sturmvilla stand noch! Immer noch saß der rasende Gorilla draußen auf den Klippen und trommelte mit den Fäusten auf seinen Bauch. Ich war erschöpft und schlief augenblicklich ein. Nach vielen Stunden erwachte ich wieder. Etwas war geschehen! Die Fledermausteufel waren fort. Ich lauschte. Der Wind weinte im Kamin, das Trommeln des Gorillas hatte aufgehört. Der Sturm ließ nach. Ich trat vor die Türe. Das Meer schäumte und raste und die Dämmerung eines Tages, der nie hell gewesen war, regnete wie dicke graue Asche auf das düstere Chaos herab. Ein farbloser Dampfer rollte draußen im fürchterlichen Seegang, ein großer P. u. O.-Steamer, kaum sichtbar. Diese Dämmerung erfüllte das Herz mit dem Gefühl entsetzlichster Verlassenheitund ich wagte weder zu denken noch zu fühlen. Ich schlief. Dann weckte mich ein bekanntes Pochen.

Es war finstere Nacht. Creachs Lichtgarben wehten in zitternden Wellen, wie feinstes Frauenhaar, durch die dunstige Atmosphäre. Im Norden stand der scharlachrote Widerschein einer Feuersbrunst: das war das Feuer von Stiff, über das dröhnende Meer wälzte sich Rauch.

Aber Rosseherre kam nicht plappernd und mit übermütigen singenden Ausrufen herein, sie war scheu und ängstlich und sprach leise und etwas heiser.

„Ich sah dich heute an Land gehen,“ sagte sie und drückte mir ein Paketchen in die Hand. „Wie finster es bei dir ist.“

„Guten Abend, Rosseherre! Was macht Jean Louis?“

„Jean Louis schläft.“

Ich zündete Feuer an, und nun konnte ich wenigstens Rosseherres weiße Haube und ihre hellen Haare sehen. Sie saß zusammengeduckt auf dem Bett.

„Was ist denn in dem Papier, Rosseherre?“

„Öffne doch.“

Es war ein Klumpen Honig darin.

„Die Schiffe auf dem Meeresgrund brechen auf,“ sagte Rosseherre. „Jean Louis hat eine große Büchsegefunden. Auch einen Ballen Feigen, doch sie waren verdorben.“

Aber Rosseherres Worte wurden von einem leisen Wimmern erstickt. Und plötzlich weinte sie laut und herzzerbrechend, wie ein Bauernmädchen weint, das Kummer hat.

„Rosseherre?“

Rosseherre schüttelte den Kopf und die Tränen sprangen ihr über die Hände und durch die Finger hindurch. „Ich weiß es nicht,“ sagte sie, „aber ich habe Angst. Wenn es stürmt, so bricht mein Herz. Ich muß an Vater denken und an den Tag, da Diaul angehetzt kam. Diaul war Vaters Hund, eine Dogge, so groß wie ein Kalb und ganz wild. Niemand durfte ihn anrühren, nur Vater. Vater besorgte die Post von der Küste herüber. Er hatte ein hübsches Boot, er war ja Pilot. In einem Vierteljahr waren schon zwei Postboote untergegangen und da übernahm Vater die Post. Einmal nun war das Meer hoch, es wehte, aber es war kein Sturm. Da kam Diaul angehetzt. Seht, sagte ich, Vater ist zurück, da haben wir Diaul schon. Er troff von Wasser, aber Vater warf ihn oft ins Wasser, es fiel uns nicht auf. Diaul, willst du nicht Ruhe geben? Er war wie ein Narr, er sprang an mir empor und kläffte. Er war auch gar nicht böse, ich schlug ihn auf dieSchnauze, auch das ließ er sich gefallen. Mit einem Male fing ich an zu schreien und ich lachte doch noch. Ich verstand Diaul! Ich verstand auch plötzlich, weshalb vor einer Viertelstunde mein Herz auf einmal stillgestanden war. Denn es war stillgestanden und hatte sich nicht mehr gerührt! Ich lief hinter Diaul her, alle liefen wir hinter ihm her, einer hinter dem andern, quer über die Insel. Und ich war die erste von allen. Da lagen die Trümmer von Vaters schönem Boot in den Klippen und Leichen. Acht Menschen sind ertrunken in der Brandung, auch Vater. Man fand ihn nicht. Nur Diaul konnte sich retten.“

Sie weinte mit zusammengepreßten Augen und Lippen. Ich legte meine Wange an die ihre und schaukelte sie leicht hin und her wie ein Kind. Mein Gesicht wurde naß von ihren Tränen.

„Diaul, mein armer Diaul!“ wimmerte Rosseherre. „Wir hatten ihn so gern. Da irrte er umher und verwilderte und bellte in den Nächten da draußen bei den Klippen, wo das Boot gescheitert war. Dann ging Noel mit seiner Büchse hinaus und ich hörte es knallen und dann kam Noel und sagte: nun ist Diaul tot.“

Rosseherre weinte leise und fuhr fort: „Ich hatte auch einen Bruder. Er hatte einen langen Schnurrbart.Er war ein wilder Mensch und er trank wie alle. Aber er liebte mich. Oft sagte er zu mir: Rosseherre! und klopfte mir auf die Wange. Sie fuhren hinaus zum Fischen und er kam nicht wieder. Und ich hatte den ganzen Tag solch schreckliche Angst! Ich sah ja, sah es ja, wie er über Bord stürzte und sein roter Schnurrbart schwamm auf dem Wasser. Ich ging hinunter zum Hafen und wartete. Ich wußte wohl, Emile kommt nicht wieder, aber ich wartete trotz alledem und betete. Da kam das Boot herein. Der Patron sagte: Rosseherre —? Sonst sagte er nichts. Später sagte er zu mir: der Strom nahm ihn mit sich, sein Schnurrbart schwamm, aber wir konnten ihn nicht mehr einholen. Ich saß und betete für seine Seele, und als es dunkel wurde, kam Jean Louis und sagte: nun, Rosseherre, es wird Nacht.“

Ich wiegte Rosseherre und streichelte sie, so gut ich es konnte. „Weine dich nur aus, kleine Rosseherre, dann wird es besser.“

Der Wind wimmerte leise an der Türe. Er klagte, als fiele ihm etwas Trauriges ein, das er einmal gesehen hatte und nicht vergessen konnte. Das Meer dröhnte wie dumpfer Kanonendonner. Es dröhnte regelmäßig alle zwei Sekunden, und bei jedem Donnern ging ein leises Beben durch Rosseherres Körper.

Sie hob den Kopf. „Hörst du das Meer?“ fragte sie. „Ich werde wohl gehen müssen, denn man weiß nicht, was geschieht. Es gibt Nebel.“

„Was soll denn geschehen?“

„Alles kann geschehen.“

„Alles?“

„Ja, denn ich habe Vater gesehen. Heute am lichten Tag.“

„Deinen Vater?“

„Ja. Er kam zur Türe herein und sagte: heute sollen sie sich in acht nehmen, die da draußen.“

„Die auf dem Meer?“

„Ja!“

Poupoul nieste und Rosseherre erschrak, daß sie aufschrie.

„Aber, Rosseherre?“ sagte ich lächelnd. „Was ist mit dir heute?“

Sie sah mich an. Ihre Augen flackerten im Feuerschein wie die Augen eines Tieres, das voller Angst ist. „Ich weiß es nicht,“ sagte sie und blickte zu Boden, „aber ich habe Angst. All die Tage lang hatte ich schreckliche Angst. So vieles geht mir durch den Kopf und ängstigt mich. Ich denke daran, daß Yann im Meer sterben wird und auch ich, ich auch.“

„Nein, Rosseherre.“

„Vater sagte es mir,“ erwiderte Rosseherre miteinem kleinen verträumten Lächeln. „Schon lange. O, ich weiß, was ich weiß! Es ist auch nicht das schlimmste. Denn dann kann ich vielleicht mit Vater und Bruder da drunten sein, wo du sie einmal gesehen hast.“

„Rosseherre, das war doch ein einfältiger Traum. Ich hatte so viel getrunken auf Kedrils Hochzeit.“

„Ja, ja.“ Rosseherre lächelte ungläubig und blickte vor sich hin. Dann lachte sie leise. „Nein, das eine ist gut, Jean Louis kann das Meer nichts tun. Großvater ist gefeit.“ Sie schüttelte die Haare vor Freude. Ihre Wangen waren heiß und ihre Augen glänzten. Sonderbar war sie heute.

Nun roch auch ich den Nebel. Er roch wie Jod. Da begann Creach zu brüllen, fern und dumpf, und ich sah ihn vor mir, eingepackt in undurchdringliche Nebelballen.

Rosseherre erbebte. Sie zog die Brauen in die Höhe und lauschte angestrengt auf das Brüllen des Nebelhorns, das übers Meer rollte und in einem fernen Grollen unterging.

„Ich muß nun doch gehen,“ sagte sie voller Angst.

Aber ich überredete sie zu bleiben. „Wir werden ein großes Feuer anzünden, Rosseherre, etwas Grog wollen wir kochen, und dann werde ich dir eine kleine Geschichte erzählen, warte nur. Du zitterst ja so,weil es kalt ist hier. Poupoul, geh aus dem Weg! Du wirst sehen, wie hübsch es hier wird!“

Ich verbrannte meine englische Zeitung und dann riß ich die Schublade meines kleinen Tisches in Stücke und warf sie ins Feuer. Auch der kleine Tisch würde wohl bald an die Reihe kommen, es ging nicht anders. Während ich den Grog braute, erzählte ich Rosseherre ein kleines lustiges Erlebnis und als ich verstohlen zu ihr hinblickte, sah ich, daß sie lächelte. Poupoul, der seine Leute kannte, saß vor ihr und klopfte mit dem Schwanz. Auch er gab sich Mühe Rosseherre auf andere Gedanken zu bringen.

„Ist es nicht schon hübscher bei uns, wie, Rosseherre?“

„Ja!“ Rosseherre nickte und sah ohne Blick vor sich hin. Sie schlürfte den heißen Grog durch ein Stückchen Zucker, das sie hinter den Zähnen hielt. Ihr Gesicht glänzte im Feuerschein, noch naß von Tränen, ihre gelben Haare flimmerten als ob die Sonne darauf schien. „Nun habe ich keine so große Angst mehr,“ sagte sie und holte tief Atem, „aber zuweilen möchte ich sterben vor Angst. Das Meer ruft mir. Gesichter erscheinen im Meer. Einmal sah ich den Bruder auf einer Klippe sitzen. Er kam mit einer Welle herauf und da saß er und sah mich an. Aber da schrie ich vor Angst und er tauchte mit derWelle hinab. Einmal, als es stürmte, ging ich abends an den Klippen entlang. Da lag ein Stein. Aber plötzlich stand der Stein auf und es war ein alter Mann mit langen grauen Haaren. Er stand ganz ruhig und sah mich an und aus seinen Augen fuhr Feuer — da lief ich davon und fürchtete mich eine ganze Woche lang. In den letzten Tagen aber hielt ich es nicht mehr aus. Nun, sagte ich, es wird das beste sein, du springst hinab, die gebenedeite Jungfrau wird dir vergeben. Ich ging nach Stiff, wo die Klippen steil abfallen. Da weinte ich und betete und bat die gebenedeite Jungfrau die große Sünde von mir zu nehmen. Aber als ich es tun wollte — was meinst du? Da saß Vater am Rande der Klippen, die Pfeife im Mund, genau so wie ich ihn immer vor mir sehe. Er sah mich nicht an, aber er saß da. Er versperrte mir den Weg.“ Merkwürdig lächelte Rosseherre, als sie das sagte.

Und ich dachte, sonderbare Dinge gehen in deinem kleinen Kopf vor, Rosseherre! Sonderbare Dinge!

Es schien Rosseherre zu erleichtern, wenn sie von Vater und Bruder sprechen konnte. Ich ließ sie gewähren. Und sie erzählte mir alles aus ihrem jungen Leben und was Jean Louis ihr von Eltern und Großeltern berichtet hatte. Die meisten waren ertrunken. Und wie merkwürdig war es doch: keinen hatte dasMeer zurückgegeben, keinen einzigen. Sonderbar war der Tod ihres Großvaters. Er fuhr nach Molen. Das Meer war glatt wie Öl. Er kam nie an, kein Span seines Bootes fand sich, nichts —

„Nichts fand sich, Rosseherre?“

„Nichts!“ Und Rosseherre lächelte sonderbar und fügte geheimnisvoll hinzu: „Sie haben ihn hinabgezogen!“

Dann versank sie in Grübeleien.

Creach brüllte dumpf und Rosseherre zitterte am ganzen Körper.

Ich erzählte ihr von den fernen Ländern, die ich gesehen hatte und wie merkwürdig die Leute dort waren. Sie hatten vielhundertjährige Schildkröten, mit Edelsteinen und Schmuck besetzt, und beteten sie an. Und sie hatten Götter, klein wie ein Däumling und wiederum groß wie der Phare von Creach.

Rosseherre hatte kaum zugehört, nun aber lächelte sie. „Das sind Heiden, meiner Treu!“

Dann mußte ich ihr von Paris erzählen. Von Paris konnte sie nicht genug hören. Sie wollte wissen, was ein Diner kostete und wieviel sie im Hotel für ein Zimmer verlangten. O, Diaul, wie unverschämt sie doch waren! Rosseherre lachte und doch zitterte sie dabei.

„Vielleicht gehen wir einmal zusammen nach Paris. Rosseherre?“

Sie sah mich mit großen Augen an. „Nach Paris?“

„Ja, weshalb nicht? Jeden Tag können wir fahren.“

Rosseherre lächelte und schüttelte den Kopf. „Paris? Es ist so weit, nie werde ich Paris sehen!“

Sie blieb lange still und teilnahmslos, ich konnte sagen, was ich wollte. Sie lauschte unausgesetzt. Einmal sagte sie: „Man hört Creach nicht mehr so laut, wie dicht der Nebel wird!“

Dann streichelte sie ganz mechanisch meine Hand. Sie sprach kein Wort. Sie kniete sich zu meinen Füßen auf den Boden nieder, legte das Gesicht auf meine Füße und umschlang sie mit den Armen, und so lag sie, ohne sich zu rühren. Das tat sie oft und ich wehrte es ihr nicht. All ihre Zärtlichkeit und Ergebenheit drückte sie damit aus.

Sie war nur ein Kind, das weder Vater noch Mutter hatte.

Lange verharrte sie so, und endlich hörte ich, daß sie schlief.

Ich wartete eine Weile, dann hob ich sie aufs Bett. Sie öffnete die Augen, sah mich an ohne mich zu erkennen und schlief weiter. Zuweilen plappertesie im Traum, aber ich verstand nicht was sie sagte, denn sie sprach Bretonisch.

Was träumte Rosseherre?

Ich saß und rauchte die Pfeife und sah zu, wie sie atmete. Vielleicht träumte sie, sie saß bei den Klippen und alle kamen sie aus dem Meer und plauderten freundlich mit ihr und niemand sah es?

An der Türe rauchte es. Durch mein kleines Fenster blickte ein vergrämtes Gesicht. Der Nebel. Ich warf Holz aufs Feuer, denn sie sollte nicht frieren. Eine Stunde verging, zwei Stunden. Alle drei Minuten erschütterte Creach mit seinem Brüllen die Luft, und der Sand rieselte in meinen Wänden. Creach brüllte immer zweimal nacheinander. Zuerst wie ein wildes Tier, das gereizt auffährt und wütend angreift, dann als ob es sich verwundet zurückziehe und schmerzlich röchele. Eine Ewigkeit sind drei Minuten, wenn man wartet. Creach hat nun zehnmal gebrüllt, eine halbe Stunde ist vergangen.

Rosseherre redete unruhig und angstvoll. Träumte sie, daß sie alle draußen vorübersegelten und ihr winkten, sie aber konnte nicht hinauskommen, denn das Meer war ja zwischen ihnen?

Plötzlich setzte sie sich auf und starrte mich an.

„Nebel, Rosseherre, schlafe.“

Und sofort schlief sie wieder ein. Ich suchte meinedünne silberne Kette hervor und legte sie ihr auf die Brust. Wenn sie nun wieder erwachte, sollte sie sie finden.

Der Nebel wurde von Minute zu Minute dichter. Creach brüllte nicht mehr. Er grollte wie ein zu Tode verwundetes Tier, das elend zurückgeschlagen sich im Versteck die Wunden leckt und knurrt und röchelt. Das Meer donnerte lauter in den Klippen und die Brandung in der Bai dröhnte, als ob alle zwei Sekunden eine Häuserreihe einstürzte. Die Flut kam zurück. Aber hier bei unserem verglimmenden Feuer war es totenstill. Zuweilen kamen feine, komische Geräusche aus Rosseherres Nase. Ein kleiner Falter, den die Wärme geweckt hatte, schwirrte an der Decke, eine schwarze Spinne wanderte ohne Lärm zu machen die Wand hinauf.

Tief und gleichmäßig gingen Rosseherres Atemzüge. Ich legte das Ohr an ihre Brust. Es rauschte, es atmete. Wie das Meer, wenn die Ebbe nahe ist.

Und was ist das Atmen der Menschen anders, frage ich, als das Atmen des Meeres, aus dem sie kamen?

Rosseherres Atemzüge verbreiteten Stille und Frieden, ja eine Art Heiligkeit. Eine sonderbare Scheu ergriff mich vor dem Stück Leben, das hier bei mir war. Scheu vor deiner Jugend, Rosseherre, deinen schönenHaaren und weißen Zähnen und all dem Leid in deinem kleinen Herzen. Ich kenne dich nicht.

Ich bewegte mich lautlos und wagte kaum zu atmen. Dann setzte ich mich vor das Feuer und dachte an viele Dinge, die längst vergangen waren. Vergangen! Gott sei gelobt! Gesegnet sei das Gesetz der Vergänglichkeit, das die Tage neu macht.

Gesegnet sei auch eure Unbeständigkeit, ihr Freunde und Frauen, die ihr mich so jämmerlich belogen und betrogen habt — es gibt vier Wände und es gibt vier Himmelsgegenden, was ist dir lieber?

Wie lange ich so saß, weiß ich nicht, denn vieles ging mir durch den Sinn. Dann aber weckte mich ein feines Rieseln. Die kleine Kette war auf den Boden herabgeglitten.

Rosseherre saß, aufrecht und lauschte. Ohne Laut hatte sie sich aufgerichtet. Ihre Augen waren ohne jeden Blick. Sie lauschte, mit jeder Fiber und all den tausend Ohren ihres Körpers lauschte sie. Ihre Wangen waren gerötet vom Schlaf, aber plötzlich wurden sie schneeweiß.

„Rosseherre?“

Rosseherre bebte. Sie flüsterte ein paar hastige Worte, aber ich verstand sie nicht.

„Sprich Französisch, Rosseherre!“ Aber merkwürdig,ich wagte es nicht aufzustehen und zu ihr zu gehen.

„Horch doch!“ sagte sie.

Ich lauschte. Das Meer. Creach röchelte in der Ferne, Poupoul saß an der Tür und sah mich fragend an; auch er hörte nichts.

Aber Rosseherre zitterte am ganzen Körper als ob sie friere, und schrecklich blaß sah sie aus. Ich stand auf, doch sie machte mir ein Zeichen mit der Hand.

Sie lächelte krank.

„Sie haben den Weg verloren,“ sagte sie ohne Stimme.

Was sagte sie?

„Wach auf, Rosseherre!“

Da blickte sie mich an und ihre Augen waren geschmolzen von einer grauenhaften Angst, die Pupillen unnatürlich geweitet.

Was war das? Das war ja —

„Gehe hinaus,“ flüsterte sie, geschüttelt vom Fieber.

„Beruhige dich,“ sagte ich, „ich will hinausgehen.“

Der Nebel wälzte sich augenblicklich herein wie ein Gespenst, das vor der Türe gelauert hatte. Das Meer donnerte ehern und Creach grollte im Herzen der undurchdringlichen Nebelnacht. Ich lauschte. Ein dumpfer Hammer schlug in meiner Brust. Die Angst, die von Rosseherre ausströmte, hatte auch mich ergriffen.Ich ging ein paar Schritte um mich zurecht zu finden, schüttelte den Kopf und kehrte zur Türe zurück. Aber als ich die Türe zuziehen wollte, hielt ich plötzlich inne. Was war es? Meine Füße klebten am Boden und wurden bleiern, meine Fingerspitzen erstarrten, meine Hände, meine Arme, ich wurde ganz steif, die Haut spannte sich kalt über mein Gesicht und meine Haare stellten sich büschelweise in die Höhe:

Da draußen — tutete es ja —

O, jaja, ich hörte deutlich das hohle, dumpfe Tuten eines Dampfers durch das Toben der Brandung hindurch. Es brach ab. Aber gerade als ich aufatmen wollte, kehrte es wieder. Mir schwindelte. Ich legte mich nach vorn und machte mich ganz Ohr, und mein Ohr saugte wie ein riesiger Schalltrichter dieses Tuten in sich. Nun begann auch eine Pfeife in der Ferne zu schrillen — als ob ein großes wildes Tier und sein Junges zusammen um Hilfe schrien.

Da schlug Poupoul an. Kein Zweifel. Und ich taumelte betäubt ein paar Schritte in den Nebel hinein. Rosseherre glitt an mir vorüber. Sie lief klappernd und schrie: „Naufrage, naufrage!“ Dann hörte ich nicht mehr, was sie rief, aber ihre hohe Stimme schwang im Nebel.

Nein! Nein! Nein! Ich faßte mit den Fäusten in meine gesträubten Haare und schüttelte den Kopf hinund her. Nein! Das alles ist ein furchtbarer Alp, ein entsetzlicher Zauber — niemand kann durch den Nebel sehen, was man nicht sehen kann, niemand in der Welt. Die Woge dröhnte, die Welle lief zornig gegen mich an und der Gischt kräuselte an mir empor. Horch! Ja, trotz des irrsinnigen Zähneklapperns, das mich befallen hatte, hörte ich es: es tutete, pfiff, die beiden Stimmen da draußen im Nebel riefen noch immer. Dann verstummte das Tuten plötzlich und die Pfeife brach mit einem kläglichen Winseln ab.

Ich machte meine Stimme stark und schrie hinein in den Nebel: „Hallo? Hal — lo — —?“ Eine Gischtpeitsche schlug mich übers Gesicht. So lächerlich war es zu rufen.

Da vernahm ich das zischende Ausströmen von Dampf und ein fernes Dröhnen, als ob Eisen genietet würde. Dann schien es mir, als hörte ich das ferne Geschrei einer Menge Menschen. Und nun war es still. Das Meer schlug, die Brandung donnerte, Creach grollte in der Ferne.

Ich lief ins Dorf. „Ein Dampfer ist gescheitert!“ schrie ich. „Ein Dampfer ist gescheitert!“ Ich war sinnlos vor Erregung und das Wasser sprang mir aus den Augen, daß ich erblindete.

Die Glocken begannen im Nebel zu bellen wie kleine Hunde, die im Schlafe gestört wurden.

Das Dorf schlief noch. Aber da und dort rührte es sich schon, Holzschuhe klapperten, Fenster erhellten sich, Stimmen kamen aus dem Nebel. Am Hafen unten schloß der Maire den Schuppen auf, in dem sich das Rettungsboot befand. Der Nebel war so dicht, daß man keinen Menschen sah, bevor man ihn anrannte, und wenn man mit jemand sprach, so zerfloß sein Gesicht in Schleiern.

Zurufe, Flüche, Durcheinander. Ein Seil schleifte am Boden und unsichtbare Hände zogen es straff. Ich griff zwischen ein paar Fäuste hinein und zog an. Räder knarrten und das Rettungsboot erschien gespensterhaft hoch und lang auf dem Wagen. Schatten warfen sich in die Radspeichen und eine Kette von Schatten hielt den Wagen hinten am Seil fest, damit er nicht zu rasch den Steig hinabrollte. Wie ein schwerfälliges, hundertfüßiges Ungeheuer aus der Vorzeit bewegte sich das Boot zum Meer hinab und die Welle spritzte gegen seinen Bauch.

„Vorwärts!“ schrie ich. Da draußen warteten sie —

„Wir müssen warten, bis es Tag wird! Man sieht ja nicht die Hand vor den Augen!“

„Wo ist Kedril? He, Kedril, Pilot, dein Tag ist gekommen. Das ist eine Arbeit für dich. Ich zeige dir, wo der Dampfer liegt.“

„Mein Freund,“ antwortete Kedril, „nicht für tausend Franken könnte ich das Boot hinausbringen. Bei diesem Meer! Wir müssen auf die Ebbe warten.“

„Wenn du es auch sagst, Kedril!“ Ich war entmutigt, ich ging.

Im Dorf rannte ich gegen Noel, der sich ganz in geöltes Leder verpackt hatte und ein Fernrohr in der Hand trug.

„Nun,“ rief er mir zu, „habe ich es Ihnen nicht gesagt, als Sie Sturmvilla mieteten, alle Schiffbrüche vollziehen sich dicht vor Ihren Augen — haha!“

Ich gab ihm keine Antwort. Ich lief nach Sturmvilla zurück. Nichts war als Nebel, das Branden des Meeres und alle drei Minuten grollte Creach in der Ferne wie ein todwundes Tier.

Etwas scharrte zwischen den Klippen. Es war Jean Louis. „Ein Dampfer ging in die Klippen — hühü!“ sagte er und lachte idiotisch. „Rosseherre war wieder die erste —“

„Was kann man tun?“ fragte ich.

„Was man tun kann? Nichts. Hühü! Die Klippensind wie Messer da draußen. Sie fahren alle an derselben Stelle auf. Sie werden vom Strom abgetrieben und hören Creach erst, wenn sie festsitzen.“ Er trappelte hin und her und spähte auf den Boden. Eine Gruppe von Fischern, Frauen und Kindern sammelte sich an, und alle spähten sie auf die ankommende Welle mit vorgeneigten Köpfen und gierigen Augen. Sie waren die Abkömmlinge von Seeräubern und ihr Herz hatte das Meer gehärtet. Was war ein Schiffbruch für sie? Es hatte Nächte gegeben, da drei Schiffe scheiterten, und wiederum hatte man in drei Nächten nacheinander die Sturmglocken geläutet.

Etwas Dunkles trieb ans Land und alle stürzten sich gleichzeitig darauf. Es war das Wrack eines kleinen, schwarzen Bootes. Wie ein zertrümmerter Brustkorb. Dann wichen sie plötzlich alle zurück: mitten in der Welle stand ein Mensch, der von Wasser troff und die Arme nach ihnen ausstreckte. Er fiel vornüber und die Woge trug ihn ans Land und legte ihn schweigend nieder. Die nächste Welle fuhr über ihn hin und er bewegte sich, als ob er sich aufsetzen wolle. Dann zogen Jean Louis und ich ihn weiter aufs Land.

Er lag mit offenen Augen da, als ob er sehr erschrocken wäre, und lächelte mit geöffneten Lippen, daß man die Zähne unter seinem kleinen dünnenSchnurrbart sah. An der rechten Schläfe hatte er eine schwarze Schramme. Er war tot.

Die Fischer standen um ihn im Kreise. Jean Louis nahm die Mütze ab und schlug das Kreuz. Alle folgten seinem Beispiel. Creach knurrte in der Ferne, während sie das Gebet murmelten.

„Hier liegt er jetzt!“

„Es ist rasch gegangen mit ihm. Das Meer warf ihn gegen einen Felsen.“

Ein kleines Mädchen sagte leise und lachte vor Angst dazu: „Vater, er lacht ja!“

„Nun beruhige dich, alle Toten lachen.“

„Ein junger Mensch ist er.“

„Zweiundzwanzig.“

Das kleine Mädchen sagte und wieder lachte sie etwas: „Vater, er sieht mich an!“

„Alle Toten sehen dich an, beruhige dich!“

Dann durchsuchten sie ihm die Taschen. Aber der Tote besaß nichts. Eine Pfeife, ein Messer, ein rotes Taschentuch. In der Brusttasche seines kurzen Kittels fand sich ein Brief.

„Ein Brief!“

Ich zündete ein Streichholz an.

„Er heißt — wartet — er heißt Joe Gordon, der Dampfer heißt Indiana und kommt von Kapstadt.“

„Joe Gordon — Indiana —“

„Willst du die Streichhölzer nehmen?“

Der Brief war zerweicht und schwer leserlich. Er lautete ungefähr: „Dear Joe, wenn du nach Liverpool kommst, so besuche mich. Fahre nicht gleich wieder weg, wie das letztemal. Ich bin krank und mein Fuß tut mir weh. Ich gehe nicht mehr aus und warte auf dich. Das Leben ist recht elend, wenn einen die Kinder ganz vergessen. Deine alte Mutter.“

„Das Marineamt wird ihr eine Depesche senden.“

„Joe wird nicht kommen. Und sie ist alt und krank, hm.“

Da war auch plötzlich Rosseherre wieder da. Sie drängte die Leute zur Seite und schrie und warf sich weinend über den Toten. Sie sprach mit ihm, sie nannte ihn „mon cœur“, „mon petit“ und schluchzte herzzerreißend.

Ich ertrug es nicht länger, ich ging.

— — — — — — — —

„Vorwärts!“ schrie ich. „Worauf wartet ihr denn noch?!“

Es war Tag. Das Rettungsboot sah wie ein Phantom im bleichen Nebel aus, unnatürlich hoch und lang, und die Welle leckte seinen weißen Bauch.

Gesichter gingen im Rauch. „Wir können unmöglich fahren.“

„Hunde seid ihr, wenn ihr nicht fahrt.“

„Aber das Meer ist schrecklich, wir kommen nicht zur Bai hinaus!“

Ich zitterte vor Erregung. Ich bot meine ganze Überredungsgabe auf. Aber sie blieben kalt und ruhig.

„Da draußen sind sie!“

„Hier sind unsere Frauen und Kinder.“

Chikel hatte morgens um fünf Uhr die Bar geöffnet und eine Lampe angezündet. Vielleicht ging es so! Ich ging umher und goß den Fischern ein. Sie hatten keine Phantasie. Sie sahen nicht, wie sie da draußen auf dem Wrack saßen, sich festklammerten und hofften, ah, pfui!

„Aber ihr müßt fahren!“ sagte ich. „Das bißchen Meer, was für Leute seid ihr doch! Ich kenne euch nun so lange!“

Die Fischer rekelten sich.

„Unmöglich!“

„In die Hölle mit euch!“

Ich ging. Ich bebte vor Zorn.

Nebel. Dick und häßlich gelb, wie Eiter. Creach grollte alle drei Minuten, das Meer schlug.

Bei den Klippen standen die Fischer und lauerten auf alles, was geschwommen kam. Zerschmetterte Leichname trieben ans Land. Am Vormittag zählte man sieben, am Abend dreizehn. Der Nebel aber stand wie eine Mauer.

Creach brüllte die ganze Nacht. Am nächsten Morgen war der Nebel dünner geworden, und plötzlich unterschied man im Düster draußen den Dampfer. Er lag schräg, sein Achterdeck stand über Wasser und bei jeder Woge stieg ein Turm von Gischt daran in die Höhe. In den Tauwänden hing etwas wie graue Flocken, das waren Menschen. Der Nebel zog und wir sahen sie nicht mehr.

Um zwei Uhr aber, zur Zeit der Ebbe, fuhr Yann hinaus.

Hoch Yann, und dreimal hoch!

Ja, plötzlich regte es sich auf dem „Arbeiter“, der draußen im Nebel inmitten der Sturzseen tanzte. Die Ankerwinde rasselte. Wir sahen einander an. Wie? Es zischte und aus dem Kamin quoll eine dicke Rauchwolke, die den „Arbeiter“ in graue Nebelballen einpackte. „Der kleine Kapitän marschiert!“ Ja, natürlich marschiert er! Das war Yann, der wie ein Mädchen weinte, wenn er betrunken war. Nun aber zeigte es sich, was in ihm steckte! Er hatte lange genug gewartet und nun ging er los und war nicht mehr zu halten. Entweder — oder. Gewiß hatte er die Zähne gezeigt, als seine Mannschaft zögerte. Eine Stunde lang rasselte die Ankerwinde, stoß- und ruckweise, der Anker saß fest. Plötzlich aber hörten wir etwas, einfürchterliches Gebrüll— trotz der Entfernung.Das war Yann. Gleichzeitig bewegte sich der Nebeldampfer. Er fuhr rückwärts! „O, lala!“ sagte Noel. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine und stürzte kopfüber hinab, rollte und ging vorwärts. Wir sprachen kein Wort. Nur, da wir lange zusahen, wie sich Yann Zoll um Zoll den Weg erkämpfte, sagte einer: „Wenn die Maschine es aushält —!“ Wir warteten stundenlang auf demselben Fleck und spähten in den Nebel hinein. So oft wir Yann tuten hörten, sahen wir einander an und regten uns.

Yann kehrte mit acht Schiffbrüchigen zurück. Es war ihm gelungen, ein Seil zu werfen, über das sie an Bord klettern konnten. Am nächsten Morgen ging das Rettungsboot hinaus und holte die zehn übrigen. Nun waren sie alle gerettet bis auf einen, einen Neger, einen Stoker, der sich nicht über das Seil wagte.

Man sah ihn den ganzen Tag über oben auf dem Mast hocken wie einen kleinen dunklen Klumpen. Der Nebel zog und verbarg ihn, der Nebel wurde dünner, und immer noch saß der Neger da. Der Mast hatte sich geneigt und ragte nur noch zum vierten Teil aus dem Wasser. Gegen Abend ging das Rettungsboot nochmals hinaus und fuhr so nahe wie möglich an den Mast heran. Gespenstisch wie der Fliegende Holländer tanzte das Boot im Nebel. Aber der Neger rührte sich nicht vom Platze. Am andern Morgen hatte sichdie Mastspitze bis aufs Meer herabgesenkt. Das Spritzwasser ging über den Neger hin. Wieder fuhr das Boot hinaus, aber der Neger rührte sich nicht. Er hockte da und heulte. Er hatte den Verstand verloren. Am Abend, als sich der Nebel auf Augenblicke lichtete, war die Mastspitze leer.

Man grub eine Reihe Gräber in der Heide. Alle Fischer standen mit der Mütze in der Hand. Auch ich. Der Priester sprach, und der Totengräber spritzte in gleichen Zwischenräumen den Tabaksaft durch die Zähne ins Grab hinab.

Und nun erschien auch ein Fleckchen blauer Himmel zwischen den Nebelbänken.

In den Klippen aber saß ganz allein Rosseherre und starrte aufs Meer hinaus. Die winzige Mastspitze war gesunken. Von der „Indiana“ war nichts mehr zu sehen.

Ich ging nahe an Rosseherre vorbei. Sie sang leise mit einer hohen, weinenden Stimme wie der Wind und wiegte den Kopf dabei.

Ich sah über die Insel: sie kam mir schrecklich vor.

Ich saß auf einem Stein in der Heide. Die Sonne schien. Ich rauchte. Die Heide war braun und gelb, aber an einer Stelle hatte sie eine frische Narbe — dort lagen sie. So oft mein Blick auf die frische Narbe fiel, dachte ich: dort liegen sie, dort liegt auch Joe Gordon mit der gespaltenen Schläfe und dem kleinen Schnurrbart —

Einige Tage lang mußte ich immer wieder dasselbe denken. Es lag etwas wie süßer Leichengeruch in der Luft. Dann aber gelangte ich dahin, die frische Narbe in der Heide mit den rechten Augen zu betrachten: ja, da lagen sie und sie waren glücklich zu preisen! Eines herrlichen, wilden Todes waren sie gestorben. Ihr Götter da droben, laßt mich sterben wie sie! Schleudert Felsblöcke nach mir oder Donnerkeile, in einem Eisenbahnzusammenstoß vernichtet mich oder auf wildem Meer, einerlei, aber laßt mich nicht im Bett sterben wie ein altes Weib, darum möchte ich bitten.

Ich sah nicht mehr auf die frische Narbe in der Heide — eine Art Betäubung hatte sich auf meine Sinne gelegt gehabt, nun war sie vorüber — ich ließ meine kleine Flöte hell über die Heide klingen: eswar der Tod, nichts sonst, heute bist du es und morgen bin ich es. Unser ist das Leben, sela!

An diesem Tage fand ich draußen bei den Klippen einen halben Mast. Vielleicht war es jene Spitze, an der sich der Schwarze festgeklammert hatte? Ich holte die Axt und begann zu arbeiten. Ich griff den Mast an verschiedenen Stellen an. Er klang so eigentümlich: er war ein Teil von der Leiche eines Dampfers. Die Splitter flogen. Sie leuchteten in der Sonne, sie begannen zu brennen. Ich stand inmitten eines großen blendenden Feuers.

Ein paar Fischer kamen mit Äxten und Sägen. Da standen sie und sahen mir zu.

„Schönes Holz hast du gefunden!“

„Ja, es ist trocken.“

„Es wird einen tüchtigen Haufen geben!“

„Der Winter ist lang.“

Ich schien nicht auszusehen wie ein Mann, der mit einer Axt in der Hand einen Mast im Stich läßt, und sie gingen wieder.

Meine Axt blitzte und der Schweiß rann mir übers Gesicht.

Die großen atmosphärischen Differenzen hatten sich ausgeglichen und die Luft war rein und durchsichtig wie eine Linse. Man sah die fernsten Klippen, um die das Meer spielte, jede Ritze, alles war nahe undscharf. Meine Axt hallte laut wider, und wenn ich pfiff, so klang es fast wie eine Flöte. Der Himmel blendete und das Meer war flüssiges Silber. Da und dort blitzte ein Streifen wie ein Schnitt. Die Dampfer zogen ruhig vorbei und ihr Kielwasser stand meilenweit hinter ihnen wie eine Straße.

Der Strand war bedeckt mit grellrotem und grellgrünem Salat, mit großen Röhren und Klumpen. Wie Lungen und Eingeweide, die das Meer ausgespien hatte, sahen sie aus. Ganze Wälle von starkriechendem Tang säumten den Strand, von Millionen von Insekten und Stechfliegen bevölkert. Ging man vorbei, so prasselte und knisterte es, als begännen die Wälle zu brennen. Das Leben kommt, wo Schmutz und Wärme ist.

So oft ich über die Insel blickte, konnte ich nicht umhin verächtlich zu lächeln. Wie sonnig und friedfertig sie aussah. Sie dachte nicht mehr an die „Indiana“, die da draußen lag mit all den Kupferbarren im Leib. Sie hatte all die Dampfer vergessen, die sich an den Klippen die Nase einstießen, zurückfuhren und sanken, und all die Segler, die im Sturm angeritten kamen und ihr in die Zähne rannten. Sie hatte auch jenen Dampfer der Union Castle Line vergessen — damals starben zweihundertundzwanzig Menschen. Sie hatte all jene Leichen vergessen, dieeinzeln angetrieben wurden, und niemand wußte, woher sie kamen und wie sie hießen. Genug. Sie dachte auch nicht mehr an jene vierundzwanzig Schiffbrüchigen, die eines Tages in einem kleinen Boot ankamen und die sie mit der sicheren Rettung vor Augen zerschmetterte. Genug, genug!

Sie lag und lächelte und blinzelte zuweilen aufs Meer hinaus, eingehüllt in Sonnenschleier. Wie eine jener Frauen war sie, deren Wangen zart wie junge Rosenblätter sind und die fünfundzwanzig Männer ruiniert haben — du aber gehst an ihnen vorbei und schlägst das Kreuz und sprichst: Heilige Unschuld, sie war die Mutter Gottes oder wenigstens eine ihrer nächsten Verwandten —

Ich lachte: Gott, der Herr, sende sie mir in den Weg —

Am vierten Tage war der Mast in Sturmvilla verstaut. Einen großen Stoß mußte ich noch vor der Tür aufstapeln. Da lag er nun, der so viele Seemeilen weit gewandert war und noch immer strömte er die Sonne ferner Meere aus und den Geruch fremder Küsten. So oft ich ein Scheit verbrannte, sah ich merkwürdige Dinge: Papageien und Affen, die sich an den Schwänzen schwangen, pechschwarze Negerweiber — und einen Dampfer, der über das öde Meer in wolkigen Mondnächten zog, und seine Masten wanderten still und stolz dahin.

Von Rosseherre sah ich all die Tage nichts. Und um die Wahrheit zu sagen, ich sehnte mich auch nicht nach ihr. Zu meinem größten Erstaunen machte ich die Entdeckung, daß eine Veränderung mit mir vorgegangen war. Mein Herz schlug in einem andern Takt, meine Gedanken hatten einen andern Kurs, genommen. Ich betrachtete die ganze Welt unter einem andern Winkel, mehr von der Seite, wenn ich so sagen darf. Die großen Stürme waren schuld daran. Sie hatten meine Seele blank- und glattgeschliffen und alles weggefegt. Wenn ich zurückblickte, so schüttelte ich voll Verwunderung den Kopf: wie viele Monate waren doch seit den großen Stürmen und dem Schiffbruch der „Indiana“ vergangen? Alles lag weit dahinten, blaß und fern. Der Sturm hatte mich in Schwung gebracht und ich konstatierte mit großer Genugtuung, daß meine Seele mit all ihren Knoten dahinsegelte und die Dinge überholte. Ich blickte geradeaus: mochte kommen, was da wollte, es sollte mir willkommen sein — —

Jean Louis erzählte mir beim Fischen draußen, daß Rosseherre lache und schreie und einen der schwersten Anfälle von Gemütsstörung habe. Sie tat mir leid,sonst fühlte ich nichts. Dann erfuhr ich, daß es ihr um vieles besser gehe, das freute mich.

Ich dachte zuweilen an ihre verliebte Trunkenheit und die maßlose Leidenschaft, die in ihrem kleinen braunen Körper hauste — aber wenn du jetzt kommst, Rosseherre, so werde ich sagen: guten Tag und wie geht’s, sonst nichts. Ja, wenn die Königin von Honolulu kommt, von der man behauptet, daß sie alle Frauen an Liebreiz übertrifft, so werde ich sagen: guten Abend, gnädige Frau, und mein Pfeifenrohr ausblasen: fff —

Das war das Meer, nichts sonst. Ich habe Seeleute gekannt, die von heute auf morgen eine funkelnagelneue Seele bekamen und alles mit einer unverständlichen Naivität hinter sich ließen, Schulden, Versprechungen, Gewissensbisse — ja, nun verstand ich sie.

Meine Vergangenheit war wie weggeblasen und ich saß auf dem Strich zwischen Vergangenheit und Zukunft und freute mich.

Ich war nicht so töricht mir sofort wieder eine Vergangenheit anzuschaffen. Nein, ich genoß diesen wunderbaren Zustand, mit einem neugeborenen Herzen einherzugehen, in vollen Zügen. Ich lebte allein und der Herr sandte mir Erleuchtungen.

Ich legte bei den Klippen die Angel aus. Dennes hungerte uns fürchterlich, Poupoul und mich. Auf den Klippen gab es kleine Tümpel, die mit hohlem gelbem Eis bedeckt waren. Das war das Salz von den Stürmen. Hier außen hielten sich wenig Fische auf und oft mußte ich stundenlang warten, bis etwas anbiß. Da saß ich nun und das Meer schlug und die Gedanken wanderten in meinem Kopfe. Bum! In meinem Kopfe fiel ein Schuß: ah, ich war auf der Jagd in Nordgrönland und schoß Eisbären. Die Atemzüge des Meeres wurden schwächer, ich hörte es, auch wenn ich nicht darauf achtete. Die Riffe draußen wuchsen, sie schoben sich langsam aus dem Meer. Wie der Rachen eines Nilpferds, der sich allmählich aus dem Wasser hebt und Schlamm und Unrat triefen aus seinen Zahnstumpen, so hob sich das Gestade in die Höhe. Es rieselte wie im Frühling in den Wäldern. Überall stürzten schäumende Kaskaden ins Meer. Das Rieseln verstummte, es tropfte, es wurde ganz still. Die Welle schlepperte wie kleine Katzen und tändelte mit den Klippen.

Ebbe.

Die Möwen schwirrten und schrillten. Ströme von süßlichem Duft stiegen aus dem bloßgelegten Schoß des Meeres empor. Ich ging hinunter, denn ich mußte mitten im mütterlichen Geruch des Meeres stehen. Die schwül dampfenden Klippen waren bedecktmit harten gerippten Muscheln und purpurnen, gallertartigen Knollen, die zitterten, wenn man sie berührte. Viele verschwanden unter schleimigen Helmbüschen, und unter meinem Fuß quietschten meterlange fleischige Palmblätter und hohle Knollen. Kleine grüne Tümpel lagen zwischen den Steinen. Wie liliputanische Märchengärten sahen sie aus. In der Mitte wuchs eine schlanke Palme und darunter stand ein winziger Fisch, der Herr des Gartens. Plötzlich zuckte es drinnen, der Fisch stand nicht mehr unter der Palme, er war in die dunkeln Lorbeerboskette am Rande entflohen. Auf dem gelben Sandwege des Gartens lag ein vergessener kleiner roter Hut mit grünen Fransen; auf einmal begann der rote Hut zu steigen, die Fransen atmeten ein und aus. Eine kleine Muschel ruderte von einer Grotte zur andern. Nein, der kleine Fisch war nicht der einzige Bewohner dieses Märchengartens, er war trächtig von Leben.

Eine Handvoll von diesem Schlamm auf einen öden Planeten geworfen, Poupoul — und wir kommen wieder heraus wir zwei, ganz so wie wir hier stehen, und die Zunge hängt dir genau so aus dem Maul.

Die Möwen schossen aufgeregt dahin, kleine Fische im Schnabel, die Seesterne schrumpften in der Sonne und verfärbten sich und bekamen brennende Flecken, das Moosgespinst auf den großen porösen Steinschwämmentrocknete dampfend und wurde weiß wie Asche. Der Geruch des Meeres wurde so süß und betäubend, daß er Übelkeit erregte.

Die Welle tänzelte heran, spielte zwischen den Steinen und legte sich zu meinen Füßen nieder, gehorsam wie ein Hund. Aber die nächste Welle schoß gegen meine Schuhe und zischte böse. Ich mußte zurück. Die Klippen sanken wieder langsam ins Meer hinab. Die Kaskaden begannen abermals zu rieseln. Draußen stieg ein weißer Korallenbaum auf, drehte sich und stürzte in sich zusammen. Die Woge schoß heran, wand sich zornig zwischen den Blöcken, gurgelte, zischte und leckte nach all dentrockenen Stellen. Das Meer kam zurück. Es donnerte und stürzte sich an den Klippen in die Höhe, und der Wind trieb das Spritzwasser über die Heide. Flut.

Glühend rot sank die Sonne an diesen Tagen ins Meer, immer an der gleichen Stelle.

So ging es viele Tage lang.

Yann machte mir einen Besuch in Sturmvilla und wir feierten Versöhnung. Worüber stritten wir eigentlich? sagten wir beide und sahen einander gerührt an. Dann gingen wir auf die Jagd. Denn Yann hatte seine Büchse mitgebracht, ein zerbrochenes Zündnadelgewehr, das mit Drähten zusammengebunden war. (Es stammte von seinem Urgroßvater, généralunter Napoléon premier.) Wie er damit schießen konnte, war mir ein Rätsel, aber er schoß damit. Er glühte vor Jagdeifer und schoß auf Möwen, Meerschwalben, Hammel, auf alles, was lebte. Über die Heide zogen Rauchschwaden, es roch nach Pulver wie nach einer Schlacht, die Hammel rannten wie irrsinnig im Kreise. Und doch war Yann der ungefährlichste Jäger, den es gab. Er traf nie etwas, Gott weiß wohin die Kugeln flogen. Dann kam es ihm in den Sinn, Champignons zu suchen. Hoho, er wußte wohl, wo sie zu finden seien. Und richtig, da waren sie. Wir brieten sie in einem Topf, bis alle unsere Champignons in einen Fingerhut gingen, aßen, schnalzten mit der Zunge und wanden uns zwei Tage in den furchtbarsten Krämpfen. Yann konnte es nicht fassen. „Tiens!“ sagte er, „im vorigen Jahre waren es doch Champignons?“

Wir legten ein Netz aus in der Bai und saßen unterdessen halb nackt auf dem heißen Deck des Arbeiters und unterhielten uns über lenkbare Luftschiffe, während Yann eifrig an einem Strumpf strickte.

„He!“ sagte Yann, „wollen wir nicht heute abend eine kleine Entdeckungsreise unternehmen? Jetzt im Sommer sind sie alle ganz toll.“

Merci. Ich hatte keine Lust.

Dann aber, ganz plötzlich — so ist der Mensch — hatte ich genug davon, mit einem unbeschriebenen Herzen einherzugehen, und ich beschloß mir wieder eine Vergangenheit anzuschaffen. Ich ging hinein ins Dorf und hielt Umschau unter den Töchtern des Landes.

Das Glück lächelte mir. Meine Augen fielen auf Yvonne, die Tochter Amoriks.

Ich machte Einkäufe bei Noel. Noels Bar und Laden mit all den von der Decke herabhängenden Talglichtern und Seilen sah wie eine Tropfsteinhöhle aus. Und doch war sie die geistige und gesellschaftliche Zentrale der Insel und das Leben war hier im vollen Schwung.

Der dicke Briefträger und Chef der Post saß an seinem kleinen Tischchen und sammelte Kräfte für den nächsten Posttag. Bei den Mehlsäcken stand der Großvater, ein ehemaliger Schiffskapitän, der sich die Hölzer auf den Planken krumm gestanden hatte, und döste vor sich hin wie ein im Nachdenken versunkener Maulesel. Das ganze Jahr stand er so und nie sprach er ein Wort. Einmal wagte ich es ihn anzureden. C’a marche, capitain? Er drehte langsam bei, sah mich erstaunt an, bewegte die Kinnlade und sagte:

Merci. Dann schwenkte er wieder und stand wie zuvor.

Der rote Noel hantierte hinter der Bar, schwitzend vor Eifer und Wohlbehagen. Zuweilen kommandierte er mit lauter, hallender Stimme: „Antoinette, Josephine, Maria!“, und die kleinen Mägde mit den weißen Hauben, die in dunklen Löchern und Winkeln wühlten, antworteten singend: jaa! und unterdrückten einen Fluch.

Noel setzte mir ein Konzert von Schnäpsen vor. Das tat er immer. Er führte alle großen Marken der Welt, und ich mit meinem europäischen Gaumen mußte sie prüfen.

Ich nahm das erste Gläschen und goß es hinter die Binde, ich nahm das zweite, das dritte — „hm!“ Noel machte verzückte Augen — „gut, gut!“ — Noel lachte, daß ihm der Schleim aus dem Rachen fuhr — „ah, das ist ein Likörchen!“ — Noel drehte sich auf dem Absatz und klatschte auf die Schenkel.

„Ja, das ist ein Likörchen, sage ich, wie?! In Paris bekommen Sie ihn nicht besser! — Antoinette, Josephine, Maria, man muß die Lampe anzünden!“

„Jaa!“ (Nom de chien!)

Solange die Lampe angezündet wurde, verharrte alles in Stillschweigen. Es wäre ungebildet und roh gewesen, während dieser Prozedur zu sprechen.

Antoinette kletterte auf den Stuhl und Noel stand väterlich besorgt und ängstlich neben ihr, bereit sie aufzufangen. „Nimm dich in acht — der Patentbrenner — langsam drehen!“

„Guten Abend!“ sagte Antoinette.

„Brennt er nicht herrlich, der Patentbrenner?“ fragte Noel. „Ja, haha, fünfzehn Franken kostete mich die Lampe!“

„Ausgezeichnet!“

Aber da klapperte es im Flur und man wußte schon, wer kam. Das war Gaston Grouzen, der verrückte Gaston. Er war acht Jahre in Kalifornien gewesen und hatte sich tausend Dollar erspart. Nun war er von früh bis nachts damit beschäftigt von Kneipe zu Kneipe zu rennen, um recht rasch seine Dollars los zu werden.

„Da kommt der verrückte Gaston!“ lachte Noel und stellte das Glas bereit.

Gaston Grouzen nahm einen Augenblick die bis zum Kopf abgebissene Gipspfeife aus dem Mund und stürzte den Schnaps hinab. Ah, da sah er mich!

Er umarmte mich und rieb sein stachliges Gesicht gegen meine Backen. Dann zeigte er, wie immer, auf eine Narbe unter dem linken Auge. „Im Krieg gegen die prussiens. Me California. You have match?— Welcome!“ Und weg war er, er hatte keine Zeit zu versäumen.

Ein Trupp Fischer kam herein, sie räusperten sich und spuckten. Aber dieses Räuspern und Spucken war eine Konversation, man mußte nur die Ohren aufmachen. Auch Yann kam und wir traktierten uns gegenseitig mit Schnäpsen aller Art.

Merkwürdig ist der Mensch! Als Yann nach seiner verwegenen Fahrt zum erstenmal an Land gekommen war, hatten wir ihm die Finger entzwei gedrückt: hoch Yann, Filou! Und Yann hatte die Achseln gezuckt: was war weiter dabei? Nun aber, da niemand mehr davon sprach, mußte Yann den ganzen Tag von seiner Heldentat reden und die Zeitungen aus der Tasche ziehen — und wir nahmen es ihm übel.

„Der Arbeiter ist doch ein gutes Boot,“ sagte der dicke Chef der Post; er war ein neidischer Hund.

Yann brüllte ihn zu Boden. „Cochon! Was versteht ein Briefmarkenlecker von Navigation? Ich sage ja nicht, daß es eine Heldentat war, aber es war nicht leicht, den alten Kahn so lange im Strom zu halten. He, halte dein hölzernes Maul! Zehn Kapitäne kannst du hinstellen, sie schaffen es nicht!“

Yann und der Chef waren Spinnenfeinde. Nur mit Ekel auf den Lippen sprachen sie voneinander. Und Yann peinigte den dicken Chef, so sehr er konnte.Wenn er gar nichts zu versäumen hatte und guter Laune war, so tat er etwas Unerhörtes: er klopfte an das kleine Fenster der Post. Das kam selten vor und war das schlimmste, was man dem Chef antun konnte. „Hallo!“

Der Chef schnarchte drinnen und Yann klopfte lauter. Der Chef fuhr auf: „Malheureux!“ und kam an das Guckfenster.

„Eine Marke für einen Sou!“

Dann ging Yann in eine Bar und nach einer halben Stunde klopfte er wieder.

„Hallo!“

„Malheureux!“ schrie der Chef innen verzweifelt.

„Noch eine Marke. Ich vergaß ganz.“

Yann lachte sich tot, aber nach einer halben Stunde war er schon wieder da.

„Hallo!“

Der Chef tobte. „Malheureux!“

„Eine Marke für einen Sou. O, lala, was für eine Riesenkorrespondenz ich heute habe.“

Der Chef wurde blau vor Zorn. „Das ist Schikane, einfach!“

Aber Yann klopfte mit seinem Sou. „Voyons! Ich bezahle. Tue deine Pflicht und halte das Maul!“

Nach einer halben Stunde aber war er schon wieder da — — ho! ho! ho!

Da aber schlüpfte der Dorflump mit den klaffenden Hosen in die Bar. Er streckte mir die Hand hin: „Eine Prise Tabak, Herr! Papier habe ich selbst!“ Ja, richtig, er hielt ein zerknittertes Zigarettenpapierchen zwischen den schmutzigen Fingern. Aber ehe ich ihm Tabak geben konnte, hatte Yann dem Dorflump eine Schaufel zwischen die Beine geworfen und der Dorflump entfloh.

Yann behandelte den Dorflump wie eine Katze.

„Hahaha!“

Der versteinerte Großvater drehte sich um und nieste.

Keinen Augenblick lang stand das Leben in Noels Bar still.

Ein totenbleich aussehender Fischer kam herein und trat zu Noel und murmelte ihm etwas ins Ohr.

„Haha!“ lachte Noel laut. „Bezahle die zehn Sou, die du schuldig bist, und ich kreditiere wieder.“

„Meine Kinder haben nichts —“ murmelte der Fischer.

„Bah! Arbeite —!“

„Ich bin krank.“

„Krank? Haha! Du kennst meine Prinzipien, Freund.“

Der bleiche Fischer nickte und ging wieder.

„Sie würden mir das Fleisch von den Knochen fressen!“ rief Noel aus.

O, lala, ja so war er. Er zog den Fischern jeden Sou aus der Tasche, verkaufte ihnen schimmeliges Brot und gemeinen Fusel, platzte von all den fetten Speisen und guten Weinchen, hatte ein Haus und einen Harem kleiner rundlicher Mägde, die er der Reihe nach schwängerte, aber sobald es ans Kreditieren ging verstand der Inselkönig keinen Scherz. Und die Fischer fanden das ganz in Ordnung.

Alle hatten den bleichen Fischer schon vergessen, da rief Noel mit lauter Stimme: „Antoinette, Maria — man muß einen Laib Brot zu Breton tragen, jetzt gleich! Sage, Noel schickt es. Auch einen Topf Milch muß man hintragen!“ Und zu den Gästen in der Bar sagte er: „Man kann die Leute ja doch nicht verhungern lassen.“ Und er seufzte.

So war Noel. Er hatte ein gutes Herz, man darf ihm nicht unrecht tun.

In diesem Augenblick aber fielen meine Augen auf Yvonne, die Tochter Amoriks, des Wächters von Creach. Sie kam um Brot zu kaufen.

Yvonne war schön! Erinnerst du dich? Einmal im Frühling kam ein Mädchen an Sturmvilla vorbeigeklappert in ihren Holzschuhen, ihre Hammel wollte sie suchen, und ich küßte sie auf den braunen Nacken. Yvonne, daß ich dich so lange vergessen konnte!

Yvonne hatte ein braunes Gesicht und eine hohe glänzende Stirn. Wenn sie lächelte, erschienen Grübchen in ihren Wangen und dann glänzten auch die Wangen. Ihre Augen waren schwarz wie Pech. Das schönste aber war ihr Haar. Es war sorgfältig über der Stirn gescheitelt und schwarzglänzend wie das eines Rappen, aber doch seidenweich.

Noel zeigte ihr sein Wohlwollen. Er legte den Laib, den sie gewählt hatte, zurück und suchte ihr einen andern aus. „Nimm diesen, Yvonne, das ist der beste!“ Diese Auszeichnung genossen nur seine geachtetsten Kunden.

„Für Amorik!“ sagte Yvonne.

„Schon gut, schon gut, grüße Amorik!“ Amorik genoß Kredit wie alle Leute mit einem festen Einkommen.

„Kenavo!“ sagte Yvonne und ging.

„Ah, sie ist ein hübsches Mädchen!“

„Ja, und ein anständiges Mädchen!“

Ich aber sagte gar nichts. Ich nickte nur. Dann schloß ich meine Einkäufe ab — ohne Eile zu verraten. Man mußte gerissen sein auf der Insel.

„He, Antoinette, Josephine!“ schrie Noel. „Man muß mich daran erinnern, daß die Waren nach Sturmvilla gebracht werden. Man muß um sieben Uhr einspannen!“

Noel besaß nämlich ein Fuhrwerk, obgleich die größte Reise, die man auf der Insel machen konnte, eine Wegstunde weit war. Sein Pferd war dick und fett und hatte lange Haare an den Beinen, förmliche Pelzhosen. Das Einspannen war eine Komödie. Dann setzte sich Noel, gestiefelt und gespornt, auf den Bock und rasselte dahin, Brrr! Schon war er angekommen. „Man muß Zephir abreiben und striegeln, Zephir muß Wasser bekommen, brr, brr, Ruhe, Zephir!“

Nun gut, ich ging. „Guten Abend!“

Auf der Heide holte ich Yvonne ein. Ich rief sie an und sie blieb stehen.

„Wir haben ja den gleichen Weg, Yvonne!“

„Ja!“ Sie lächelte. Ich sah wie schlicht und gut ihr Herz war.

„Du kennst mich doch, du weißt doch noch —?“

Yvonne lachte. O ja, sie hatte es nicht vergessen.

„Daß ich dich nie mehr gesehen habe! Ich komme doch so oft nach Creach. Wo warst du denn den ganzen Sommer?“

„Ich? Auf der Insel. Ich habe dich oft gesehen, ja. Doch halt, ich war ja nicht immer auf der Insel, ich war vierzehn Tage in Brest.“

„Nun, siehst du?“

Und Yvonne beeilte sich mir von ihren Erlebnissen in der Weltstadt Brest zu erzählen. Sie war da auchim Theater und hatte ein Stück gesehen, das Ohrfeigensalat hieß. Ein reicher Bauer kam nach Paris und mietete die Wohnung eines lebenslustigen Junggesellen und nun ging es los, er bekam Ohrfeigen von allen Seiten.

„Er erhielt immerzu Ohrfeigen,“ erzählte Yvonne, „es kamen Gläubiger des Junggesellen, klatsch, Eifersüchtige, klatsch — haha — immerzu klatschte es.“

„Hahaha!“

Wir gingen vorgebeugt durch den Wind und sahen einander ins Gesicht, während wir plauderten und lachten. Yvonne sprach ganz hinten im Kehlkopf und ihr herzliches Lachen kam wie aus weiter Ferne.

„Wie alt bist du, Yvonne?“

„Laß sehen —? Ich bin neunzehn.“

Ich sah sie an. Sie war groß und stark.

„Und du hast doch einen Geliebten?“

„Haha — was er denkt! Nein, nein, nein!“

Yvonne lachte.

Sie gefiel mir.


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