Siebentes Kapitel.
Als Junker Hans auch während der zwei nächsten Tage von seinem Ausfluge nach Sinsheim nicht zurückkehrte, stieg in Ernst die Sorge auf, das von Zachäus dem Oheim gestellte Horoskop möchte sich jetzt schon bewahrheiten und dieser aus irgendeinem, Ernst unbekannten Grunde den Entschluß gefaßt haben, Mönch zu werden und fortan Zeit seines Lebens im Kloster zu bleiben. Seinen geliebten Ohm, den besten und einzigen Vertrauten seines Herzens von Kindheit an, für immer verlieren zu sollen, war ihm ein unerträglicher Gedanke. Und nie hatte ihm der ältere Freund und Berater so gefehlt wie eben jetzt, wo es sich für ihn darum handelte, sich den Zugang zur Minneburg und zu Richilde von Kollenberg zu bahnen, eine Schwierigkeit, zu deren Überwindung ihm der Beistand des Oheims von der größten Wichtigkeit war. Vormittags und nachmittags ging er in den Wald und hielt sich stets in der Nähe des Weges, den Hans mutmaßlich zurückkommen mußte. Doch umsonst; kein Hufschlag durchschallte den stillen Forst, nicht Roß noch Reiter ließ sich blicken. Hans war wie verschwunden und verschollen.
Ernst frug Josephine, die sich wie von ungefähr zu ihm gesellte, ob ihr Vater, der auch noch nicht wieder von Mosbach zurück war, ihr nichts Bestimmteres über das Horoskop des Oheims mitgeteilt hätte, namentlich in wie naher oder ferner Zeit dieser das ihm prophezeite Glück im Kloster finden sollte. Aber Josephine konnte ihm darüber keine Auskunft geben und bemühte sich, ihn über das Ausbleiben des von ihm so schwer Vermißten zu trösten und aufzuheitern. Daß der Blick des Mädchens oft mit einem wehmütig schwärmerischen Ausdruck an seinem Angesicht hing und sich zuweilen ein leiser Seufzer ihren Lippen entwand, blieb unbemerkt von ihm. Endlich fragte sie: »Ist es weit von hier zu den Benediktinern in Sinsheim? Wenn Ihr mir den Weg beschreiben könnt, so will ich hingehen und nach Eurem Oheim fragen.«
»Allen Dank für dein freundliches Erbieten!« erwiderte Ernst, »aber das ist zu weit für dich. Wenn er bis morgen früh nicht zurück ist, so reite ich selber hin, und es müßte mit Kräutern zugehen, wenn ich ihn dann nicht mit heimbrächte.«
Dieser Entschluß schien ihn froh zu stimmen, und lachend sprach er: »Was sie wohl im Kloster zu dem Boten sagen würden, den ich ihnen da als Befreier ihres biderben Zechbruders ins Gehege schickte! Siehst freilich in deinem langen Talar fast wie ein Klosterschüler aus. Tu' mir den Gefallen, streife das entstellende Puppengehäuse ab und laß den Schmetterling auskriechen! Wir sind allein hier, und ich seh dich viel lieber in deiner unverhüllten Gestalt, als in der Vermummung, in der du weder Mann noch Mädchen bist.«
Ein freudiger Glanz und ein schnelles Erröten glitt über ihr Antlitz; sofort kam sie seinem Wunsche nach und stand nun wieder in der kurzen, enganschließenden Jünglingstrachtvor seinen zufriedenen Blicken. Sie gingen immer tiefer in den Wald und streckten sich, wie neulich auf ihrem Rückweg von der Schmiedeschenke, wieder in den Schatten auf das Moos, miteinander plaudernd und scherzend. Josephine wußte sich vollkommen sicher an der Seite des ritterlichen Junkers, denn – sagte sie sich selbst – du bist eine Jüdin, und er liebt eine andere. Ein bitteres Gefühl beschlich sie dabei; sie beklagte im stillen ihr Schicksal, das sie in einem verachteten Stande geboren werden ließ und ihr damit schon, nach dem Vorurteil der Mitlebenden, jede Hoffnung auf ein Glück verriegelt hatte, nach welchem die Sehnsucht in ihrem Herzen erwacht war und sich stärker und stärker zu regen begann. Fast schien es ihr jedoch, als wenn Ernst von jenem Vorurteil frei wäre, weil er sie mit so großer Freundlichkeit behandelte, wie sie ihr noch nie von einem anderen Menschen zuteil geworden war.
Auf der Mittelburg wunderte sich mancher über das häufige Beisammensein des Junkers mit dem schüchternen Judensohn; aber Ernst antwortete auf eine gelegentliche Frage nach dem Grunde dieser auffälligen Zuneigung ausweichend: »Er lehrt mich im Walde Kräuter und Schmetterlinge kennen und weiß von seinem Vater allerlei Heimlichkeiten von natürlichen Dingen.« –
Am anderen Morgen ritt Ernst fort, um Hans aus dem Kloster zu holen; und weil er wußte, wie gern sein Oheim bei Laux Rapp einkehrte, so nahm er den Weg über die Schmiedeschenke, obwohl es nicht der nächste war. Seine Hoffnung, Hans vielleicht schon dort zu finden, trog ihn auch nicht. Von weitem schon, sobald die Biegung des Weges dem Blicke freie Aussicht gewährte, sah er ihn an dem Tische unter der Eiche sitzen, und neben ihm saß Laux Rapp, ein kleiner, derbknochigerGesell mit einem verwegen dreinschauenden Gesicht und einer gegen die andere etwas erhöhten Schulter. Beiden Männern gegenüber am Tische, auf dem selbstverständlich Krug und Becher nicht fehlten, stand Susanne, und alle drei schienen in einem heiteren Gespräch begriffen zu sein. Einen Augenblick durchfuhr Ernst der Gedanke: ob sie ihm wohl von Josephinen erzählt hat? Doch wenn sie es getan hatte, so war jetzt nichts mehr daran zu ändern, und er mußte sehen, ob und wie sich das Geheimnis des Mädchens dem Oheim gegenüber noch retten ließ. Mit einem lauten, freudig jauchzenden: »Hallo! Ohm Hans!« sprengte er dem Platz unter der Eiche zu, war schnell aus den Bügeln und drückte erst dem Junker und dann auch Laux und Susanne die Hand. Das Mädchen schüttelte auf seinen fragenden Blick leise mit dem Kopf, um ihm zu bedeuten: ich habe nichts gesagt! worüber Ernst sehr erfreut war.
»Hast auch wohl Durst auf Laux seinen abgelagerten Rothen?« begrüßte Hans den Neffen, während Susanne ins Haus sprang, einen Becher zu holen.
»Nein, Ohm,« erwiderte Ernst, »ich wollte nach Sinsheim, einen Weltflüchtigen der Klause zu entreißen.«
»Hoho!« lachte Hans, »meinst wohl, sie hätten mich schon unter der Schere? Weit gefehlt, mein Junge! so lange ich einen Harnisch tragen kann, schlüpfe ich in keine Kutte.«
»Ist's wahr, Ohm Hans? kann man sich darauf verlassen?« frug Ernst, dem Wiedergefundenen scharf prüfend in sein offenes Gesicht schauend.
»Dumme Frage!« sagte Hans, »als ob ich von Kopf zu Fuß ein Lot Pfaffenfleisch an mir hätte!«
»Nein, nein, Ohm!« erwiderte Ernst, »aber du bliebst gar zu lange aus, und da – bekam ich Sehnsucht nach dir.«
»Unterm Krummstab lebt sich's lustig,« lachte Hans, »und was habe ich denn zu Hause versäumt?«
»Nicht viel, aber ich bin heilfroh, daß du den Sinsheimern entronnen bist und wiederkommst,« sprach Ernst sich neben seinen Oheim niederlassend, und frei aufatmend stieß er mit dem vollen Becher an den ihm von Hans entgegengehaltenen.
Laux Rapp, der sich wie einer auf die Gesichter und die Herzen der Menschen verstand, hatte dem Gespräch mit beiden Ohren gelauscht und hinter dem Frageton und dem ängstlich prüfenden Blick des Jüngeren eine geheime Sorge gewittert, der auf den Grund zu kommen ihn seine Neugier unwiderstehlich reizte.
»Junker Ernst,« hub er an, »ich kann nicht glauben, daß Euer Ohm ein so böses Stücklein auf der Seele hat, um sich hinter Klostermauern in Gewahrsam zu bringen.«
»Das hatt' ich auch nicht im Sinn,« erwiderte Ernst; »keinem Hühnlein kann er etwas zu Leide tun.«
»Nun, ich habe schon manchen Biedermann vom Gaule gestochen,« sagte Hans.
»Ja, in ehrlicher Fehde,« sprach Ernst, »da ist's weiter nichts, als ein gutes Ritterstück.«
»Gewiß! das macht der Katze keinen Buckel,« nahm der Schmied wieder das Wort. »Also aus gedrungener Not braucht Ihr nicht ins Kloster zu gehen; solltet Ihr es nun aus eigener Bewegnis tun? Ich meine, Gott hat Euch nicht mit so viel Kreuz und Beschwerung heimgesucht, daß Ihr mit Eurem Leben nicht begnügig und zufrieden sein könntet, Junker Hans. Oder seid Ihr im Glauben etwas baufällig geworden, daß Euch der hochwürdige Abt von Sinsheim die Bände angetrieben hat?«
»Du wirfst das Beil zu weit, Laux!« entgegnete Hans. »Der hochwürdige Abt von Sinsheim ist mein trauter Freund; der tut mir alles zuliebe.«
»Alles?« frug Ernst.
»Alles, was ein christgläubig Gemüt sonder Arglist und Gefährde von ihm verlangen kann; ich glaube, noch viel mehr.«
»Merkt Euch das, Junker Ernst!« lächelte jetzt Susanne. »Er spricht Euch von großen und kleinen Sünden los, Ihr mögt sie an Christen oder Juden begangen haben.«
»So du noch ein Wort sagst!« drohte ihr Ernst.
Aber der Schmied ließ in seiner stachelnden Neugier, welcher besondere Vorfall den weltfrohen Junker in ein Kloster treiben könnte, nicht nach und sagte: »Ihr wäret nicht der erste Ritter, Junker Hans, der das Tor der Welt hinter sich zuschlug und die Brücke abwarf, um sein Leben im Kloster seliglich zu vollenden. Also heraus damit, sonst gibt's 'nen Kropf! Warum wollt Ihr ins Kloster, Junker Hans?«
»Bei allen Heiligen und Verdammten, laßt mich endlich mit Eurem Kloster in Ruhe!« fuhr Hans auf. »Ich will ja gar nicht ins Kloster, als mit den lobesamen Brüdern unter beiwohnender Weinfeuchte einen fröhlichen Kantus zu singen, in ihren Forsten zu pirschen und in ihren Teichen zu fischen. Wenn du das nächstemal mit willst, Ernst, so sag' es!«
»Soll ein Wort sein, Ohm!« sprach Ernst.
»Frage nicht, so lüg' ich nicht,« brummte der Schmied.
Nach einer guten halben Stunde, die bei fleißiger Handhabung des Bechers unter anderweitem Gespräch vergangen war, nahm Hans den dickbäuchigen Weinkrug, schaute hinein und verkündete: »Sela, lieben Brüder! Alles hat ein Ende, sagt Trotto, der Kellermeister, wenn er die Treppe nicht mehr hinunter will.«
»Ei so verreck! bei Laux Rapp heißt es nicht so. Noch einen!« rief der Schmied, Susannen den Krug reichendund in der Hoffnung, durch mehreren Wein die Zungen seiner Gäste besser zu lösen.
Aber Hans schüttelte: »Nein! ihr sollt jetzt von unseren Rossen die Schweife sehen. Komm, Ernst! in den Sattel!«
Sie saßen auf und ritten nach freundlichem Abschied davon.
Der Schmied hatte nichts herausbekommen von dem, was ihn zu wissen verlangte. Er blickte den Reitern, so lange sie in Sicht blieben, gedankenvoll nach; dann ging er verdrießlich mit dem Kopfe schüttelnd in die Schmiede, trat an den Herd und zog den Blasebalg, um das eingesunkene Feuer wieder anzumachen.
Unterwegs frug Hans seinen Neffen: »Was waren denn das für sonderbare Reden von dir und Laux über das Kloster?«
»Dir will ich es nicht verschweigen, Ohm,« erwiderte Ernst. »Es war ein Jude bei uns, der uns allen das Horoskop gestellt hat, und das deine lautete, du würdest dein Glück einmal in einem Kloster finden.«
Hans lachte laut auf. »Aber der Mann hat recht,« sagte er dann. »Nirgends bin ich vergnügter, als bei den Benediktinern in Sinsheim, und so finde ich jetzt schon oft mein Glück in einem Kloster. Dazu brauchte kein Jude zu kommen, Euch das zu sagen.«
»Ja dann, wenn du es so deutest!« sprach Ernst in Freuden.
»Was dachtest denn du?«
»Ich dachte, ich würde dich verlieren, lieber Ohm, wenn du dich entschlössest, für immer dort zu bleiben.«
»Nein, mein braver Junge! wir zwei bleiben zusammen bis an mein selig Ende,« sagte Hans, seinem jugendlichen Genossen die Hand hinüberreichend. »Nimm dich nur vor den Weibern in acht, daß ich dich nicht verliere!«
Ernst beugte sich auf den Hals seines Pferdes und blickte zur Seite ins Gebüsch, als ob er dort ein Wild suchte.
»Was hat es sonst noch gegeben daheim?« frug Hans.
»Die Hirschhorns und Schenk von Erbach sind beim Vater zu einer geheimen Beratung gewesen,« erwiderte Ernst. »Mich haben sie weggeschickt; ich sollte nichts davon erfahren,« setzte er unmutig hinzu.
»Dich haben sie weggeschickt? ja, was geht denn da vor?«
Ernst zuckte die Achseln. »Ich weiß nur, daß Frau Rüdt von Kollenberg ihren verpfändeten Wald einzulösen gedenkt.«
»Also doch endlich!« sagte Hans.
»Bist du's zufrieden, Ohm?«
»Von ganzem Herzen!« erwiderte Hans.
»Das freut mich, Ohm! das freut mich ausnehmend,« rief Ernst vergnügt. »Sorge nur, daß der Friede bald zustande kommt!«
»Den Wunsch hab' ich lange,« sprach Hans; »aber woher wißt Ihr denn, daß Frau Juliane den Wald wieder haben will?«
Darauf erzählte ihm Ernst seine Begegnung mit den drei Fräulein und von dem geschossenen Reiher.
Hans lachte über den Jagdfrevel im verpfändeten Wald und gönnte den jungen Damen ihre Freude am edlen Waidwerk, wenn sie es zur rechten Zeit ausüben wollten. Er wenigstens würde sie nicht darin stören und hoffte auch nicht, der Minneburg so nahe zu kommen, um der Gebieterin derselben oder ihrer Tochter und deren Freundinnen in die Arme zu laufen.
»Aber wenn wir nun mit ihr Frieden machen?« bemerkte ihm Ernst.
»Das ist deines Vaters Sache, des ältesten von uns,« erwiderte Hans; »ich bin dazu nicht nötig und will auch nichts damit zu tun haben.«
Da hatte Ernst nicht den Mut, dem Oheim jetzt die stillen Hoffnungen und Wünsche seines Herzens zu entdecken, sondern verschob dies auf eine günstigere Gelegenheit, wenn der Weg zur Versöhnung auf beiden Seiten angetreten wäre.
Bald nach seiner Heimkehr begab sich Hans zu seinem Bruder Bligger, der ihn freudig willkommen hieß, und seine erste Frage war: »Was ist hier vorgegangen, daß ihr eine, wie es scheint, wichtige Beratung gepflogen habt, an welcher Ernst nicht teilnehmen durfte?«
»Also hat er schon alles ausgeplaudert?« sagte Bligger.
»Alles,« erwiderte Hans, »nur das nicht, was er selber nicht wußte.«
»So höre denn!« begann der ältere. »Ich habe sichere Kundschaft, daß der Pfalzgraf etwas gegen uns im Schilde führt. Um seinen Anschlägen mit Nachdruck zu begegnen, ist es nötig, daß wir alle fest zusammenhalten gegen ihn, auch der Dauchsteiner und die von der Minneburg.«
»Der Dauchsteiner?« sagte Hans mit Stirnrunzeln, »den laß nur aus dem Spiel, auf den ist kein Verlaß, und er ist uns so wenig Freund wie wir ihm.«
»Magst recht haben,« gab ihm Bligger zu, »aber die Minneburg. Wir müssen mit Julianen unseren Frieden machen, damit sie uns mit ihrem Gesinde zu Roß und zu Fuß Beistand leistet.«
»Hab' ich ja schon immer gewollt,« schaltete Hans ein.
»Und da sie den Wunsch geäußert hat,« fuhr Bligger fort, –
»– ihren verpfändeten Wald einzulösen, – weiß ich, weiß ich!« unterbrach ihn Hans.
»– so ist das die beste Gelegenheit, ihr die Hand zur Versöhnung zu bieten. Und das mußt du machen!« sagte Bligger, seinen Bruder fest ansehend.
»Ich? ich?« frug Hans höchst verwundert.
»Ja, du! Du mußt nach der Minneburg reiten und mit Julianen alles in Ordnung bringen,« erwiderte Bligger.
»Gott soll mich in Gnaden bewahren! warum just ich?«
»Wir haben es samt und sonders so beschlossen.«
»Ihr habt gut beschließen über mich, wenn ich nicht dabei bin,« sprach Hans.
»Wärst du dabei gewesen, so hättest du es gewiß freiwillig übernommen.«
»Niemals! Wählt einen anderen Boten; ich kann es nicht.«
»Du mußt, Hans! es geht nicht anders, und es hängt zuviel davon ab.«
»Aber warum ich gerade? warum nicht du selbst oder Engelhard?« frug Hans in wachsender Erregung.
»Du wirst einsehen, daß du der einzige bist, der es vermag,« redete Bligger auf seinen Bruder ein. »Engelhard wollte es nicht übernehmen und kann es auch füglich nicht. Einer von uns Brüdern muß es tun. Mich läßt Juliane gar nicht ein, weil sie mich für ihren schlimmsten Feind hält. Konrad würde es auch nicht besser ergehen, und er taugt auch nicht recht dazu. Also mußt du dich wohl oder übel dazu bequemen, Hans, denn du hast dich mit den Rüdts immer am besten von uns gestanden.«
»Gib mir Bedenkzeit, ich will es mir überlegen,« erklärte Hans nach einigem Kampfe; »ich kann sie ja doch nicht ohne vorherige Ansage in ihrer Burg überzucken.«
»Was ist da noch zu überlegen?« sagte Bligger. »Freilich mußt du sie überzucken; das ist das Rechte. Du forderst zweihundert Gulden Lösegeld, und sie erhält Dorf und Wald zurück mit allem, was dazu gehört; aber den Wildbann behalten wir.«
»Unbilliges Verlangen!« versetzte Hans.
»Höre, was sie sagt,« erwiderte Bligger. »Danach reden wir weiter.«
Hans schüttelte den Kopf. »Darauf kann sie nicht eingehen.«
»Mir ist es auch weniger um den Wald zu tun, als um Frieden und Freundschaft mit Frau Juliane.«
»Und die glaubst du mit so schweren Bedingungen zu gewinnen?«
»Wir lassen allmählich mehr und mehr davon nach und kommen endlich allen ihren Wünschen entgegen,« versetzte Bligger. »Du mußt nur dafür sorgen, daß sich die Verhandlungen etwas in die Länge ziehen, damit wir Zeit und Gelegenheit haben, mit Juliane wieder auf guten Fuß zu kommen. Rücke und räume dich nur erst selbst wieder warm bei ihr ein, und dann vermittelst du die Versöhnung deiner wiedergewonnenen Freundin mit uns.«
»Kann ich Ernst dazu mitnehmen?« frug Hans.
»Ist das sein eigener Wunsch?« war Bliggers rasche Gegenfrage.
»Schwerlich! wir haben nicht darüber gesprochen,« erwiderte Hans. »Wie konnt' ich denn ahnen, was ihr hinter meinem Rücken über mich verhängt habt?«
»Mir deucht, es soll keinem von uns gereuen,« sprach Bligger. »Nimm Ernst mit, und – wann reitest du?«
»Wenn's denn sein muß, – morgen.«
»Morgen! recht so! und alles Glück auf den Weg!« sagte Bligger.
Hans begab sich auf seine kleine, schwindelhoch über dem steilen Abgrund hängende Burg Schadeck zurück, setzte sich dort in seinen Sessel, dessen Rücken- und Armlehnen aus starken Elensgeweihen gebildet waren, und versank, den Kopf in die Hand gestützt, in tiefes Nachdenken.
Er war ein echter Landschad. An Kraft und Höhe des Wuchses gab er seinen Brüdern nichts nach, aber sein blühendes Antlitz mit den heiter blickenden blauen Augen ließ ihn viel jünger erscheinen, als er war, und auch seine Bewegungen und die Art zu sprechen waren noch jugendlich rasch und sorglos sich gehen lassend. Sein ganzes Wesen hatte etwas Treuherziges, Derbes und keine Spur von der hinterhaltigen Überlegenheit und dem gemessenen Auftreten seines älteren Bruders. Auch Hans war Ritter; aber da er sich nicht verheiratet hatte, war ihm der Name ›Junker Hans‹, unter dem er von Jugend auf bekannt und bei alt und jung, bei reich und arm beliebt war, bis auf den heutigen Tag geblieben, und niemand fiel es ein, ihm seine Jahre nachzurechnen.
Als er nun so saß und sann, wie er sich des Auftrages entledigen sollte, der ihm da wider seinen Willen aufgehalst war, stieg ihm Julianens Bild vor der Seele auf. Sie war seine Jugendliebe gewesen, sofern man die erste Liebe eines dreißigjährigen Mannes zu einem sechzehnjährigen Mädchen noch Jugendliebe nennen kann. Zu einem Verlöbnis zwischen beiden war es indessen nicht gekommen, denn er hatte ihr weder seine Liebe je bekannt, noch um ihre Hand zu werben gewagt, zurückgehalten von seiner sonderbaren Furcht vor einer Schwiegermutter. Diese Furcht war angesichts manches abschreckenden Beispiels schon frühzeitig in ihm entstanden und hatte sich im Laufe der Jahre verstärkt, bis sieso tief in ihm festgewurzelt war, daß sie einen gewichtigen Grund mehr für seine Abneigung gegen die Ehe im allgemeinen abgab. Viel dazu beigetragen hatte das abstoßende Benehmen, das ganze Schalten und Walten der Frau Margarethe von Handschuchsheim, der Schwiegermutter Engelhards von Hirschhorn, deren Gegenwart schon, wenn er den Freund besuchte, ihm ein beständiges Gruseln verursachte. Julianens Mutter, Gräfin Konstanze von Ehrenberg, war nun Zeit ihres Lebens auch eine sehr willensstarke Dame, der Hans ein ebenso herrschsüchtiges sich einmischen in die häuslichen Angelegenheiten zutraute, und die einmal bei sich auf seiner Burg wohnen haben zu müssen, ihm ein schaudererregender Gedanke war. Herr Zeisolf Rüdt von Kollenberg mußte wohl diese Furcht nicht teilen, denn er führte die Braut heim. Aber Gräfin Konstanze war nie anders auf der Minneburg, als zu kurz vorübergehendem Aufenthalt, und einige Jahre nach der Verheiratung ihrer Tochter starb sie, so daß auch an Hans das drohende Ungewitter einer bei ihm hausenden Schwiegermutter gnädig vorübergegangen wäre. Nachdem Juliane nun eines anderen Mannes Frau geworden war, entschlug er sich jedes wärmeren Gefühles für sie, faßte den unabänderlichen Entschluß, niemals zu heiraten, weder mit noch ohne Schwiegermutter, und fand sich immer vergnüglicher in sein Junggesellenleben hinein, von dessen ungebundener Freiheit er sich um keinen Preis der Erde trennen wollte. Später aber, viel später war es bei dem freundnachbarlichen Verkehr der Bewohner der Neckarburgen geschehen, daß ihm Juliane doch wieder eine stärkere Teilnahme eingeflößt und eine Zeitlang in ihm lebendig erhalten hatte.
Dieser Zeit gedachte Hans jetzt und durfte sich gestehen, daß es ihm damals nicht schwer geworden wäre, dielebenslustige, leidenschaftliche Frau rückhaltlos zu gewinnen und innig an sich zu fesseln. Die Ehe mit ihrem verstorbenen Gemahl war sie mehr auf den Wunsch ihrer Eltern, die mit der Verheiratung ihrer noch sehr jungen Tochter große Eile zu haben schienen, als aus wahrer Liebe zu ihm eingegangen, denn Herr Zeisolf, zwar ein ganz ehrenwerter und tapferer Ritter, war gewiß nicht ein Mann nach ihrem Geschmack gewesen. Unansehnlich in seiner äußeren Erscheinung, geizig und grämlich von Gemütsart, zuweilen sogar etwas roh von Sitten und den heiteren Genüssen des Lebens, wie Juliane sie liebte, durchaus abhold, war er nicht imstande gewesen, seiner Gattin das volle Glück zu bereiten, das sie auf der Minneburg zu finden erwartet hatte. Sie lebten in leidlicher Eintracht miteinander, und daß ihm Juliane eine gewisse Anhänglichkeit bewahrte, hatte sie durch ihre Unversöhnlichkeit gegen die Landschaden noch nach seinem Tode bewiesen. War ihr aber schon der Verzicht auf manche äußeren Freuden und auf die Erfüllung dieses oder jenes Wunsches schwerer geworden, als sich bei ihrem begehrlichen Sinn mit ihrer Zufriedenheit vertrug, so war sie für die Entsagung auch auf inneres Glück erst recht eine seelisch zu reich beanlagte Natur. Daher war es nicht zu verwundern, daß schon bei Lebzeiten ihres Gatten ihr Herz für die Erscheinung und Art und besonders für die Huldigung anderer Männer nicht unzugänglich blieb und sich ihrer eine Sehnsucht bemächtigte, die bald eine bestimmte Richtung nahm.
Hans Landschad war in seiner stolzen Kraft, mit seinem frohmutigen und liebenswürdigen Wesen ein Rittersmann, ganz dazu geschaffen, vor Frauenaugen und in Frauenherzen Gnade zu finden, wie sie ihm von Juliane zuteil wurde. Es dauerte indessen lange, ehe sich diebeiden über ihre gegenseitigen Empfindungen klar wurden. Nur mit kleinen Schritten von einer Vertraulichkeit zur anderen kamen sie sich näher, bis jeder von der Zuneigung des andern überzeugt war, nun auch mit der seinigen kühner hervortrat und endlich beide ihres beglückenden Geheimnisses froh wurden. Nicht mit Worten hatten sie sich verständigt, aber die Augen und die Hände und vor allem die Herzen wußten genug und legten sich fürder nicht mehr Zwang auf, als die Gegenwart dritter erforderte. Einmal aber, als Hans die ihn sehnsüchtig Erwartende eines Tages allein zu Hause traf, waren sie sich in die Arme gesunken, hatten sich geherzt, und geküßt, und Juliane hatte lange selbstvergessen an Hansens Brust geruht. Dann plötzlich waren sie, wie aus einem Traum geweckt, auseinander gefahren: ein einziger Blick von Augen zu Augen hatte ihnen beiden zugleich die Gefahr gezeigt, in der sich die Unbelauschten befanden, und Hans war zur Tür hinausgestürmt, hatte sich aufs Pferd geschwungen und war spornstreichs davon geritten. Bald darauf war die Fehde zwischen Zeisolf und den Landschaden ausgebrochen, die Julianens Gatten zum Gefangenen machte.
Solcher Gestalt waren die Erinnerungen, die dem in seinem Sessel grüblerisch vor sich Hinstarrenden aus einer noch gar nicht so fernen Vergangenheit auftauchten, und ihn in wechselvollen Bildern umschwebten. Drei Jahre nur waren seit jenem Augenblick vergangen, da er sich von Juliane losgerissen und, noch die Glut ihrer Küsse auf seinen Lippen fühlend, vor den heißen Wünschen seines und ihres Herzens eilig die Flucht ergriffen hatte, um nicht zum Schelm an einem ritterlichen Genossen zu werden, mit dem er damals noch befreundet war. Nun sollte er sie zum ersten Male wiedersehen. Wie soll er ihr entgegentreten? wie wird sie ihn empfangen?Hat das Blut, das in der Fehde geflossen, alles Geschehene ausgelöscht bis auf die Erinnerung daran? Oder wird bei dem Wiedersehen wie bei dem grell leuchtenden Schein eines Blitzes in der Nacht alles wieder lebendig werden, was eingeschlafen war? Sollte Juliane glauben können, er käme unter dem Vorwande einer geschäftlichen Unterhandlung mit der eigentlichen Absicht, das jäh zerrissene Band nun endlich wieder anzuknüpfen und nun zu unlösbarem Halt? Das wäre ein unseliger, verhängnisvoller Irrtum und von allem das Schlimmste, was ihm dabei widerfahrenkönnte. Doch nein; das war schwerlich zu fürchten. Viel näher lag, daß sie ihm grollte und ihn der Treulosigkeit zieh, denn – könnte sie zu ihm sagen – wenn du mich noch liebtest, so wärest du, als ich frei war, gekommen und hättest mich hingenommen; was hinderte uns denn noch, vor Gott und Menschen den Bund für's Leben zu schließen? Damit wäre sie in ihrem Recht, und er hatte alle Ursache, sich um ihre Verzeihung dafür zu bemühen, daß er durch sein früheres Verhalten Hoffnungen in ihr erweckt, an deren Erfüllung er niemals gedacht hatte. Um sie in solchen Hoffnungen nicht noch zu bestärken, hatte er sie seitdem völlig gemieden und auch, nachdem sie Witwe geworden war, nicht ein einziges Mal den Versuch gemacht, sich ihr wieder zu nähern, wie sie es doch gewiß erwartet hatte. Jetzt sträubte er sich gegen eine Begegnung mit ihr, wenn es auch auf der anderen Seite einen großen Reiz für ihn hatte, die wieder zu sehen, die einst, aufgelöst in Glück und Wonnen, an seiner Brust geruht hatte, und die vielleicht heute noch im tiefsten Grunde ihres Herzens sehnsuchtsvoll nach ihm verlangte. Gern wüßte er sie versöhnt, gern hätte er sie wieder zur lieben Freundin; aber beiden mußte jetzt aus ihrem Wiedersehen die peinlichste Verlegenheit erwachsen,und es konnte dabei zwischen ihnen zu Auseinandersetzungen kommen, vor denen ihm wie einem Kinde vor einer harten Züchtigung bangte. Einer leidenschaftlichen Aussprache war allerdings dadurch einigermaßen vorgebeugt, daß Ernst ihn begleiten sollte. Wie aber, wenn die drei Fräulein seinen Neffen, der nicht wußte, wozu er mitgenommen war, aus dem Gemach entführten, ihn selbst mit der einstigen Vertrauten allein ließen und diese nun, nicht dem Wortlaut, wohl aber dem Sinne nach, die Frage an ihn stellte: Wollen wir uns nicht heiraten, Junker Hans?
Ein verdammter Auftrag war es und blieb es, den ihm Brüder und Freunde hier aufgezwungen hatten, weil sie, wie er annahm, seine früheren innigen Beziehungen zur Herrin der Minneburg nicht im entferntesten ahnten. Allein er hatte Bligger sein Wort gegeben, zur Friedensstiftung das Seinige zu tun, und mehr hatte jener nicht von ihm verlangt, was Hans sehr lieb war, denn es mochte nun kommen, wie es wollte, eines stand unerschütterlich fest in ihm: heiraten wollte er Juliane nicht, sie nicht und kein Weib unter der Sonne. Mit dem längst um sein Herz gelegten Panzer unbesieglichen Widerstandes gegen die Ehe wußte er sich gegen jede Versuchung stahlhart gewappnet und war endlich auf jede Gefahr hin mutig entschlossen, der schönen Frau morgen in die Augen zu sehen, mochte ihm nun Liebe oder Haß daraus entgegenblitzen.