The Project Gutenberg eBook ofDas Trottelbuch

The Project Gutenberg eBook ofDas TrottelbuchThis ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online atwww.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.Title: Das TrottelbuchAuthor: Franz JungRelease date: July 12, 2011 [eBook #36718]Language: GermanCredits: E-text prepared by Jens Sadowski*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS TROTTELBUCH ***

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online atwww.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Das TrottelbuchAuthor: Franz JungRelease date: July 12, 2011 [eBook #36718]Language: GermanCredits: E-text prepared by Jens Sadowski

Title: Das Trottelbuch

Author: Franz Jung

Author: Franz Jung

Release date: July 12, 2011 [eBook #36718]

Language: German

Credits: E-text prepared by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS TROTTELBUCH ***

E-text prepared by Jens Sadowski

Umschlag und EinbandzeichnungvonFranz Henseler, München

Verlagslogo

Berlin-Wilmersdorf 1918Verlag der Wochenschrift DIE AKTION (Franz Pfemfert)

Von Franz Jung erschienen bisher folgende Werke:Im Verlage der AKTION:Sophie. Ein RomanSaul. Ein DramaOpferung. Ein RomanFlucht aus der Welt. Ein Roman.Im Verlage Weißbach, Heidelberg:Kameraden . . .!Ein Roman.

Alle Rechte vorbehaltenCopyright 1918 by Franz Pfemfert, Berlin-Wilmersdorf.Dieses Werk wurde gedruckt von H. Klöppel, Quedlinburg.

Trottel. Eine programmatische Einleitung

Der Weg über den Berg

Die Erlebnisse der Emma Schnalke

Der tolle Nikolaus

Eine programmatische Einleitung

Um einen Tisch des Café du Dôme saßen mehrere Herren. Eine Frau schritt draußen am Fenster vorbei.

Sie hatten sie alle gekannt, und einige kannten sie noch.

Einer las vor:

Zwei junge Burschen stolpern aus einer Vorstadtkneipe in die Nacht. Blutjunge Burschen und sehr betrunken.

Sie schlagen das Pflaster mit ihren Stöcken, sie johlen, krümmen sich vor Lachen, und sie schleppen die schwergewordenen Füße hinter sich her, daß sie von fern wie hinkende Greise erscheinen.

Eine Katze huscht über den Weg.

Die Betrunkenen bleiben stehen, die Lässigkeit ist aus ihren Gliedern gewichen, ein Rausch ballt sich zusammen. Sie jagen dem Tier nach, verstellen den Weg, sie schlagen mit ihren Stöcken — — als ob das Tier schuld wäre an ihrer Jugend und ihrer Betrunkenheit, so schlagen sie.

Die Katze hält einen Baum an der Straße umkrallt und windet sich mit letzter Kraft hinauf.

Die Burschen halten keuchend inne.

Das Tier ist fast aus dem Bereich ihrer Stöcke, da holt der eine nochmals zum Schlag aus und trifft . . . . trifft das Rückgrat . . .

Das Tier wendet den Kopf und starrt durch die Nacht — starrt — und gleitet dann — ruckweise — den Stamm herunter.

Die beiden haben sich dann ohne Gruß getrennt.

Einer warf ein:

„Aber in jener Nacht schliefen sie nicht. Die Krallen gruben sich in ihr Hirn und lösten Krampf und Zuckungen aus.“

Als niemand etwas sagte, fügte er schüchtern hinzu:

„Wenigstens bei einem . . .“

Da lachten sie alle.

Plötzlich sagte wieder einer:

„Ihr erinnert euch, ich sah sie einmal mit einem Commis oder Offizier oder sowas im Café. Ich ging damals an ihren Tisch und sagte: Du . . . du gehst nicht mit dem . . . komm. Ihr wißt, daß sie damals zu mir kam. Wir gingen in eine Kirche. Sie weinte. Es war sehr peinlich. Neulich war ich wieder in dieser Kirche, ich sah sie wieder vor mir . . . ich könnte mich heute ohrfeigen.“

Sie nickten alle zustimmend.

„Wenn ich damals an den vertrottelten Major geschrieben hätte . . .“ sagte einer.

Der andere las wieder vor:

„Kann ich dafür, daß in Montmartre die Lichter stechen, kann ich dafür . . .?“

„Hör auf, du zerreißt mich, bitte . . . bitte . . du — du —“

Weiter raste der Tanz.

„Bleib bei mir. Komm, mich friert hier.“

„Laß nur, Kleiner.“

„Du . . .“ es war ein Schrei.

Ein Lächeln antwortet.

Aber er liest eine Bitte um Verzeihung heraus und nickt.

Das Weib rast und spiegelt sich in den Blicken aller.

Weiter. Rausch. Schreie. Violinen.

Er richtet sich auf, ballt die Faust, schreit: „Komm . . . “

Ein Riß klafft in dem Taumel.

„Haha . .“ aber sie geht mit ihm.

Der Freund ging mit ihnen. Sie waren nie allein, in ihrer Mansarde wohnten viele Freunde.

Schnee lag auf den Dächern und taute, daß das Wasser in die Kammer tropfte.

Er umkrallte die Hand des Freundes: „Wir haben zu sühnen, ich will ihr die Ruhe geben.“

„Und verlasse mich . .“ höhnte der andere ihm nach.

„Ich habe bereits alles auf mich genommen . .“ bat er wieder.

„Es war eine wundervolle Nacht,“ warf sie ein.

„Nein,“ heulte der eine.

Sie lachte. „Ich hatte mich danach gesehnt . . . und gleich alle drei . .“

Du wirst noch Orangen verkaufen, dachte der Freund. (Und der Vorleser lächelte selbstgefällig.)

„Als ihr mich nahmt, war ich so befreit . .“

„Du warst rein,“ brüllte der eine. „Oh ich Schuft, aber ich werde dich noch . .“

„Du blöder Hund.“

„Du. Du weißt, wie ich dich liebe.“

Sie wies mit einer Bewegung der Hand auf den Schnee über ihrem Fenster.

Schweigen.

Er starrte sie mit fiebernden Blicken an. Verflucht, dachte der andere, soll ich ihn halten?

„Gut . . .“ schrie der, „aber dann . . .“ Er schwang sich hinaus.

Ein Zucken ging über ihr Gesicht, sie rang in sich etwas nieder. Der Freund saß regungslos.

Von draußen kam ein Kratzen und Schürfen. Dann ein Poltern, ein Schrei oder ein Lachen oder ein Wimmern —

Man sah einen Ring über dem Dachrand zittern und brechen.

Der Freund saß regungslos.

In ihren Zügen lag ein Leuchten, ein Flackern, eine Flamme, eine Erstarrung, ihr Leben ballte sich zusammen. Sie sah den Freund ihr gegenüber beschmutzt, stinkend, schamlos in seiner Ohnmacht und Bestürzung.

Dann zupfte sie den anderen am Rock und würgte lächelnd heraus: „Zwanzig Franken muß er noch haben.“

Der Freund räusperte sich, er war erlöst.

Dann gingen sie.

Man schwieg eine Zeitlang am Tisch.

Dann setzte einer schnell, wie um den anderen zuvorzukommen, hinzu: Zwei Freunde treffen sich in London. Der eine schwärmte: Ich habe ein Weib gefunden. Krampf und Zuckungen. Ich will den Rhythmus ihrer Liebe suchen.

Der andere lächelt und sagt: „Dann mußt du ihr mehr zu saufen geben.“

Während sie noch so sprachen, trat die Frau am Arm eines Fremden ins Café und schritt an ihrem Tisch vorbei.

Die Herren standen auf und verbeugten sich.

Sie trug eine entzückende Robe, und der Fremde sah aus wie ein russischer Großfürst. Vielleicht, daß in seinem Hemd Brillanten funkelten. Auch tranken die beiden Gott weiß was für teure Sachen.

Die Herren hätten viel darum gegeben, wenn sie etwas von der Unterhaltung der beiden gehört hätten.

Sie hörten aber nichts und machten nur die Wahrnehmung, daß beide sehr zufrieden aussahen.

Er sog lächelnd an einer sicherlich exquisiten Zigarette, und sie führte von Zeit zu Zeit bedächtig das Glas an den Mund . . . .

Am Tische der Herren fing schließlich einer wieder etwas zu lesen an.

(In drei Etappen)

Frau Päsel feierte ihren 50. Geburtstag.

Frau Päsel wartete in einem Garten mit ihrer Tochter, der Frau König, zwei volle Stunden auf Herrn König, der unter dem Vorwande, einen Bekannten aufzusuchen, sich vom Tisch entfernt hatte und wahrscheinlich in einer Kneipe nebenan ein Wiedersehen begoß.

„Du hättest ihn erst gar nicht gehen lassen sollen,“ brummte die Alte.

Die Tochter kniff die Augen zusammen und schien mit Tränen zu kämpfen.

„Nu ja,“ besänftigte die Mutter, „vertragen müßt ihr euch schon. Für dich ist es schwer.“ Sie seufzte tief auf.

Da kam Herr König.

Er kam tänzelnden Schrittes, machte eine tiefe Verbeugung und rief lustig: „Guten Taaaag!“

Wirklich ein fescher Kerl. So ein Schlingel — — dachte die Alte und bekam einen dicken, feuerroten Kopf. Dann schrie sie: „So treibst du’s wieder, du besoffner Lump.“

Herr König mühte sich, einen Zusammenhang zu finden.

„So muß alles zu Grunde gehen,“ jammerte seine Frau und beobachtete dabei einen Nebentisch, an dem irgend etwas vorgehen mußte, was Herr König nicht sehen konnte.

Herr König blieb vorderhand ganz ruhig und setzte sich. Donnerwetter, dachte er, und immer leiser: Donnerwetter, die paar Glas Bier und so. Aber es wurmte ihn.

Die Alte redete weiter:

„Daß du dich auch gar nicht halten kannst. Gleich wieder den verfluchten Fusel.“ Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Du siehst doch, wie sich die Mutter grämt,“ warf die andere ein und hatte Verachtung im Blick.

Frau Päsel weinte. Dann sagte sie sanft:

„Willst du hier etwas essen?“

„Nein.“

„Aber iß doch, lieber Junge. Wie nett du aussiehst in dem neuen Hut . . .“

„Fritz, so iß doch was.“

„Halt die Fresse.“

Herr König schlug auf den Tisch.

„Ja, was ist denn — — vertragt euch doch, Kinder.“

Frau Päsel zitterte.

Die andere lachte auf.

„Laß ihn doch, er ist ja besoffen.“

„Was!? Das sollst du büßen. Warte nur . . .“

„Aber Kinder . . .“

„Das geht mir doch zu weit, oh warte. . .“

Er keuchte vor innerer Erregung.

„Sie hat es doch nicht so gemeint.“

„Oh die — das muß sein,“ er schnappte mit der Stimme über.

„Alle Leute werden ja auf euch aufmerksam,“ flehte Frau Päsel. Sie war leichenblaß.

Die andere riß die Augen weit auf, zog die Schultern automatisch ruckweise rauf und runter und stieß schrille, pfeifende Schreie aus.

Die Alte hielt sie.

„Um Gotteswillen, was ist dir denn?“

„Der da — der da — der da“ — sie schrie weiter.

Er stürzte mit erhobener Faust auf sie zu.

„Sie hat wieder was, die Komödie, Aas verfluchtes.“

Die umsitzenden Leute lachten. Ein Kellner sagte zu jemandem: „Was geht das Sie an . . .“

Frau Päsel rang die Hände und stotterte vor sich hin: „Was ist denn los um Gotteswillen.“ Ein entsetzlicher Gedanke fuhr ihr durch den Kopf: Wenn mich hier jemand kennt, um Gotteswillen, der Päsel. Dann schrie sie ihren Schwiegersohn an: „Dich kenn’ ich jetzt.“

Herr König war starr. Er nahm seinen Hut und ging hinaus.

„Was ist denn, Kind?“ jammerte die Alte.

Die junge Frau stand hastig auf.

„Mutter, er geht. Geh schnell.“

Frau Päsel lief hinaus und erwischte ihn noch an der Straßenecke.

„Wo willst du denn hin? Sei doch vernünftig.“

„Ich kann das Frauenzimmer nicht mehr sehen.“

Sie kam hinzu.

„Was hab ich dir denn getan?“

Sie weinte noch leise.

„Ich will nicht mehr. Schluß. Immer dasselbe.“

„Sprich doch nicht so . . .“

„So versöhnt euch doch, Kinder. Was muß ich mit euch noch alles erleben.“ Sie sah völlig gebrochen aus.

„Mit Kerlen treibt sie sich rum und alles so, und wenn ich dann . . .“

„Aber es hat ja niemand etwas gesagt,“ mischte sich die Alte wieder hinein.

„Ich will nicht!“ Er schrie so laut, daß die Passanten stehen blieben.

Frau König sah hilflos unschuldig aus. Sie schaute zu ihm auf und schien zu flehen: Siehst du, so bin ich. Nimm mich doch.

Aber er hörte nichts. Er freute sich, daß ihm Unrecht geschah und fühlte, wie ein reißender Strom sie von seiner Seite fortriß und entführte.

Die Frauen faßten ihn unter den Arm und lächelten.

Er merkte, daß er müde war, und daß es vielleicht besser wäre, jetzt alles gut sein zu lassen, aber er riß sich mit einem Ruck los, daß Frau Päsel unter den Stand eines Obsthändlers rollte. Er sprang auf eine vorbeifahrende Tram und fuhr davon. Zu seiner Enttäuschung mußte er sich eingestehen, daß niemand hinter ihm her schrie.

Abends auf der Heimfahrt sagte er zu seiner Frau:

„Eigentlich haben wir nichts erreicht. Mit dem Pump wird es wohl jetzt nichts werden.“

„Siehst du, die Mutter ist nicht mal mit auf die Bahn gekommen,“ schmollte sie, „du bist auch immer so aufgeregt . . .“

Er grübelte: Ob sie es weiß, daß sie mich betrogen hat, und weiter: aber der alten Kupplerin hätte ich es mal richtig geben sollen, und später: wenn wir nur erst allein wären . . . Sie hatten sechs Stunden zu fahren.

Als sie dann im Abteil allein waren, küßten sie sich.

Gegen drei Uhr nachts stolperte der junge Bittner die Treppe zu seiner Dachwohnung hinauf. In dem dürftig ausgestatteten Zimmer brannte noch die Lampe. Die Anna Zöpfel lag angekleidet auf dem Bett und schlief.

„So — schrie er, hab ich dich erwischt!“

Er rüttelte sie am Arm. Sie wachte auf und rieb sich die Augen.

„Kommst du erst jetzt? Ich bin so müde. Mich friert.“

„Was! Du — du, du willst mir Vorwürfe machen? du —??“ Er schrie, daß sie erschreckt sich aufrichtete. „Du — hä, wo warst du denn? hä!?“

Sie stammelte: „Ja, was soll das?“

„Ah, ich habe es geahnt, ich weiß.“

Er ging im Zimmer auf und ab.

„Ich habe dich auf den Knieen gebeten, beherrsch’ dich, ruiniere mich nicht durch deine Unüberlegtheit und Dummheit.“

„Was hab ich denn aber getan?“

Es war nur mehr ein leises Wimmern.

„Nichts von heute und gestern. Aber es frißt. Weiß ich — vielleicht vor einem Jahr und vor Wochen, alles das Kleine, die Verzeihungen . . .“ Er schnappte nach Luft.

Da merkte sie, daß er betrunken war und sagte leise:

„Geh doch jetzt schlafen.“

Er ließ sich neben sie nieder, ballte die Faust.

„Du hast alle gegen mich ausgespielt, ich bin allein, verlacht, du hast mich zerrieben — zwischen Steinen, getreten, bespieen und immer noch geschworen, du hättest mich lieb.“

Sie starrte ihn verängstigt an. Er umspannte ihr Gelenk.

„Ich habe keine Ruhe mehr, ich bin krank, matt — oh du!“

Er krallte sich tiefer ein. Sie fing an zu jammern.

„Ich hab doch auf dich gewartet.“

„Warte nur, du Aas!“ Er zog eine Fresse und kniff die Augen zusammen.

„Sieh nur, wie verändert du sprichst,“ höhnte er.

Sie weinte. Dann riß sie sich los und schrie: „Laß mich!“

Die Haare hatten sich gelöst, die Miene war straff und hart. Er krallte sich tiefer ein.

Sie heulte auf wie ein verwundetes Tier und suchte sich seiner mit den Füßen zu erwehren.

Da schlug er sie.

Er schlug mitten hinein ins Gesicht, ruckweise, überlegen, wie ein Schütze, der ins Schwarze zielt.

Ihre Augen zuckten. Immer neue und fremde Gesichter sah er erstehen, und in jedes schlug er sie.

Er fühlte, daß er manchen Vorgänger zu töten hätte.

Immer wieder, maschinenmäßig.

Es wurde für Sekunden totenstill. Dann gellten Schreie, kalt, wie hinter dem eigentlich Menschlichen, sie bohren, fressen. Schreie. Sie stand mitten im Zimmer, das Gesicht verzerrt, schrie. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, er stürzte ihr nach, sprach auf sie ein. Er riß an den krampfzitternden Wangen und küßte sie. Die Schreie lösten sich in ein monotones Heulen auf. Er ging wieder zitternd auf und ab.

Unter ihnen wurde geklopft, im Hause gingen Türen, Stimmen wurden laut.

„Sei doch wenigstens jetzt still“ — flüsterte er.

Seine Annäherung peitschte ihre Sinne, sie schrie wilder, stoßender.

Es klopfte an der Tür. Hausgenossen lugten scheu herein.

Er brummte etwas von einem Anfall, Hysterie.

Der im zweiten Stock wohnende Trambahnschaffner schrie ihn an: „Sehn Sie denn nicht, daß die Frau krank ist!?“

Das Blut rann aus ihren Kratzwunden.

Einige Weiber sprachen ihr gut zu und gaben ihr Wasser. Eine streichelte ihr Haar.

Anna beruhigte sich langsam.

Einer brummte etwas von „Skandal“ und „gebildete Leute sein“, die Frauen warfen auf Bittner giftige Blicke.

Dann gingen sie.

Er saß am Bettrand und murmelte vor sich hin: „So weit ist es also gekommen. Alles hat sie sich vernichtet. So weit.“ Dann wurde es wieder eine ganze Weile still.

Sie stand in einer Ecke und weinte leise.

Er dachte: Das arme Ding. So dumm und unüberlegt. Soll ich wieder gut sein oder ihr an die Gurgel fahren — für das alles wieder —

Und während er noch so grübelte, ging er zur Tür hinaus. Langsam tastete er die dunkle Treppe wieder hinunter, er hörte die Ketten hinter sich nachschleifen.

Eigentlich bin ich dumm, fühlte er, ich hätte mich versöhnen sollen, wenn auch — und so. Und morgen wird uns der Wirt rauswerfen. Schließlich ist sie doch auch schwanger. Zu dumm.

Langsam sperrte er das Tor wieder auf und ging schleppenden Schrittes in die Nacht hinaus.

Ab und zu fuhr er zusammen. Ein Auto jagte vorüber. Wenn er jetzt darunter läge. Es schrie jemand.

Er schleppte sich weiter. Durch endlose Straßen, Schritt für Schritt. Er dachte nichts mehr. Zuweilen noch zuckte es in ihm nach und polterte dumpf.

Sie zankten sich.

Er erklärte ihr, daß er sie im allgemeinen nicht ernst nehme, daß er ihre Erregung irgendeiner Krankheit zuschreiben müsse, es wäre ihm im übrigen auch gleichgültig und so.

Sie schrie ihn an: „Pack dich!“

Dann bekam sie einen feuerroten Kopf.

„Du blöder Einfaltspinsel!“ Sie spuckte aus.

Er entgegnete ruhig: „Du wirst dich beherrschen müssen.“

Aber in seinen Worten zitterte etwas Geheimes, Verstecktes, Lauerndes.

Er sagte: „Wenn du die Sache satt hast, so geh’.“

Sie lachte gereizt: „Das willst du mir sagen, du — aber warte!“ Sie zerriß eine Photographie und warf ihm die Stücke vor die Füße.

„So — sie spuckte wieder aus — ich geh’!“

Dann lief sie dem Haus zu.

Er setzte sich in die Laube und dachte:

Was ist eigentlich, warum der Streit? Er versuchte sich der Vorgänge zu erinnern, ich habe sie zwar gescholten — vorhin — wegen der Bemerkungen — aber sie sah mich so feindselig an — ja, wieso eigentlich?

In der Laube saß Josef.

Er achtete nicht auf ihn.

Josef war der kleine Sohn des Wirtes und auf einer Seite gelähmt. Er fuhr mit dem Finger die Tischritzen entlang und stieß kurze Schreie aus.

Der Mann achtete nicht auf ihn. Er dachte weiter: Da unten liegt sicher mein Bild, was wird sie tun? Was soll das alles? — Er sah sich Jahre zurück, wie er sie liebte, wie er bebte und getroffen wurde. Und schließlich ist sie mit mir verwachsen, fühlte er. Vielleicht ist sie auch über mich hinaus — er erschrak.

Eine peinigende Angst befiel ihn.

Nein — zitterte es in ihm — mit dieser Behandlung ist es nichts. Soll ich ihr nach, sie küssen, um Verzeihung bitten wie früher — oder still sein?

Rasender Schmerz fraß an ihm.

Er fühlte plötzlich, wie tief er Josef haßte.

Was tut er hier, warum schlägt man ein solches Vieh nicht tot? Nur zum Ekel lebt er.

Er hörte ihre Stimme. Sie stand in einem Kreis von Leuten und schien sehr erregt. Sie schrie und weinte und lachte dann wieder auf.

Josef humpelte scheu aus der Laube heraus.

Ein kleines Mädchen sammelte Steine in einen Schubkarren.

Josef zeigte auf die Steine und schrie.

Das Mädchen lachte und fragte ihn etwas.

In der Luft lag Milde. Die Sonne brannte. An den Kirschbäumen waren die ersten Blüten.

Josef stand mit gesenktem Kopf und lauschte. Dann schleppte er das eine Bein nach und drehte sich auf dem anderen langsam herum.

Josef tanzte.

Die Gartentür fiel ins Schloß.

Der Mann in der Laube fuhr auf. Wenn sie jetzt geht — dachte er, mag sie mich wieder verleumdet haben, bespieen, alles wieder breitgetreten — vor den Leuten da, es ist gleich, ganz gleich, und es rang sich etwas empor in ihm, gewaltsam, es war für ihn schon zu spät, darüber klar zu werden, er schrie verzweifelt: „Du — du —“

Aber es klang hart und rauh und befehlend.

Er schrak zusammen, gestand sich, daß es so weich und mild hätte klingen sollen.

Es war zu spät.

Doch er fühlte sofort: Nein, nicht zu spät. Sie wird wiederkommen, vielleicht wird es doch wirken. Sie wird sich damit beschäftigen. Ich werde sie dann prügeln — wie früher, als sie auf dem Boden lag und ich ihr den Haß aus den Augen schlug. Sie braucht das. Was tut’s, ich verliere einige Stunden, was tut’s.

Eine quälende Unruhe hatte ihn erfaßt.

Er rief den Wirt und wies lachend auf Josef. Auch der Wirt lachte. Dann ging er zu seinem Sohn und faßte ihn grob am Arm.

„Was tust du hier, hä? Habe ich dir nicht verboten . . . !?“

Josef hing regungslos in der Faust des Vaters.

Er gab keinen Laut von sich, als man ihn in seine Bodenkammer schleppte.

Der Mann ging im Garten auf und ab.

Ich werde sie doch anders behandeln, dachte er, mehr nach außen, mit Liebe. Wenn sie kommt, werde ich vielleicht vorerst gut zu ihr sein.

Er wurde zufrieden und lächelte. Die Stücke seines Bildes hob er auf und verwahrte sie in seiner Brusttasche. Sie wird sich freuen, fühlte er.

Das Mädchen sammelte weiter Steine.

Ab und zu erschien Josef in der Dachluke und stieß schrille, pfeifende Schreie aus.

Es klang wie der Schrei wandernder Affen im Urwald.

Der Wirt bediente lächelnd seine Gäste. Wenn man ihn totschlagen könnte, dieses Rabenaas, knurrte er, und bediente lächelnd weiter.

Spätabends kam sie heim.

Er saß im Zimmer und wartete.

Sie beobachtete ihn lauernd und sagte schnell: „Weißt du, wen ich getroffen habe, den T. Es war riesig nett.“

„Laß nur. Eigentlich wollte ich mit dir noch fortgehen, aber jetzt . . .“

„Ach ja. Er wird noch warten — im Café — er wußte ja nicht . .“ fügte sie schelmisch hinzu.

Er stimmte traurig zu. Eine bohrende Angst quälte ihn.

Nur keine weiteren Worte, fühlte er, und wie gehetzt erzählte er von Josef, dem Tanz und dem Wirt und nannte ihn irgendwie.

Seine Worte bekamen Würde, daß sie erstaunt zu ihm aufsah. Dann schritten sie schweigend durch die Nacht.

(Nach einem Kouplet: . . . . Der Liebe Glück und Seligkeit . . . .)

Die Person, um die es sich hier hauptsächlich handelt, heißt Emma Schnalke. Oder auch anders. Das hat nichts zu sagen. Mit vierzehn Jahren wurde sie auf die Straße gesetzt. In rascher Aufeinanderfolge war sie bei einem Zahnarzt, in einem Konfektionsgeschäft, Beerdigungsinstitut, Friseurladen, Schirmgeschäft, im Chor eines Operettentheaters. Es gefiel ihr nichts.

Die Männer, die ihr auf dem nächtlichen Heimwege vom Tanzlokal in die Augen sahen, erschraken und gestanden sich enttäuscht: Es ist nichts. Sie sucht etwas.

Gern war sie mit älteren Leuten zusammen. Sie log ihnen ein Dirnenleben vor.

Mit 16 Jahren kam ein Rausch über sie, der sie erhob und entzückte. Ein Schüler brachte sie zur Kunstschule und zeigte sie den Professoren.

Sie huschte durch die Säle und tanzte und jubelte, und wohin sie kam, war ein Aufleuchten. Wie etwas Neues, Fernes, das zu ihnen gekommen war, das alle erstaunte und wiederum auch war wie etwas, das alle erwartet hatten. So huschte sie durch die Säle und war ihnen bei jeder Arbeit dabei.

Oft saß sie auf einem zierlich gezäumten Roß, mit Schellen und Trotteln, als Edelfräulein, den Jagdfalken auf der Hand. Dann war es, als ob allen eine Erscheinung aufginge, es kam etwas Erhabenes in diese jungen Köpfe, und der jüngere der Professoren ging manchmal an den Steigbügel, hob sie herab und drückte ihr einen scheuen Kuß auf die Stirn.

Nach solchen Tagen schritt sie taumelnd durch die Straßen, mit schlottrigen Kleidern, eine Nachtwandlerin, oder saß an den Ufern des Flusses und griff nach den Lichtfetzen, die die Strahlen der Bogenlampen ins Wasser rissen.

Keiner wagte es auszusprechen, was alle fühlten. Künstler waren wohl kaum darunter. Indessen, diese jungen Leute waren sich bewußt, einen vom alltäglich bürgerlichen etwas abweichenden Standpunkt einnehmen zu müssen, auch in den Äußerungen ihres Gefühlslebens, und sie mühten sich darum. Sie waren ihr dankbar, daß sie ihnen gleichsam die Gelegenheit bot, ihre Zugehörigkeit zur Kunst zu empfinden und vor sich selbst zur Schau zu tragen.

Ein Flackern kam in ihre Augen, und mancher krümmte sich wie unter einem Spott. Es war wie eine geheime Abmachung unter ihnen, ein Schauer, der jeden gefangen hielt, der die groteske Tragödie eines schal gewordenen Märchens mitanzusehen gezwungen war. Es gährte in diesen Köpfen, eine Wut stieg auf und ein Begehren, wenn die Straßenmodelle den Saal verlassen hatten.

Manchmal saß sie nackt auf dem Pferde, und Bäume waren rings herum aufgestellt, die mithelfen sollten, die Idee einer längst verbrauchten Romantik in die Wirklichkeit umzusetzen. Es blieb ein Torso, und sie litten darunter. Ihre Kraft erlahmte, und ihre Kunst ging weit, weit fort. Aber sie schwiegen.

Unter den vielen war einer, der rang mit sich in manchen Nächten, und sein heißes Blut schrie.

Der Rausch und die Ruhe begann zu schwinden, der Blick wurde beseelt und bewußt, und einer, der draußen vor der Stadt das Gurren der Tauben vernahm, schlug sich vor die Stirn: er kannte es wieder.

Aufregung hatte sich aller bemächtigt, mit dem schwindenden Rausch entwand sie sich ihnen.

Es gab keine Märchen mehr.

Einmal kam der ältere der Professoren zu seinem Kollegen und fragte: „Der H. hat mir erzählt, du willst heiraten?“

Der andere schwieg.

„Die v. B.?“

Minuten des Schweigens verstrichen.

„Und deine Kunst?“ Sein Gesicht verzerrte sich, als wollte ein Pfui sich durchringen.

Der andere beschwor ihn. Dann sprudelte es hervor. Seine Liebe zur „Katze“, seine Qualen, seine Gesichte, das Heilige, und seine Ängste um seine Kunst und um seine Professur — — Aber er würde sie zu sich nehmen — Es klang immer bestimmter, je länger er sprach.

Der Alte drückte ihm die Hand, dann redeten sie mit ernsten Mienen längere Zeit, und etwas Sieghaftes lag in ihren Augen.

Es klopfte: — die Katze.

Verlegenheit war um sie, schwand bald, und es klang herausfordernd:

„Ich habe eigentlich eine kleine Bitte, ich möchte gern 100 Mark geborgt haben, ich will etwas ins Gebirge fahren.“

Der Alte zeigte auf den anderen:

„Wende dich an ihn“ — und mit bedeutungsvollem Lächeln ging er hinaus.

Es würgte in dem anderen, Trauer und Angst, ein Fremdes, Dumpfes bedrückte ihn. Eine Sekunde lang stieg alles Liebe und Herzliche in ihm auf:

„Du — (er zwang sich) — willst fortfahren?“

„Ja — mit dem Kapellmeister, du weißt — Eine kleine Spritztour.“

Noch einmal versuchte er ihre Seele zu ketten, all’ seinen Schmerz konzentrierte er auf ein süßes, tiefes — Du —, das er im Innern fühlte. Er rang und griff, aber griff ins Leere. Dann ging er langsam zum Sekretär und nestelte umständlich an einer Kassette.

Die Bewegungen waren seltsam gezwungen, ihre Augen blieben stumpf und verschleiert. Eine Lüge war im Zimmer.

„Hier hast du — — Wann sehen wir uns wieder?“

„Danke schön. Nächste Woche —“

Dann klang es hart: „Ich brauche dich zu einer Magdalena.“

„Ja, ja —“ Sie huschte hinaus.

Wochen vergingen, es wurde Winter. In die Kunstschule ging sie nicht mehr. Allabendlich stand sie vor dem Variété und wartete auf ihre Gesellschaft. Der Kapellmeister, zwei Sängerinnen und ein Kraftmensch. Dieser entzückte die ganze Stadt, wenn er einen Wagen mit vier Insassen auf dem Nacken trug oder mit Kanonen balanzierte.

Er war der Schwarm verheirateter Frauen.

Er schleppte sie durch die Caféhäuser und Bars, begleitet in ehrfurchtsvollem Abstande von Studenten, Kommis, Kellnern und Nachtmädchen. Oft saßen sie in größerer Gesellschaft in den Separés der Hotels, es wurde Wein getrunken, Musik gemacht und getanzt.

Mitunter verirrte sich auch ein Künstler unter die Gesellschaft. Meistens blieben sie aber allein. Sie saß zitternd mitten drin, wie ein flügellahmer Vogel, nur ihre Augen flackerten Sehnsucht und heißes Begehren.

Man wußte in diesen Kreisen nie, was morgen war, und immer trennte man sich in der Besorgnis, die eine süße Erwartung war, sich nicht mehr wiederzusehen.

Jeweilig zwei Tage vor seinem letzten Auftreten in irgendeiner Stadt pflegte der Athlet seinen Geburtstag zu feiern. Dann ging es hoch her. Die Katze saß unter all’ dem lärmenden Volk an seiner Seite. Sie zitterte und ertappte sich dabei, wie sie irgendeine läppische Redensart, die gerade am Tisch gefallen war, immer wieder vor sich hersprach. Sie fürchtete sich, aber die Stimmung riß sie mit fort. Die Blumenarrangements, die ihm von den Frauen auf die Bühne geschickt worden waren, schmückten die Tafel, die zahllosen Einladungen zu Dämmerstunden und Soupers, die sie immer wieder in die Hand nahm und durchlas, der Wein, die Lichter — kurz, es kam ein roher, plumper Ton in ihren Verkehr, sie scherzte mit ihm. Sie hatte ihre Haare zu einem Knoten zusammengebunden und eine rote Sammetkappe darübergestülpt. Ihre Bewegungen bekamen etwas gewollt Unfertiges und Kindliches.

So saß sie unter den Betrunkenen, und eine qualvolle Unruhe bedrückte sie. Oft lachte sie plötzlich laut auf oder küßte den Athleten und drückte sich an ihn oder erinnerte sich irgendeines fernstehenden Menschens, der ihr ein lieber Bruder und Führer hätte sein können. Wenn der da wäre, dachte sie manchmal, der oder auch der — Warum ist niemand da? — Vielleicht gerade heute — —

In manchen Augenblicken fühlte sie etwas Verfehltes in sich, ein Nichtzuendekommen, Haß stieg in ihr auf, und sie warf sich dem Athleten an die Brust oder streichelte seine Fleischerhände.

Sie wurde betrunken, die Augen funkelten.

Da nahm er sie an der Hand und führte sie hinaus. Drinnen johlten die anderen. Er trug sie in sein Zimmer und küßte sie. Die Lichter verlöschten. Der Lärm kam aus weiter Ferne und drang nicht mehr zu ihnen. Ab und zu hörte man ein Schlürfen, verwischte Laute sich entfernender Stimmen, ein letztes Poltern.

Die Stunden waren bitter, da er mit ihrer Seele rang, aber sie wurde blind — vor dem Tier, das vor ihr winselte und bettelte.

Wozu? Der Löwe und die Katze — — fühlte sie.

So nahm er sie.

Es folgten Tage wie Feuerbrände und die Stunden des ersten Erwachens. Sie schlug ihn blutig. Er fesselte sie an den Bettpfosten. Und immer stand sein Diener Bill, der abends die Gewichte schleppte, dabei, unbeweglich, lauernd, immer bereit, alle Wünsche zu erfüllen und die Befehle seines Herrn sofort zu vollziehn.

So erkannte sie sich wieder und die Erinnerung kam. Sie reisten ab. Sie wohnte bei seinen Eltern, und er nannte sie seine Braut. Dann reiste sie mit ihm. Es lag etwas Verjüngtes in seinen Schritten, die Blicke verloren das Starre, Herzlose — während sein Weib in einem Hotelzimmer verblutete.

Er betrog sie in Brüssel und Marseille und gab Unsummen aus für Brillanten, mit denen er sie, um seiner Eitelkeit zu schmeicheln, herausputzte. Schließlich hatte er sich sogar an sie gewöhnt und fühlte einen Anflug von Liebe, wie er Schlächtergesellen eigen ist. Manchmal dachte er daran, ein Gut zu kaufen und so im bürgerlichen Leben unterzutauchen. Mit der Zeit sehnte er sich sogar danach. Sie wurde von den Französinnen und Engländerinnen beneidet, manche beschenkten sie. Oft fuhr sie des Nachts in Gesellschaft auf dem Züricher See, man war freundlich zu ihr und wollte ihn kennen lernen. Dann kam sie manchmal nach Haus und biß ihn, daß man auf seiner Brust abends die Spuren sehen konnte. Oder sie schlug ihm vor dem Hotelpersonal die Faust ins Gesicht.

Er wurde weich wie ein Kind und liebte sie. Monatelang nahm er kein Engagement an. Und auch Bill wurde entlassen.

Seine Mutter drängte sich an sie und schmeichelte, wie Schlächterfrauen zu schmeicheln pflegen. Die ganze Familie fing wieder an zu verarmen, niemand arbeitete.

Da, eines Tages, nahm sie aus dem Koffer den Rest seines Geldes und blieb verschwunden. Krank, mit fiebernden Augen bat sie bei ihrer Mutter um Unterkunft.

Aus ihren Träumen kam hin und wieder ein Auflachen, das man um Mitternacht um dunkle Straßenecken hört.

Tage und Wochen vergingen. Tiefste Bitterkeit kämpfte mit wiedererwachter Sinnlichkeit, es wurde ein Haß des Vernichtenwollens, des letzten Auslöschens. Die Männer, die ihr bisher im Leben begegnet waren, gaben das Bild ab, an das sich ihre Erregungen klammerten. Sie bespie und verfluchte sie und glaubte, sie mit Füßen treten zu müssen. Oft saß sie mit starren Blicken, die Hände zusammengekrampft, und träumte, sie hielte eine Gurgel umkrallt.

Visionen erschienen ihr und erfüllten sie mit Ekel. Dann ging sie nachts in ein Rummellokal und tanzte mit den Mädchen von der Straße, wild und zügellos. Aller Blicke begleiteten sie, die Weiber beschwerten sich, manche fauchten, die Männer blieben still.

Es war ihnen ein Kribbeln in die Glieder gefahren, ein frischer Rhythmus, sie streckten sich und ihre Gesichter wurden geschäftig, als ob jeder sie erwartete, und jeder eine Mission zu erfüllen hätte. Der Tanzmeister, bei dem man sich beschwerte, aber dachte: Vielleicht ist noch ein Geschäft mit ihr zu machen — und zuckte lächelnd die Achseln.

An einem dieser Tage war es, daß sie erschöpft zusammenbrach, und einer der umstehenden Jünglinge bedauernd sagte: Wie ein gehetztes Reh. Das Wort durchzuckte sie wie ein Blitzstrahl und wurde eine Erkenntnis für sie. Immer wieder wiederholte sie für sich: Gelt, wie ein gehetztes Reh.

Wie ein Kind, das die Mutter streichelt: Geltel — wie ’hetztes Reh. Zitternd lief sie nach Haus und weinte.

Anderntags kamen Kriminalbeamte und holten sie zur Polizeiwache. Es handelte sich um die überall übliche Verleumdung seitens einer Freundin, die die Beamten auf sie aufmerksam gemacht hatte.

„Wir kennen Sie schon —“ so empfing man sie.

Die Leute da hatten ein selbstbewußtes, fettes Lachen, ihre Bäuche zitterten vor Vergnügen und der, der das „Mensch“ zu verhören hatte, trommelte mit dicken Tintenfingern auf dem Pulte herum. Er wackelte mißtrauisch mit dem kahlen Schädel.

Aus aller Augen leuchtete eine Befriedigung, wie nach einem guten Frühstück, man konnte sie noch schmatzen hören. Wirklich ein angenehmer und interessanter Dienst . . . die Weiber . . . und meine zu Hause . . . Hä hä . . . so dachten sie.

Sie aber fühlte: Hunde.

Dann wurde sie entlassen. Kein Wort des Bedauerns, kein Wort der Entschuldigung.

Schweinehunde!

Einer rief leise nach: „Na, dann das nächste Mal.“ Ihre Fressen zogen sich zu einem Grinsen, einige scharrten mit den Füßen, einer schneuzte sich, einer seufzte aus Gewohnheit tief auf, ein Geräusch von Schreibutensilien — dann schleppte sich der Dienst bis zum nächsten Fall weiter.

Nun saß sie fast immer zu Haus und weinte. Manchmal las sie zwischendurch auch Bücher aus Budapest mit Abbildungen, die frühere Verehrer zurückgelassen hatten.

Es war, als ob sie stumpf geworden wäre, oft fühlte sie in sich ein Tier, das vor Wut und Schmerzen heulte. Und immer sah sie ein Kind vor sich, das jämmerlich schrie und zur Mutter wollte.

Ihre Seele verwirrte sich, und ihr Gefühl wurde täglich enger.

Ich muß das Leben bespeien und alles vernichten — — fühlte sie.

Es war widerlich zu sehen, wie ihre Mutter, die ein altes Unrecht glaubte, wett machen zu müssen, um sie herumschwänzelte und Zukunftspläne schmiedete. Es war widerlich anzusehen.

Man sollte sie vor den Bauch treten — — das Aas — — dachte sie.

„Du wirst schon deiner alten Mutter noch Glück bringen,“ tröstete die, „ich habe noch nichts gehabt in meinem Leben, du bist noch jung und die Männer — sei schlau —“

Ja, du Aas — treten —

Und eines Tages kam ein Mann — Fabrikbesitzer oder so was —, der sie von früher her flüchtig kannte und auf der Straße jetzt gesehen hatte, und machte ohne alle Umschweife ein Gebot. 300 Mark monatlich und für später eine größere Summe.

Die Mutter tänzelte und setzte Kaffee an, sonstige Hausfreunde wünschten Glück.

Sie aber mühte sich verzweifelt um einen Gedanken, der allen Dreck wegwischen könnte, aber sie fand ihn nicht und ging fort, ohne mit dem Mann zu sprechen. Dem Kerl wurde bedeutet, er solle noch warten und nächstens wiederkommen. Er ging, seelenvoll, mit schmerzlichem Augenaufschlage grüßte er die Bekannten, die er traf, und wartete. Er hatte es sich eigentlich anders gedacht.

Den gleichen Nachmittag kam noch ein anderer Mann, an den man geschrieben hatte. Er stellte Künstlertruppen zusammen und reiste. Nach der Türkei und Rußland, durch Österreich und Italien. Auch er machte ein Angebot: Freie Wohnung, freies Essen, freie Kleidung, freier Unterricht in Gesang und Tanz. Als sie zurückkam, traf sie ihn noch an. Er war entzückt und wollte nochmal seine Frau mitbringen.

„Damit Sie sehen, daß es bei mir anständig zugeht,“ meinte er.

Sie fühlte nichts mehr, alles war in ihr welk und abgestorben. Um ihre Mundwinkel lag dämonische Grausamkeit.

Sie nahm sich von ihrer Mutter die goldene Uhr, die nach allerdings zweifelhaften Angaben ein Erbstück war, und verkaufte sie einem Trödler. Noch denselben Abend reiste sie in die nächste Hauptstadt. Sie fühlte: Nur fort. Allein sein. Weit fort von diesen Leuten.

Als ihr Zug in der Morgendämmerung in die Halle einlief, empfand sie ein so unendliches Siegesgefühl, einen Rausch wiedergewonnener Freiheit, der sie beglückte. Langsam ging sie nach dem Innern der Stadt zu, um den heraufkommenden Morgen zu erwarten. Sie wollte vorläufig bei irgendeiner entfernteren Bekannten ihrer Mutter wohnen.

Bitteres Weh drängte sich auf: Arbeiten und gut werden — dann kam es ihr aber wieder sehr lächerlich vor, und sie lachte.

Ihr Weg führte an den Markthallen vorbei. Robuste Gesellen luden das Fleisch auf. Wildes Stimmengewirr.

Die Schritte wurden zögernd, zitternd wollte sie vorbeischleichen. Die niedrigen und blutrünstigen Begierden dieser Leute hatten sie indessen schon gewittert.

Sie fing an zu laufen. Rohe Worte prasselten hinter ihr drein. Einer lief nach, erhaschte den flatternden Rock und wischte sich seine blutigen Hände drin ab. Knochenstücke flogen der Fliehenden an den Kopf.

Tolles Johlen toste hinter ihr drein, bis es langsam im Lärm der ein- und ausfahrenden Wagen unterging.

Blutbefleckt, mit Straßenkot bespritzt, schleppte sie sich auf eine Promenadenbank und brach zusammen.

Eine mitleidige Frau brachte sie in ihr Haus und ließ sich erzählen.

Drei Tage und drei Nächte saß sie in einem dunklen, kahlen Zimmer, das sie für wenige Pfennige gemietet hatte. Dann schrieb sie nach Haus und bat um Reisegeld.

An einem Sonnabend kam sie zurück, mit toten, kalten Blicken, voll Ekel und Verachtung.

„Man muß das Leben und alles vernichten —“ und ihr Kindliches stieß sie von sich — „mit Füßen treten muß man —“

Sonntag wurde sie engagiert, und den nächsten Tag reiste sie mit der Truppe ab.

Sie war freudig bei der Arbeit, es war wie eine heilige Sache für sie. Ihr Tanz atmete die scheue Zurückhaltung, die Greise zu Phantasten macht. In vielen Städten und viele Wochen lang tanzte sie so. Die Verehrung, mit der man sie umgab, glitt an ihr vorüber und rührte sie nicht. Sie hatte ihren Haß und nährte ihn, aber sie wurde zusehends schwächer. Sie wurde müde in ihrem Ekel und sehnte sich. Nach dem Fernen und Weichen, dem Streicheln und Einschläfern, dem Katzenhaften und Kindlichen. Die Erinnerung wachte auf und brachte auch wieder die Eitelkeit mit. Abends saß sie inmitten ihrer Gesellschaft, unberührt von den Gesprächen rings um sie herum, und sehnte sich so.

Es war dies die Zeit, wo sie fast täglich an ihre Mutter schrieb. Ein neues Aufatmen schien gekommen.

Und einer war, der zu ihr sprach mit leiser Stimme, von Dämmerung und verträumtem Zittern, von asketischem Insichhineinversenken und ewiger Einsamkeit.

Er beweinte im voraus, daß er sie nie besitzen würde. Sie lächelte oder war auch plötzlich bitterernst, und streichelte seine Hand, abwesend, wie eine unbeteiligte Fremde. Dann pflegte er mit hohler, vibrierender Stimme Verse zu zitieren, manchmal auch eigene, und er bevorzugte den Refrain:

Daß ich noch einmal würde lieben,Ich hätt’ es nimmermehr gedacht!

Es war ein Schauspieleleve, der schon eine Anzahl bürgerliche Berufe hinter sich hatte. Aber es kam so genau nicht darauf an, denn er lebte bei den Eltern.

Einmal kam sie nach einer heißen Nacht zu ihm und gab ihm leicht blinzelnd die Hand. Es war wieder Bewegung in ihr. Sie schmiegte sich an ihn und lauerte.

Da sagte er: „Sprich nicht so laut. Meine Mutter ist krank, zwei Zimmer weiter — — —“ und wies mit der Hand.

„Du — — —“ sie knackte mit den Fingern, es klang gurgelnd, drohend, ein Befehl, dann aber in eisiger Ironie: „komm mit.“

Er nahm ein Bild vom Schreibtisch und schenkte es ihr. Mit resignierter Miene überreichte er die Widmung: Daß ich noch einmal u. s. w.

Dann ging er mit ihr durch die Straßen. Sie waren still und bedrückt. Plötzlich lachte sie auf, gröhlte und summte vor sich hin. Einen Gassenhauer mit höchst eindeutigem Text. Er war starr, wie aus dem Gleis geschleudert, grinste indigniert und benahm sich auch sonst seltsam, wie es ein Mann tut, den die Verlegenheit überrascht. Was ist das nur, so wunderte er sich, aber er schwieg, und sie wurde auch wieder still. An ihrer Wohnung verabschiedete sie ihn, und er versuchte seinem Mienenspiel, das noch immer eine gewisse Bestürzung zeigte, einen hündischen, treu besorgten Zug mit beizumischen.

Wenige Stunden später polterte es an ihrer Tür.

Er war betrunken und bat um Einlaß. Die Haare waren zerzaust, die Kravatte verschoben. Mit funkelnden Augen stand er da, bald flüsterte er Kosenamen, dann wieder besann er sich und stammelte von einer dringenden Angelegenheit oder seufzte weh und verzichtend, wie von Schmerz zerrissen, dann wieder drückte er an die Klinke, und sein Gesicht wurde weich und zart. Aber die Tür blieb verschlossen. Er schwor sogar, daß er für sie alles aufgeben wolle, aber sie schwieg und rührte sich nicht. Ein neuer Rausch war über sie gekommen, eine dumpfe Macht, die sie verwirrte und gefangen hielt.

Sie schrieb an den Herrn v. B., der sie seit einigen Tagen verfolgte, ein Billet: „Erwarten Sie mich noch heute nach Schluß, und bringen Sie den Pelz mit.“

Herr v. B. sprang von seinem Divan auf. Was ist das? — — Jaso — — der Pelz. Dann betrachtete er im Spiegel wohlgefällig sein hageres Gesicht, den englischen Schnitt. Er lächelte überlegen.

Abends brachte er einen wundervollen echten Pelz, einen entzückenden Pelz. Sie hüllte sich hinein und war wieder Kind. Plauschte und stotterte, die ganze Gesellschaft nahm sie gefangen.

Herr v. B. feierte Triumphe. Seine Freunde — die ganze Stadt — — oh, es war wirklich ein Triumph. Er war fast traurig und gerührt, seine Augen wurden gläsern.

Dann nahm sie ihn mit in ihr Zimmer hinauf. Sie ließ ihn eine Melodie summen und tanzte vor ihm. Sie kuschte sich zu ihm und trieb zu tausend Kapriolen und Späßen. Oder sie fuhr ihm an die Gurgel und streichelte dann sein erschrecktes Gesicht. Oh, es war reizend.

Herr v. B. schwitzte und dachte in süßestem Selbstbewußtsein: Gerade ich — — ja — — höchst seltsam und wunderbar — —

Sie zwickte und puffte ihn und stieß ihn zu Boden. Ein schwerer Rausch hielt sie umfangen.

Er begann, wie aus einer Familientruhe heraus, seine Gefühle auszupacken und sprach von Liebe und Glück und ähnlichem. Eine hüpfende Seligkeit war in ihm. Oh, es war reizend — — — ja gerade ich — — fühlte er nur immer wieder. An alle Bekannten dachte er.

Der Morgen kam grau und abweisend, wie ein Henker.

Da stieß sie ihn mit Fußtritten von sich. Ihr Gesicht war aschgrau und verzerrt, das Haar hing in dürren Strähnen.

Herr v. B. fühlte: Das ist kein Erwachen, ich komme um den Genuß. Er versuchte sie zu beruhigen und sprach schöne Worte.

Sie spie ihn an, eine Flut von Flüchen schwoll ihm entgegen.

Dann schrie sie laut auf und Krämpfe schüttelten ihren Körper.

Das Hotelpersonal lief zusammen, der Direktor kam, Kollegen.

Man wusch sie mit kölnischem Wasser, alle standen ratlos.

Herr v. B. blutete aus vielen Kratzwunden, aber er achtete nicht darauf. Herr v. B. blieb ein Ehrenmann. Er behob das Peinliche der Situation durch eine kurze Erklärung, bat den Direktor zu einer vertraulichen Aussprache auf den Korridor und stellte seine Dienste nach jeder Richtung hin zur Verfügung. Seine Hand zitterte, als er vor einem Spiegel die Blutrinnsel aus dem Gesicht entfernte. Er hatte einen greisenhaften Zug bekommen, er kam sich selbst wie ein zerhackter Häher vor. Es fehlte nicht viel, und er hätte ein ganz klein wenig gelächelt.

Er schrieb einen Brief: „Teuerste — — wenn Ich Ihnen irgendwie noch behilflich sein könnte — — — —“ aber der erreichte sie nicht mehr.

Ein paar Stunden später hatte sie sich aus dem Koffer des Direktors einiges Reisegeld genommen und war verschwunden.

Es kam alles anders, wie sie gefürchtet hatte. Der Direktor schrieb einen versöhnlichen Brief, sie solle nur ruhig zurückkommen, sie würde es schon noch zu was bringen.

In den Tagen, da sie zu Haus war, frischte sie alte Bekanntschaften wieder auf. Sie erschrak vor ihrer inneren Unruhe und suchte sich zu betäuben. Man muß das Leben vernichten — — — erinnerte sie sich.

Ein Distriktsbeamter aus einer afrikanischen Kolonie bemühte sich um sie und wollte sie mitnehmen. Dies schien ihr der Rausch, den sie suchte. Nur nicht denken — — — — fühlte sie. Ihr Blick bekam etwas lauerndes, haßerfülltes, etwas vom Vampyr. Schwere Tage schlichen dahin, und tolle Nächte verbluteten in rasendem Taumel.

Eines Tages war der Afrikaner verschwunden.

Er traute nicht.

Sie erließ Aufforderungen in die Blätter, sie ließ ihn suchen durch die Polizei und Privatdetektivs. Es half alles nichts, er blieb verschwunden. Niemand kannte seine Adresse, und man hörte nichts mehr von ihm.

Schließlich fuhr sie wieder ihrem Direktor nach und wurde der Stern der Truppe. Ein Schwarm junger Männer war um sie. Blumen und Schmucksachen flogen ihr zu. Sie verschenkte alles wieder. Mit kaltem Lächeln und brennendem Ekel. Zwei Monate lang lebte sie so und immer war der Direktor um sie herum und nannte sie seine Tochter. Er ließ sie nicht aus den Augen und lebte von ihr.

Da erhörte sie einen ihrer hündischen Anbeter, der ihr von Stadt zu Stadt gefolgt war, und verließ die Truppe.

Es war schon ein gereifter Mann, der irgend eine größere kaufmännische Position innehatte und in Petroleum spekulierte.

Sie täuschten sich ein gewisses Frühlingsglück vor und waren oft still und traurig.

Wenn sie Hand in Hand auf den Dünen entlang schritten oder den Rhein hinabfuhren, stiegen Erinnerungen in ihnen auf, und eine opferwillige Liebe ergriff ihn. Er sprach von dem Herbst seiner Liebe und der Hütte, die er errichten wolle, denn er hatte bei seinem gelegentlichen Umgange mit Künstlern sehr wohl auf deren Umgangsformen geachtet. Er traf Anstalten zum Ankauf eines Häuschens, das mitten im Walde gelegen war, und überhäufte sie mit Erbstücken von seiner Mutter und Großmutter.

Sie fühlte von alledem nichts. Sinnlichkeit raste in ihr und rüttelte. Wenn sie sich ihm gab, fühlte er eine bittere Trockenheit aufsteigen und prasselndes Feuer, das sich in den Leib fraß. Er wurde in den Taumel mit hineingerissen. Ein unendliches Mitleid quälte ihn, und in den Nächten der tiefsten Ermattung rang er mit dem Entschluß, alles von sich zu werfen und zu heiraten. Ihr Leben wurde immer trauriger und drückender. Er fürchtete für seine Liebe und bebte vor deren Ende. Er fühlte sich der Situation nicht mehr gewachsen. Die Hilflosigkeit verstärkte indessen noch seine Liebe, und er fand keinen Ausweg mehr.

Sie verlor allmählich ihre Sicherheit. Sie sträubte sich dagegen, als Heilige verehrt zu werden. Ein dämonischer Wille erfüllte sie, ihn darin zu erschüttern. Sie bot sich seinen Freunden an oder inszenierte auf der Straße einen Zank und schlug ihm den Hut vom Kopf. Sie wußte mit seiner Liebe nichts anzufangen und wollte sie nicht, nur Haß und Vernichtung.

Sie nahm Weiber zu sich, er sah nichts. Sie trug sich mit dem Gedanken, ihn zu vergiften, er achtete nicht darauf. Sie zeigte ihre Wirtin wegen Kuppelei an, er lächelte darüber.

Die ganze Stadt war voll von Gerüchten, und man riet ihm, sie aufzugeben. Aber in ihm lebte eine Hoffnung von einer über alles kostbar belohnten Mission, die ihn alles vergessen ließ.

Auch ihn hatte jetzt der Rausch erfaßt.

Eines Tages hielt sie ihm den Revolver unter die Nase.

„Ich bin schwanger!“

Sein Gesicht strahlte reine Freude.

„Ich will kein Kind von dir — — —“ ein Aufschrei in wildem Haß.

Er lächelte und entwand ihr die Waffe.

„Du bist doch mein — —“ und wollte sie umarmen.

„Du langweiliges Spielzeug — — — — sie spie aus — — — — ich hab’ dich satt.“

Die Umrisse im Zimmer begannen sich zu verwischen. Aller Schmerz stieg in ihr auf. „Nichts denken“ — — schrie sie. Sie sah sich in dieser Sekunde und ihr ganzes Leben. Der Rausch zerbarst.

Die Krampfanfälle kamen wieder. Er lag zu ihren Füßen wie ein geprügelter Hund. Er hätte weinen wollen, bitten wie ein Kind, aber er fühlte, er war nicht rein genug. Ein Gefühl der Befriedigung zog ein, er wurde sich der Held eines Romanes und hatte seinem Leben endlich einen Inhalt gegeben.

Er schrieb ihr nach Haus Briefe, die eines gewissen poetischen Schwunges nicht entbehrten. Ich will immer auf dich warten, so schrieb er, die Sonne wird auf- und untergehen und ich werde sie nicht sehen, solange du nicht bei mir bist — — — — und — — — — ich will mit dir hassen lernen. Der Mutter schickte er Geld und schrieb: Pflegen Sie sie mir gut. Wenn alles vorüber ist, will ich hinkommen und mit ihr sprechen. Und dann kam er. Sie sah ihn mit scheuen Augen an und fürchtete sich. Sie dachte: Was will er nur von mir?

Oder sie schleifte ihn abends durch die Tanzsäle und suchte sich zu betäuben. Aber es gelang nicht mehr. Ihr Haß hatte sich entwurzelt, und ihre Seele war ausgebrannt. Sie sprach mit grausamem Lächeln von ihren Erinnerungen oder bot sich ihm an, mechanisch, wie eine Uhr, die täglich aufgezogen werden muß.

Es wurde ihm unheimlich. Der Roman war doch nicht nach seinem Geschmack. Er sprach hin und wieder mit ihrer Mutter, schließlich reiste er ab. Sein Innenleben war ausgelöscht. Ein unbestimmtes, dumpfes Gefühl bedrückte ihn und wollte auch späterhin nicht mehr von ihm weichen, selbst wenn er die größten Geschäfte machte.

In dieser Zeit war es, daß ein junger Mann zu ihr kam. Bei einem Konzert hatte er sie inmitten einer großen Gesellschaft gesehen und ihren suchenden Blick gefühlt. Er ließ große Inserate in die Tageszeitungen einrücken, worin er um ein Rendezvous bat. Aber sie las ja keine Zeitungen. Zufällig traf er sie nach Wochen wieder und sprach sie an. Schließlich kam er dann jeden Tag zu ihr.

Er war im allgemeinen scheu und zurückhaltend und verlangte nichts. Sie beschäftigte sich nicht allzuviel mit ihm, aber sie empfand, daß von ihm etwas von der Kraft reiner, wahrer Liebe ausging und fühlte eine wonnige Beruhigung. Manchmal sprach er den ganzen Tag kein Wort, er wollte nur um sie sein und träumen — — sagte er.

Es war wirklich eine Beruhigung für sie. Oft seufzte sie in einsamen Nächten: Wer doch gut sein könnte, so gut.

Dieses Wort hatte für sie einen besonderen Klang bekommen.

Es lag soviel Befriedigung und Sehnsucht darin. Es war, als ob sie langsam an seinen Worten gesunden sollte.

Seines Zeichens war er Journalist und beschäftigte sich auch privatim mit schriftstellerischen Arbeiten. Sie arbeiteten zusammen mit zwei Listen. Die eine führte er, auf der die Daten der Geburts- und Todestage aller großen Männer und Frauen verzeichnet waren, während sie die zweite Liste führte, auf der die Zeitungen und Journale angestrichen wurden, die refusiert oder angenommen hatten, mit rotem oder blauem Stift — je nachdem. So wußte sie auch immer, wieviel Geld einkam.

Manchmal las er künstlerische Versuche vor und enthüllte sein Innerstes schonungslos, seine Begierden und Befriedigungen. Und über allem schwebte sie, die Unantastbare, die Königin, die da kommen mußte, und der alles bereitet war.

Sie las viel in den Schriften der neuen Generation, und jede Zeile war ihr ein süßer und billiger Trost.

Aber es wurmte noch etwas in ihr und bäumte sich auf. Ein Bodensatz. Es kamen noch Tage, wo sie ihn floh. Es kamen noch Nächte, da sie durch Tanzsäle raste. Aber die Reste ihrer Kraft schwanden immer wieder, so daß sie bald zu ihm zurückkehrte. Sie fand ihn stets wie ein treues Tier wartend, voll Dankbarkeit.

Er litt, doch es war eine tröstende Gewißheit um ihn.

Auch als sie noch einmal mit einer Lüge zu ihrem Kaufmann reiste. Auf acht Tage. Sie kam wie eine Fremde und dachte auf Schritt und Tritt an ihren armen Jungen. Noch vor der Zeit war sie wieder bei ihm. Sie raffte alle Schönheiten in ihrer Erinnerung zusammen, wie jemand, der vor den Trümmern seines abgebrannten Hauses das letzte sucht, und sie bauten darauf auf. Mit blutendem Herzen tat der andere seine Phantasie hinzu.

Dann aber drückte sie wieder ihre Stille.

Ein neuer Taumel riß sie mit fort.

Sie betrog ihn mit einem Studenten, der ihr über den Weg lief — — — nein, sie betrog ihn nicht, sie sagte es ihm.

Er hetzte hinter ihr her, Tag und Nacht.

Noch einmal war alles Rausch in ihr und Grausamkeit.

Dann aber würgte sie die Scham, etwas Neues, Unbekanntes. Urplötzlich griff sie zu und riß sie zu Boden und schleuderte sie herum und zerrte und zog. Die Scham.

Sie saß an einem Caféhaustisch unter lärmenden Gesellen. Man sprach Persönliches und schien sie vergessen zu haben. Ringsum gleichgültige Menschen, mit dreckigem Lachen und blinzelnden Augen. Und fernes Musikgepolter. Lüge und Einsamkeit.

Da stand sie auf und lief hinaus. Jubelnd lief sie in seine Wohnung, frei und strahlend. Er war nicht da, sie schrieb. Tage vergingen. Endlich lag es vor ihr: Ich habe unter Qualen auf dich gewartet. Du wirst mich finden.

Ihre Stimmung war verflogen. Sie schüttelte den Kopf: Das war es nicht, was sie erwartet hatte. Wochenlang lebten sie nebeneinander her, es keimte Mißtrauen zwischen ihnen.

Ich habe was verpaßt, fühlte er, — — oder der Eigensinn — — — —

Sein Vater war in alles eingeweiht und traf Anstalten für eine dauernde Verbindung. Sie sahen einen heißen Kampf unter sich vor Augen, doch der Sieg schien sicher. Das Wort ‚gut‘ hatte eine zu tiefe Bedeutung für sie gewonnen, und sie baute sich aus dem Gelesenen ein System zusammen, das sie freisprach und befriedigen sollte. Er selbst trug dazu bei und stellte sie in den Mittelpunkt von Komödien und Novelletten, die er an die Zeitschriften verschickte, mit Rückporto versehen.

Ihre Abende vergingen etwa so, daß sie daran dachte, wem sie wohl von ihren früheren Freunden Verlobungsanzeigen schicken solle, während er Verse deklamierte und sich pathetisch mit den fahrenden Sängern des Mittelalters verglich.

Es war eine himmlische Ruhe in ihr. Der Blick begann sich für das Leben zu schärfen. Sie hatte wieder ihren suchenden Blick. Sie begann zu hänseln und zu widersprechen. Zu dem anfangs gutmütigen Spott gesellte sich unmerklich Bosheit und Hohn. Aus dem sichern Gefühl eines wiedererwachten Selbstbewußtseins heraus.

Sie trieb ihn zu Freunden und Gesellschaften. Ihr Blick wurde unstät und flackernd. Da kam sie mit einem seiner Bekannten, dem Werner, zusammen und wurde nachdenklich und unruhig.

Aber es war eine Unruhe, die ihr neu war, und die sie entzückte. Sie zitterte, wenn sie den anderen nach ihm fragte.

Er schien sie nicht zu beachten, denn er war fast immer betrunken. In seinen Bewegungen war wie Entschuldigung, und seine Blicke hatten etwas Hilfloses, Verzichtendes. Das war einer, der haßte und vernichtete. Ein Kind.

Da hielt aber auch der andere seine Zeit für gekommen, und eine geheime Furcht, seine Bemühungen ergebnislos zu sehen, ließ ihn alle Besonnenheit vergessen. Er fühlte, wie sie seinen Händen entglitt. Er zermarterte sich den Kopf; aber er fand keinen Anhaltspunkt mehr.

Es war plump, wie er sein Spiel verloren gab. Er fühlte es selbst, es war plump.

Ganz unvermittelt drängte er in sie, ohne Übergang, ungeschickt, mit verlegenem Lächeln. Er griff zu Reizmitteln und stammelte Andeutungen. Oh, es war sehr plump.

Ein Abgrund tat sich auf.

Sie hatte den Moment seit Wochen gewittert und empfing ihn: „Du — — also auch einer,“ sie lachte verächtlich. „Pfui Teufel!“

Er versteckte sich hinter einem Wortschwall, er empfand eine Lust sich zu erniedrigen und dachte: es ist gewiß meine letzte Niederlage. Wo liegt der Fehler — — — —


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