IX.

IX.

I

In diesen Juli-Tagen hielt die Welt den Atem an. Dies Europa, das ganze Menschenalter des Friedens nicht mehr als Geschenk jedes neuen Morgens, sondern längst als selbstverständliche Pflicht der Vorsehung hinnahm, und dabei doch seit einem halben Jahrhundert von Waffen starrte, in Erwartung des Kriegs, des schon halb schattenhaft gewordenen Riesen der Urzeit.

Es ging ein Zittern durch die Mutter Erde. In ihr erwachten die schlafenden Heere. Tief im Süden stand eine pinienförmige Rauchwolke düster über dem Krater des Vesuv. Unten auf der Marina des Städtchens, gegenüber dem fernen Neapel, eine Gruppe Bersaglieri am Kaffeehaustisch. Die Hahnenfedern flatterten in der Seebrise. Listige Augen. Weiße Zähne. Das Händespiel von Jahrmarktsgauklern.

„Che c’e di nuovo?“

„Tuttavia niente!“

Was werden wir tun? Ein Zwinkern auf den braunen Gesichtern...

Was wir tun? „Far vista di...“ Ein Mund am Ohr des Andern. Ein Lazzaronenlachen. Nur Geduld...

Sturmstöße vom Schneemantel der Maladetta über die grauen Steinhütten des Pyrenäendorfs nahe der spanischen Grenze. Blutrotes Weingeträufel aus dem Zickleinschlauchan der Decke der Schmugglerherberge in die Becher der französischen Offiziere der Gebirgsartillerie. Finstere Blicke nach Osten. Wie weit von hier die Vogesen! Der Rhein, wie weit...

„Ah — ça commence!“

„Und ohne uns!“

„Man wird uns rufen, mein Capitän!“

„Frankreich braucht jeden Mann!“

Dort im Osten wie weißes Pilzgewucher auf der grauen Steppe das russische Sommerlager. Ein ausgestopfter Zottelbär mit Dreispitz und Pförtnerstab als Schweizer vor der hölzernen Messe der Offiziere.

„Nun, Ossip Gregorowitsch?“

Ein Kranz weißer Schirmmützen um den Stabsrittmeister, der eben mit Hühnern und Gemüsekorb in rasselndem Wägelchen aus der Kreisstadt zurückkam. Er war in der Sobranje. Der Adelsmarschall hatte die besten Beziehungen zum fernen Petersburg.

„Nicolai Nicolajewitsch trägt den Mobilmachungsbefehl in der Tasche!“

„Vom Imperator unterschrieben!“

„Schon wieder Schnaps?“

„Trinken wir auf Serbiens Wohl!“

Sonnenschein über London. Rote Riesen zu Roß als Doppelposten vor Whitehall. Im Durchgang durch die Kaserne der Horse-Guards nach dem Paradeplatz von St. James Park eine Gruppe säbelrasselnder Gentlemen in Scharlach und Schuppenkette.

„Have you news?“

Jawohl. Nebenan, in Downing Street, ein schweres Wetterzeichen für das Schicksal der Welt: Bis zu dieser Stunde, Sonnabend Nachmittag um Drei, hatte der ehrenwerte Edward Grey London noch nicht verlassen, um Forellen zu fangen...

Noch ging die Menschheit auf Erden überall ruhig ihrem Tagewerk nach, läuteten die Sonntagsglocken von der Isaaks-Kathedrale und Notredame, vom Stephansdom und Lateran, von St. Paul’s und der Kaiser-Wilhelm-Kirche das Friedensgebet vieler Jahrzehnte ein: „Unser täglich Brot gieb uns heute!“ Nur durch die Welt der Waffen lief ein erstes, leises Raunen. Es war, als bewegten sich unruhig die Mannlicher-Gewehre in ihren Stutzen in der Hoch- und Deutschmeister-Kaserne der Wiener Edelknaben, als klirrten kaum merklich in Paris und Lyon die Pallasche der Kürassiere von Reichshofen, als summten schwach in Schottland die Dudelsäcke der Schwarzen Wache und der Gordon-Hochländer die alten Weisen ihrer Clans, als neigten sich in der Potsdamer Garnisonskirche stumm die zerschossenen Siegesfahnen über die Gruft Friedrichs des Großen, als wehe ein Erwachen durch die Heere — ein Zurück in jene Zeit, da es noch Schlachten gab...

Nur in Belgien nicht. Zwischen Maas und Yser hatte man keine kriegerischen Erinnerungen. Erst seit wenigen Jahren dienten die Söhne aus gutem Hause, statt daß ihnen der Staat für tausend Francs einen Ersatzmann aus den Arbeitslosen der Straße auflas. Man trug die zwei Jahre mit gutem Humor. Man nahm überhaupt das Leben leicht. Dachte nicht unnütz über die Dinge nach. Die Saison in Ostende nahm ihren glänzenden Anfang. Brüssel amüsierte sich auch im Sommer. Man war galant. Man aß und trank gut. Man verdiente Geld. Man haßte jeden Zwang außer dem der Mode. Man war Klein-Paris — jenes Paris, das übrig blieb, wenn man sich aus ihm alles hinwegdachte: Invalidendom und Bastillenplatz, Pantheon und Triumphbogen, Louvre und Sorbonne, die Gräber Voltaires und Rousseaus, Alles, was von geistiger und kriegerischer Welteroberung früherer Zeitenzeugte. Was für Brüssel davon übrig blieb, das war die Stadt oberflächlichen Genusses, gleißender Fäulnis. Ein „Morgen wieder lustig!“ im Gewühl der buntgeputzten Spaziergänger, dem Fluten der Massen zu den Sportplätzen, dem Tuten der Autos auf den breiten Boulevards.

Nicolai von Schjelting war ohne Aufenthalt von Konstantinopel nach Brüssel durchgefahren. Nicht unter seinem Namen, sondern als Lincoln J. Ley aus New-Orleans in den Vereinigten Staaten. Er hatte stets verschiedene Pässe bei der Hand. Man brauchte nicht immer und überall zu wissen, wo er gerade war. Er schrieb sich auch unter dem Yankeenamen in dem Hotelpalast am Bahnhof ein. Der Geschäftsführer verbeugte sich mit diskreter Zurückhaltung. Er kannte natürlich genau diesen berühmten Russen, der oft genug mit seiner schönen Frau bei ihm unten im Luxusrestaurant diniert hatte. Aber er wußte auch so gut wie halb Brüssel, daß der lang erwartete Bruch zwischen Monsieur und Madame de Schjelting dicht bevorstand. Er wußte auch noch mehr...

Und auch Nicolai Schjelting selbst erfuhr das. Er ging vom Hotel, lautlos, auf Gummischuhen trotz des schönen Wetters, zur oberen Stadt empor. Da hielt unten, noch vor dem Botanischen Garten, ein Renn-Automobil in Form eines elfenbeinfarbigen, in der Mitte durchgeschnittenen Eis. Der Oberbau bestand eigentlich nur aus einem mächtigen Benzintank und einem engen muschelförmigen Sitz für zwei Personen. Der Führer des Wagens war ausgestiegen, um die neueste Ausgabe der „Indépendance“ zu kaufen. Er war ein hagerer, langer Geselle, die Lederhaube bis an die Wurzel der verwegenen Hakennase in die Stirne gezogen. Er kehrte zu der schönen, jungen Frau zurück, die im Wagen auf ihn wartete.

„Ah — papperlapapp...c’était pour rien!“

„Nichts Neues, mein Freund?“

„Nichts!“

Dabei setzte er sich neben sie, kurbelte elektrisch an und sauste den steilen Boulevard hinauf. Nicolai Schjelting schaute den Beiden nach. Es wetterleuchtete wild über seine nervösen Züge. Er dachte sich: Ah — meine gute Ghislaine — steht es schon so? Du zeigst Dich bereits mit meinem künftigen Nachfolger vor aller Welt, um mir Deine Verachtung zu bekunden!... Nun: Täuschen wir uns nicht, meine Beste! Ich bin keinequantité négligeable! Ich kenne die, die bald lachen und die, die bald weinen werden!

Er warf die Zigarette in weitem Bogen hinter sich. Es war wie eine sinnbildliche Handlung. Eigentlich frohlockte die Spielernatur in ihm: Meine Glückwünsche! Meinen Dank! Je freier, je besser. Nichts hinter mir. Die Küste schwindet. Der Sturm von Osten schwellt meine Segel in ungemessene Weiten...

Oben im Quartier Léopold stieß Nicolai Schjelting in einem der vornehmen Mietshäuser die Schreiber im Vorzimmer bei Seite und drang brüsk, fast ohne anzuklopfen, in das Allerheiligste des Maître Nicolas. Der grauköpfige Advokat erhob sich mit der glattrasierten Würde seines Standes. Er wollte seinen Klienten begrüßen. Aber der schnitt ihm, die Hände in den Taschen mitten im Zimmer stehend, das Wort ab.

„He: was ist das für ein Kerl?“

„Wen meinen Sie, Herr von Schjelting?“

„Wen soll ich wohl meinen? Diesen Barsoî — diesen Windhund da unten — diesen Narren in der weißen Nußschale von Automobil.“

„Ach so! Baron de Ridder!“

„Was ist er? Was treibt er?“

„Nichts!“

„Also Sport?“

„Ja!“

„Geld?“

„Eine Menge!“

Schjelting ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich sagte er:

„Ich hätte gedacht, der Mensch sei klein und dunkel!“

Der berühmte Brüsseler Rechtsanwalt lächelte diplomatisch. Gewiß: Er war auch einmal von brünettem Äußeren gewesen. Er hatte auch schon einmal eine Glatze gehabt. Auch schon einmal friesisch gelbe Haare. Das wechselte. Die Brüsseler Skandalchronik war groß. Man kam kaum mit. Aber — gestehen wir es ein: — diese entzückende Madame de Schjelting war unvorsichtiger als ihre Freundinnen. War es wenigstens im Lauf der letzten Zeit geworden...

Das spielte um Maître Nicolas’ nachsichtig gekniffene Mundwinkel. Er sagte, immer noch lächelnd:

„Niemand kann zwei Herren dienen, Herr von Schjelting! Ihre Göttin ist die Politik! Ich verneige mich vor Ihrem Ehrgeiz. Aber er führte Sie zu oft auf Reisen...“

„Ah ... im Dienste Rußlands! Im Auftrag des Großfürsten!“

„Ich bewundere den Pflichteifer, den Sie seiner erhabenen Person zollen. Aber man soll eine Frau von Welt nicht zu lange allein lassen, Herr von Schjelting!“

Nicolai Schjelting fuhr sich, die blauen Schatten der Schlaflosigkeit unter den Augen, mit der Hand über die Stirne und machte dann eine Bewegung, als verscheuchte er eine Fliege.

„Gut! — Wie’s beliebt...! Gott mit ihr! Kommen wir zur Sache! Wie steht es mit der Scheidung?“

„Monsieur und Madame Lambert und ihre Tochter sind einverstanden!“

„Pah — diese Krämer...,“ sagte Schjelting. Ein höhnischer Dünkel kommender Vergeltung leuchtete über sein Gesicht.

„Die Schwierigkeit liegt nur in der Form. Die Söhnchen, dieser kleine Allard und dieser kleine René, sind orthodox getauft!“

Nicolai Schjelting durchmaß wieder zerstreut den Raum.

„Man wird das ordnen! Überlassen Sie das mir! Ich stehe gut genug mit dem Heiligen Synod. Ich erreiche am Petersplatz, was ich will. Ich brauche nur Zeit...“

„Madame de Schjelting wünscht im Gegenteil, so bald wie möglich...“

„Sie hat sich zu gedulden! Nicht darauf kommt es jetzt an. Nicht solche Händel liegen jetzt in Gottes Wille!“

„Mein Gott: Sie erschrecken mich!... Woher diese plötzliche Wildheit...“

„Ah ... ich bin Russe! Ich habe jetzt wichtigere Dinge im Kopf als Euch! Ich gebiete Schweigen. Nach dem Krieg wird man entscheiden!“

„Nach dem Krieg... Sie glauben doch nicht an Krieg...“

„Eh, Maître Nicolas?... Gut: dann glaube ich auch nicht an die Heilige Dreifaltigkeit und die Mutter Gottes von Kasan!“

„Je nun: Man glaubt, was man wünscht!“

Der Advokat lehnte sich in einer höflichen und lächelnden Abwehr zurück. Er sah kraft seines Amts in viele Brüsseler Herzen und Häuser. Er kannte seine Belgier. Er war selber Einer. Gewiß: Man war ein neutraler Kleinstaat und baute dabei mitten im Lande die größten Festungen der Erde gegen Deutschland. Man lehnte sich an den französischen Panzergürtel an; man unterschrieb geheime Abmachungen in London; man spielte mit dem Feuer und erzählte sich davon bei Gelegenheit auf der Getreidebörsein Antwerpen oder im Justizpalast zu Brüssel. Aber man spielte eben nur damit. Man nahm den Krieg so wenig ernst als sonst Etwas außer Geld und Liebe. Man konnte sich auch, in diesem durch und durch unmilitärischen Land, gar nichts Rechtes unter einem Krieg vorstellen.

„Nun, Maître Nicolas — ich gehe! Ich habe jetzt mehr zu tun! Nur, um dies zu ordnen, kam ich in Eile auf ein paar Stunden nach Brüssel. Sehen Sie meinen Schwiegervater...?“

„Er sucht mich fast täglich in dieser Angelegenheit hier auf!“

„Dann bestellen Sie ihm, daß ich...“

Da öffnete sich die Türe und Herr Lambert trat ein. Groß, breitschulterig, blond, ein Rembrandt-Deutscher mit feiner, rosiger Haut und grau-goldenem, krausem Vollbart. Er hatte Schjeltings Stimme gehört. Er wollte ihm, vor dem Dritten, Aug’ in Auge als schroffer Schwiegervater gegenübertreten. Aber da sprudelte es schon von dort auf ihn hernieder, in nervösem Hin und Her durch das Zimmer, mit verächtlich zurückgeworfenem Kopf, mit einer wegwerfenden Armbewegung durch die Luft...

„Nun, wie denn, Monsieur Lambert? Wie ist es doch mit diesem Windhund da?... Gottlob entfiel mir sein Name!... Das ist schlechter Geschmack! Mag sie wählen, wen sie will. Man heiratet. Aber man kompromittiert sich nicht vorher! Nicht sich und nicht Andere. Bitte bestellen Sie das Madame! Ich wiederhole: Es ist schlechter Geschmack. Es zeugt von unkultivierter Erziehung!“ Plötzlich wandte er sich zu dem Anwalt und sagte lässig und vertraulich: „Aber was wollen Sie? Woher sollte sie es haben? Diese Kaufleute kommen ja alle von unten herauf! Bei uns in Moskau können Sie oft nicht lesen und schreiben!“

„Ah — das ist ein wenig stark!“ Monsieur Lambert und der Advokat Nicolas tauschten einen Blick: da sieh: der Moskowiter!... Die Maske fällt...

„Ich bin ein russischer Edelmann! Ich könnte Adelsmarschall von Twer sein, wenn ich wollte! Ich fordere Ehrfurcht vor meinem Namen, so lange Ihre Tochter ihn noch trägt!“

„So? Und was Sie in Wiesbaden treiben...“

„Nichts, Du alter Vogel!“ sagte Nicolai Schjelting. Er verfiel, mit einem brutalen Lächeln, in das breite, hier der französischen Sprache ungewohnte, russische Du. „Du hast es nötig, mich zu verdächtigen, mich, der, bei meinem Ehrenwort, nichts in Wiesbaden tat, als einen alten Teufel von Deutschen wegen seiner Leiden zu befragen! Hingegen hier... Monsieur Lambert.... Wie ist es denn mit Ihrer Fahrt zur Pariser Börse an jedem Dienstag und Freitag? Geht es dieser niedlichen Madame Turlet noch gut, in ihrem Nest an der Ecke der Rue Soufflot und des Boulevard St. Michel? Man sagt, Sie hätten es entzückend möbliert!“

„Ah...“

„Nicht diese Intimitäten, Herr von Schjelting...“

„Pah... Ihr seid Einer wie der Andere! Auch Ihre Schwächen kennt man, Maître Nicolas!“ sagte Nicolai Schjelting. Es klang hochfahrend, als spräche er daheim auf schwarzer russischer Erde zu seinen ehemals leibeigenen Bauern. „Der Westen ist faul und hier bei Euch am faulsten. Ich bin anders! Ich spiele mit den Frauen. Sie sind für mich die Leitersprossen zum Erfolg. Aber ich liebe es nicht, daß man mit mir spielt! Merken Sie sich das, Monsieur Lambert!“

„Diese Sprache ... in der Tat... Wer sind Sie denn ... ohne Rang ... ohne Reichtum ... ohne...“

„Ich bin Rußland. Rußland steht hinter mir! Wir kommen. Der Krieg ist vor der Türe!“

„Nein ... nein!“

„Doch, Nicolas!“

Léon Lambert, der Großkaufmann, war von Paris her durch ein Ferngespräch besser unterrichtet als der Advokat. Diese kleine Madame Turlet hatte Beziehungen zu einem Minister der Republik. Man erfuhr da auf Umwegen mancherlei.

„Wenn sie kommen“... sagte er matt und angstvoll. „— man glaubt es in Paris noch nicht recht — aber wenn sie kommen, so lassen wir sie in Gottesnamen unten im Süden durchmarschieren! Ah — wir werden klug sein! Wir ziehen unsere Regimenter zurück. Wir erheben Protest! Wozu Blutvergießen?“

Nicolai Schjelting zuckte geringschätzig die Achseln. Er dachte sich: diese Art Seelen sind doch immer gleich im Mauseloch. Er sagte nachlässig:

„Sie werden nicht soweit kommen! Immerhin... Vielleicht geht Madame für einige Wochen, bis der Rhein von unseren Verbündeten überschritten ist, ein wenig an die See. Nach Ostende. Dort wird die Saison dies Jahr besonders glänzend. Viel Amerikaner und Engländer. Vom Krieg wird man da nichts merken, außer den Siegesfahnen längs der Digue!“

„Monsieur, die Kurse!“

Ein Angestellter überbrachte die letzten schwarzen Ziffern der Handelsdepeschen auf blauem Seidenpapier. Die beiden Belgier suchten instinktiv darauf die Stammplätze ihrer Lieblingswerte. Dann schauten sie sich an. Die Haare standen ihnen zu Berge: War das noch französische Rente? Belgische Staatsanleihe? Ein Sturm in den Papierwäldern aller Börsen Europas. Die stolz in Menschenaltern des Friedens emporgeschossenen Kursbäume bogen sich vor brüllenden Stößen aus allen vier Windrichtungen zugleich... Nirgends ein Halt. Die einzelnen Plätze rissen einander mit sich wie die Regimenter eines fliehenden Heeres.

Das war die Sprache, die Vlame wie Wallone verstanden. Nun merkte man erst ... klammerte sich an...

„England — was macht nur England?“

„Ja — wer das wüßte!“

Nicolai Schjelting hatte den beiden entsetzten Geschäftsmännern so gleichgiltig den Rücken gedreht, als wären es zwei Kassenschränke. Unten vor dem Haus traf er einen hohen belgischen Militär, dessen Weißkopf in anderen Heeren auf einen jovialen Feldwebel gewiesen hätte. Der General Janssen hielt ihn fest.

„Wie steht es, Herr von Schjelting: Krieg oder Frieden?“

„Macht nur mobil!“

„Aber es ist ja nichts vorbereitet!... Nichts in Ordnung!“

„Sehr gut! Wozu habt Ihr denn Euren großen Brialmont gehabt? Wozu habt Ihr denn Eure Riesenfestungen gebaut? Rußland selbst hat kaum Plätze wie Lüttich und Antwerpen!“

Ein Raunen hinter der hohlen Hand.

„Für die Engländer!“

„Die Engländer werden rechtzeitig da sein!“

„Das sagt Jeder, der die Geheimverträge kennt! Aber immerhin... Herr von Schjelting ... ich bin ein alter Soldat! Ich kenne die Preußen!... Sie müssen ja schließlich da unten durch!... Ich täte es auch! Stellen wir uns da entgegen, so tragen wir unsere Haut zu Markte!“

In seiner, vom Hause Lambert blutig verwundeten Eigenliebe haßte Nicolai Schjelting augenblicklich die Belgier so, daß er ihnen ganz gegen seine Gewohnheit brutal die Wahrheit sagte:

„Ja, tut das nur! Dafür seid Ihr da!“

„Ah — Monsieur ... diese Sprache...“

„Ah bah: Ihr habt unterschrieben!... Schon vor Jahren... Ihr hattet Zeit genug, es Euch zu überlegen! Man wird Euch jetzt nicht lange fragen!“

Im Weitergehen dachte sich Schjelting: die Engländer schmeißen dies kleine Belgien in den Krieg, wie einen Pudel ins Wasser! Mag es schwimmen! Unser Hühnerhund heißt Serbien! Der kann’s besser... Er lächelte schadenfroh. Serbien liebte er. Aber Belgien war die Heimat seiner Frau...

In seiner Hotelwohnung erhob sich bei seinem Eintritt ein kleiner, wohlbeleibter Franzose mit blitzenden Augen und schneeweißem Henriquatre, das rote Bändchen im Knopfloch. Der General de Rigolet de Mezeyrac war schon ein hoher Siebziger. Aber das gallische Temperament sträubte ihm förmlich den weißen Haarschopf wie einem alten Kampfhahn.

„Ah, Nicolai ... in welcher Zeit leben wir! Im Großen wie im Kleinen! Ich bin direkt von Trouville hierhergefahren. Es ist meine Pflicht, als der Großvater Ghislaines! Es muß vermittelt werden, zwischen ihr und Ihnen. Jetzt ist nicht die Zeit, die heiligen Bande zwischen Frankreich und Rußland zu sprengen!“

„Nun ... diese gute Ghislaine ist da anderer Meinung als Seine Majestät der Zar und Monsieur Poincaré!“ sagte Schjelting kalt. „Sie hat aus eigenem Antrieb die Trennung unserer Ehe beantragt...“

„... während Sie mit einer Deutschen in Wiesbaden ... oh ... auch Pariser Freunde haben Sie dort gesehen! Man kennt jetzt Ihre diplomatischen Reisen!“

„Nichts geschah in Wiesbaden, mein General!... Während hier Ghislaine mit einem Windhund ... ich vergaß seinen Namen...“

„Ah bah! Lassen wir’s!... Die Laune einer hübschen Frau!“

„Ein Zeichen menschlicher Verblendung! Ghislaine verläßt mich am Vorabend der großen Stunde, die uns zu Herren Europas macht! Sie verzichtet auf den Exzellenzenrang, den Gräfinnentitel, die Würde einer Botschafterin, die Gnade des Petersburger Hofs. Ein nach Benzin riechender Taugenichts ist ihr lieber...“

„Ah ... kränken Sie nicht diese erbarmungswürdige Frau!“

„Gott mit ihr und diesem Chauffeur! Es ist unter meiner Würde! Kein Wort mehr!“

„Hören Sie zwei Worte...“

„Nichts! Ich gehöre nicht mehr mir, sondern der russischen Gesellschaft! Mich erfüllt der Geist Peters des Großen und der Alten Katharina! Der Schwur Minins und Posharskis. Riechen Sie noch nicht Pulverdampf, mein General?“

„Ich bin alt. Sehr alt!“

„Sie haben siebzig mitgemacht!...“

„Mitgemacht!... ha ... verwundet war ich ... kriegsgefangen ... entwichen ... ein Bein im Schnee erfroren..... unter Bourbaki haben sie mich wieder verwundet über die Schweizer Grenze getragen... Sie wissen es doch...“

„Und jetzt, Großvater — Wollen Sie nicht vor Ihrem achtzigsten Lebensjahr noch einmal die Glocken von Metz und Straßburg läuten hören?“

Die blauen Augen des alten Generals leuchteten. Er zog sich nachdenklich den Zipfel des weißen Schnurrbarts durch die Zähne und ließ ihn verzweifelt fahren.

„Sie sind zu stark!... Sie haben ihre Zeit nicht verloren. Ich verfolge ihre Friedensarbeit. Erst vorige Woche schrieb ich in der ‚France militaire‘....“

„Und unsere Vorbereitungen: dies heilige Slawenheer, vor dessen ungezählten Millionen die menschliche Einbildungskraft von Schwindel erfaßt wird und die Augen schließt? Eh — was sage ich: ein Heer! Sie kennen die geheimen Zahlen. Es ist die Sprengung aller Maße und Begriffe. Es ist die politische Festlegung Europas fürJahrhunderte. Es ist die Weltgeschichte selber auf dem Marsch!“

„Euer Aufmarsch aber dauert drei Monate!“

„Drei Monate!“

„Und bis dahin müssen wir allein... Es kommt uns über Hals und Kopf! Wir hatten keine Zeit, uns vorzubereiten...“

„Fünfzig Jahre hattet Ihr Zeit! Auf dem Papier wart Ihr immer bereit! Da, auf dem Tisch liegen Eure letzten Flugschriften. Man hat sie mir vorhin aus Paris geschickt!“

„Ich kenne sie!... ‚Die Teilung Deutschlands!‘... ‚Das Ende Preußens!‘“

„Dies las ich schon früher!... Oh nein, die neuesten, die allerneuesten: Vom Geist dieser Monate: da, Generalstabs-Capitain Becker: „Der Schlacht entgegen!“ — Da: Oberstleutnant Montaigne: „Siegen!“ Da: Reinach: „Die Armee bereit!“... Lassen Sie die Bücher nur ruhig vom Tisch herunterfallen, mein General!... Da: General Cherfils: „Bereitet Euch zum Sieg vor!“...“

„Genug! Genug!“

„Da: Oberst Piaron de Mondésir: „Sonne — wann gehst Du im Osten auf?“ Jetzt geht sie auf!“

„Genug...“

„Da: Oberstleutnant d’André: „Die Banner Frankreichs!“ Da: Oberst Arthur de Boucher: „Deutschland in Gefahr.“ Wie denn? Deutschland ist in Gefahr. In der furchtbarsten, in der je ein Land war! — — Und Ihr jauchzt nicht, Ihr Franzosen?“

„Es kommt so plötzlich! Und der Senator Humbert mahnte vor vierzehn Tagen in der Kammer...“

„Jagt diese Kammerschwätzer zum Teufel! Man wird sie überhaupt überall aufknüpfen müssen, wenn erst die Freiheit errungen ist!“

„Ah — gut! Aber ein Waffengang mit Deutschland ist kein Picnic!“

In Nicolai Schjelting schäumte die Ungeduld über. Er stellte sich breitbeinig vor den kleinen General hin. Er wiegte den Oberkörper hin und her. Er warf verächtlich den Kopf zurück. Er war jetzt verkörpertes Moskowitertum. Hochfahrende Herrschsucht.

„...Warum redet und schreibt Ihr dann seit fünfzig Jahren davon — he?“

„... weil wir uns die Schicksalsstunde Frankreichs selber wählen wollen! Man hat uns zu fragen!“

„Wir werden nach Berlin marschieren und Ihr werdet Eure Bündnispflicht erfüllen!... Belieben Sie, mein General: Wozu denn sonst überhaupt dies Bündnis?... Wozu küßt mein erhabener Herrscher seit Jahren diese dicken Advokaten, die Ihr Euch zu Präsidenten wählt? Wozu beleidigt man an solchen Tagen unsere allrussischen Ohren mit Eurer Marseillaise...?“

„Ah bah...“

„Wozu habt Ihr uns im Lauf der Zeiten fünfundzwanzig Milliarden Francs geborgt? Ah... Solche Summen giebt man nicht umsonst... Die legen Euch Verpflichtungen auf!“

„Uns?“

„Ein Schuldner wie Rußland kann verlangen, daß man sich für ihn opfert!... Für ihn ist kein Opfer zu groß!“

„Das ist stark!“

„Vertrauen gegen Vertrauen! Wir haben uns immer nur an Euch gewandt, wenn wir Geld brauchten...“

„Und dafür sollen wir uns für Euch schlagen?“

„Ja — was wird denn sonst aus Euren fünfundzwanzig Milliarden?“

Nicolai Schjelting sagte es gleichgiltig. Er stand in lässiger russischer Haltung, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, die Papyros schief im Mund.

„Dann machen wir Staatsbankerott, mein General! Atmen auf! Denn Gott hat uns dann von unserer Schuldenlast befreit. Aber erwägen Sie: Frankreich ohne seine Zinsen! Man jagt Eure Regierung davon. Eure Advokaten, Eure Deputierten, Eure Spekulanten, alles! Die Blusenmänner werden vom Montmartre hinabsteigen!... Sie haben die Commune mitgemacht, mein General! Sie pflegen zu erzählen, daß Sie neben Gallifet...“

„Ah — genug davon!“

„Wollen Sie dies schöne Frankreich im Bürgerkrieg sehen statt im Krieg gegen Wilhelm?... Unsere breite, russische Natur erträgt viel. Aber nun habt Ihr uns lange genug ausgesogen!“

Der General griff sich an den weißen Kopf.

„Wir Euch ausgesogen mit unserem guten Geld? Mit den Ersparnissen Frankreichs?“

„Auch Rußlands Opferwilligkeit hat seine Grenzen!“

„Mein Gott: ist das die Sprache gegenüber seinen Verbündeten?“

Schjelting lachte und legte dem kleinen, zornroten Soldaten von oben die Hand auf die Schulter.

„Ich spreche jetzt als ein freier Slawe! Ich bin ein Sohn des großen Rußlands, das sich anschickt, seine geschichtliche Sendung zu vollbringen! Ihr habt zu folgen!“

„Befiehlt man unter Freunden?“

„Wie ist es denn mit dieser Freundschaft? In der Tat: Man hat in Kronstadt und Reval Champagner getrunken. Ihr habt Eure Mole in Cherbourg in Trümmer gerannt, weil unser Väterchen zu seekrank war, um zu landen... Es wurden Depeschen gewechselt und Geschäfte gemacht. Es wurde gestohlen...“

„Vielleicht bei Euch!“

„Es wurde grimmig gestohlen, unmenschlich gestohlen,in Petersburg wie in Paris. Euer Geschäftssinn hat selbst unsere Tschinowniks beschämt...“

„Diese Sprache voll barbarischer Instinkte... Sie sehen mich erschüttert ... das ist Rußland — dies große Rußland, das wir zärtlich lieben!“

„Ihr habt es nie geliebt!“ sagte Nicolai von Schjelting. „Ihr habt es nie gekannt. Ihr habt Euch nie Mühe gegeben, es kennen zu lernen. Nie kommt Ihr anders zu uns, als um uns zu bewuchern. Man erkannte Euch an Euren Zylinderhüten und dem roten Bändchen. Man wußte: nun lassen sie unser Mütterchen Rußland wieder zur Ader!“

„Wenn Frankreich das hörte...“

„Nie seid Ihr in die slawische Seele eingedrungen. Seht doch diese Deutschen! Ihre Intellektuellen bewundern diesen abtrünnigen Tolstoi! Sie kennen Repnin. Sie schrieen, als man bei uns den Holigan Gorki festsetzte! Sie klatschten sich für die dritte Garnitur des Kaiserlichen Ballets die Hände wund. Viele Berliner Magazine führen russische Firmeninschriften...“

„Wir haben das nicht nötig!“

„Nein. Ihr laßt uns für Euch arbeiten. Ihr gebt uns Geld. Wir zahlen die Zinsen mit Weizen. Unser Bauer hungert, damit Ihr satt werdet. Jeder kleine Rentner bei Euch hält sich vier Muschiks. Er kennt sie nicht. Er sieht sie nicht. Er liebt sie nicht! Er weiß nichts von ihnen, als daß sie seinetwegen schwitzen! Er schneidet die Coupons ... schneidet in seinem Gärtchen die Rosen. Nicht darum hat man die Leibeigenschaft aufgehoben, mein Lieber, daß das Ausland die freien russischen Seelen kauft!“

„Armes Frankreich!“

„Wie denn arm? Dreißig Jahre trug der Muschik die Sklaverei. Nun haben wir ihn bewaffnet. Er erhebt sich. Statt des Korns wachsen Soldaten aus unserer schwarzenErde. Sie marschieren mit sicherem Schritt nach Berlin. Ihre einfachen und gläubigen Herzen hoffen, dort die Enkel der Sieger von Jena zu treffen!“

„Ah!“

„Bei uns in Rußland bietet man dem Freund auf einem hölzernen Teller ‚chleb i sol‘ — Brot und Salz. Wir tragen Euch Elsaß und Lothringen entgegen...“

„Es ist zu viel!“

„Hören Sie nicht schon die Trompeten von Solferino schmettern, mein General? Sehen Sie nicht schon wieder die Adler Frankreichs von Palikao bis Veracruz die Welt durchfliegen? Mein Gott: In welcher Schlacht des zweiten Kaiserreichs kämpften Sie denn nicht? Sie standen als Milchbart unter den Ersten auf dem Malakoff...“

„Ah — Erinnern Sie mich nicht!“

„Vernehmen Sie nicht diese Schreie jenseits der Vogesen? Die Tücher wehen! Diese Frauen und Mädchen in ihren schwarzen Flügelhauben strecken die Hände aus. Die Menschheit ruft nach Frankreich!“

„Mein Gott ... mein Gott...“ Der General de Rigolet sank erschöpft auf einen Stuhl. „Nichts mehr, mein Freund! In Ihnen wohnt eine gefährliche Macht. Sie sind ein Seelenfänger. Sie spielen mit den Menschen...“

„Wie denn? Was bin ich denn?... Ein einfacher Russe!“

„Aber Sie kriechen in die gallische Haut! Sie sprechen wie ein Franzose!“

„Weil ich dies edelmütige Frankreich und sein Recht auf die Zukunft liebe!“

Der General de Rigolet kämpfte, in dem Sessel zusammengesunken, mit sich einen schweren Kampf. Aber das kriegerische Feuer in seinen alten Augen versprühte. Er machte eine entsagungsvolle, matte Handbewegung in der Richtung nach Osten.

„Das Alles mögen Sie einem Patrioten sagen, der nicht zugleich Fachmann ist wie ich! Sie sind zu viel — die Preußen da drüben — Sie sind zu stark. Und Ihr seid fern!“

Er stand mühsam auf. Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Nein. Nein. Wir brauchen mehr. Wir hier im Westen. Wir hier im Anfang.“

„Ich verstehe Sie, mein General!“

„Schafft uns England!“

„Wir werden es!“

„Bringt das Wunder fertig, diese Leute vom Rennplatz und aus der City wegzuschleppen...“

„Es ist kein solches Kunststück, mein General.“

„Ah bah: Ich kenne sie. Ich habe mit ihnen Schulter an Schulter gefochten. In der Krim. Damals war ich achtzehn... Jetzt bin ich achtundsiebzig!“

„Ihr weißes Haar in Ehren! Aber was beweist das?“

„Daß sie seit zwei Menschenaltern keinen großen Krieg mehr geführt haben — das beweist es! Parbleu — Sie waren früher anders! Aber sie sind faul geworden, auf ihren Inseln, blutscheu, Jobber, vom Herzog ab! Sie wollen nur noch Geld verdienen!“

„Und eben darum müssen sie sich schlagen!“ sagte Schjelting lächelnd. „Warum fassen Sie meine Hände?“

„Lassen Sie das wahr sein... England an unserer Seite ... es wäre ... dies Frankreich, das wie ein Phönix aus der Asche steigt ... oh Gott ... mein altes Soldatenblut ... mir klopft das Herz... Ich möchte selber noch der Trommel folgen!... pah ... umso grausamer nachher die Enttäuschung! Wenden wir uns mit einem Seufzer ab! Es wird ja doch nichts mit Englands Hilfe. Wie oft haben wir es schon gehofft. Noch vor drei Jahren, bei Agadir... Doch Englands Geschütze blieben stumm!“

„Good morning! How do you do?“

Sir William Higgins,M. P., stand hinten im Reiseanzug auf der Schwelle. Er sah gesund und wohl aus. Sein glattrasiertes, faltiges Gesicht zeigte trotz der kalten Augen um die Mundwinkel ein humoristisches Zucken von guter Laune. Ein nervenloser, angelsächsischer Frohsinn, der auf der Stelle die erregten Seelen auf dem Festland beruhigte und mit Zuversicht erfüllte. Er schüttelte Schjelting herzlich die Hand und sagte einfach: „Ich suche Sie!“ Dann entsann er sich des Herrn de Rigolet. Oh — man hatte sich auf der Redaktion des „Matin“ in Paris getroffen. Er, Higgins, der König der britischen Hetzpresse, war wahrhaft froh, daß der General, dieser hervorragende Pariser Militärschriftsteller, so gut sein helles, näselndes Englisch verstand.

„Ein schöner Tag heute!“ sagte er und rieb sich vergnüglich die Hände. „Ich hoffe ernstlich, daß wir dies gute Wetter noch einige Zeit behalten!“

„Und der Krieg...“

„Als ich heute früh aus London wegfuhr, war da noch Nebel! Aber ich möchte doch auf fünf, sechs Stunden Sonnenschein dort rechnen!“

„Sehr wohl! Aber der Krieg, Sir William! Der Krieg!“

„Oh ja ... der Krieg!“ sagte der sehr ehrenwerte Higgins und fuhr sich über die gläsernen Augen, als habe er ein verdrießliches, aber unaufschiebbares Geschäft vergessen. „Man war gestern Abend in allen Clubs der Meinung, daß er sich diesmal nicht vermeiden lassen wird!“

Daß diese Clubs in Londons Mayfair und Piccadilly lagen, erwähnte er nicht erst. Es war selbstverständlich, daß England nach dem Dinner, in Frack und weißer Binde, bei Whisky und Soda, die Weltgeschichte für die anderen Völker machte. Er streckte nachdenklich die langen, dünnen Beine und fuhr fort:

„Es wird ein rauhes Werk von drei Monaten. Aber die City hat es bereits escomptiert. Das Geschäft geht wie gewöhnlich. Es wird sich durch die Beseitigung des deutschen Handels bald sehr beleben! Nie wird Nizza und Kairo eine glänzendere Season haben als diesen Winter!“

Die Augen des Generals de Rigolet begannen zu leuchten.

„Gestern noch erklärten mir in London manche prominente Amerikaner, den Winter über in Europa zu bleiben. Sie wollen von Paris aus die Kriegsvorgänge am Rhein beobachten. Es ist etwas Neues für die Ladies, wissen Sie...“

„Ah bah — die Weiber! Wir Männer führen den Krieg! Man kommt nicht so leicht über den Rhein, Sir William!“

„Nein. Man umgeht ihn!“ sagte William Higgins lächelnd. „Wir landen, wo wir wollen! In Antwerpen. In Holstein. In Pommern!“

„Also kommt Ihr wirklich, Ihr Engländer?“

„Es ist entschieden, so traurig wir auch sind, Blut zu vergießen. Viele Bischöfe und Reverends meinen, daß wir auch während des Kriegs für unsere Feinde beten sollen!“

„Mit wieviel kommt Ihr?... Verzeihen Sie meine Aufregung ... mit wieviel?“

„Zunächst mit einer Viertelmillion! Die nächsten zwei oder drei Millionen Männer folgen aus den anderen Erdteilen nach Bedarf!“

„Großer Gott...“

„Inzwischen nehmen wir Helgoland, zerstören Wilhelmshaven und die Anlagen der Mrs. Krupp...“

„Ah...“

„...Während von Osten sich russische Heere heranwälzen, deren Millionen Sie nicht mehr an Ihren Fingern abzählen können!“

„Mir schwindelt...“

„Wir treffen uns Alle, nach Versenkung der deutschen Flotte, in Berlin! Es wird ein heiterer Christmas-Abend!“

Der ehrenwerte Higgins,M. P., war auch als Tafelredner berühmt. Er hatte eine schalkhafte Art, bei unverbrüchlich ernstem Gesicht ein Auge zuzukneifen und trockene Witze zwischen den Zähnen zu kauen. So sprach er auch jetzt. Es war Alles so einfach, als gälte es einen Wochenende-Ausflug an die Seeseite. Es nahm dem Abenteuer jede Gefahr.

„Vergessen Sie nicht, daß wir Italien verpflichtet haben, seinen Verbündeten in den Rücken zu fallen...“

„Ah — Ihr seid Meister, Ihr Engländer!“

„... daß wir Japan loslassen...“

„Auch das!“

„... daß wir Amerika hinter uns haben...“

„Ja. Ihr seid groß!“

„Von Portugal und den anderen Kleinstaaten nicht zu sprechen...“

„Man kann auch sie brauchen...“

„Mit anderen Worten...“ William Higgins zündete sich seine Stummelpfeife an und entsandte gleichgiltig eine Wolke von Taback zwischen den dünnen Lippen... „Verzeihung ... stört Sie der blaue Dunst...?“

„Oh ... ich liebe ihn, Sir William...“

„Mit einem Wort: die Männer der fünf Erdteile stehen bereit zu Potsdams Ende. Viel nützliche Arbeit in Bergwerken und Fabriken wird in nächster Zeit ungetan bleiben. Aber dieser Krieg muß bis Neujahr abgewickelt sein. Es ist schmerzlich für einen Christen...“

„Ei was... Ich bin Franzose!... Ich bin ein alter Troupier... Mir jauchzt das Herz!“

„Ich vergaß die Balkanvölker, die auch manches brauchbare Werk für uns im Feld leisten werden. Darüber wollte ich eben noch mit unserem vortrefflichen, russischen Freunde hier, Herrn von Schjelting, sprechen!“

Der General de Rigolet begriff, daß die beiden Herren allein sein wollten. Er war so erregt, daß er nur etwas Unverständliches zum Abschied stammelte... Er warf sich unten in ein Automobil. Er platzte erhitzt, keuchend wie eine Bombe oben in der Rue Royale in die Wohnräume seines Schwiegersohnes, des graublonden, rosigen Vlamen Léon Lambert. Madame Lambert, seine Tochter, war da, der alte Hausfreund, General Janssen, viele andere Belgier... Großkaufleute, Bankiers, Bergwerk- und Mühlenbesitzer. Das aufgeregte Französisch schwirrte. Es hatte sich schon, von hundert Seiten zugleich, herumgesprochen: England kam. England war der Retter. Brüssel und Antwerpen war plötzlich voll von Engländern, die Jeden, den sie kannten, den sie sahen und sprachen, bearbeiteten.

„Ah — wir sind unter Englands Schutz!“

„Wir werden die Deutschen schon empfangen!“

Was wußte man in diesem unmilitärischsten aller Kleinstaaten von dem furchtbaren, seit fast einem halben Jahrhundert schlafenden Kriegsheer jenseits der Grenze. Es war längst hier und in den Niederlanden guter Ton geworden, über die Muffs zu witzeln. Pickelhaube und Paradedrill von gestern!... Wie anders England! Seine Flotte schwamm und donnerte auf allen Meeren.

Der General de Rigolet war gleich nach seiner Ankunft an den Fernsprecher gerufen worden. Paris meldete sich. Er hatte eine lange, aufgeregte Unterhaltung. Der kleine, dicke Mann lief mit funkelnden Augen und gesträubtem weißem Haar in die Zimmer zurück.

„Das Neueste! Direkt aus dem Palais Bourbon. Der Deputierte Bonvoisin, mein guter Freund...“

Oh — dieser berühmte Bonvoisin ... der Nationalist. Der Vertreter des Herzens des Seine-Departements. „Nun... Nun?...“

„Paris ist seit heute früh voll von den hervorragendsten englischen Politikern...“

„Von der Regierungsseite?“

„Und mehr noch von den Tories! Viele Lords! Exminister! Zwei frühere Vizekönige von Indien. Die ernsthaftesten Geldmänner des Vereinigten Königreichs... Alles ist in Paris!“

„Und was sagen sie?“

„Krieg! Krieg! Sie steifen Frankreich den Nacken! Diese bewunderungswürdigen Briten stehen hinter uns! Sie zeigen sich bereit, den Genius der Menschheit zu verteidigen. Ha: Nun wird er losschlagen müssen — dieser viereckige Lothringer im Elysée!... Meine Herren: der große Morgen graut! Ich höre das Krähen des gallischen Hahns!“

Es war, als flammte auf diesem trunkenen weißen Kopf die blutrote phrygische Mütze, als rauschten um ihn die Wirbel der Marseillaise:


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