Chapter 62

Als sie in das Zimmer traten, leuchtete von der dunklen Tischdecke etwas Weißes ihnen entgegen. Mette nahm es auf und lief damit ans Fenster. Der Schein einer Laterne draußen gab ein schwaches Licht.

Als sie in das Zimmer traten, leuchtete von der dunklen Tischdecke etwas Weißes ihnen entgegen. Mette nahm es auf und lief damit ans Fenster. Der Schein einer Laterne draußen gab ein schwaches Licht.

Es war ein dringendes Telegramm.

„Mach hell, bitte!“ bat sie mit ein wenig unsicherer Stimme.

Sie riß das Papier auseinander.

Sie las es in dem Dämmerlicht am Fenster. Sie las es noch einmal bei der aufflammenden Gaslampe. Es änderte sich nicht.

„Dein Vater vom Schlage getroffen. Sein Ableben stündlich zu erwarten.“

Sie reichte das offene Telegramm, ohne ein Wort zu sagen, Olga hinüber und ging an ihr vorbei nach dem Ofen.

Sie hielt die Hände vor die Glut und war erfüllt von der seltsam peinlichen Empfindung, nicht zu wissen, wie sie sich benehmen sollte.

Kein Gefühl quoll unwiderstehlich, jeden Gedankenverdunkelnd, aus ihrer Tiefe: weder Schmerz, noch Angst, noch Liebe.

Nur häßliche, quälende Gedanken: „Ich werde hinfahren und zu spät kommen,“ dachte sie. „Es wird also ganz unnütz sein, daß ich fahre. Wenn er wirklich sterben muß – warum hab’ ich dann nicht lieber die Nachricht bekommen, daß er tot ist. Dann würde keine Macht der Welt mich hier wegbekommen.“

Sie warf einen verstohlenen Blick auf Olga, die ihr noch immer den Rücken zudrehte.

„Sie wird erwarten, daß ich irgend etwas tue,“ dachte sie. „Ich muß mich doch irgendwie äußern. Ich glaube, das Natürlichste wäre, wenn ich jetzt weinte. Aber ich kann doch nicht. Ich finde es schrecklich, gewiß. Aber es ist nichts, was mir die Tränen in die Augen treibt. Was würde Olga in meiner Lage tun? Seltsam, wie wenig wir uns eigentlich kennen. Ich weiß nicht, was sie tun würde. Und ich weiß auch nicht, was sie von mir erwartet.“

Endlich drehte Olga sich um und legte mit einer schönen und merkwürdig behutsamen Bewegung das Papier auf den Tisch. Ihr Gesicht war ruhig, aber ganz weiß.

„Ich will nach den Zügen fragen!“ sagte sie und schritt still hinaus.

Mette war fast froh, noch einen Augenblick alleinzu sein. Sie konnte nun in Ruhe überlegen, was zu tun sei. Wenn Olga ging, um nach den Zügen zu fragen, so nahm sie als selbstverständlich an, daß Mette mit dem nächsten Zug nach Hause fuhr. Es war ja auch wohl selbstverständlich, freilich, das war es.

Sie stand seufzend von ihrem Sessel am Kamin auf, stellte den offenen Handkoffer zurecht und fing an einzupacken. Dabei flogen ihre Gedanken hin und her.

Vielleicht war es gar nicht wahr!

Vielleicht hatte Tante Emilie sich das ausgedacht, um sie nach Hause zu locken! Sie ins Gefängnis zurückzulocken!

Wenn doch jetzt eine Depesche von Vater käme, die die erste Nachricht widerriefe!

Oder, wenn es doch wahr war – wenn jetzt eine Depesche von Tante Emilie käme, daß alles vorbei wäre. Dann brauchte sie nicht zu fahren. Oder ob Olga es von ihr verlangen würde?

Wenn doch Olga jetzt heraufkäme und sagte: Es geht kein Zug, heute nicht, morgen nicht, nie mehr. Die Züge bleiben im Schnee stecken – oder der Bahndamm ist eingestürzt ...

Oder wenn Olga jetzt käme und sagte: Fahr’ nicht! Verlaß mich nicht! Laß uns weiterfahren,irgendwohin, wo sie uns nicht finden. Beweise mir, wie du mich liebst, gib alles auf. Was ist dir der fremde Mann, der da im Sterben liegt? Nichts! Zu mir gehörst du, mein bist du! Ich verlange von dir, daß du bei mir bleibst, ich will mich nicht von dir trennen, nicht auf eine Stunde mehr.

Ja, das wäre das Schönste. Aber von allem Unmöglichen war es das Unmöglichste.

Olga machte die Tür auf. Ihre Bewegungen, obgleich rasch, waren so leise, als beträte sie ein Krankenzimmer.

„Um drei Viertel zehn,“ sagte sie und warf einen Blick auf die Armbanduhr. „Wir haben also noch reichlich Zeit, einzupacken und etwas zu essen.“

In Mette zuckte etwas wie Empörung auf. Sie mußte fahren. Sie wurde einfach geschickt. Vielleicht wäre Olga selber an ihrer Stelle nicht gefahren. Olga durfte frei handeln und entgegen allem, was Sitte und Gebrauch war – aber für Mette galt das Normale, das Alltägliche, das Schickliche. Um drei Viertel zehn ging der Zug – sie wurde gar nicht gefragt, ob sie ihn benutzen wollte. Es war der nächste Zug, und also hatte sie damit zu fahren.

Sie packte mit verbissenem Gesicht ihren Koffer weiter.

„Darf ich dir helfen?“ fragte Olga ernst und sanft.

„Danke!“ sagte Mette kurz.

Der rücksichtsvolle Ton quälte sie. Sie hätte so gern ganz brutal die Wahrheit gesagt:

„Du brauchst mich nicht zu behandeln, als wäre ich schwer krank. Das Schlimmste an dieser Sache ist für mich, daß wir uns trennen sollen, daß ich hier fort soll, daß unser Märchen hier ein Ende hat“ – aber sie hatte den Mut nicht, es auszusprechen. Und sie fühlte doch, daß Olga sich beinah scheu zurückhielt, so, als hätte sie kein Recht, Metten in ihrem heiligen, kindlichen Schmerz zu stören.

Mettens Hände stießen beim Packen zufällig auf einen sorgfältig in Seidenpapier gehüllten Gegenstand unten am Boden des Handkoffers. Sie riß das Seidenpapier ab, daß die Fetzen zur Erde flatterten und hielt das goldene Etui in der Hand.

„O Mette!“ rief Olga mit einem leisen, überraschten Aufschrei. „Da ist es ja wieder! Seit wann?“

„Es ist nie woanders gewesen,“ sagte Mette mit einem etwas bedrückten Lächeln. „Ich konnte mich nicht entschließen, es in fremde schmutzige Hände zu geben. Ich wollte dir eigentlich nichts davon sagen – ich wollte es dir zu Weihnachten schenken – aber es ist ja Unsinn – ich will es dir lieber gleich geben.“

Mette ging hinüber und legte es in Olgas Hände, die ihr nicht entgegenkamen.

Olga hielt es ganz still auf den Flächen der Finger, ohne es zu umschließen und sah es mit gedankenschwerem Lächeln an.

„Seltsam,“ sagte sie, ohne die Augen aufzuheben. „Warum jetzt? Warum heute? Man sollte nicht abergläubisch sein, aber manchmal ist es schwer ...“

Mette verstand den Sinn dieser Worte nicht, aber sie fragte auch nicht danach. Sie spürte mit zorniger Eifersucht, daß Olgas Gedanken in einer Vergangenheit waren, die ihr fern, fremd und verschlossen blieb. Aber sie spürte keinerlei Beziehung auf sich selbst.

Es war eine schweigsame Fahrt durch die kalte, dunkle und unfreundliche Nacht.

Mette lehnte mit halbgeschlossenen Augen in einer Ecke und sehnte sich danach, mit viel Zärtlichkeit getröstet zu werden – aber sie hätte nicht gewagt, diese Sehnsucht auszusprechen, auch wenn nicht fremde Menschen mit dumm verschlafenen, glotzenden Gesichtern im Wagen gesessen hätten.

Als Mette fröstelte, zog Olga wortlos ihren Mantel aus und legte ihn ihr über die Knie. Aber Mette wies ihn fast schroff zurück.

„Laß das, bitte! Ich möchte nicht, daß du dich erkältest!“

Olga nahm den Mantel fort. Aber sie zog ihn nicht an. Sie legte ihn neben sich auf das Polster, mit einer so achtlosen Bewegung, als sei er zu nichts mehr nütze. – – –


Back to IndexNext